Der Malar von TilyaDraug (Die Jagd nach der Kreatur der Untiefen) ================================================================================ Kapitel 8: Mirlien - Tag 4 -------------------------- Am nächsten Morgen lenkte der Verlauf der Hauptstraße unseren Weg aus dem sumpfigen Gelände heraus und führte uns durch ein weites, flachhügeliges Heideland. Es ging vorbei an wilden, duftenden Wiesen, in denen fleißige Bienen und emsige Hummeln umher summten, bis uns am frühen Nachmittag der Anblick eines kleinen, am Straßenrand angrenzenden Caybawäldchens, verriet, dass es nicht mehr weit bis zur nächsten Siedlung sein konnte. Cayba waren filigrane Bäumchen, aus denen man ein dunkles Harz gewann, welches sich in unbehandeltem Zustand als hervorragender Klebstoff verwenden ließ, oder sich mit Sand vermengt und im Ofen gebrannt zu einer Masse von gummiartiger Konsistenz verdicken konnte. Die getrockneten Schoten konnte man mahlen, mit heißem Wasser aufgießen, und das belebende, bittersüße Getränk wie einen guten Tee genießen, während sich aus den gar gekochten faustgroßen Blütenköpfen ein deftiges Gemüsegericht zaubern ließ. Wir mussten noch an einem weiten Kürbisfeld vorbei, bis wir in dem Gästehaus des Heidedörfchens eine Pause einlegen konnten. Dann ging es weiter, quer durch ein kühles Salizenwäldchen hindurch, und ich erfreute mich an dem Anblick der bunten Schnabelgeckos, die in den sanft pendelnden Weidenruten herumturnten. Einige Zwergwollspinnen verfolgten uns neugierig, bis der Salizenwald sich allmählich lichtete und nahtlos in eine wild wuchernde, von einigen Baumgruppen durchzogene Wiesenlandschaft überging. „Ganz schön einsam hier, nicht wahr?“ wandte sich Vilthon an mich, als das ferne Rauschen eines Flusses ihn an die vergangenen Abende am Meer bei den geselligen Küstenbewohnern erinnerte. Ich nickte zufrieden. Mir war das natürlich ganz recht, und abgesehen von meinen unvermeidbaren monatlichen Unterleibsschmerzen fühlte ich mich prächtig, und genoss es, mit meinem engsten Vertrauten schweigend durch die unberührte Natur zu ziehen und ihren Klängen zu lauschen Eine kleine Herde wilder Zaronnen hüpfte, angeführt von der schneeweißen Leitkuh, über die Wiese, dicht an und vorbei und setzte mit hohen Sprüngen auf den Fluss zu. „Sollen wir den Tieren jetzt lieber flussabwärts folgen um heute Nacht im Blumendorf zu rasten?“ fragte ich Vilthon mit einem kritischen Blick zum Himmel, der bereits in den warmen Farben der nahenden Dämmerung zu leuchten begann. „Oder meinst du, wir schaffen es noch eine Station weiter bis zum Korkdorf, bevor es dunkel wird?“ Der Alwe zog die Brauen kraus. „Das sollten wir besser nicht riskieren, Tilya. Der warme Wind des Karglandes treibt zu dieser Tageszeit die Riesenmoskitos aus ihren Territorien direkt zur Küste hin. Klüger wäre es, sich jetzt langsam einen sicheren Unterschlupf zu suchen.“ Dieses Argument konnte mich durchaus überzeugen und so folgten wir strammen Schrittes der sanften Strömung des breiten Baches, der einige Kilometer weiter in das Meer mündete, wo auch das idyllische Blumendorf zu finden war. Das Farbschauspiel, welches sich uns bot, als wir uns der Küste näherten, war an Vielfalt, Wärme und Romantik nun wahrhaft nicht mehr zu überbieten. Über den dunklen Silhouetten einiger hoher Roonen erschloss sich uns jetzt der Anblick des weiten Meeres, welches sich, nur unterbrochen von dem sanften Umriss einer großen