Lost Prince von Ireilas (Krieg auf Aira) ================================================================================ Kapitel 1: 1. Der Anfang ------------------------ Vogelgezwitscher war zu hören, in den schönsten Tönen sangen sie an diesem Morgen. Die Sonnenstrahlen des neuen Tages berührten sacht die obersten Blätter des weiten Waldes, drangen nur an luftigen Stellen bis zum Boden durch. Es war ein warmer Frühling, der die ersten versteckten Tiere und Insekten aus ihrem Schlaf lockte. So schön dieser Morgen auch war, er hing keinesfalls mit der momentanen Situation des Landes zusammen – Räuber hausten in den Wäldern, Dämonen und so manches Gesindel durchstreiften die sonst so friedlichen Steppen und sorgten für große Unruhen – es war Krieg. Am Boden lag die junge Frau, übersät von Laub und Ästen. Als sie ihre Augen öffnete, fühlte sich ihr Körper an wie Stein. Das erste, was sie erblickte, war das von Sonnenlicht erleuchtete Blätterdach des Waldes. Sie blinzelte mit ihren braunen Augen, ehe sie das Gesicht verzog und sich mit Hilfe ihrer Arme auf den erdigen Boden abstützte, um sich aufzusetzen. In ihrem Kopf spürte sie Leere, große Leere, die durch die üblichen ersten Gedanken nach einer langen Nacht nicht gefüllt werden konnte. Wieso nur? Sie konnte sich nicht erinnern. An gar nichts. So kniff sie die Augen zu und fasste sich verzweifelt auf den Kopf. Nebenbei spürte sie mit den Fingern die vielen Blätter und Dreck in ihrem brünetten Haar. Auch wenn sie keinerlei Erinnerungen besaß, so wusste sie blind, dass dies störte. Schnell durchstreifte sie ihre Haare und holte alles raus, was nicht zu ihr gehörte. Sie zog gerade an einem Ast, der sich verheddert hatte, als ihr ein Gedanke in den Kopf schoss: „Siri…“, dabei legte sie den Zweig zur Seite. „Mein Name… mein Name ist Siri.“ Ein wenig überrascht und verloren blickte sie nun sitzend umher, kreuz und quer durch den Wald. „Und wo bin ich hier?“ Sitzen zu bleiben hatte für das Mädchen keinen Sinn. So stand sie auf – benutzte dabei einen Baum als Stütze, da ihre müden Beine sie nicht gleich tragen wollten – und sah an ihrem hellvioletten Kleid runter, welches bei den Schenkeln endete. Sie legte den Kopf schief, bei dem Anblick ihrer grau befleckten Strumpfhose, die höchst wahrscheinlich einmal weiß war. Einzig ihre kniehohen Stiefel, gleichfarbig mit dem Kleid, schienen von der Verwitterung des Waldes verschont geblieben zu sein. So schüttelte und strich sich Siri den Stoff ab, bis er halbwegs frei von Staub und Dreck war. Sie entdeckte gleich danach Seitentaschen an ihrem Kleid, in denen sie mit den Händen fuhr, auf der Suche nach ihrer Identität. Während sie in der rechten Tasche nichts finden konnte, spürte ihre linke Hand etwas. Sogleich zog sie Siri heraus und sah beim öffnen ihrer Faust einen verzierten, goldenen Knopf. Nun wirklich überrascht, blinzelte sie das kleine Objekt an und drehte es umher. Er war schön, gehörte aber weder zu ihrer Kleidung, noch in den Wald – und wirklich geholfen hatte er ihr auch nicht. So steckte Siri ihn seufzend zurück, ehe sie aufblickte und die Gegend absuchte: Ein schmaler Trampelpfad führte hinter einem Gestrüpp durch den Wald entlang, vielleicht sogar in ein Dorf mit Menschen. So entschloss das ältere Mädchen loszugehen. Auf dem Fleck stehen bleiben würde ihr sowieso keine Erinnerungen zurückbringen, so dachte sie sich. Beim Losgehen blickte sie immer wieder hinauf, zum leuchtenden Blätterdach. Es war eine friedliche Gegend und singende Vögel begleiteten sie den ganzen Weg entlang. Schließlich zog sie die Augenbrauen zusammen. „Desteral.“, überlegte sie schließlich, mit dem festen Wissen, dass es ein wundervolles Land war, indem sie sich befand. Am Ende des Weges konnte Siri endlich das Licht der Außenseite des Waldes erkennen – so wurde sie schneller, bis sie anfing zu laufen. Die Lichtung war immer näher greifbar, bis sie schließlich das Ende erreichte. Verloren und immer noch ein wenig verzweifelt blieb sie stehen, als sie über die Weite der großen Wiesensteppe starrte, auf der sie sich jetzt befand. Heftige Windböen wehten um sie, die wenigen Wolken am blauen Himmel zogen schnell über das Land. Noch immer wusste Siri nicht genau, wo sie nun war und wohin sie eigentlich gehen wollte. Als sie abermals in ihren Gedanken versank, blieben in der Ferne schwarze Gestalten stehen. Einer der vier deutete aus der Ferne auf sie, ehe die anderen nickten und ihm folgten. Siri hatte dies gerade bemerkt und sich seitlich zu ihnen gedreht, da liefen die verhüllten Gestalten auf sie zu. Immer schneller, bis Siri es doch für besser hielt, umzudrehen. „Bleib’ sofort stehen!“, brüllte einer ihr nach und griff nach einem schwarzen Schwert, welches um seinen Gürtel gebunden war. Nun vollkommen in Panik, dachte Siri nicht im Traum daran, stehen zu bleiben! Gerade erreichte sie den Pfad des Waldes, da versperrten ihr zwei der verhüllten Gestalten den Weg. Reaktionsartig blickte sie auf diese, ehe ihr ein „Wer seid ihr!?“ entfleuchte. Im nächsten Moment wurde ihre Frage beantwortet – die Gestalten nahmen grinsend ihre Roben vom Kopf, als ihre finsteren Gesichter zum Vorschein kamen: Dämonen! Sie schienen verwandt zu sein – zumindest besaßen alle dunkelviolette Hautfarbe und schwarzes Haar. Aus Geschichten war klar, dass Dämonen nicht freundlich waren. Siri dachte zwar darüber nicht nach, lief aber schon allein beim ersten Anblick der dämonischen Gesichter weg. „Du sollst stehen bleiben!“, wieder schrie der Dämon mit der schwarzen Klinge, ehe er diese zog und nach Siri schwang, die ihm gerade beinahe in die Arme gelaufen wäre. Wie durch einen Reflex sprang das Mädchen zurück – und wunderte sich anschließend, wie sie das denn plötzlich gemacht hatte. Der Dämon mit dem Schwert besaß absolut keine Geduld und holte nun öfter nach ihr aus. Er schlug immer schneller umher, Siri konnte von mal zu mal nur mehr knapp ausweichen – hinter ihr war eine herausstehende Wurzel und sie stolperte seitwärts. Kreischend rollte sie sich zur Seite, somit erwischte die Klinge nur ein Stück ihres Kleides. „Fesselt sie!“, brüllte der schlagende Dämon, „Fesselt sie endlich, los!“ Alle Vier standen schließlich über ihr, legten ihr an Armen und Beinen schwere Eisenfesseln an. „Nein!“, Siri wehrte sich mit allen verbleibenden Mitteln und strampelte wild umher, „Was wollt ihr von mir?!“ „Sei still!“, einer der vier trat ihr leicht in den Magen, worauf hin sich das Mädchen krümmte und ein paar Mal kräftig husten musste. Als Siri nun kein Wort sprach, steckte der Dämon die Klinge weg und hob sie hoch, ehe er sie sich über die Schulter warf und mit einem einzelnen Kopfnicken seinen Kameraden andeutete, dass die Reise weiter ging. „Wo- wo bringt ihr mich hin? Bitte…!“ Keine Antwort. Diese Burschen schienen nicht mit Außenstehenden zu reden… und da fiel es ihr ein: Siri wusste wieder, wer diese Dämonen waren. Krieg! Richtig, Desteral hatte einen beginnenden Krieg mit dem Nachbarland, Azamuth. Plötzlich bekam sie auch ein sehr bedrängendes Gefühl. Als ob ihr die Zeit davon laufen würde, weil sie auf einer wichtigen Mission war. Doch was? Was war so wichtig? Siri musste weg, das war ihr klar. Doch diese Typen waren ihr weit überlegen und schienen sie nicht einfach so gehen zu lassen. Im Gegenteil, es schien, als ob sie das Mädchen von allen Seiten bewachen würden, damit sie auf keinen Fall entkommen konnte. Ob diese Dämonen mehr als nur Zufall waren? Wurde sie von ihnen schon länger gesucht…? Dann seufzte Siri, sah vom Rücken aus getragen dem Dämon dahinter ins Gesicht. „Leute… warum machen wir nicht einen Deal? Ihr lasst mich laufen und ich bringe euch andere Frauen.“ Der bewachende Dämon im Hintergrund musste prusten. „Das glaubst du doch selbst nicht.“ „Jungfrauen?“ „Jung- was? Was sollen wir denn damit?“ „Na ihr wisst schon-“, Siri verdeutlichte es mit den Händen, auf denen immer noch die schweren Ketten hangen, „Vier starke Krieger, allein in einem fremden Land… deswegen seid ihr doch so sauer, oder-?“, da bewegte sich ruckartig der Dämon unter ihr, so dass Siri geschüttelt wurde; anschließend sah sie böse zu ihm. „Hey!“ „Sei still Mädchen, du hast doch keine Ahnung.“ „Ja… ja, das ist richtig!“, schnell klopfte Siri dem Dämon auf den Rücken, „Ich habe wirklich keine Ahnung! Ich weiß gerade mal meinen Namen und-“ Der Dämon warf sie von seiner Schulter, sodass sie im Gras landete. „Sei endlich still! Wenn ich Lust auf quatschen hätte, würde ich mit nem’ Totenschädel sprechen!“ „Nicht, Boss! Denk an deinen Blutdruck… wir müssen weiter, das hat doch keinen Sinn.“ Ein wenig wütend starrte der aufgebrachte Dämon zu seinen Kameraden, ehe er schnaufte. Nachdem er unruhig, wie ein Löwe, auf der Stelle hin und her gewippt war, konnte er sich beruhigen. „Hmpf.“, schließlich beugte er sich und griff nach Siri. In diesem Moment hörte man etwas. Es klang wie eine helle Glocke, die über der ganzen Steppe erklang und gen Horizont verstummte. „Was war das?“, einer der vier sah unruhig umher. „Habt ihr das auch gehört?“ Dabei hob Siri den Kopf: „Was denn?“ „Sei still!“ Abermals hörte man sie läuten. „Da! Da war es schon wieder! Boss, was-“ Der Anführer hob die Hand und deutete somit seinen Kameraden an, dass sie kurz schweigen sollen. Alle Fünf, auch Siri, lauschten dem schallen des zweiten Glockenschlages, ehe dieser verstummte. Vorsichtig griff der Anführer nach seinem schwarzen Schwert. „Engel…“ „Engel!?“, Siri traute ihren Ohren nicht – auch wenn sie sich an nichts erinnern konnte, so hatte sie den Verdacht, ebenfalls vor dem Gedächtnisverlust noch nie einen gesehen zu haben. „Die Mistviecher greifen gleich an…“, nun zog der Dämon die Klinge, ging unruhig um Siri her, „Verteilt euch, lasst sie nicht an das Mädchen ran!“ Gerade hatte einer seiner drei Männer „Zu Befehl-“ ausgesprochen, da durchschnitt ein goldener Pfeil die Luft, ehe er im Hals des Dämons stecken blieb – der sogleich, röchelnd, in die Knie ging. Siri riss die Augen auf, als sie sah, wie sich der Pfeil im hellen Licht auflöste und den verletzten Dämon mit sich nahm – Stück für Stück, bis dieser vor seinen verbliebenen Kameraden verschwand. „Verdammt!“, der Anführer rammte überaus wütend sein Schwert in den Boden, sah gen Himmel: „Zeigt euch, ihr Schweine! Wo seid ihr!?“ Ein weiterer Pfeil kam angeschossen, direkt am Kopf des Dämons vorbei. Schaute man in die Richtung, aus der der Pfeil kam, sah man zwei Lichtsäulen, die im gleichen Abstand aus den Wolken nach unten wuchsen, ehe nacheinander Gestalten mit riesigen weißen Flügeln den Boden berührten. Sie sahen, bis auf die Schwingen, aus wie Menschen. Ihre Rüstungen waren weißgold und nur leicht gepanzert. Nach ihrer Ankunft schossen sie wieder mit Lichtpfeilen, die scheinbar aus dem Nichts in ihrer Armbrust entstanden. Da lief einer der verbliebenen Dämonen los, so schnell er konnte: „Ich hol’ die Verstärkung, haltet durch!