Aus den Augen, in den Sinn von Ur (Lavi x Yuu | Du weißt erst, was du hast, wenn es nicht mehr da ist) ================================================================================ Kapitel 3: Sturm ---------------- Die Tomatensuppe hatte letzte Woche eindeutig besser geschmeckt. Aber vielleicht schmeckte ihm einfach überhaupt nichts mehr. In seinem Inneren herrschte Chaos, wenn seine Seele ein Zimmer wäre, dann könnte man bei einem Blick durchs Fenster vermutlich einen Raum sehen, der wie nach einem Bombeneinschlag aussah. All die Emotionen, die ihn durchströmten, ließen ihn unruhig durch die Gegend tigern. Wut. Enttäuschung. Angst. Eifersucht. Herrgott, er hasste all diese Gefühle, sie erinnerten ihn daran, dass Lavi der einzige verfluchte Mensch auf der Welt war, der überhaupt irgendetwas in ihm bewirken konnte. Die Bilder von dem Rotschopf unter diesem Regenschirm, zusammen mit dem strahlend lachenden Mädchen, das seine Freundin. Das Mädchen, das ihn küssen durfte. Er ballte seine Fäuste bei dem Gedanken an sie. Ob sie nun etwas dafür konnte, oder nicht. Kanda war sauer auf sie. Sauer, weil sie Lavi nah war, weil sie ihn küsste und von ihm angelacht wurde, weil sie nicht so bescheuert gewesen war, einfach zu gehen, als Lavi ihr seine Gefühle gebeichtet hatte. Vielleicht, dachte er und pfefferte den Kugelschreiber, den er bis eben gehalten hatte, in die nächstbeste Ecke, vielleicht bin ich auch nur sauer auf mich selbst. Aber das machte die Situation, in der er sich befand, auch nicht besser. Ein Blick aus dem Fenster sagte ihm, dass es draußen windig war. Die Bäume bogen sich nachgiebig und ein Schwarm toter Herbstblätter fegte an seinem Fenster vorbei. Die letzten Monate hatte es ein wenig geholfen, sich von alldem abzulenken, indem er viel arbeitete, doch egal wie sehr er sich nun bemühte, er konnte sich nicht konzentrieren. Er konnte an nichts anderes mehr denken, als an Lavi. Nun, da der Rotschopf wieder da war, war die Vergangenheit mit ihm zurück gekehrt, hell und deutlich und viel zu riesig, als dass er sie irgendwie hätte ignorieren können. Der Wind rüttelte am Fenster, so wie Lavi an seiner Seele rüttelte. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und erhob sich vom Schreibtischstuhl. Es hatte keinen Sinn. Er musste diese Notizen irgendwann anders durchlesen, an irgendeinem bisher unbestimmten Zeitpunkt, an dem er nicht an Lavi denken musste. Also vermutlich irgendwann, wenn er alt und verschrumpelt war. Er hasste sein Leben. »Warst du schon mal verliebt, Yuu?« »Tch.« »Heißt das ja?« »ES HEIßT NEIN, DU UNTERBELICHTETER VOLLPFOSTEN!« Wenn er es da schon gewusst hätte – und er schauderte leicht bei dem Gedanken daran – was hätte er dann anders gemacht? Hätte er überhaupt etwas anders gemacht? Wenn er gewusst hätte, dass er bereits damals in Lavi verliebt gewesen war… wenn Lavi ihm dann gesagt hätte, dass er auch in ihn verliebt war… Seine Eingeweide verkrampften sich und seine Gedanken schweiften ab, zu Küssen und Umarmungen und Lavis Lächeln und sein Herz hämmerte gegen seinen Brustkorb, als wollte es das Gefängnis endlich verlassen und dem Menschen zufliegen, dem es schon so lange gehörte. Wenn er Lavi in die Finger bekam, dann würde er ihn erwürgen. Oder erschlagen. Wahlweise könnte er ihn auch vor ein Auto schubsen, aber die Eigenleistung wäre dann geringer. Wieso musste dieser immerzu grinsende Vollidiot unbedingt an dieser Uni auftauchen und auch noch seine Freundin mitbringen? Hatte er noch nie etwas von Rücksicht gehört? Die Tatsache, dass Lavi nicht gewusst hatte, wo er studierte, ließ er galant außer Acht und stemmte seine Hände mit grimmiger Miene auf sein Fensterbrett. Der Himmel war wolkenzerzaust. Irgendwo in der Ferne grollte schon wieder der Donner. Die Birke in der Nähe seines Fensters bog sich und wogte heftig im Wind, der auch noch die letzten Blätter von ihren Zweigen riss. Wenn er nicht so vernünftig wäre, dann würde er jetzt schnurstracks zum Supermarkt laufen und seinen Sturm in Alkohol ertränken. Aber er wusste, dass dann aus dem Sturm lediglich ein Tsunami werden würde und das konnte er nicht gebrauchen. Eine Weile lang sah er dem hilflosen Treiben der Blätter zu. »Ich würde gern fliegen können, Yuu.