Insel in unmittelbarer Küstennähe, bis zum Horizont erstreckte und in denselben kräftigen, orangeroten Tönen glitzerte, wie der Himmel über ihm, der wie heißes, flüssiges Metall leuchtete. Dicht am Meeresufer lag das bezaubernde Dörfchen, das fast hinter den abertausenden, tanzenden Blütenköpfen einer endlosen Blumenwiese verschwand. Einige kegelförmige Bienenkörbe ragten starr und bewegungslos aus dem wogenden, bunten Flimmern heraus. Je näher wir der Küste kamen, desto mehr wurde das leise Plätschern des Baches vom imposanten Rauschen der Wellen überdeckt, und der süße Duft der farbenfrohen Wiesenpflanzen schmeichelte unseren Nasen. „Wollen wir noch ein wenig am Strand entlang spazieren, bevor wir im Dorf einkehren?“ fragte ich meinen Freund. Der Alwe nickte. Seine Augen glänzten, so überwältigt war auch er von der Schönheit dieses Ortes. Wir verließen den Hauptweg, als dieser nicht mehr länger neben dem Flussbett verlief, sondern schnurstracks in die Gefilde des Blumendorfes abzweigte und folgten stattdessen dem Lauf des immer schmaler werdenden Baches, der bald sein Ende in den unergründlichen Weiten des Meeres finden würde. Zwischen den hohen Gräsern erkannte ich erfreut einen weichen, ebenen Sandstrand, der von der Gischt umspült wurde und sich gleich angenehm samtig um meine geschundenen Füße schmiegen würde. Plötzlich spürte ich Vilthons Hand auf meiner Schulter, die mich mit unerwarteter Beharrlichkeit zurück hielt. „Was ist los?“ flüsterte ich verstört und schaute zu meinem Freund hoch, der bebend vor Anspannung einen bestimmten Flecken der Küste anvisierte, der aus meinem tiefer gelegenen Blickwinkel heraus nicht einzusehen war. Vilthon antwortete mir nicht, ließ überraschend seinen Rucksack fallen und rannte wie vom Querkenkneifer gebissen zum Strand hinunter. Ich hörte das platschende Geräusch, dass seine Schuhe verursachten, als er quer über den seichten Bach hastete, anscheinend ohne einen Gedanken an nasse Füße und durchweichte Stiefel zu verschwenden. Seinen Namen rufend eilte ich meinem Freund durch das dichte Gestrüpp hinterher. Die hoch gewachsenen Pflanzen behinderten meine Sicht und ich stürzte zweimal schmerzhaft auf die Knie, bevor es auch mir in den Sinn kam, mich endlich meiner sperrigen Tasche zu entledigen. Ohne den lästigen Ballast auf den Schultern gelang es mir um einiges leichter, mich durch das Dickicht zu schlagen und mich bis zum weißen, feinkörnigen Sandstrand hinunter zu kämpfen, wo ich Vilthon in der unmittelbaren Nähe der Brandung erblickte, als er sich gerade, am flachen Ufer der Flussmündung kniend, über den regungslosen Körper eines schlanken Mannes beugte. Mit klopfendem Herzen und weichen Knien stolperte ich an die Seite meines Gefährten und half ihm dabei, die offensichtlich bewusstlose Person aus dem seichten Gewässer zu befördern. Sein Körper war leicht, beinahe zerbrechlich. Die einfache, farblose Kleidung hatte sich mit dem kalten Flusswasser vollgesogen und schmiegte sich triefend um seine sehnigen Gliedmaßen. „Ich habe ihn gerade erst auf den Rücken gedreht, er lag anscheinend die ganze Zeit auf der Seite, Tilya!“ informierte mich der nervöse Alwe, während wir den Ohnmächtigen gemeinsam ans trockene Ufer zogen. „Hoffentlich hat er nicht zu viel Wasser in seine Lungen bekommen!