“ Gleich darauf gingen die restlichen beiden in Position, ehe der Anführer einen kommenden Pfeil in der Luft mit dem Schwert abwehrte. Nun zog auch endlich sein Kamerad eine kurze Klinge, kämpfte sich mit dieser bis zu den zwei Engeln vor. Ein Engel war männlich, mit langem, blondem Flechtzopf, der andere eine junge Frau, die nun ebenso einen weißen Dolch zog, um dem Dämon entgegen zu kommen. Als ihre zwei Entführer beschäftigt waren, hielt es Siri für den passenden Zeitpunkt, den männlichen Engel auf sich aufmerksam zu machen: „Heeeelft mir! Ich liege hier, hiiieer heeer!“ Nun ja, beschäftigt waren dann wohl doch nicht beide. Der Anführer hatte endgültig die Schnauze voll von Siri – so stapfte er zu ihr und zog an ihren langen Haaren, sodass sie den Kopf heben musste, schrie sie an: „Sei still! Du sollst endlich still schein!! Ob gesucht oder nicht: noch ein Mucks und ich schneide dir die Kehle durch…!“ Gerade hob er sein Schwert, da schoss eine starke Windböe vorbei, die es ihm unerwartet aus der Hand riss. Verdutzt von dieser scheinbaren Magie, sahen beide in die Richtung, aus der die Windböe kam. Siri dachte, bunter geht es nicht mehr, als ein weiterer blonder Engel – ohne Flügel – die Lichtsäule herunter kam und langsam seinen Arm senkte; es schien so, als ob die Windböe dank ihm entstanden wäre. Er unterschied sich von seinen Kollegen; nicht zuletzt trug er keine Rüstung, sondern ein einfaches, weißes Hemd, eine graue Hose und normale, braune Stiefel. Wütend schnaufend ließ der Dämon darauf hin von Siri ab und starrte dem Kerl ins Gesicht. Obwohl ein eher abwesender, ruhiger Blick von seinen blauen Augen ausging, sah man ihm deutlich seine Entschlossenheit an. Sofort griff der Dämon nach seinem Schwert im Gras und lief auf ihn zu – er schwang es und knallte kurz vor dem Ziel auf eine Lichtklinge, die in den Armen des jungen Kriegers erschienen war. Der Anführer zischte, während er sein Schwert gegen seines drückte: „Verschwinde, Mischling. Selbst für Engel bist du nur eine Schande!“ Der junge Halbengel hatte alle Mühe sein Schwert zurückzudrücken, „Schön wär’s-“, und stieß den Dämon mit Hilfe von Magie nach hinten. Siri musste lächeln. Sie wusste, dass die Engel auf ihrer Seite waren – und freute sich umso mehr, als sie sah, wie der junge Krieger den um zwei Köpfe größeren Dämonen zurückstieß. Zufrieden wurde der Halbengel kurze Zeit unaufmerksam und sah nicht, wie der zweite Dämon aus dem Hinterhalt angelaufen kam. „Pass auf!“, rief Siri, die mühevoll versuchte, sich mit den schweren Fesseln aufzusetzen. Auf ihren Ruf reagierend wich der Junge ungewöhnlich schnell aus: hellgelbe Flügel erstreckten sich blitzartig auf dem Rücken und verhalfen ihm zu dieser schnellen Wendung. Ungläubig wurde er von Siri beobachtet und auch die zwei angreifenden Dämonen trauten ihren Augen kaum. Der Überraschungsmoment schien perfekt. Sogleich zielten die zwei Engel aus dem Hintergrund, feuerten ihre Lichtpfeile ab und trafen die unvorbereiteten Dämonen mitten in die Brust. Als diese sich auflösten und nichts als ihre Waffen zurück ließen, senkten erleichtert die Engel ihre Waffen. Siri klappte ebenfalls beruhigt ins Gras zurück; sie fühlte sich sicher und wusste, dass sie nun wieder frei war – und hatte schon beinahe vergessen, dass sie noch in Ketten lag. Da beugte sich der Halbengel über sie – seine Flügel waren verschwunden – und verdeckte dabei die grelle Sonne: „Alles in Ordnung?“ Stumm nickte Siri, wedelte mit den Fesseln umher: „Nur die da stören ein wenig.“ Es schmunzelte, „Kann ich verstehen.“, und streckte die Hand nach ihr aus. Er half Siri auf die Beine, während der weibliche Engel ihr die Fesseln abnahm. Ihr Kamerad sah währenddessen überlegend gen Horizont. „Das war noch nicht alles… einer ist geflohen und wird mit Verstärkung vorrücken.“, dann sah er zum Halbengel, „Noshyru, du gehst vor und reist nach oben. Nimm die Kleine hier mit – ich will wissen, warum sie in den Augen der Dämonen so wichtig ist.“ „Ja, das wüsste ich auch gerne.“, Siri drehte an ihren freien Handgelenken, ehe sie zum Engel mit Flechtzopf sah, „He, ich bin nicht klein… und wohin ist ‚nach oben’?“ „Oben.“, der Halbengel deutete gen Himmel. „Okay. Verstehe ich nicht.“ Er nahm Siri bei der Hand und stellte sich neben sie. „Du wirst es gleich sehen.“ Eine Lichtsäule erschien über ihren Köpfen, zu der Siri überrascht hochsah. Dann hoben ihre Beine vom Boden ab, ehe beide langsam nach oben schwebten. „Ich fliege!“, freute sich Siri. „Nein.“, so der Halbengel, „Du schwebst.“ Siri warf ihm nur mehr einen trockenen Blick zu. Als sie nach unten sah, entdeckte sie schließlich die besagte Verstärkung der Dämonen über das Feld laufen – es waren dutzende. Gleich darauf erschienen weitere Lichtsäulen an verschiedenen Stellen, ehe eine Armee aus Engeln den Boden berührte. „Die schöne Wiese…“, sie drehte sich zu dem Halbengel, „Ich habe so viele Fragen…“ „Die habe ich auch an dich. Doch lass uns oben weiterreden, in Ordnung?“ Siri nickte. „Okay! Ach-“, fügte sie an, „Ich heiße Siri.“ „Siri – und weiter?“ „Nichts und weiter. Siri… mehr weiß ich nicht…“ „Wenn das so ist…“, der Halbengel verbeugte sich, „Freut mich dich kennen zu lernen, Siri. Mein Name ist Lyze Noshyru.“ Kapitel 2: Verblasste Erinnerungen ---------------------------------- „Also… bist du im Wald aufgewacht und konntest dich an absolut nichts erinnern?“ Siri nickte. „Ich weiß nur, dass mir die Zeit davon läuft… warum genau, weiß ich aber nicht.“ „Verstehe.“, Lyze biss von seinem Kuchen ab und deutete mit einem Kopfschütteln ein „Tragisch“ an. Siri und der Halbengel saßen auf einer niedrigen, marmorartigen Mauer, vor einem Parlament. Wo sie sich genau befand, wusste sie nicht. Es gab nur wenige breite, gepflasterte Wege, sonst krochen überall Nebelfelder und Wolken auf dem Boden umher. Wenn man nach oben sah, konnte man auch keinen klaren Himmel erkennen, die Wolken kreisten, als wäre man in einer Kuppel. „Und…“, begann Siri, „…du bist also ein… Halb äh-“ „Ein Halbengel, ja.“, bestätigte er, „Meine Mutter war ein Engel… ich habe es selber erst vor ein paar Jahren heraus gefunden… ich weiß nicht einmal, was ich hier soll.“ Etwas überrascht blickte Siri zu ihm rüber: „Ach – du wohnst also nicht hier?“ „Ich gehöre nicht hierher, wenn du das meinst.“ „Ach so…“ Lange wurde Siri von ihm angeschaut, ohne das ein Wort fiel. Schließlich zog das ältere Mädchen eine Augenbraue hoch. „Was starrst du denn so?“ „Du bist ein Mensch?“ „Ja doch.“, sie drehte den Kopf gerade aus, „Im Gegensatz zu dir.“ „Halb.“, schmunzelte er, „Wie bereits gesagt. Mein Vater war kein Engel.“ „Na zum Glück Halbmensch; Halbdämon wäre echt krass.“, lachte Siri. „Ja, dann wäre ich garantiert nicht hier.“ „Und was tust du hier genau?“ „Ich bin von unserer Herrscherin, Alaphantasa, einberufen worden – in die Armee des Lichts.“ „So ist das also!“, Siri zupfte nebenbei an ihrem neuen, weiß-blauen Kleid, das sie hier oben geschenkt bekam. „Scheint, als würde sich der Krieg schnell ausbreiten… der Engel vorhin hat doch gesagt, dass die Dämonen weiter vorrücken…“ „Och, so schnell wächst er gar nicht. In letzter Zeit waren es so zwei bis drei Schlachtfelder pro Woche.“ „In letzter-?“, verwirrt schaute Siri auf, „Wie meinst du das? Ich bin mir sicher, dass ich erst vorgestern erfahren habe, dass ein Krieg in Anmarsch ist!“ Nun verwirrte sie Lyze. Er schaute etwas verständnislos umher und kratzte sich anschließend am Kopf: „Wovon redest du? Der Krieg überrollt Desteral seit zwei Monaten-“ „Was!?“, Siri sprang von der Mauer, ehe sie nervös auf und ab ging: „Das kann nicht sein! Das würde ja bedeuten- ich mein, ich hätte ja dann über zwei Monate… geschlafen…“, das Mädchen musste hart schlucken, bevor ihr Blick zu Lyze wanderte: „Ist so was denn überhaupt möglich…?“ „Hm, tja…“, er aß seinen Kuchen fertig und zerknüllte die Serviette, „Möglich schon, wenn Magie im Spiel war… was ist, wenn du von etwas wusstest, dass du nicht wissen solltest? Vielleicht wollte jemand verhindern, dass du irgendetwas ausplauderst. Ein Dämon zum Beispiel, der dich nicht in den Händen anderer Dämonen sehen wollte… oder Engeln?“ „Lyze, das ist echt nicht hilfreich!“, sie setzte sich kurzerhand auf den nebeligen Boden, „Ich weiß ja, dass ihr Engel wissen wollt, wieso ich für die Dämonen so wichtig bin, aber das weiß ich selbst nicht! Wie denn auch, nach zwei Monaten Schlaf!?“ „Du-“, der Halbengel deutete auf sie, „Dein neues Kleid wird schmutzig.“ „Lyze! Das ist jetzt so was von unwichtig! Wenn du mir nicht helfen willst, kannst du mich auch gleich wieder runter-“, da stockte Siri. Als ihr Gesprächspartner den Kopf verdrehte, konnte er zugleich beobachten, wie ihre Augen immer größer wurden. „Was ist…?“, schließlich sprang er von der Mauer, „Alles in Ordnung?“, und ging an sie heran, bevor er ihre Schulter berührte. „…Siri?“ „Ich weiß es wieder…“, murmelte sie vor sich her, „Ich kann mich wieder erinnern… ich erinnere mich wieder!“ „An was? An was kannst du dich erinnern, Siri?“ „An meine Mission! Ich muss den Prinzen finden!“, sie sprang unerwartet auf, packte dabei den Halbengel an den Schultern, „Der Prinz! Ich muss ihn finden, Lyze!“ „Wie- was? Welcher Prinz denn? Wovon sprichst du?“ „Na Prinz Vilior von Azamuth! Er ist in Gefahr-“ „Azamuth!?“, Siri bekam es nur flüchtig mit, als Lyze die Hand gegen sie drückte und dabei einen Wind entfesselte, der sie von ihm wegdrückte. „Ist das dein Ernst? Du behauptest wirklich, du müsstest den Thronfolger vom gewalttätigen Nachbarland retten? Ts, ich wusste es…“, der Halbengel schüttelte nur mehr den Kopf, ehe er sich von ihr wegdrehte. „Du gehörst zu den Dämonen. Darum haben sie dich nicht getötet.“ „Lyze was- was redest du denn da?“, sie ging zu ihm, worauf hin er sich wieder wegdrehte. „Hör mal- hey, dreh dich nicht ständig weg! …Sehe ich etwa aus wie ein Dämon? Ich bin ein Mensch; auch wenn ich alles vergessen habe, so trotzdem nicht die Gewissheit, was ich bin!“ Kurz seufzte das Mädchen, ehe sie versuchte, diese überaus merkwürdige Geschichte zu erklären. „Hör zu. Der König will Desteral übernehmen – das weißt du doch. Sein Sohn aber, Prinz Vilior, stimmte seinem Vater nie zu. Ich weiß zwar noch immer nicht den Grund für diesen Krieg und wer mir diesen Auftrag gab, doch der Prinz ist verschwunden! Er wurde höchst wahrscheinlich mit Absicht aus seinem Reich gebracht und irgendwo eingesperrt, damit er nicht dazwischen funkt!“, Siri lief zu Lyze und versuchte ihm ins Gesicht zu schauen: „Verstehst du denn nicht? Nur er kann den Krieg beenden!“ Skeptisch seufzte der Halbengel und blickte sie, endlich, schweigend an. Wie ein Dämon sah sie nun wirklich nicht aus. Dennoch klangen ihre Worte sehr unglaubwürdig. „Bitte!“, flehte Siri, „Du musst mir glauben! Ich muss wieder hinunter… ich muss Prinz Vilior helfen!“ Lyze gab auf. Seufzend drehte er den Kopf zur Seite und deutete mit seinem Blick den Glauben an ihre Worte an. „Ist ja gut… ich werde dich nicht an die Engel verraten.“ „Wirklich?! Oh danke, danke Lyze!“, sie schüttelte seine Hand, „Du bist ein toller Halbengel-Dingens!“ „Das hat nicht wirklich etwas mit dir zu tun.“, er zog die Hand weg, „Engel sind sehr streng, was Dämonen angeht, und würden dich garantiert nicht gehen lassen – und dich schon gar nicht mit diesem Wissen freundlich behandeln.“, er ging zur Mauer, ehe er sich darauf anlehnte. „Wenn es um Politik zwischen ihnen und Dämonen geht, nehmen sie es viel zu ernst. Und andere Fälle…“, er sah bedrückt zu Boden, „Andere Fälle wollen sie erst gar nicht hören.