« »Als würde mich das interessieren…« »Ich könnte dich mitnehmen. Würdest du nicht gern fliegen können?« »Tch.« »Heißt das-« »Nein!« Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, fliegen zu können. Allerdings wäre auch das Fliegen keine Flucht vor der Welt und seinen Gefühlen, als was würde es schon für einen Unterschied machen, wenn er dahin trieb wie ein Herbstblatt im Wind. Unschlüssig stand er da, dann schnappte er sich sein Portemonnaie und seinen Hausschlüssel und verließ die Wohnung, um dem Sturm entgegen zu treten. Allerdings wusste er nicht recht, ob er nun den Sturm hier draußen oder den in seinem Innern meinte. Er hasste den Herbst. Herbst bedeutete Wind und Regen und Gewitter und viel grauen Himmel. Als er auf dem Weg in die Innenstadt war, bereute er es fast schon, überhaupt seine Wohnung verlassen zu haben. Blätter und Papierfetzen flogen ihm um die Ohren, kaum ein Mensch war bei diesem Wetter auf den Straßen. Immerhin, dachte er grimmig, es regnet nicht. Schließlich betrat er den nächstbesten Supermarkt. Unschlüssig, ob er nun doch Alkohol kaufen wollte, oder nicht, streifte er mit grimmiger Miene durch die Gänge und verschreckte zwei kleine Mädchen, die kichernd neben einem Regal mit Dosenerbsen und Mais standen. Gerade, als er beschlossen hatte, nichts zu kaufen, sah er sich einem jungen Mann mit roten Haaren und einem sehr hässlichen, grünen Stirnband gegenüber. Er erstarrte. Direkt neben einem Regal mit Doseneintöpfen und Suppen. »Yuu«, sagte Lavi leise. Er sah genauso aus wie immer, nur wirkte er immer noch zerrissen zwischen Freude und Enttäuschung. Unruhig kaute er auf seiner Unterlippe herum, Kanda sah, wie seine grünen Augen über sein Gesicht huschten, als wollte der Idiot prüfen, dass alles noch am richtigen Platz war. »Tch.« Lavi lachte. Eine Gänsehaut schob sich seinen Nacken hinauf und ließ die Härchen dort zu Berge stehen. Wie lange hatte er dieses Lachen nicht mehr gehört. Lavi grinste ihn an und Kanda hatte das Gefühl, seine Welt würde aus den Angeln kippen. »Kommst du mit zu mir? Ich würde gern ein bisschen mit dir reden«, sagte Lavi dann und Kanda hörte den leicht flehenden Unterton in seiner Stimme, als würde er sich – genau wie Kanda selbst – an damals erinnern und daran, dass er immer noch weggelaufen war. Er schluckte schwer. Seine Seele schien seinen Körper verlassen zu haben. Vielleicht, dachte er benommen, als er nickte, hatte sie sich irgendwo zwischen den Dosensuppen versteckt, um nicht miterleben zu müssen, was als nächstes geschah. Er hatte ein wenig das Gefühl, dass Lavis Gegenwart ihm die Luft abdrückte, auch wenn das wahrscheinlich eher an dem beißenden Sturm draußen lag. Lavi sagte kein Wort, während sie nebeneinander durch den Sturm stapften und Kanda war ohnehin nicht nach sprechen zumute. Vermutlich hatte er mit seiner Seele auch seine Stimme in diesem Konservenbüchsenregal zurück gelassen. »Manchmal ist es ein bisschen deprimierend, sich mit dir zu unterhalten, Yu!« »…« »Genau das meine ich! Du musst auch mal antworten, wenn ich mit dir spreche…« »Tch.« »Soll ich dir was vorsingen?« »Ich warne dich, Baka- Usagi!« »Ah! Du kannst ja doch noch sprechen.