“ Vilthon legte den Kopf auf die Brust des Mannes, der etwa in seinem Alter sein musste, während er die eine Hand um sein schlaffes, schmales Handgelenk, die andere an die Stelle legte, an der er seine Halsschlagader vermutete. Einige bange Sekunden verstrichen. „Kein Puls, kein Herzschlag, keine Atmung.“ stellte der Alwe tonlos fest und begann sofort, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzuleiten und den Fremden zu beatmen. Ich strich, während Vilthon energisch die Herzmassage durchführte, aus einem Impuls heraus das mattblonde Haar aus der leichenblassen, hohen Stirn des Mannes, den ich wegen der Form seiner Ohren für einen Verlieken hielt. Ich zuckte unweigerlich zurück, als ich die unnatürliche, klamme Kälte seiner Haut spürte. Es schien kaum noch Leben in ihm zu stecken. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, bis Vilthon seine Wiederbelebungsversuche aufgab und verzweifelt die zitternden Hände vors Gesicht schlug. Ich starrte meinen Freund schockiert an. „Er schafft es doch, oder?“ fragte ich ihn atemlos. Vilthon wich meinem Blick aus und schüttelte verzagt den Kopf. „Wir haben ihn zu spät gefunden, Tilya. Ich kann nichts mehr für ihn tun.“ „Nein! Das kann nicht sein! Das glaub ich einfach nicht!“ rief ich und zerrte hilflos an dem durchnässten Hemd des leblosen Mannes. Vilthon erhob sich langsam. „Lass uns gehen und den Einwohnern Bescheid geben, Liebes. Sicherlich vermisst man ihn bereits. Mir ist es ein Rätsel, wie so etwas passieren konnte. In einem flachen Gewässer ertrinkt man nicht so ohne weiteres. Eine andere Ursache muss ihn das Leben gekostet haben. Dieser Mann sieht so aus, als hätte er keinen einzigen Tropfen Blut mehr in seinen Adern. Der Dorfarzt wird sicher die eigentliche Todesursache feststellen können.“ Vilthons Stimme hallte mir in den Ohren. Seine Worte schienen mir so sinnlos. Hinter meinen Augen tobte ein wilder Sturm. Ich blickte den Alwen fest an. „Er ist nicht tot, Vilthon.“ flüsterte ich und begann plötzlich, wie fremd bestimmt, mit meinen Fäusten auf den Brustkorb des Fremden einzutrommeln. Entsetzliche Gedanken schossen mir durch den Kopf, fantastische Vorstellungen von einem leibhaftigen Malar, der die Leute zu Tode erschreckte. „Mach die Augen auf!“ schrie ich den vermeintlichen Verlieken an. „Wach doch endlich auf, Mann!“ „Tilya, lass es gut sein, wir können ihm nicht mehr helfen…“ begann Vilthon und wollte sich gerade zu mir hinunter beugen, wahrscheinlich um mich tröstend in die Arme zu nehmen, als auch er die kleinen, gleißenden Funken bemerkte, die mit einem Male aus meinen vor Verzweiflung geballten Händen stoben. „Tilya, was tust du da?“ keuchte der Alwe fassungslos. Doch in diesem Augenblick konnte ich nicht auf die Frage meines Freundes reagieren, denn ich begann, als würde mich ein anderer Geist lenken, mit den flachen Händen mechanisch auf die Brust des mutmaßlichen Verlieken zu klopfen. Ich wusste nicht einmal, was genau ich eigentlich tat, als ein merkwürdiger, tiefer, vibrierender Klang ertönte, dann knisterte die Luft um uns herum, die plötzlich mit einer subtilen, aber exorbitanten Spannung geladen zu sein schien. Vilthon hob, wohl in der Erwartung eines herannahenden Gewitters, ergriffen den Blick zum Himmel. Doch die seltsame Kraft, die die Atmosphäre erfüllte und sich nun in winzigen, gleißenden Lichtpünktchen über uns niederschlug, ging zweifelsfrei von irgendetwas aus, das sich zwischen dem Fremden und mir entwickelte, während ich immer noch über seinem starren Körper kniete und nun beide Hände um sein aschfahles