“ „Wie meinst du das?“, vorsichtig lehnte sich Siri neben ihn zur Mauer, „Nun sag schon… klingt, als wärst du ziemlich wütend über die Engel…“ „Wütend ist gar kein Ausdruck.“, er blickte zu ihr, „Wenn ich nicht in dieser Armee verwickelt wäre, würde ich sofort verschwinden.“ „Was haben sie denn angestellt?“ „Wenn du es wirklich wissen willst…“, er seufzte, „Meine kleine Schwester, Aira, wurde von Dämonen entführt. Sie ist noch ein Kind.“ „Oh du meinte Güte- das… das tut mir Leid!“ „Das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Ich kenne sie ja kaum – vor einem Monat habe ich sie das erste Mal kennen gelernt. Unsere Eltern starben, als ich zehn war. Wenn man also davon ausgeht, ist sie im selben Jahr geboren, wie unsere Eltern starben. Sie wurde adoptiert und wo anders aufgezogen, weshalb ich nichts von ihrer Existenz wusste.“, Lyze seufzte tief, bevor er den Kopf senkte. „Ich kann ihr nicht helfen. Ich kann es einfach nicht. Die Engel lassen mich nicht meinen eigenen Weg gehen. Darum will ich hier unbedingt weg…“ Siri zog an seinem Arm: „Dann komm mit mir!“ „Das kann ich nicht! Hast du mir nicht zugehört?“ „Ja, doch, aber-“ „Komm schon.“, meinte Lyze, der eine andere Richtung einschlug, „Ich bringe dich zurück nach Desteral. Von dort aus musst du aber alleine zurecht kommen.“ Nach einem kurzen Gehweg gelangten die zwei ins Zentrum des Himmelreiches: Ein großer Platz, in der Mitte ein schöner Springbrunnen. Direkt im Norden des Platzes war ein riesiges, verziertes Tor, rundherum Mauern. Hinter den Stäben des Tores konnte man eine wundervolle, große Glocke sehen – wiederum dahinter lag eine Art Rathaus, in der sich die Herrscherin der Engel, Alaphantasa aufhielt. Das Herrschen blieb den adeligen Engeln innerhalb der Familie überlassen. Lyze erklärte Siri, das dieses Reich praktisch eine schwebende Insel war, vor Windböen geschützt, mittels einer mächtigen Kuppel. Es gab viele Inseln, über ganz Desteral verstreut. Sie kam einfach nicht aus dem Staunen heraus, denn alles hier war so friedlich. Plötzlich stellte sich der Engel von vorhin in ihren Weg. Sein helles Haar war wieder zu einem Zopf geflochten und seine jetzige Rüstung verriet, dass er ein recht hohes Tier war. Er verschränkte die Arme und stellte sich vor Lyze: „Na? Schon auf dem Heimweg?“ „Ich bringe sie wieder hinunter.“, seine kurze Antwort klang kalt, „Siri, geh doch schon mal zu den vier Säulen dort vor, ich komme gleich nach.“ Also nickte Siri und ging voraus. „Hast du was in Erfahrung bringen können, Noshyru?“, fragte der Engel. Lyze schüttelte den Kopf, sah ihm dabei nicht in die Augen: „Nein, nichts. Sie ist nur ein Mensch, der zufällig in die Arme der Dämonen lief. Wie immer. Wohl passten sie so gut auf sie auf, weil die Kerle ‚ihre Sammlung’ erweitern wollten.“, so die Antwort. „Hm, schade. In Ordnung... sag Bescheid, sobald es etwas Neues gibt.“ „Aber immer doch.“, bestätigte er, bevor sich seine Wege von dem des Engels trennten. Bei den vier Säulen angekommen, ging Siri im Kreis und untersuchte diese. Es war nichts Auffälliges an ihnen, nur der Boden in der Mitte war nicht gepflastert – Wolken verdeckten den Grund. „Okay, stell dich in die Mitte.“, drängte Lyze, der sie eilig an dem richtigen Fleck platzierte. „Äh- alles in Ordnung?“, fragte sie noch. Lyze sah zu ihr rüber, lächelte freundlich: „Natürlich.“ Im nächsten Moment glitten die Zwei durch den Boden durch. Wieder erschrak Siri und spürte, wie sie abwärts schwebte. Es ging schnell, der Nebel um sie herum verschwand und zum Vorschein kam wieder blauer Himmel. Sie schaute umher und bemerkte, dass sie erneut in einer Lichtsäule waren. Wohl hatte Lyze absichtlich einen Ort gewählt, an dem nicht gerade der Krieg tobte; zumindest konnte man von oben nur die weite Steppe, ohne Dämonen erkennen. Am Boden angekommen, ging Siri zwei Schritte nach vorne und blickte über die Landschaft. „Du bist etwa eine Meile von einem Dorf namens ‚Sincila’ entfernt. Keine Angst, folge dem Weg und du wirst es schnell finden.“, fügte Lyze schmunzelnd hinzu. Das Mädchen drehte sich zu ihm und brachte kleinlaut ein „Danke.“ hervor. „Und… du willst wirklich nicht mitkommen?“ „Nein, es tut mir leid.“, langsam stieg er zurück in die Lichtsäule, ehe es wieder aufwärts ging. „Vielleicht sieht man sich ja wieder – halte die Augen gen Himmel offen.“ „Ist gut.“, nickte sie lächelnd zu ihm hinauf. „Viel Glück noch!“ „Das wünsche ich dir auch; pass auf dich auf.“, mit diesen Worten verabschiedeten die zwei sich von einander. Von oben konnte Lyze sie noch einige Zeit beobachten und fragte sich, ob dies die richtige Entscheidung war. Er kannte sie zwar erst seit kurzem, dennoch wäre das die Chance gewesen, die Engel zu verlassen und seine kleine Schwester zu suchen. In Gedanken versunken, bekam er zu spät mit, dass Siri schon wieder Ärger bekam: Ein hässliches, sehr großes Flugtier – es sah aus wie ein Greifvogel – dessen Reiter ein weiblicher Dämon und zwei kleine Gehilfen waren, flog geradewegs auf die flüchtende Siri zu. Lyze hatte es gerade mit Schrecken festgestellt, schon sah er, wie der Greifvogel sie packte und nun wieder aufstieg. Der Halbengel schüttelte nur mehr den Kopf. „Wie schafft sie das nur…?“, ehe er ohne weitere Überlegung aus weiter Höhe aus der Lichtsäule sprang – kurz fiel er wie ein Stein nach unten, dann breiteten sich seine hellgelben Schwingen aus, bis er schließlich aufstieg. So schnell Lyze konnte, verfolgte er den riesigen Vogel, bis er Siri erreichte. „Lyze!“, sie streckte den Arm nach ihm, doch die Distanz reichte nicht. Nun bemerkten die drei Dämonen den Verfolger – die Reiterin, eigentlich ziemlich schlank und für einen Dämonen hübsch, befahl ihren kleinen Gehilfen Lyze auszuschalten. Feuerbälle flogen ihm um die Ohren; er musste gut aufpassen, dass seine Flügel nicht anfingen zu brennen. Sehr schnell ging es, als die Reiterin unerwartet dunkle Magie einsetzte und seinen rechten Flügel erwischte. Auch wenn die Schwingen erscheinen und verschwinden konnten – sie waren mit Lyze verbunden und dadurch, wie Arme und Beine, schmerzempfindlich. So stürzte der Halbengel, vom Schmerz geblendet, geradewegs nach unten. „Lyyyze!“, wenn Siri nicht im festen Griff des Vogels wäre, wäre sie ihm sicher nach gesprungen. „Lasst ihn nicht sterben, er ist noch für Informationen gut!“, so die Reiterin. Sofort machte der Greifvogel eine steile Wende, flog gen Boden und fing den ohnmachtnahen Halbengel auf. Kapitel 3: 2. Gefangenschaft ---------------------------- Die Zeiten in Desteral waren hart. Wer das Pech besaß, in einem Dorf zu leben, an dem zufällig Krieger aus Azamuth vorbeiwanderten, konnte damit rechnen, sein Heim zu verlieren. Dämonen waren grob und schubsten einen Menschen schon so manches Mal zum Spaß umher. Wer noch dazu kein großartiges Einkommen besaß, welches den Soldaten angeboten werden konnte, durfte sich zusätzlich darauf gefasst machen, von seiner Familie getrennt zu werden; schon oft wurden Leute schuldlos ins Nachbarland verschleppt, um in einem Gefängnis dahin zu vegetieren – wenn man nicht das Glück besaß, sich gleich vom Leben zu verabschieden. Da die Gefangenen mit der Zeit immer mehr wurden, während stetig Kutschen und Transportmittel ausblieben, entschieden die Dämonen kurzerhand ein großes Gefängnis, in Form einer Festung, in Desteral einzunehmen. Siri und Lyze hatten das Glück, genau in dieser Festung zu landen. Während der Halbengel seine Ohnmacht ausschlief, wurde Siri zum Verhör in einen kleinen Raum gesperrt. Dieser war kalt und die Wände feucht; es gab keine Fenster und Licht spendete nur eine einsame Fackel neben der schweren Eisentüre. Das Mädchen hob den Kopf und sah umher, während sie von einem Dämon an einen Holzstuhl gefesselt wurde. Sie hatte nur wenig Angst um sich selbst. Viel wichtiger war die Frage für sie, was die Dämonen mit Lyze vor hatten; er war ein Halbengel und wurde daher sicherlich nicht mit Samthandschuhen angefasst. So klopfte sie nervös mit den Füßen gegen die Stuhlbeine und wartete darauf, endlich mit jemanden sprechen zu können. „Das wars.“, die Wache putzte sich die Hände ab und schmunzelte stolz über den Knoten, der Siri fest an den Stuhl hielt. „Weißt du, was ich nicht verstehe?“, begann Siri, die den Kopf zur Wache hinter sich drehte. „Muss das sein?“, der Dämon seufzte, „Was denn?“ „Wieso nehmen Leute wie du so einen miesen Job an?“ „Hä? Wie meinst du das?“ „Na ja, ich meine; du arbeitest in nem finsteren Gefängnis, musst auf zierliche Frauen aufpassen, die keinesfalls entkommen könnten und sie an Stühle binden…“ „Das ist Anordnung von oben.“, die Wache stellte sich neben die Tür, „Außerdem ist der Job großartig! Du glaubst doch nicht etwa, ich hätte es nur mit so kleinen Mädchen wie dir zu tun?“ „Hey, langsam. Ich bin nicht klein.“, sie verzog die Miene zu einem trockenen Schmunzeln, „Und mal ehrlich: du hast es bisher nur mit waffenlosen Menschen zu tun gehabt, oder?“ „Da-das-“, er verschränkte die Arme, „Na und? Hauptsache ich hab dem Job! Ich werde gut bezahlt, hörst du!? Vor ner Woche war ich noch in Azamuth, das war langweilig gegen hier!“ „Ja, da gab es keine Opfer zu foltern.“ „Ganz genau!“ „Du sag mal – um das Thema zu wechseln – wo hält ihr denn die Engel gefangen?“ „Was? Engel?“ „Wie bringt ihr sie zum sprechen? Foltert ihr sie?“ „Jetzt halt aber mal die Luft an, Mädel! So viele Fragen – du sitzt doch hier im Verhörstuhl!“ „Das… ist kein Verhörstuhl.“, Siri sah kurz um sich her, „Ein richtiger Verhörstuhl hätte so was wie Hand- und Fußfesseln. Aber ich bin ja nur die Gefangene hier.“ „Haargenau!“, das Mädchen beobachtete den Dämon, wie er zu einem Tisch in der Ecke ging und nach etwas kramte. Dann kam er zu ihr rüber, ehe er ihr den Mund mit einem Tuch zuband. „Und jetzt sei still; ich habe dein Gefasel langsam satt.“ Da das Tuch noch nicht festgezogen war, konnte Siri noch einen letzten Satz hervorbringen: „Und wie willst du mich verhören, wenn ich geknebelt bin!?“ „Das ist ja das Gute an der Sache!“, die Wache machte nun einen festen Knoten an Siris Hinterkopf, „Ich bin der Aufpasser, mein Herr persönlich wird dich verhören!“ Nun lachte der Dämon, freudig über seine clevere Idee, während Siri den Kopf neigte und an der Wache vorbei sah, zur Eisentür, in der ein Mann stand. Ein großer Mann, mit rückenlangem, pechschwarzes Haar und ebenso schwarzen, großen Hörnern auf dem Kopf. Er trug eine stattlich verzierte, silberne Rüstung, darüber einen schwarzen Umhang. Er warf der lachenden Wache einen stechenden Blick zu, der aus seinen unheimlichen, gelben Augen fiel. Siri zog den Kopf ein und schluckte; ihr Aufpasser sah sie dabei fragend an, ehe er sich überrascht zu dem Mann umdrehte. „Herr…!“, sogleich verbeugte er sich unterwürfig, „Ihr seid schon da, welch eine Freude!“ Der Mann musste nur stumm zu Siri sehen, da sprach die Wache weiter: „I-ich äh, habe ihr den Mund verbunden, da sie- uhm, sie hat immer- weil äh- …ich nehme es ihr ab.“, sogleich huschte die Wache rüber und zog Siri, deren Stimmung langsam den Bach runter ging, hastig das Tuch vom Kopf. „So Herr, weg ist es!