« »…« Lavis Wohnung lag im vierten Stock eines Mehrfamilienhauses. Direkt unter dem Dach. Es war unordentlich aber nicht ganz so winzig wie in seiner Wohnung. Er behielt die Schuhe an und folgte Lavi mit klopfendem Herzen ins Wohnzimmer, ließ sich aufs Sofa fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. Lavi zögerte einen Moment, offenbar nicht sicher, ob er sich auf den Sessel oder neben Kanda setzen sollte, aber dann entschied er sich für zweiteres und ließ sich neben ihm nieder. Kandas Kehle war sehr trocken, als er Lavi anstarrte. Lavi starrte zurück. Es schien ganz so, als hätte er vergessen, dass er eigentlich hatte reden wollen. Dann räusperte er sich schließlich doch noch. »Und… wie… wie geht’s dir so?«, fragte er. Seine Stimme zitterte leicht. Kanda öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder. Lavis Blick ging ihm durch und durch und er spürte, wie der Sturm in seinem Innern immer zudringlicher an seinen Fenstern rüttelte. »Also… gut zu wissen, dass du immer noch derselbe Yuu bist«, sagte Lavi leise und brachte ein halbes Lächeln zustande. Kanda hätte beinahe der Versuchung nachgegeben, Lavi zu sagen, dass das nicht stimmte. Aber er tat es nicht, er konnte ohnehin nicht sprechen. Seine Stimme hatte ihn im Stich gelassen. Sein Gehirn war vollkommen leer gepustet, als Lavi die Hand zögerlich ausstreckte und behutsam die Finger durch eine von Kandas langen Haarsträhnen. Zweifelsfrei hatte Lavi erwartet, Kanda würde seine Hand weg schlagen und ihn anmotzen, wie er das früher getan hatte. Aber er tat nichts dergleichen. Er atmete zittrig ein und schloss einen Moment die Augen. Vermutlich würde er gleich einen Herzinfarkt erleiden und vom Sofa kippen. Es musste so kommen… Lavis Gesichtsausdruck änderte sich. Es sah aus, als litte er Höllenqualen und wäre gleichzeitig ungläubig erfreut. Kanda fragte sich, wieso zur Hölle Lavi immer so widersprüchlich und verwirrend sein musste, aber diesen Gedanken konnte er nicht weiter ausführen. Lavi war auf der Couch näher gerückt, die Spannung im Wohnzimmer war fast greifbar, der Wind draußen heulte ums Haus und Kanda schluckte schwer. Alles in ihm kribbelte. Und dann küsste Lavi ihn. Der Sturm in seinem Innern ließ die Fenster bersten und Scherben klirrten laut in seinem Kopf, als er die Arme um Lavi schlang und sich so fest an den Rotschopf presste, dass dieser erschrocken aufkeuchte. Aber im nächsten Moment lagen sie sich in den Armen, Lavi stahl seinen ersten Kuss, aber Kanda wusste, dass er ohnehin nur Lavi gehörte, dieser Kuss und alle Küsse, die er je zu vergeben hatte. Er erschauderte wohlig, als sich Lavis Zunge zwischen seine Lippen schob und mit klopfendem Herzen öffnete er den Mund. Sie küssten sich so heftig, dass ihm schwindelig wurde. Der Sturm tobte in seiner Seele und brachte alles durcheinander. Lavis Hände glitten über seinen Rücken, zogen fahren den Saum des Pullovers nach oben und schoben sich darunter. Kanda keuchte auf, als Lavis Finger fahrig über seine nackte Haut strichen. Er hatte eine Hand in Lavis Nacken verkrallt, die andere lag zittrig auf Lavis Rücken, nutzlos und unbeweglich, weil er sich bei all den Empfindungen nicht darauf konzentrieren konnte, sie zu bewegen. Seine Lippen prickelten und standen in Flammen, sein Herz tanzte und ging in Flammen auf und die Hitze, die in ihm aufstieg, ließ ihn alles vergessen, was jemals passiert war. Lavi löste den Kuss und Kanda gab ein unwilliges Geräusch von sich, er öffnete die Augen und starrte Lavi aus verhangenen Augen an. Die Smaragde vor ihm glühten feurig. »Yuu… ich…« Kanda ließ ihn los. Der Sturm in seinem Seelenzimmer riss ein Bild von der Wand, ein Bild mit Lavi unter einem Regenschirm, wie er eine junge Frau auf den Mund küsste. Einen Moment lang war er in seligem Vergessen versunken, jetzt sprang er auf und wischte sich mit dem Handrücken hastig über den Mund. Lavi streckte die Hand aus, um ihn aufzuhalten, aber Kanda wandte sich um und hastete aus der Wohnung, zurück in den Sturm, weg von Lavi. Weg von seinen Gefühlen und dem Schmerz, in den der Sturm in seinem Innern sich verwandelt hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)