Gesicht legte. Ich beugte mich tief über den leblosen Verlieken und musterte die markanten Züge seines asketischen Gesichts, das mir so unergründlich vertraut schien und blieb mit liebevollem Blick an seinen schweren, entspannt geschlossenen Lidern hängen. Es kam der mir vor, als schliefe der Mann unter mir friedlich und ruhig. Und dann geschah es. Um die schmalen Lippen des hageren Totgeglaubten zuckte es fast unmerklich, dann schlug er unvermittelt seine großen Augen auf. Ich versank tief in seinem sanften, eindringlichen Blick. Dann fiel ich dem Fremden in stummer Glückseligkeit um den Hals. Eiskalte, fragile Hände tasteten vorsichtig über meinen zuckenden Rücken. Vilthon kniete sich stumm neben uns. Er wartete, bis mein lautloses Schluchzen verebbte und ich wieder ruhig und gleichmäßig atmete, dann zog er mich sachte an der Schulter zurück, und ich beeilte mich, etwas peinlich berührt, von dem Fremden hinunterzusteigen. Vilthon reichte dem Mann seine Hand, und half ihm, sich aufzurichten. Staunend stellte ich fest, dass ich mit meiner Einschätzung falsch gelegen hatte. Dieser Mann war eindeutig nicht alwisch, aber ein Verliek war er ganz sicher auch nicht. Sein sanftes Lächeln entblößte nicht die typischen verliekischen Reißzähne, und auch mit seinen strahlenden, graugrünen Augen hatte es eine eigenartige Bewandtnis. Beide Irisringe umschlossen jeweils ein Paar starrer Pupillen, so dass es den Anschein machte, als hätte man die Linsen in ihrer Mitte gespalten. Und nun ging mir dieser fremdartige, im wahrsten Sinne des Wortes doppeldeutige Blick, der kaum präzise zu erwidern war, durch Mark und Bein. Das Adrenalin kribbelte wie eine Armee aufgeregter Ameisen in meinen Venen. Ich empfand keine Furcht, kaum Scheu, vielmehr fühlte ich mich überrollt von einer gigantischen, wilden Welle überschäumender Freude. Er lebte. „Wie geht es Ihnen?“ fragte Vilthon den Fremden endlich zittrig. „Danke, ausgezeichnet.“ antwortete der Mann mit tiefer, rauer Stimme höflich lächelnd. Vilthon und ich tauschten vielsagende Blicke aus. „Wir haben Sie gerade hier am Ufer gefunden.“ fuhr Vilthon irritiert fort. „Sie gaben kein Lebenszeichen von sich. Wir dachten, Sie wären ertrunken.“ Er lachte hilflos. „Nun ja, offensichtlich haben wir uns geirrt. Zum Glück.“ Der Fremde nickte freundlich. Seine aufmerksamen Blicke schweiften über die Landschaft, die Pflanzen, den Himmel, das Meer. Dann musterte er uns aus seinen sternenklaren Augen mit unverhohlener Neugier. Diese Neuigkeit schien ihn nicht sonderlich zu beeindrucken. Er nahm sie mit einer Gelassenheit hin, die mich zutiefst befremdete. Wer war er? Und vor allem was war er? „Äh, anscheinend sind Sie nicht von hier.“ druckste ich verlegen herum, dann platzte ich endlich mit meiner Vermutung heraus. „Sind Sie vielleicht über das Meer hierher gekommen? Sind Sie… ein Mensch?“ Der Fremde legte fragend den Kopf schief, wie es Coatl, der Schnabelgecko tat, wenn er was ausgefressen hatte und von mir geschimpft wurde. Es war ein rührender, unschuldiger Anblick. „Tilya, bitte!“ Vilthon rammte mir mahnend den spitzen Ellenbogen in die Seite und ich schreckte hoch. „Ich bin Vilthon aus dem Hügeldorf.“ stellte sich der Alwe schnell vor, um mir keine Gelegenheit zu geben, noch mehr sinnloses Zeug zu faseln. „Und dies hier ist meine gute Freundin Tilya.“ Die gute Freundin Tilya ächzte zustimmend. „Ich bin erfreut, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen.“ erwiderte der Fremde, vielleicht nicht besonders gesprächig, aber voll aufrichtiger Liebenswürdigkeit. Vilthon stutzte. Die nüchterne, gefasste Haltung dieses Mannes verwirrte anscheinend nicht nur ihn angesichts der Tatsache, dass dieser Mann eben erst zurück in die Welt der Lebenden gekehrt war. „Sind Sie eigentlich alleine hier?“ fragte Vilthon schließlich. Der Fremde sah sich etwas verunsichert in der Gegend um. „Ich weiß es nicht.“ murmelte er leise. „Darf ich nach Ihrem Namen fragen?“ bohrte Vilthon weiter. Doch der Mann zuckte bloß hilflos mit den Schultern. Vilthon schluckte. Er ahnte Schlimmes. „Erinnern Sie sich denn überhaupt an irgendetwas, wie beispielsweise an die Namen Ihrer Freunde, an Ihre Familie, an Ihre Heimat?“ Der Unbekannte bestätigte den unangenehmen Verdacht des Alwen, indem er ihn nur mit seinen großen, hellen Augen ansah und nachdenklich den Kopf schüttelte, anstatt ihm die Fragen zu beantworten. „Du liebe Zeit, er hat doch nicht etwa sein Gedächtnis verloren?“ Auch ich hatte inzwischen den Ernst der Lage begriffen und blickte entsetzt zu Vilthon auf, der mir beruhigend zunickte und sich dann wieder dem Fremden zuwandte. Hilfsbereit legte der Alwe seinen Arm um die knochigen Schultern des Mannes. „Hören Sie, mein Freund. Wir befinden uns auf der alverliekischen Insel, westliche Küste. Meine Freundin und ich sind auf der Durchreise zu den östlichen Gebirgen. Wir haben vor, diese Nacht im Gästehaus des Blumendorfes zu verbringen, wo man auch Sie freundlich empfangen wird. Vielleicht braucht Ihr Gedächtnis nur einige Zeit, um sich zu regenerieren und wenn Sie am nächsten Morgen aufwachen, fällt Ihnen alles wieder ein.“ Der fremde Mann sah Vilthon mit der herzerweichenden Arglosigkeit eines Kindes an, und man spürte die Schutzbedürftigkeit, die von dieser faszinierenden Person ausging. „Ansonsten können wir Ihnen gerne anbieten, uns auf unserer Reise quer über die Insel zu begleiten. Wir werden auf unserem Weg noch in einigen Dörfern Halt machen, vielleicht haben Sie Glück, und einer der Orte kommt Ihnen bekannt vor, oder man kann sich umgekehrt irgendwo an Sie erinnern.“ lenkte Vilthon ein. Ich konnte spüren, dass er sich auf eine unerklärliche Art verantwortlich für den unbekannten Neuling fühlte, und ihn auf keinen Fall einfach seinem Schicksal überlassen wollte. Der Mann schenkte uns ein strahlendes Lächeln. „Ich schulde Ihnen beiden verbindlichsten Dank für Ihr Vertrauen. Natürlich nehme ich Ihr Angebot gerne an.“ Ich schmolz nur so dahin. Doch ich wollte mir nur ungern anmerken lassen, wie sehr mich das aparte Wesen des Fremden bezauberte. „Dann kommen Sie mal schnell mit uns mit, Sie sind ja völlig durchnässt.“ rief ich und hakte mich schwungvoll bei dem Mann unter. „Im Dorf werden wir Ihnen gleich trockene Kleidung besorgen und Sie können derweil ein warmes Bad nehmen. Morgen früh geht es nämlich für uns schon wieder weiter, und wenn Sie uns begleiten wollen, dürfen Sie uns bloß nicht krank werden. Aber sagen Sie, wie dürfen wir Sie denn jetzt eigentlich nennen, solange wir Ihren wirklichen Namen noch nicht kennen?“ „Mirlien.“ antwortete Vilthon spontan für ihren neuen Gefährten. Ich grinste. Mein alwischer Freund schien dazu berufen, vortrefflich passende Namen für die Leute zu finden. Mirlien bedeute in der alten verliekischen Sprache nämlich soviel wie „der Neue, Fremde, Ankömmling“. Mirlien lächelte glücklich. „Einverstanden.