“ Immer noch wortlos starrte der Mann den Dämon an, ehe dieser sich abermals verbeugte und zur Tür schlich. „Ich… warte dann vor dem Raum auf weitere Befehle…“, so ging er ab und schloss die Tür hinter sich. „Siri…“, das erste Wort von dem Mann; und schon zog das Mädchen wieder den Kopf ein. „Lange ist es her. Zu lange, wenn du mich fragst.“ „S-Sie kennen meinen Namen…? Wer sind Sie?“ „Dass du mich schon vergessen hast…“, der Mann bewegte sich im Raum, ehe er begann, um Siris Stuhl zu gehen. „Knight Tarrence, werde ich genannt.“ „Knight? Also sind Sie ein Ritter?“ „Exakt. Einer von drei Auserwählten, auf Stufe 2.“ „Das bedeutet ja-“ „Ich stehe direkt unter dem König von Azamuth.“ „Äh.“, begann Siri, „Dann ist Stufe 1 der König und auf Stufe 3 stehen die Wächter und Soldaten unter Ihrem Kommando? Was ist dann Stufe 4? Bauern?“ „Siri.“, Tarrence, der seine Runde fertig gegangen war und nun vor ihr stand, stützte sich auf den Stuhllehnen ab und schaute ihr dicht vor dem Gesicht in die Augen, „…Wo ist der Prinz?“ „Wa-was?“, sie verstand nicht, „Wie ‚Wo ist der Prinz’? Das sollte ich Sie fragen!“ Tarrence schmunzelte, nahm Siri nicht ernst. „Du bist gut – aber nicht gut genug. Wo hält ihr ihn versteckt?“ „I-ich versteh Ihre Frage nicht! Wer ist ‚wir’? Woher kennen Sie mich?“ Tarrence schüttelte den Kopf und ging wieder im Raum umher; er nahm sie immer noch nicht ernst. „Wenn du mir nicht die Wahrheit sagst, muss ich Gewalt anwenden, Siri. Das wollen wir doch beide nicht, oder?“ „Sie sind ja ein Scherzkeks – ich sage die Wahrheit und habe keine Ahnung, wo der Prinz ist. Ich dachte, ihr Dämonen habt ihn absichtlich aus dem Land gebracht.“, sie sah zur Tür, dann wieder zu Tarrence, „Hey, ich habe da eine Frage an Sie, ehe das Verhör so richtig losgeht.“ Tatsächlich blieb der Ritter stehen und nickte. „Sprich schnell.“, dies war erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Siri als Gefangene in einer riesigen Festung von Dämonen saß. Tarrence wirkte mit seiner Reaktion, als ob er Siri wirklich schon lange kennen würde. „Erm, was habt ihr mit Lyze vor?“ „Du meinst diesen Engel, der mit dir eingeschleppt wurde? Er wird am anderen Ende des Ganges verhört.“ „Ihr tut ihm aber nichts an, oder?“ „Nur, wenn er nicht redet. Aber Engel haben die verblüffende Eigenschaft, ausnahmslos ehrlich zu sein – er wird sicher schon alles ausgeplaudert haben, was er weiß.“ In Wirklichkeit aber, war Lyze alles anderes als zum sprechen bereit. Man sollte nicht vergessen, dass in ihm nur zur Hälfte ein Engel steckte – und dieser sich weitaus kleiner zeigte, als der Mensch. Die Pilotin war es, die den Greifvogel geflogen war und Lyze vor dem Aufschlag „gerettet“ hatte, die nun Informationen aus ihm rausquetschen sollte. Vermutlich hatte sie gedacht, dass sie für ihren Gefangenen, zusätzlich zu Siri, eine ordentliche Belohnung kriegen würde und die Drecksarbeit jemand anderen überlassen konnte. Wie man sich denken kann, war sie deswegen sehr gereizt. So ging sie unruhig im kleinen Raum, mit ihren hohen Schuhen, auf und ab und band sich nebenbei ihren langen, dunklen Zopf neu zusammen. Immer wieder einmal gab sie dabei ein grummeln von sich, ehe sie zu Lyze blickte, der stumm den Kopf hängen ließ. Schon seit längerem wurde er nicht mehr nur mit Fragen gelöchert, sondern bekam ab und an Schläge von der Dämonin verpasst. Er war an der Wand gefesselt, weshalb er manchmal seine Hände drehte, da die schweren Eisenketten an den Gelenken scheuerten. „Du kannst deinem Elend ein Ende bereiten.“, sprach die Pilotin und schritt auf ihn zu, „Verrate mir, wo die Stützpunkte der Engel liegen…“, sie hob sein Kinn und flüsterte: „Oder willst du, dass ich die Peitsche hole…?“ „Hehe.“, neben der Tür lehnte eine einzelne Wache, die begann den Kopf zu schütteln. „Du und deine Foltermethoden…“ Auf seine Aufsage hin, seufzte die Pilotin und blickte zu ihm nach hinten. „Was willst du damit ausdrücken, hä? Dass ich zu weich mit meinen Gefangenen umgehe?“ „Nein, eigentlich nicht…“, der Dämon hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht zu lachen, „Aber deine Methoden erinnern mich oft… an… na ja, an merkwürdige Vorlieben eben.“ „Mach mich nur wütend-“, sie schlug Lyze in die Brust, „Du bist es ja nicht, der das ausbaden muss!“ „Nicht so toll, der Engel kriegt ja fast keine Luft mehr-“ „Na und!?“, sie schlug erneut zu, „Na los, meine Geduld ist am Ende! Sprich endlich, Engel, bevor ich dir die Seele aus dem Leib prügle!“ „Lass das sein, bevor er-“ „Hol mir die Peitsche! Ich befehl es dir!“, nebenbei prügelte sie noch einmal auf ihn ein. „Genug jetzt.“, die Wache trat nach vorne, „Halte ein, bevor du ihn umbringst – tot sind die Informationen auch verloren. Und wann kriegen wir wohl das nächste Mal die Chance, einen Engel auszuquetschen?“ „Hmpf-“, die Pilotin starrte wütend zu dem Dämon, dann zu Lyze, der sichtlich keine Luft bekam. „Na schön… sperr ihn bis morgen früh weg.“ „Gute Entscheidung.“, so die Wache, ehe er sich aufmachte, den Halbengel von den Ketten zu befreien. „Würdest du nicht so schnell gereizt sein, sondern die Folterungen langsam angehen, würden die Gefangenen viel eher sprechen.“ „Ts.“, die Pilotin drehte sich bei der Aussage, Arme verschränkt, zur Seite. Inzwischen holte der Dämon Lyze von der Wand. Er konnte nicht mehr gerade stehen, so zog ihn die Wache am Arm zur Tür. „Doch klar, da bin ich mir sicher. Komm Engel, beweg dich, zeit für ein Schläfchen.“ Ehe der Dämon ihn aus dem Raum drängte, sah Lyze noch einmal zurück zur Pilotin, die schmollend an der Seite stand. Ihm entfleuchte ein „Sadistin…“, wobei ihm die Dämonin in Gedanken mit Sicherheit an die Gurgel gesprungen war. Während die Dämonin sich mit Lyze umher ärgerte, ging das Verhör mit Siri weiter. Egal wie oft das Mädchen ihre Worte wiederholte, Tarrence war im festen Glauben, sie sei am Verschwinden des Prinzen beteiligt. Sie spricht in seinen Augen nicht die Wahrheit, wenn sie behauptete, sich an nichts erinnern zu können. „So glauben Sie mir doch!“, flehte sie, „Ich bin in einem Wald aufgewacht und wusste nicht, wer ich bin – um genau zu sein, weiß ich es auch jetzt noch nicht… Aber Sie, Sie wissen, wer ich bin, nicht wahr?“ „Ich kann deine Worte nicht einfach so hinnehmen, Siri…“ „Aber das müssen Sie-“ „Warte… mir kommt gerade eine Idee in den Sinn…“ Tarrence ging kurz überlegend durch den Raum, „Ja, das könnte funktionieren…“, ehe er wieder vor Siri stand. „Du behauptest fest, dich nicht erinnern zu können?“ „Ja – ja, das tue ich!“ „Wir werden sehen…“, nun ging er ab, zur schweren Eisentüre und öffnete diese. Siri schaute ihm dabei nach, ehe er verschwinden konnte: „Mo-moment! Wohin gehen sie? Was haben sie vor?“ „Falls dir auch das entfallen sein sollte: wir besitzen einen so genannten ‚Schattenpriester’. Neben dunklen Ritualen und Gebete für verlorene Seelen sprechen, besitzt dieser ein Talent dafür, die Gedanken von anderen lesen zu können. Wenn es wirklich wahr ist, was du behauptest, dann kann unser Priester in dir nichts lesen.“, er schloss langsam die Tür, „In diesem Fall wäre deine Aussage bewiesen.“ Kapitel 4: Der Ausbruch ----------------------- Die Nacht brach allmählich über Desteral herein. Im Inneren der Festung bekam man die schnell sinkende Sonne nur flüchtig mit, da es nur wenige, unvergitterte Fenster gab, die groß genug waren, um Richtig nach draußen sehen zu können. Während Siri alleine im Verhörraum saß und auf die Rückkehr von Knight Tarrence, zusammen mit dem Schattenpriester wartete, wurde Lyze in seine Zelle gebracht. Gerade als die dämonische Wache ihn um die Ecke führte, ging Tarrence an ihnen vorbei. Während sich die Wache unterwürfig verbeugte und zur Seite trat, sah Lyze diesem unheimlich wirkenden Ritter nach. Wenn er ihn auch nicht kannte, sah der Halbengel auf den ersten Blick, dass er das höchste Tier in diesem Gefängnis sein musste. Einen kurzen Moment später wurde er weitergedrängt, den Gang hinunter. Müde und verletzt setzte sich Lyze freiwillig in seine kleine Zelle in die Ecke, in der Stroh ausgelegt war. Als die Wache hinter ihm zugesperrt hatte und gähnend den Gang zurückging, drehte er erneut an seinen wunden Handgelenken. Er hatte Glück im Unglück – die Schläge, die die Pilotin während des Verhörs ausgeteilt hatte, waren großteils oberflächlich und würden wohl keine bleibenden Schäden hinterlassen. Gerade wischte Lyze sich mit dem weißen Hemdärmel über die Nase, da bemerkte er, dass Blut unter ihr klebte. Da seine Kleidung sowieso schon dreckig war, wischte er sich auch den Rest, der unter der Nase klebte, in seinen Ärmel. „Da ist noch etwas.“, Lyze sah überrascht auf, als er eine helle Frauenstimme vernahm. Ihm gegenüber, in der Zelle auf der anderen Seite des Ganges, saß eine junge Frau, die auf ihre linke Backe deutete. „Ungefähr hier.“ Lyze wischte sich daraufhin fest über seine Wange, „Danke dir…“, und sah anschließend wieder zur jungen Frau. Er musste überlegend blinzeln, ehe er glauben konnte, dass die Schläge von vorhin nicht doch heftiger waren als gedacht und sie Halluzinationen verursacht haben: die Frau hatte doch tatsächlich weiße Katzenohren auf ihrem Kopf! Sie lächelte ihm zu, als sie aus der Ecke hervor kam und sich näher bei den Stäben setzte – dabei wedelte hinter ihr ein weißer Schweif auf und ab. Auch in ihrem Gesicht waren deutliche Anzeichen einer Katze zu erkennen: die Nase war schwarz, ebenso die Schnurrbarthaare und ihre Schulterlangen, fein geschnittenen Haare. Allein ihre Augen waren grün, wie ihr dreckiges, zu lang getragenes Gefängnis-Kleid. Sie musste über Lyzes ungläubigen Blick kichern, ehe sie begann zu sprechen: „Mein Name ist Tracy – und wie heißt du? Was haben die mit dir angestellt?“ „Ich… uhm…“, er setzte sich auf, „Ich heiße Lyze Noshyru… die Dämonen haben mich verhört.“ „Wurdest du von so einer komischen Hexe verhört? Ich nämlich, aber es hieß, sie hätten einen ‚wichtigeren Fall’ und sperrten mich hier ein.“ „War die Frau schlank und hatte einen langen schwarzen Zopf?“ „Ja, genau die; ist die einzige hier, die halbwegs menschlich aussieht – abgesehen von diesem Ritter mit stechenden Augen…“ „Oh, ich glaube, den habe ich auch gesehen.“ „Der war echt unheimlich, nicht wahr? Ich denke, er ist hier der Boss; zumindest scheinen die ganzen Wachen um ihn herum kräftig zu schleimen.“ Die junge Frau schien sich, dank ihres langen Aufenthaltes, sehr gut in der Festung auszukennen. Lyze beschloss die Gesellschaft zu nutzen und setzte sich näher zu den Gitterstäben. „Ich habe eine Frage an dich, Tracy… Hast du hier drinnen ein kleines, blondes Mädchen gesehen? Etwa zehn Jahre alt?“ Auch Tracy kam näher zu den Stäben, schüttelte aber den Kopf. „Nein… Kinder werden hier auch nicht gefangen gehalten…“ „Hm.“, Lyze senkte den Blick, „Verstehe.“ „Aber der Ritter ging angeblich zu einer ‚Siri’, die soll auch helle Haare haben.“ „Siri?“, er schaute auf, „Ein Glück, dann ist sie also auch hier.“ „Eine Freundin von dir?“, Tracy wurde neugierig, „Was habt ihr denn angestellt?“ Lyze suchte nach Worten, um es ihr am Besten zu erklären. „Ich bin ein Halbengel, weshalb die Schwachköpfe glauben, aus mir Informationen über das Reich der Engel heraus quetschen zu können – und was die Typen von Siri wollen, kann ich nur erahnen. Und… darf ich dich fragen, warum du hier bist? Du siehst nicht so aus, als ob du aus Desteral kämst… du bist ein Tiermensch, habe ich recht?“ Tracy senkte kurz den Kopf, ehe sie lächelte. „Ja, ein Tiermensch… auch wenn die Bezeichnung stimmt, so hat mein Volk einen eigenen Namen – nenn mich doch bitte ‚Animo’. Katzen-Animo, wenn man so will.“ „Animo? Herrje… dann kommst du von der nördlich gelegenen Insel Palooza? Wahnsinn…“, Lyze schmunzelte, „Ich habe noch nie einen Animo mit eigenen Augen gesehen; in Desteral erzählt man sich Geschichten und Mythen über euer Land. Eure Regierung soll ja ziemlich streng sein. Stimmt es, dass Palooza in ganze vierzehn Reiche unterteilt ist?“ „Jap.“, sie nickte freudig über seinen Wissensdrang, ehe sie begann auf den Fingern aufzuzählen: „Es gibt das Königreich der Kälte, des Wandelns, des Rudels, der Dürre, der Schuppen, der Lüfte, der Katzen, des Meeres, der Fische, der Tatzen, des Krabbelns, des Beißens, der Nacht und der Träger!“ „Und du stammst aus dem Reich der Katzen?“ „Natürlich!“, kurz überlegte Tracy, mit welcher Frage das Gespräch begonnen hatte, „Ach, du wolltest ja wissen, wieso ich hier bin… na ja, es war wohl noch am ehesten eine Verwechslung …“ „Eine Verwechslung?“ „Ja, ich wurde für einen anderen Katzen-Animo gehalten, die Verbindung zum Adelshaus hat.“, sie redete im Flüsterton weiter, „Ich glaube, die Dämonen wollen das neutrale Palooza erpressen, auf der Seite von Azamuth, gegen Desteral zu kämpfen…“ „Und… hast du denn Verbindungen zum Adelshaus…?“ Tracy kicherte, bevor sie den Kopf schüttelte. „Ooh nein, das habe ich nun wirklich nicht.“, sie flüsterte abermals, „Aber ich kenne jemanden, der das hat…“ „Hm, wenn das die Dämonen wissen, wird der Aufenthalt in dieser Festung für dich noch sehr ungemütlich werden…“ Die Katzenfrau musste seufzten. „Wem sagst du das…“ „Na ja…“, Lyze stand langsam auf und krümmte sich dabei ein wenig, „Ich hatte nicht vor, hier zu bleiben. Was ist mit dir? Würdest du mitkommen?“ „Na ja, wenn das ginge… sage ich natürlich nicht nein.“ „Wir brauchen einen guten Plan, um aus diesen Zellen raus zu kommen…“ „Leichter gesagt, als getan.“, Tracy spielte nebenbei mit einem Essenstablett aus massiven Stahl, „Ich weiß, dass es für unsere Zellenabteilung eine bestimmte Wache gibt, die immer wieder einmal vorbei schaut. Auch weiß ich, dass sie sich jeden Tag abwechseln, aber immer den gleichen Schlüsselbund um einen Gürtel tragen.“ „So ist das also…“, überlegend hielt sich der Halbengel die Hand an sein Kinn, „Das heißt, wir müssen die Wache bei seiner nächsten Kontrolle überrumpeln…“, er blickte zu Tracy, die Schulter zuckend das Tablett leicht auf und ab warf. „Hm…“, dann schnipste er mit den Fingern, „Ich weiß, wie wir hier rauskommen – du müsstest dazu allerdings mitspielen.“ „Kein Problem!“, sie nickte lächelnd, „Sage mir, was zu tun ist und ich werde es erledigen.“ Langsamen Schrittes und mit einem prüfenden Blick ging ein einsamer Wächter über den Flur. Er soll vor dem Morgengrauen noch einmal nach den Gefangenen sehen, bevor auch er sich in seinen Wachstuhl schwingt und schläft – pardon, Wache hält. Seinen Speer hatte er immer in der rechten Hand, an seinen Stiefelriemen war für Notfälle ein kleiner Dolch gebunden. Er betrat Zellenabteilung B65, ehe er den schmalen Pfad immer geradeaus ging. Überall, links und rechts von ihm, war Gefängniszelle an Zelle gereiht, die meisten verrostet und mit kalten Steinboden. In Zellenabteilung B65 befanden sich für normal nur Sonderfälle, weshalb der Wächter sich auch fragte, wann immer er für das Abteil eingeteilt wurde, wieso es hier so viele Zellen gab. Gähnend hielt er sich brav die Hand vor den Mund, als ihn plötzlich jemand von der rechten Seite ansprach: „Hey! Hey, schauen Sie doch, links von Ihnen!“, Lyze zeigte hinüber. Unbeeindruckt schielte der Wächter zu ihm runter, dann zu Tracys Zelle. Sie lag am Boden und zuckte überaus merkwürdig. Sofort stemmte er die Hände in die Hüften: „Was'n mit dir los?! Aufstehen, aber sofort!“ „Schauen Sie doch, sie hat wohl einen Anfall-“, Lyze hielt sich entsetzt die Hände vors Gesicht, „Oh nein, was ist, wenn das eine sich schnell verbreitende Krankheit ist? Hier, in einer vollen Festung!?“ „Waaas?“, der Wächter zückte den Schlüsselbund und sperrte die Zelle sofort auf. Er schnaufte, als er sich mit schweren Schritten der am Boden kauernden Tracy näherte. „Uwahh ein Monster!“, sie winkte mit den Armen umher. „Monster?“, der Wächter schaute an sich runter, zu seinen Pferdebeinen, „Hey-!“ „Nein, sie halluziniert!“ „Ach ja…? prüfenden Blickes beugte er sich zu Tracy hinab. Den schlimmsten Fehler in seiner Karriere als Gefängniswächter beging er, als er, Augen zu schlitzen geformt, sich mit dem Kopf Tracys Gesicht näherte. „Jetzt, Tracy!“, auf Lyzes Ausruf hin griff sie zur Seite und knallte ihm schwungvoll das massive Essenstablett an den Kopf. Er kippte sofort um, als Tracy aufstand, ihr dreckiges Kleid abputzte und den Schlüsselbund, der noch in ihrer Tür steckte, an sich nahm. Anschließend sperrte sie den Kerl in ihre Zelle ein, ehe sie zu Lyze lief. „Gut gemacht!“, rief er, „Sperr bei mir auf, dann können wir fliehen!“ „Einen Moment noch-“, sie durchsuchte den Schlüsselbund nach dem richtigen Schlüssel, „Ah, das ist er!“, und drehte ihn im Schloss, sodass die Tür aufsprang und Lyze heraustrat; gekrümmt. „Aw… geht es dir auch gut?“ „Es geht schon.“, er richtete sich vorsichtig auf, „Ich werde mich, wenn wir hier erst mal raus sind, ein wenig ausruhen. Aber wichtiger ist jetzt, dass wir Siri finden, bevor der eingesperrte Wächter zu Bewusstsein kommt und Alarm schlägt.“ Tracy nickte, schnappte den Halbengel bei der Hand – der darauf hin äußerst verwundert zu ihr blickte – und zog ihn den langen, schmalen Gang entlang. „Keine Sorge, dank meines guten Gehörs werden wir sie ganz schnell finden!“, dabei wackelte sie mit ihren weißen Katzenohren. „In Ordnung…“, Lyze stellte sich am Ende des Ganges zur Wand, ebenso die Katzenfrau, bevor er um die Ecke schielte. „Ich hoffe, sie ist im selben Stockwerk wie wir gefangen… Tracy, kannst du jemanden hören?“ „Nein, nichts. Weder eine weibliche Stimme, noch eine Wache. Die Luft ist rein, um weiter zu gehen.“ „Wunderbar.“, so schlich er weiter, um die Ecke, Tracy hinter ihm her. Inzwischen war der Schattenpriester im Verhörraum von Siri eingetroffen. Tarrence hatte ihm erklärt, er solle ihr alles aus den Gedanken lesen, was er finden kann. Als das Mädchen stumm und gefesselt zu dem Ritter aufsah, legte der Priester seine Hände auf ihren Kopf und murmelte unverständliche Worte – höchstwahrscheinlich in einer dämonischen Sprache. Die Prozedur dauerte nicht lange und verlief völlig schmerzlos. Siri sah überrascht zwischen Tarrence und dem Priester hin und her: „Ist es schon vorbei? Das war alles?“ „Das war alles.“, bestätigte der Ritter, ehe er zum Schattenpriester sah. Dieser flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf hin Tarrence nickte – anschließend verließ der Priester den Raum. „Und?“, wollte Siri wissen, „Hat er etwas in Erfahrung bringen können?“ Auf ihre Frage hin schüttelte er den Kopf. „Noch ist es nicht so weit. Er muss die gesammelten Gedanken aus seinem Geist auf ein Papier bringen, ehe er eine Antwort geben kann. Durchaus merkwürdig Siri…“, er ging leicht auf und ab, „Du wirkst beinahe, als ob dich deine eigenen Gedanken interessieren würden…“ „Das liegt daran, dass ich nichts mehr weiß! Und eventuell ist da irgendetwas tief in meinem Unterbewusstsein, das doch eine Ahnung haben könnte, wer ich bin und was geschehen ist.“, sie sah beleidigt von ihm weg, „…Wenn Sie mir schon nicht sagen, was Sie über mich wissen.“ „Eines kann ich dir sagen, Siri… wenn der Priester sehr wohl auf all deine Gedanken zugreifen kann und ans Tageslicht kommt, dass du mit mir die ganze Zeit Spielchen getrieben hast, bringe ich dich persönlich nach Azamuth zur Hinrichtung.“ Siri schluckte auf seine schroffe Drohung. Sie hoffte nun doch inständig, der Schattenpriester konnte nicht einmal ein Fünkchen ihrer Gedanken lesen. „Moment… nach Azamuth? Ist das Ihr Ernst?“, sie verdrehte den Kopf, „Bringt man Gefangene nicht für normal gleich um?“ Gerade, als Tarrence den Mund zur Antwort öffnete, klopfte jemand an die Eisentür, bevor sich ein Dämon unterwürfig verbeugte. „Herr, ich komme mit einer dringenden Meldung zu Euch…“ „Dann sprich, schnell.“ „Die Nahrung, die wir aus Azamuth haben einfahren lassen, ist wohl schlecht geworden – nach dem Abendessen klagten zwei Wächter über große Schmerzen. Nun sind es bereits sieben, die sich übergeben müssen!“ „Und was um alles auf Aira soll daran dringend sein…?“ „Herr, Sir Grimlad, unser Gruppenanführer, bat Euch in die Küche zu kommen; er hofft auf euren Rat!“ Tarrence gab ein überaus tiefes Grummeln von sich, worauf hin der Dämon ein paar Schritte aus der Tür machte. Schließlich seufzte der Ritter, ehe er dem Dämon nachging: „Na schön, führe mich zu ihm. Der Schattenpriester braucht bestimmt noch etwas Zeit.“, kurz schaute er noch zu Siri, „Ich lasse dich jetzt alleine. Hoffentlich fürchtest du dich nicht.“, bei seinem letzten Satz schmunzelte er, ehe die Eisentüre ins Schloss fiel. Lyze und Tracy waren währenddessen schon eine Weile in der Festung unterwegs. Sie hatten es geschafft, sich unbemerkt durch das gesamte Stockwerk zu schleichen und eine Wendeltreppe ins Erdgeschoss zu finden – jetzt fehlte nur noch Siri. Gerade als der Halbengel die Idee hatte, unten weiter zu suchen, wackelten Tracys Katzenohren: „Lyze, warte kurz! Ich höre Schritte, sie sind auf den Weg hierher!“ Sogleich schaute er sich um, auf der Suche nach einem unauffälligen Versteck. Schließlich hatte Tracy einen kleinen Raum gefunden, dessen Türe nicht versperrt war und in dem niemand saß. Sie wank nach Lyze, sodass er schnell zu ihr huschte und die knarrende Tür bis auf einen Spalt zulehnte. Als nun auch er die Schritte hören konnte – und zusätzlich Stimmen vernahm – sah er, durch den kleinen Spalt, wie Ritter Tarrence mit einem Dämon über den Gang schritt, die Wendeltreppe hinab. „Das war der Ritter!“, so Tracy, im Flüsterton, „Denkst du, die haben Siri alleine gelassen?“ „Schon gut möglich, eine Chance wäre es… Tracy, hast du mitbekommen, woher die zwei gekommen waren?“ „Ja – gleich von dahinten.“, sie deutete den letzten verfügbaren Gang entlang. „Hervorragend… komm, das Stück schaffen wir auch noch unbemerkt.“ Gesagt, getan. Es waren unterwegs keine Wächter mehr anzutreffen; nicht einmal vor Siris Eisentür, die unverschlossen war, stand jemand. Wahrscheinlich hatte Tarrence nicht damit gerechnet, dass genau in der Zeit, wo er abwesend war, es zwei Gefangene den Weg unbemerkt durch das gesamte Stockwerk schaffen würden, bis zu Siri – aber vermutlich hatte er es auch für unmöglich gehalten, dass überhaupt jemand ausbrechen könnte. Siri saß gefesselt da, am Stuhl und klopfte mit den Füßen gegen die Stuhlbeine, nebenbei summte sie. Zwischendurch schaute sie im dunklen Raum umher und hoffte insgeheim auf Tarrences Rückkehr. Nicht, dass sie ihn großartig vermissen würde, aber mit der Wartezeit wurde ihr schnell langweilig. Ein Glück für sie, dass gerade, als sie gähnend den Kopf hob, hastig die Eisentüre aufgerissen wurde und – Überraschung für sie – der Halbengel vor ihr stand. „Lyze! Was machst du denn hier?