“ ____________________________________________________________________ Die Sonne ging gerade unter, als wir drei im Blumendorf eintrafen. Ich hatte die beiden achtlos zurückgelassenen Rucksäcke im tiefen Gebüsch wieder gefunden und sofort die weichen Decken aus meiner Tasche geklaubt, um sie Mirlien um den tropfnassen Körper zu wickeln. Während ich nun in den Lagerhäusern des Blumendorfes nach trockener Wäsche für Mirlien suchte, führte Vilthon ihn auf den Gemeindeplatz, um allen Leuten, die ihnen dort über den Weg liefen, Fragen über die Identität des neuen Freundes zu stellen. Leider schien der schüchterne Mann, der weder Alwe noch Verliek war, keinem der Einwohner bekannt zu sein, auch wenn sie sich sehr angetan von dem charismatischen Fremden zeigten. Da auch die Tafelnachrichten am Gemeindehaus keine Informationen enthielten, die irgendwelche Rückschlüsse auf Mirlien zuließen, kehrten die beiden Männer kurze Zeit später unverrichteter Dinge im Gästehaus ein. Vilthon zeigte Mirlien, wo die Schlafräume der Herren zu finden waren und erklärte ihm gerade, wie man die Wassertemperatur in der Dusche regulieren konnte, als ich auch schon die Treppe hinauf polterte. Zusätzlich zu meinem eigenen sperrigen Rucksack, den ich immer noch auf meinen Schultern trug, hielt ich eine zweite, neue Tasche in meinen Armen umklammert. „Hier, alles für dich!“ keuchte ich und ließ die Fracht vor Mirliens Füße fallen. In die Reisetasche hatte ich vorausschauend eine Xeraatmatte, eine Decke, eine Feldflasche, zwei Handtücher und einem Stapel neuer Wäsche gepackt. Auch an eine Zahnbürste, einen Schwamm und einen Kamm für den neuen Gefährten hatte ich umsichtig gedacht. Vilthon staunte nicht schlecht. Anerkennend pfiff er durch die Zähne. „Alle Achtung! Kannst du mir mal bitte verraten, wie du das alles so schnell auftreiben konntest?“ „Tja, mein Lieber, dafür gibt es eine simple Erklärung. Wenn man sich auf seinem Weg nicht an jeder Ecke eine Piragie ans Ohr quasseln lässt, kann man auch in kurzer Zeit so einiges erreichen.“ frotzelte ich keck. Ächzend befreite ich mich von meiner eigenen Tasche, die mit ihren harten Riemen brennende rote Striemen in meine schweißnassen Schultern gescheuert hatte und verstaute das verhasste Gepäckstück mit einem kleinen Tritt unter das Bett eines Gästezimmers, dass ich somit für mich beanspruchte. Als ich mich umwandte, stand Mirlien direkt vor mir im Türrahmen. Schüchtern bedankte er sich bei mir für meine Mühen und bat um Verzeihung für die Umstände, die er Vilthon und mir zu machen schien. Errötend winkte ich ab. „Keine Ursache, Mirlien. Das ist doch selbstverständlich.“ Mit glühenden Wangen sah ich dem unscheinbaren, aber nichtsdestotrotz außergewöhnlichen Mann nach, als er mit samt seinem Rucksack im Bad verschwand. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, rannte ich grinsend zu Vilthon und hopste mit einem schwungvollen Satz neben ihn auf das quietschende Bett seines Schlafraumes. „Und, was hältst du von unserem neuen Mitreisenden?“ fragte der Alwe mich leise. Ich sah ihn aus leuchtenden Augen an. „Ich weiß nicht, wer er ist, und was für ein Geheimnis ihn umgibt, aber ich vertraue ihm völlig. Findest du das töricht?“ Vilthon verneinte lächelnd. „Ich muss gestehen, dass ich etwas Angst davor hatte, dass du meinen spontanen Beschluss, Mirlien mit auf unsere Reise zu nehmen, ablehnst. Aber der Gedanke, ihn einfach hier im Blumendorf abzuliefern und ihn allein mit seiner Ungewissheit zu lassen, kam mir so verkehrt vor. Ich fühle mich für ihn verantwortlich.“ „Ich verstehe, was du meinst, Vilthon.“ flüsterte ich andächtig. „Außerdem ist Mirlien wirklich etwas ganz Besonderes. Hast du gesehen, wie rücksichtsvoll er sich bewegt? Wie vorsichtig er sich seinen Weg durch die Blumenwiesen zum Dorf gebahnt hat, so bedacht darauf, kein einziges Hälmchen umzuknicken? Eine so feinsinnige Person hat es mehr als nur verdient, dass man sich um sie kümmert.“ Vilthon nickte. „Es freut mich sehr, zu hören, dass du Mirlien mit den gleichen Augen zu sehen scheinst, wie ich. Du hast Recht, er ist anders. Er ist wundervoll. Unbeschreiblich. Ich habe das Gefühl, als würde ich ihn schon eine Ewigkeit kennen. Es kommt mir so vor, als könne er mit seinen sonderbaren Augen bis auf den Grund meiner Seele blicken. Seine Anwesenheit tut gut, findest du nicht?“ Auf meinen Lippen breitete sich ein zufriedenes Lächeln aus. „Ich empfinde ähnlich, Vilthon. Nur hätte ich es wohl niemals so präzise formulieren können, wie du.“ _________________________________________________________________ Eine viertel Stunde später öffnete sich die Tür des Waschraumes und Mirlien tapste, nur mit einem Handtuch bekleidet, das er sich lose um die Hüften geschlungen hatte, verschmitzt winkend an der offenen Tür des Schlafraumes vorbei, in welchem Vilthon und ich nebeneinander auf dem Gästebett saßen. In diesem kurzen Moment fielen uns die vielen großen, seltsam geformten weißen Narben auf, die den drahtigen, hellhäutigen Körper des sanftmütigen Mannes entstellten. Mit Bestürzung registrierte ich eine besonders schlimme Narbe, die sich quer über die Stelle an Mirliens Bauch zog, wo sich normalerweise der Nabel befinden sollte. Meine Kehle schnürte sich zusammen und als ich die Tür zu Mirliens Schlafraum ins Schloss fallen hörte, wandte ich mich erschüttert an meinen alwischen Freund. „Hast du das gesehen? Was kann ihn nur derartig verletzt haben, Vilthon? Ob es einen Zusammenhang zwischen diesen Narben und der Tatsache gibt, dass wir ihn heute bewusstlos am Ufer gefunden haben? Ob vielleicht sogar der Malar…“ „Tilya!“ unterbrach Vilthon meinen Redefluss schroff. „Wovon auch immer Mirlien diese Male davon getragen hat; dieses Ereignis muss schon lange zurück liegen. Das müsstest du eigentlich selber an der Beschaffenheit des Narbengewebes erkannt haben, meine Liebe. Deshalb kannst du dir deine fixe Idee, dass dein Malar seine Finger bei dieser Angelegenheit im Spiel gehabt haben könnte, auch schleunigst aus dem Kopf schlagen. Erkläre mir doch lieber, wie du es geschafft hast, Mirlien aus seinem todesähnlichen Schlaf erwachen zu lassen. Ein elektrisches Feld hat euch beide umgeben, Tilya. Als du Mirlien einfach nicht aufgeben wolltest, konnte ich deutlich eine unterschwellige Spannung spüren, die sich in der Umgebung entladen hat. Es schien so, als ob du diese Kraft kontrollieren würdest, Kleines, es schien, als würdest du von einem seltenen Talent Gebrauch machen.“ Ich schnaubte. „Von einem Talent? Ich? Mein Totem existiert nicht, Vilthon! Diese rätselhafte Energie muss von Mirlien ausgegangen sein!“ widerlegte ich etwas bissig. Unangenehmes Schweigen machte sich einige Augenblicke lang zwischen meinem besten Freund und mir breit. Ich knibbelte bedrückt an meinen Fingernägeln herum. „Mirlien ist kein Verliek. Aber ein Alwe ist er auch nicht. Meinst du, Mirlien ist ein Mensch?