“, sie sah ihm nach, als er ohne weitere Worte hinter ihrem Stuhl verschwand und am Knoten arbeitete. „Geht es dir auch gut? Die Dämonen haben gesagt, sie würden dich foltern, wenn du nicht redest! Hast du denn geredet?“ Er schmunzelte, schüttelte den Kopf. „Nicht ein Wort.“ „Wow und dennoch kannst du stehen? Die Dämonen hier sind Weicheier!“ Da huschte Tracy zu dem Halbengel und sah ihm über die Schulter, bei seinem Versuch, Siri von den Fesseln zu befreien. „Also ich finde ja, dass nicht die Folterungen das Schlimmste an der Gefangenschaft sind, sondern die enorm lange Wartezeit in der kleinen Zelle!“ Auf ihren Satz hin, drehte Siri den Kopf so weit wie möglich rüber, um auf Tracys Katzenohren zu gaffen: „Ja spinne ich denn!? Was hat der Schattenpriester denn mit mir gemacht?“ Darauf hin musste die neue Freundin kichern. „Ich bin ein Katzen-Animo, also ist mit dir alles in Ordnung. Mein Name ist übrigens Tracy – freut mich, dich kennen zu lernen, Siri!“ „Können wir das auf später verschieben?“, so Lyze, der am Knoten zog, ehe er zu sich selbst murmelte: „Wer zu Desteral hat diesen Knoten gemacht…?“ „Ach, richtig!“, Siri hob den Kopf, „Lyze, rate mal, was ich dank den Dämonen erfahren habe: gar nichts! Ich weiß immer noch nicht, wer ich bin!“ „Welch eine Überraschung.“ „Aber dieser Tarrence, er kennt mich! Da bin ich mir sicher, er weiß genau, wer ich bin!“ „Du meinst diesen Dämonen-Ritter mit dem eiskalten, stechenden Blick?“ „Ja! Wenn du das sagst, klingt das irgendwie abwertend…“ „Das ist es auch, Siri.“ „Aber Tarrence ist gar kein so übler Kerl!“ „Siri…“, Lyze seufzte, „Wenn der Dämon nicht so übel ist… wieso bist du dann an diesen Holzstuhl gefesselt?“ „Na weil, äh… es ist so Vorschrift!“ „Dieser Ritter kann dich auch kennen und trotzdem ein Feind sein. Was ist, wenn du ihm in der Vergangenheit einfach schon mehrmals über den Weg gelaufen bist?“ „Hm, gut möglich…“, sie senkte den Kopf. „Tarrence behauptet fest, er wüsste nicht, wo der Prinz steckt – und das ich an seinem Verschwinden beteiligt wäre… Aber wie kann ich das denn sein, wenn ich selbst nach ihm suche?“, sie sah zu Lyze auf, „Glaubst du, der Prinz hält sich absichtlich versteckt, um nicht von Dämonen gefunden zu werden? Oh nein… was ist, wenn Tarrence ihn töten will, damit er nicht in den Krieg funkt!?“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht.“, der Knoten, an dem Lyze arbeitete, war endlich offen, „Da kannst du wohl nur Vermutungen anstellen – egal ob es wahr ist oder nicht, wir sollten den Prinzen unbedingt vor diesem Ritter finden… aber dazu-“, er und Tracy banden Siri los, „Sollten wir hier schnell verschwinden!“ Nur einige Minuten später kam Tarrence zurück. Sein erster Blick, als er den Gang nach hinten betrat, fiel auf die Eisentür, die einen Spalt weit offen stand. Sogleich schritt er schneller voran, ehe er die Tür aufriss und in den leeren Raum hinein starrte. „Mein Herr-“, der Schattenpriester kam endlich nachgelaufen, „Ich habe die Ergebnisse bei mir.“ Tarrence, ihm den Rücken zugekehrt, nickte und deutete damit an, dass er sprechen soll. Der Priester räusperte sich: „Herr, sie lügt nicht. Sie hat keinerlei Erinnerungen an ihre Vergangenheit… ich konnte nur wage Fetzen und Bruchstücke erkennen; und diese sind so weit in ihrem Unterbewusstsein vergraben, dass sie nichts davon weiß. Ich habe die Vermutung, sie ist einem Vergessensfluch zum Opfer gefallen – denn wenn sie sich den Kopf gestoßen hätte und ‚nur’ an Gedächtnisverlust leiden würde, könnte ich zumindest ihre Vergangenheit erkennen.“, der Priester stoppte an dieser Stelle, „Aber…“, und sah an Tarrence vorbei, in den leeren Verhörraum. „Wo ist sie denn…?“ „Wie du gesagt hast.“, so Knight Tarrence, der mit starren Blick am Schattenpriester vorbei ging, den Gang zurück. „Sie hat keine Erinnerungen.“ Kapitel 5: Flucht aus der Festung --------------------------------- „Haltet siiee!“, eilig liefen zwei Wachen über den Flur innerhalb der dunklen Mauern, als zwei weitere aus ihrem Schlaf im Wachstuhl gerissen wurden und nach einem kurzem Moment des Überlegens ebenfalls losliefen. Tracy, Siri und Lyze hatten es geschafft zu entkommen; oder besser gesagt, fast. Sie waren schon auf dem Weg die Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter, als ihnen plötzlich ein Wächter entgegen kam – der sogleich Alarm schlug. Noch schlimmer wurde die Lage für sie, als weitere Wachen ihren eingesperrten Kollegen in Tracys Zelle vorfanden und Ritter Tarrence den Befehl gab, die drei Flüchtlinge zu fangen. Es sah nicht gut aus. Ganz und gar nicht. Wo Lyze auch nur konnte, schlug er mit seinem Lichtschwert die Angreifer zurück, damit Tracy und Siri Zeit hatten weiter zu laufen. Sie wussten dabei eigentlich nicht, wohin, denn die Treppen ins Erdgeschoss waren ausnahmslos blockiert. Die größte Angst dabei war, dass sie Ritter Tarrence direkt in die Arme laufen würden. Anstatt sich einen Weg nach unten zu bahnen, ging es nun immer weiter aufwärts. Die Festung hatte vier Stockwerke, plus zwei weitere, die innerhalb des mittigsten Turmes waren – und genau diesen steuerten die drei Flüchtlinge an. Tracy, die dank ihres längeren Aufenthaltes wusste, wohin sie gerade liefen, machte nicht nur einmal darauf aufmerksam, dass sie von dort oben aus nicht flüchten konnten. Siri hörte nicht auf sie, da sie in ihrer Panik so gut wie keine Geduld hatte und Lyze war viel zu beschäftigt, die Wächter auf den Gängen aus dem Weg zu räumen. Schlussendlich gelangten sie in den Turm, wobei sich abermals ein großer, muskelbepackter Dämon in den Weg stellte. Man merkte, dass er etwas anders als die Wächter war: statt einen gewöhnlichen Speer schwang er einen großen Morgenstern! Doch dadurch, dass er knapp zwei Sekunden dafür brauchte, das schwere Ding auszuholen und nach den drei Flüchtlingen zu schlagen, ließ Lyze sein Lichtschwert verschwinden, drückte beide Arme nach vorne und entfachte eine Druckwelle, die den großen Dämon samt Morgenstern nach hinten, gegen eine Steinmauer schleuderte. Der Kerl war dadurch natürlich nicht außer Gefecht, brauchte aber einige Minuten, um zu registrieren, was gerade geschehen war. In der Zwischenzeit liefen Siri und Tracy, Hand in Hand, dem Halbengel die Treppen hinauf nach. „Wow!“, keuchte die Katzenfrau dabei, „Ich wusste gar nicht, dass Lyze so etwas kann!“ „Ich war anfangs auch überrascht…“, Siri wischte sich im Laufen über die Stirn, „Engel und Magie? Gut, ich hatte vorher noch nie einen gesehen.“ „Doch, ich habe gelesen, dass Engel Lichtmagie können! Jedoch versteht man unter Lichtmagie grelles Licht, leuchtende Kugeln, Lichtwaffen und so was.“ „Ja aber, dann-“, Siri sah wieder gerade aus hinauf, zu Lyze, der dabei war, an der obersten Holztür zu rütteln. „Dann ist diese Druckwelle doch gar nicht… Lichtmagie-?“ Im nächsten Moment hatte Lyze die Tür aufbekommen, ohne sie zu ruinieren. Sogleich liefen die beiden Frauen hinein, ehe der Halbengel nachkam und die Tür mit einem großen Riegel versperrte. „Oh verdammt, nein!“, Siri starrte im Kreis umher, „Lyze, wo hast du uns hingeführt?! Es gibt keinen Ausgang!“ „Natürlich gibt es in einem Turmraum keinen Ausgang…“, so Lyze, der leicht erschöpft an ihr vorbei ging und zum einzigen großen Fenster schritt. Tracy schüttelte den Kopf: „Das habe ich euch die ganze Zeit versucht zu sagen! Wir sind im höchsten Raum der Festung!“ „Wir sitzen hier fest?!“, Siri ging in die Hocke, „Na toll, da hätte ich gleich bei Knight Tarrence bleiben können…“ „Wir sitzen hier nicht fest. Glaubt ihr, mir war nicht klar, dass es immer nur aufwärts ging?“, die beiden jungen Frauen sahen zu Lyze auf, der die Hände links und rechts neben das Fenster legte und begann abermals Magie anzuwenden: er konzentrierte sich, atmete aus und stemmte sich fest gegen die Steinwand, ehe die Felsblöcke um das Fenster herum begannen nachzugeben. Siri stand mit offenem Mund da, während Tracy zur Sicherheit zwei Schritte zurück machte: das gesamte Fenster, plus den Felsblöcken, löste sich nach außen, bevor diese in die Tiefe stürzten und ein großes Loch in der Wand übrig ließen. Ein großes Loch klaffte nun in der Mauer, als Lyze zufrieden zu den ungläubigen jungen Frauen schaute. „Ich kann dir nicht ganz folgen, welchen Sinn hat das?“, so Tracy. „Ja Lyze, sollen wir springen, oder was?!“ „Ganz genau.“, der Halbengel wank nach den beiden, „Kommt her, ihr müsst euch festhalten – ich habe doch Flügel, wisst ihr noch?“ Langsam kam Tracy zu ihm. „Flügel? Tut mir Leid, das hast du mir wohl vergessen zu sagen. Aber wenn es so ist, dann nichts wie weg von hier!“ „Ja aber-“, Siri wagte sich nur zögernd heran, „Du wurdest bei unserer Entführung doch verletzt – kannst du uns überhaupt tragen?“ „Ich weiß nicht.“ „Na das ist ja ganz toll-!“ „Ich weiß nicht, ob ich mit euch in Übergewicht fliegen kann, doch können wir so hoffentlich gleiten...“, er deutete zum nahen Horizont, „Bis in den Wald dort, wo wir nur schwer auffindbar wären.“ Immer noch zögernd blickte Siri zu ihren Freunden, anschließend leicht erschrocken zur Tür, als die Dämonen nun anfingen, heftig dagegen zu rammen. „Komm schon, Siri!“, Tracy lächelte, „Es wird sicher nicht so schlimm werden, du Angsthase. Außerdem, was haben wir groß für eine andere Wahl...?“ Ihr fiel es nicht leicht, es zuzugeben, doch hatte die Katzenfrau Recht. Ihre zweite Möglichkeit wäre gewesen, Lyze und Tracy alleine abhauen zu lassen und bei Tarrence zu bleiben. Doch wie Lyze bereits gesagt hatte, könnte Tarrence ein bekannter Feind sein und Siri wohlmöglich töten lassen, sobald sie nicht mehr gebraucht wird... „Ok, los gehts.“, entschlossen stellte sie sich links von Lyze, Tracy stand auf der anderen Seite. Der Halbengel nahm die beiden um die Hüfte. „Haltet euch gut fest, auf drei werden wir springen! Eins-“ Schnell klammerten sich die jungen Frauen an seine Arme, „Zwei...“ Einen Moment später liefen die Dämonen die abgeriegelte Holztür ein, ehe sie unkontrolliert auf einen Haufen zusammen stolperten. Siri sprang ins Freie, „Dreeei!“, und zog die beiden mit sich. Alle drei hatten erwartet, dass nach dem Absprung Lyzes Flügel sofort erscheinen würden. Als dies nicht der Fall war, begannen die jungen Frauen zu kreischen. Gerade im Schockmoment, vier Meter über dem Boden, erschienen endlich die Schwingen, ehe es nach einem Sturzflug wieder aufwärts ging und die Flüchtenden eine konstante Höhe erreichten. Während die beiden Freundinnen geschockt und doch überwältigt über die Aussicht umherstarrten, fühlte Lyze alle Schmerzen seiner Verletzungen, nicht nur des Flügels. Als die drei im nächsten Moment über den Wald flogen und Lyze eine Baumkrone schliff, verschwanden die Schwingen aus heiterem Himmel. Dies geschah so schnell, dass alle überrascht durch die Bäume fielen. Tracy sprang – dank ihrer Fähigkeiten als Katzen-Animo – geschickt auf einen dicken Ast und stoppte somit den Fall. Siri hatte Glück im Unglück, als sie durch die vielen Blätter, Äste und Zweige fiel, die ihren Sturz dämpften und landete daher mit einem leicht zerrissenen Kleid am Boden, nachdem sie sich mit einer Rolle seitwärts abgefedert hatte. Lyze erging es ähnlich, landete allerdings in einen Blättergestrüpp. Nachdem Siri, sich den Kopf haltend, aufgestanden war, blickte sie langsam an ihrem Kleid runter – und hüpfte anschließend wild umher. „Ah, IEH! Käfer! Käfer, überall!“ Tracy, die den Baum herunter geklettert kam, musste über Siris Käferplage lachen. Kurz half sie ihr, die kleinen Insekten zu entfernen, dann begannen ihre Katzenohren zu wackeln. Sie schaute umher, auf der Suche nach dem Halbengel: „Lyze? Lyze, bist du auch da?“ „I-ich bin hier...“, erklang es aus dem Gestrüpp, zudem die Katzenfrau daraufhin lief und nach ihm grub. Schließlich packte sie Lyze an den Händen und zog ihn heraus. „Oh je... geht es dir gut? Alles noch dran?“ „Ja... ja, geht so.“, er lehnte sich gekrümmt gegen einen Baum, „Was ist mit euch? Habt ihr alles heil überstanden?“ „Das ist doch ein Witz-“, Siri strich ihr Kleid glatt, ehe sie zu den beiden hinzukam, „Lyze, wir hatten uns zu Tode erschreckt, als deine blöden Flügel zuerst nicht wollten und dann aus Spaß über den Bäumen verschwanden!“ „Tut mir leid, ich konnte es nicht kontrollieren... meine Schmerzen lenkten mich ab, weshalb sie Flügel sich einzogen.“ „So schlimm ist es...?“, Tracy begutachtete den Halbengel, „Hm, du sagtest ja auch, dass du dich ausruhen willst, sobald wir draußen sind... was haltet ihr davon, wenn wir uns ein Versteck suchen?“ „Da bin ich so was von dabei.“, Siri griff, genauso wie Tracy, Lyze unter die Arme und stützte ihn beim Gehen. „Nach diesem Horror-Ausbruch müssen wir uns alle erstmal erholen.“ Währenddessen, hoch oben im Turm der Festung, stöhnten die Dämonen über die misslungene Verfolgungsjagd – sie hatten die Flüchtlinge viel zu stark unterschätzt. Auch Tarrence dachte genau darüber nach. Er stand vor dem großen Loch in der Mauer und blickte in die Nacht hinein. „Herr?“, ein kleiner Dämon salutierte neben ihm, „Sollen wir die Verfolgung aufnehmen?“ Leicht schnaufte Tarrence vor Wut, ließ sich diese jedoch nicht anmerken. Er drehte um und ging am Dämon vorbei. „Nein, nicht notwendig... jetzt, wo ich sie habe, nehme ich die Verfolgung mit meinen Männern persönlich auf.“ Kapitel 6: 3. Handelsstadt Comerence ------------------------------------ Der Nachthimmel über Desteral zog sich mit dichten Wolken zusammen. Wo man noch vor kurzem die funkelnden Sterne sehen konnte, blitzte ab und zu der Donner auf. Tarrence hatte gerade sein schwarzes Pferd gesattelt und gab seinen Männer den Befehl zum losreiten, da berührten die ersten Regentropfen den erdigen Boden. Die Nacht wirkte durch den kommenden Regen noch dunkler und kälter, als sie ohnehin schon war. Kaum ritten die Dämonen los, vermehrte sich der Regen, ehe Donner zu hören war. Durch den lauten Krach riss es Siri hoch – und knallte gegen die niedrige Steindecke. Danach ging sie zurück in die Hocke und hielt sich den Kopf. „Auaa! Hätten wir uns keine größere Höhle suchen können!?“ Tracy, wie immer hilfsbereit, krabbelte zu ihr hinüber und strich ihr über die kleine Beule. „Aaw, Siri. Wir müssen uns leider mit diesem Versteck zufrieden geben. Und hey, die niedrige Höhle hat seinen Vorteil: der Eingang ist schmal und im Walddickicht von Gestrüpp verdeckt – besser geht es nicht, wenn du mich fragst!“ „Ja, mag schon sein…“, ihr Blick schweifte kurz hinüber, zu Lyze, der erschöpft an der kalten Steinwand lehnte. „Großartig nach etwas anderem suchen können wir ja auch nicht mehr.“ „So ist es…“, auch Tracy sah traurig zu dem Halbengel, ehe sie sich dicht neben Siri setzte, um Platz und Wärme zu sparen. „Uhm… sag mal, Tracy…“, Siri wartete, bis sie zu ihr sah, „Du musst es mir natürlich nicht verraten, aber… hast du viele Geschwister?“ Die junge Katzenfrau sah sie bei der Frage überrascht an, wobei Siri sich an den Nacken fasste. „Na ja, ich meine nur… weil du so hilfsbereit bist… vielleicht kommt es mir auch nur so vor und du bist einfach eine sehr schnell gewordene, gute Freundin.“ Jetzt musste Tracy kichern: „Ich helfe gerne Leuten, wenn ich sie mag. Wenn es Freunde sind, tue ich am Liebsten alles für sie. Feinde hingegen haben mit mir nichts zu lachen!“, sie seufzte kurz, „Und auf der anderen Seite hast du recht… ich habe viele Geschwister.“ „A-ach so?“ „Wir waren eine zwölfköpfige Familie.“ Während Siri nun der Mund offen stand, sah auch der müde Halbengel überrascht zu Tracy. „Oh nein, nicht so, wie ihr denkt!“, sie kicherte, „Meine Mutter, Marget war nicht fleißig – nun ja, schon, aber auf eine Art und Weise: sie hatte ein großes Herz für Waisenkinder!“ „Dann… seid ihr also alle nicht verwandt?“, so Siri. „Nicht alle, nein. Aber meine jüngere Schwester, Sunny und ich sind leibliche Kinder. Ich war die Älteste und half sehr oft im Haushalt und in der Erziehung…“ „Das klingt irgendwie hart…“, Siri lächelte, „Aber du freust dich bestimmt, alle wieder zu sehen, nicht wahr?“ „Das würde ich sehr gerne…“, sie senkte traurig schmunzelnd den Kopf, „Doch nachdem meine Mutter starb, verteilten sich meine Geschwister in alle Himmelsrichtungen.“ „Oh, Tracy…“, Siri legte ihr tröstend eine Hand um die Schulter, „Das tut mir so leid für dich… warst du deshalb in Desteral unterwegs?“ „Unter anderem, ja…“ Nun seufzte Siri tief. Mit ihrer einfachen Frage nach Geschwistern, hatte sie das Gefühl, in Tracy alte Wunden aufgerissen zu haben. Sie würde diese gerne wieder verdecken, doch wusste sie nicht, wie. Da sah die Katzenfrau zu ihr auf: „Und… was ist mit dir, Siri?“ „Huh?“ „Hast du eine Familie?“ Gleiches Recht für alle. Siri musste lächeln, als sie diese Frage gestellt bekam; irgendwie erleichterte es ihr Gewissen, genauso nur schwer darüber reden zu können. „Tja… das wüsste ich auch gerne.“ „Wie meinst du das…?“ „Ich kann mich nicht erinnern…“ „Wie? An gar nichts?“ „Genau. Vor einem Tag bin ich im Wald aufgewacht… ohne auch nur eine Erinnerung an meine Vergangenheit…“ „Wie schrecklich – meine Familie und Freunde würde ich echt nicht gerne vergessen… ich weiß nicht, aber ich denke, mein Leben hätte ohne Erinnerungen keinen Sinn mehr. Oh-“, sie hob kopfschüttelnd die Hände, „Oh nein! Siri, so war das nicht gemeint, bitte entschuldige-!“ „Ist schon gut.“, Siri schmunzelte, „Wenn man alles vergessen hat, kann man sich nicht erinnern, ob man überhaupt gute Freunde, Familie und einen Sinn im Leben hatte – ich denke, ich muss einfach nach vorne sehen.“ „…Nach vorne sehen ist bestimmt das Beste.“, bei Lyzes Worten aus dem Hintergrund sahen die beiden Frauen auf: „Das Einzige, was deine Erinnerungen zurückbringen kann, sind möglichst viele Ereignisse zu durchleben. Dadurch bekommst du sicher Stück für Stück deiner Vergangenheit zurück und kannst dich schneller an die genaue Mission, den Prinzen von Azamuth zu finden, erinnern… so wie Oben, als wir über den Krieg gesprochen haben.“ „Da hast du Recht.“, Siri nickte dankbar, während Tracy zu ihm rüber gekrabbelt kam: „Geht es dir schon besser? Wir dachten, du willst schlafen.“ „Es ist schwer, in einer Höhle einzuschlafen…“, Lyze setzte sich ein Stück weiter auf, „Besonders, wenn ihr über vergangene Zeiten und Familie redet.“ „Also wirklich, Lyze.“, Siri stemmte die Hände in die Hüfte, „Wir versuchen uns näher kennen zu lernen, während du vor dich hinvegetierst!“ „Du verstehst das falsch, Siri. Es stört mich nicht beim Einschlafen, wenn ihr redet-“ „Was dann? Magst du es nicht, wenn wir über Familie reden?!“ Tracy zog den Kopf ein und sah das drohende Unglück kommen: „Du solltest dich einbremsen, Siri, ich denke-“ „Nicht jeder hat eine so tolle Familie wie du und einen Engel als Mutter!“ „Was weißt du schon über meine Familie!?“, Lyze wäre am Liebsten aufgesprungen, „Meine letzten Jahre waren der reinste Horror!“ Richtig. Hatte Lyze beim ersten Treffen nicht gesagt, er hätte seine Eltern im Alter von zehn Jahren verloren…? „Lyze- ich… ich- es tut mir leid, bitte Entschuldige-!“ „Ist schon gut…“, er seufzte traurig, bevor er den Kopf von dem Mädchen wegdrehte. „Mir tut es Leid… ich hätte nicht so wütend werden dürfen.“ „Doch! Doch, natürlich darfst du wütend sein!“, nun krabbelte Siri zu den beiden, „Du hast deine Familie verloren… wenn du dich nicht darüber aufregen darfst, worüber dann?“ Leise meldete sich Tracy dazwischen: „Du hast deine Familie verloren?“ „Ja, Tracy… mit ihnen starb meine Kindheit.“ „Drück das doch nicht so dramatisch aus-“, Siri seufzte, als Tracy den Halbengel eine Umarmung verpasste: „Ich weiß, dass es schwer ist… aber dürfen wir erfahren, wie das passiert ist?“ Die junge Frau kam kaum zu Wort. „Tracy-“ „Ich will nicht darauf herum hacken, jedoch hilft es einem, möglichst oft über ein Trauma zu sprechen. Ich tu das Gleiche, wenn es um meine Mutter geht.“ Lyze antwortete nicht. Gerade wollte Siri sagen, dass sie dies kommen sah, da gab er einen überlegenden Seufzer von sich. „Komm schon… sprich dich aus, Lyze!“ „Hm. Na ja…“, er sah schließlich auf, „Wenn verdrängen nichts bringt… könnte ich es wirklich mit Reden versuchen.“ „Ja!“ „Aber ich warne euch: ich habe es bis jetzt noch niemanden erzählt, außer den Engeln beim Einzug in die Armee – und die haben verständnislos den Kopf geschüttelt.“ „Wieso das?“ „Vielleicht, weil sie menschliches Handeln nicht verstehen können…“ „Oh.“ Während Lyze anfing zu erzählen, rutschten die Mädchen an ihn heran. „Meine Mutter, wie ihr wisst, war ein Engel. Sie fiel auf dem Boden kaum auf, da sie ihre Flügel so gut wie nie zeigte. Selbst ich wusste erst von ihrer Herkunft, als die Engel vor mir standen und meinten, ich sei dazu „Auserwählt“ für die Armee des Lichts zu kämpfen, da sie jeden Mann brauchten. Sie hieß Airyn und hatte langes, blondes Haar. Typisch für einen Engel, habe ich sie wunderschön in Erinnerung. Mein Vater hieß Xasa und hatte direkt pechschwarze Haare.“, er deutete auf seinen Kopf, „Ich glaube, bis auf die Haarfarbe, sehe ich ihm wohl noch am ähnlichsten. Er war ein ruhiger und ernster Mann, verstand aber Spaß und spielte mit uns. Mit „uns“ meine ich im Übrigen mich und meinen älteren Bruder, Akyu. Er war viel mutiger als ich; und beim Spielen mit Holzschwertern war er immer der Gewinner. Wir lebten in einem Haus, nahe der östlichen Grenze. Man nennt es heute noch das „Noshyru-Anwesen“, da zu unserem Grund und Boden ein großer Teil eines Waldes mit vielen Obstbäumen gehört. Mein Großvater, so heißt es, hat das Haus einst erbaut. Als mein Vater heiratete, baute er es für die kommende Familie aus. Vor zwei Jahren kehrte ich zurück, um es zu renovieren… es fehlt immer noch die Küche, da die Engel mich unterbrochen hatten. Jedenfalls… war ich zehn, als ich an jenem Tag mit Akyu in den Wald ging. Ich kann es bis heute nicht erklären, doch verloren wir uns aus den Augen; trotz langer Suche habe ich ihn nicht mehr gefunden – meine Vermutung ist es nach wie vor, dass er sicherheitshalber Heim kehrte und dort auf mich warten wollte. Noch ehe ich damals darüber nachdenken konnte, zog mir bissiger Rauch entgegen. Der Wind blies ihn vom höchsten Punkt aus bis in den Wald: von unserem Haus. Ein Feuer war ausgebrochen. Besser gesagt, es brannte mit purer Absicht. Ich sah meinen Vater oft mit einem Mann zusammen… einen Mann mit roten Augen, vermutlich ein Vampir aus Azamuth. Genau dieser stand zufrieden neben dem brennenden Haus. Als er mein entsetztes Gesicht sah, schmunzelte er mir gemein zu. Ich wollte auf ihn zulaufen – doch bevor ich ihn erreichte, richtete er seine schwarze Magie auf mich, woraufhin ich zu Boden ging. Als ich aufwachte, war alles voller Ruß. Das Haus war abgebrannt und von meinen Eltern fehlte jede Spur… Ich war allein. Allein, ohne Familie und ohne Zuhause. Vergeblich wartete ich einen ganzen Tag vor der Ruine, hoffte insgeheim auf die Rückkehr meines Bruders und auch, dass meine Eltern zu dem Zeitpunkt des Feuers nicht gerade im Haus waren… doch dem war nicht so. Als mich an diesem Ort nichts mehr hielt, ging ich weg. Jahrelang zog ich ziellos durch Desteral. Für mich schien jede Zeit verloren… bis vor einem Monat vor dem Haus plötzlich dieses Mädchen, Aira stand und behauptete, meine kleine Schwester zu sein.