“ fragte ich den Alwen dann in einem sanfteren Ton. Vilthon zog die Augenbraue in die Höhe und legte seine Stirn in Denkerfalten. „Wenn er einer ist, dann müssten wir unsere Vorstellungen von Menschen komplett überdenken, Kleines. Allerdings kann ich mir kaum vorstellen, dass ein Mann mit so außergewöhnlichen Augen und einem derart einnehmenden Wesen menschlichen Ursprungs sein könnte, auch wenn ich mir, wie die meisten aller Inselbewohner, das Wissen über die typischen Merkmale dieses Volkes nur aus Büchern angeeignet habe.“ antwortete er. Ich nickte zustimmend. Das, was hierzulande über die Natur der Menschheit bekannt war, widersprach mit Gewissheit allem, was Mirlien verkörperte. Unser neuer Freund wirkte erhaben über alle menschlichen Schwächen, und dennoch schien er so unbedarft, so verletzlich, so verloren. „Es wird spät, Liebes. Willst du heute Nacht bei mir im Bett schlafen, so wie damals, als du noch ganz klein warst und Angst vor bösen Träumen hattest?“ scherzte Vilthon, und wir beide brachen in schallendes Gelächter aus, bis uns die Tränen in die Augen stiegen. Eigentlich war diese Frage gar nicht wirklich komisch oder witzig aufzufassen, doch das gemeinsame Lachen wirkte sicherlich nicht nur auf mich wie eine Befreiung von dem Stress, der uns an diesem Tag besonders schwer zu schaffen gemacht hatte. Dann sprang ich plötzlich wie vom Querkenkneifer gebissen auf, klaubte mir in meinem Zimmer hastig Handtuch und Nachthemd aus dem Rucksack und flitzte damit schnell ins Badezimmer, bevor Vilthon mir zuvorkommen konnte. „Erster! Aber keine Angst, ich beeile mich!“ brüllte ich durch die Waschzimmertür, was von Vilthons ergebenen und relativ hoffnungslosen „Ja, ja. Natürlich…“ quittiert wurde. Anscheinend teilte Mirlien meine Leidenschaft für kaltes Duschen, denn ich fand den sauber verlassenen Waschraum wider Erwarten nicht erfüllt mit dem schwülem Dunst erhitzen Wassers vor, sondern angenehm kühl temperiert. Ich hielt brav mein Versprechen ein, und machte nach zwanzig Minuten das Bad für Vilthon frei, dem ich zur Entschädigung einen dicken Gutenachtkuss auf die Wange drückte. Dem Alwen schoss das Blut in den Kopf und er grummelte noch ein wenig vor sich hin, bevor auch er endlich den Waschraum aufsuchen durfte um dort zu seiner wohlverdienten, heiß ersehnten Dusche zu kommen. Erschöpft öffnete ich die Tür zu meinem Schlafraum, hielt aber mitten auf der Schwelle inne. Auf leisen Füßen schlich ich zur Tür, die zu Mirliens Schlafraum führte und lauschte einige Augenblicke lang an ihrem spröden Holz. Dann drückte ich behutsam die Klinke herunter und betrat lautlos das Zimmer. Vilthon hätte mich jetzt dafür gewiss meiner Unverfrorenheit gescholten. „Tilya.“ hörte ich Mirliens dunkle Stimme fragend durch das Zwielicht raunen. Stumm schritt ich zu seinem Bett, in welchem er aufrecht lehnte, so als hätte er meinen Besuch bereits erwartet. Zaghaft beugte ich mich zu ihm hinunter und gab dem fremden Mann einen ebenso warmen Kuss auf die raue Wange, wie ihn eben noch mein bester Freund von mir erhalten hatte. Es war unglaublich. „Bis Morgen, Mirlien.“ flüsterte ich in die Schatten der Dunkelheit. „Ich wecke dich in der Frühe.“ „Schlaf gut, Tilya.“ verabschiedete sich der Mann von mir, als ich den Raum ebenso leise, wie ich ihn betreten hatte, auch wieder verließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)