“ Lyze schaute auf, zu seinen traurigen Zuhörerinnen: „Ich muss sie finden. Zwar weiß ich nicht viel über Familie, aber ich weiß, dass man als großer Bruder die Kleinere beschützen muss.“ „Endlich verstehe ich es.“, Siri nickte entschlossen, „Keine Sorge Lyze, wir werden deine kleine Schwester schon finden. Wir klappern alle Dörfer und Städte nach Informationen ab und finden sie somit ganz schnell, du wirst schon sehen!“ Lyze musste über ihren Optimismus lächeln. „Danke, Siri. Vielleicht hast du Recht.“ „Ich helfe euch sehr gerne dabei.“, nun lächelte Tracy, „Wir brauchen nur ein erstes Ziel und schon können wir uns morgen auf den Weg machen.“ „Das ist lieb von dir.“ „Hm tja...“, begann Siri, „Aber wohin können wir denn? Wir sind schließlich Flüchtlinge und… so wie ich Ritter Tarrence einschätze, sucht er bestimmt nach uns.“ „Am Besten gehen wir in eine Stadt, in der die Dämonen noch keine Macht haben.“, so Lyze, „Zum Beispiel… eine Handelsstadt. Und ich weiß, dass hier ganz in der Nähe zufällig die größte aller Handelsstädte Desterals liegt.“ Da schwang Siri die Arme hoch: „Handelsstadt Comerence, jawohl!“, ihre zwei Kameraden sahen dabei überrascht zu ihr, ehe sie sich verlegen duckte. „Tut mir leid – ich habe mich plötzlich an den Namen erinnern können und mich darüber gefreut.“ Die Katzenfrau kicherte über Siri, ehe sie nickte: „Also ist es entschieden: gleich morgen brechen wir auf nach Comerence!“ „Sehr gut… dann lasst uns schlafen legen, damit wir morgen früh los können.“ Die beiden jungen Frauen nickten, ehe sie, wie Lyze, sich eine gute Stelle auf dem Boden der Höhle suchten. Kapitel 7: Ankunft ------------------ Unruhig drehte sich Siri im Schlaf umher. Es regnete und donnerte draußen, außerdem trug der Höhlenboden nicht gerade zum Komfort bei. Lyze und Tracy konnten fast nicht schlafen. Ihnen ging der heutige Tag viel zu sehr durch den Kopf; umso erstaunlicher war es, dass Siri einen lebhaften Traum hatte. Es war die erste Nacht gewesen, seitdem das Mädchen ihre Erinnerungen verloren hatte und endlich schlafen konnte. Vielleicht erschien ihr genau aus diesem Grund diese seltsame Umgebung vor den Augen... Sie drehte sich um, da anfangs nichts zu erkennen war. Der Boden war weich und fühlte sich an wie Gras; Siri wusste das, da sie keine Schuhe trug. Sie schloss die Augen und atmete tief ein. Wenn sie sich konzentrierte, hörte sie leisen Vogelgesang und das sanfte Plätschern eines Brunnens. Gleich darauf öffnete sie ihre Augen wieder und sah in der verschwommenen Umgebung umher. Es war tatsächlich ein Steinbrunnen zu sehen, in der Mitte eines Gartens. Ihre Sicht reichte nicht besonders weit, so orientierte sie sich am Brunnen, auf den sie nun zuging. Als Siri blinzelte, bemerkte sie, dass jemand neben ihm stand. Wieder ging die junge Frau näher heran, konnte aber im Gegensatz zum Brunnen die Person nicht erkennen; stattdessen sah sie einen schwarzen Umriss. Allein ihr Gefühl sagte ihr, dass die Gestalt vor ihr männlich war. „Es ist schön, dich endlich zu sehen...“, tatsächlich sprach eine sanfte Männerstimme zu ihr. Siri schluckte, ehe sie begann zu fragen: „Kann es sein... dass wir uns kennen?“ „Selbstverständlich...“ „Und wer bist du?“ „Du weißt, wer ich bin.“ „Nein... nein, ich kann mich nicht erinnern!“ „Ganz ruhig... du kannst, wenn du es nur willst.“ „Aber ich will doch! Ich will mich erinnern können! Es geht aber nicht…!“ „Siri-“, die Gestalt streckte die Hand nach ihr aus, ehe sie die junge Frau an der Wange berührte. „Hab keine Angst. Eines Tages wirst du es können, ich verspreche es dir.“ „Ich habe keine Angst.“, bei seiner Berührung fühlte sich Siri sogar wohl, „Aber ich will mich erinnern können. An alles.“ „Nun, dann werde ich dir helfen, wo ich nur kann.“, nun streckte er sich, ehe Siri einen sanften Kuss verspürte. In dem Moment sah sie eine Illusion vor sich: da war ein Dorf, nahe eines Strandes. Ein langer Weg führte einen Berg hinauf, bis an ein großes, verfallenes Schloss. Unter den Toren stand ein großer Mann, mit weinrotem Zylinder. Siri sah ganz genau, dass er in seiner Hand eine Kette, mit einem türkis leuchtenden Stein hielt. Gerade drehte sich dieser zu ihr um, da verschwand die Illusion und die verschwommene Person vor ihr löste sich von den Lippen. „Suche den Ort auf, Siri... dort wirst du die Hilfe finden, die du brauchst. Der türkise Stein wird dich auf deiner Suche beschützen...“, langsam nahm er die Hand von ihrer Wange. Siri spürte in dem Moment, dass die Person hoffnungsvoll lächelte. „Viel Glück...“ „Siri-“, leise flüsternd rüttelte Tracy an ihr, ehe Lyze hinzukam. „Siri, wach auf, wir müssen weiter.“ Endlich öffnete sie murmelnd die Augen, als sie ihre Freunde erblickte und sich das Gesicht rieb. „Deinen Schlaf möchte ich haben.“, seufzte Lyze, „Komm, wir müssen weiter. Die Dämonen sind zwei Mal an unserem Versteck vorbei geritten...“ „Wie lange habe ich denn geschlafen...?“ Da nahm Tracy sie an den Händen und zog sie hoch. „Das waren in etwa vier Stunden.“ „Ich hatte einen total komischen Traum... da war ein Garten und eine Person, die ich einfach nicht erkennen konnte.“ „Das kommt bestimmt, weil du dich nicht erinnern kannst.“, Lyze saß in der Hocke, nahe dem Höhleneingang und suchte die Dämonen, „Das geht dir wahrscheinlich durch den Kopf...“ „Nein- nein, da ist noch mehr!“, sie ging mit Tracy zu ihm rüber, „Die Gestalt gab mir eine Vision! Ich sah ein altes Schloss und eine Kette mit einem türkisen Stein!“ „Wirklich...?“ „Ja! Der Stein soll mich beschützen, meint er.“ „Das klingt toll; wäre durchaus nützlich.“ „Und ich glaube, der Kerl ist mein fester Freund!“ Nun sahen beide überrascht zu ihr. Siri klang verrückt – so verrückt, dass der Traum schon wieder glaubhaft wirkte. „Wie seltsam...“, Lyze sah noch einmal nach draußen, „Lass uns später genauer darüber reden – wenn wir nicht bald verschwinden, haben wir keinen Grund mehr, uns darüber Gedanken zu machen.“ „Ist gut.“ „Tracy... kannst du etwas hören?“ „Nein, die Luft ist rein – beeilen wir uns!“, sogleich schlichen die drei im Gänsemarsch nach draußen. Die Sonne war gerade dabei, aufzugehen und warf den Flüchtlingen einen langen Schatten. Siri folgte Lyze, während Tracy ihre Hand hielt. Sie schlichen die Felswand der Höhle entlang, bis sie eine geeignete Stelle zum Klettern fanden. Gerade stiegen sie hinauf, da rutschte Tracy durch das nasse Gras aus – Siri hielt ihre Hand fest, wodurch sie nicht hinab fiel, jedoch machte sie dabei ein leises Piepsgeräusch, ehe sie sich den Mund zuhielt. Dann wackelten ihre Katzenohren: „Lyze!“, rief sie im Flüsterton nach vorne, „Ich höre Pferdehufe – sie sind direkt dort oben und kommen auf uns zu!“ „An die Wand – schnell!“, auf Lyzes Befehl hin, pressten sich die jungen Frauen so eng es ging an die Felswand. Schon einen Moment später war das Pferdegetrampel lauter zu hören, ehe es verstummte. Die drei wussten genau, dass jemand oben stand und nach unten späte – wenn es nicht sogar Ritter Tarrence selbst war. Dadurch, dass die Flüchtlinge dicht an der Wand standen, blieben sie jedoch unentdeckt. Sie hörten noch ein „Hüja!“, ehe das Pferdegetrampel wieder verschwand. „Das war knapp...“, Siri fiel vor Erleichterung regelrecht in sich zusammen. „Ich kenne eine Abkürzung nach Comerence.“, Lyze klettere weiter, „Kommt schon – und versucht, keine Geräusche zu machen...“ Oben angekommen, waren sie nur mehr kurz der Gefahr ausgesetzt, leicht entdeckt zu werden. Lyze schien diesen Wald schon einmal besucht zu haben – er schob zwischen zwei alten Bäumen das Gestrüpp zur Seite, ehe eine weitere Höhle zum Vorschein kam. Siri wollte schon fragen, inwiefern eine Höhle denn eine Abkürzung sei, da drängte Tracy sie nach vorne: mehrere Pferdehufe waren zu hören. Erst drinnen verstanden die jungen Frauen, was Lyze meinte. Im Gegensatz zum engen Versteck von vorhin war diese Höhle tief, sehr tief. In ihr lief seitlich ein unterirdischer Fluss entlang, dem die drei folgen konnten – bis sie nach einer Weile des Gehens das Ende erreichten. Siri war erstaunt, als sie die Oberfläche betrat, sich die grelle Sonne aus dem Gesicht hielt und über eine weite, vertrocknete Steppe blickte. „Es ist nicht mehr weit.“, der Halbengel deutete den steilen Berg hinter sich hinauf, „Der Wald liegt hinter uns und unsere Verfolger werden Stunden brauchen, um den Berg zu umgehen.“ „Toll Lyze! Wie hast du das nur herausgefunden?“, wollte Tracy wissen. Er musste sich räuspern, ehe er sprechen konnte. „Ich habe euch doch erzählt, dass ich jahrelang in Desteral unterwegs war… damit meine ich so gut wie überall, im Norden, Osten und Westen.“ „Oh… das hat etwas… Nützliches an sich.“, so Siri. „Allerdings, ja.“, Lyze ging vor und wank nach den beiden. „Los geht’s, kommt.“ Eine ganze Weile gingen die Flüchtlinge eine lange Landstraße entlang. Es gab weder Bäume, noch Schatten. Mit der Zeit spürten die drei ihren aufkommenden Durst, wobei Lyze wieder zur Beruhigung erwähnte, dass es bis Comerence nicht mehr weit sei. Zur Ablenkung sprach er Siri auf ihren merkwürdigen Traum von heute morgen an. Sie hatte selbst darüber nachgedacht und sich entschlossen, in der Stadt nach einer Karte zu suchen; eventuell ist darauf ein ähnliches Dorf, nahe eines Strandes verzeichnet – denn irgend eine Bedeutung musste die Version haben, da war sie sicher. Zu guter letzt wollte Tracy noch wissen, wieso denn ausgerechnet eine Handelstadt wie Comerence vor den Dämonen sicher sein sollte. Lyze erklärte ihr hierbei, dass die Stadt nahe zur Grenze von Azamuth lag und die bisher einzige war, die begonnen hatte, seltene Waren aus Desteral an das dämonische Nachbarland zu verkaufen. Dadurch lag es auf der Hand, dass sie diese Stadt als letzte terrorisieren würden. Kaum hatten die zwei ihr Gespräch zu Ende geführt, da deutete Siri begeistert gen Horizont: „Da ist es, schaut!“, tatsächlich waren die Mauern von Comerence zu sehen. Unter dem Bogen angekommen, durchschritten die Drei das große Tor; Siri ging mit hoch gerichtetem Kopf in die Stadt und konnte nur ein „Woow…“ von sich geben. Darauf hin schmunzelte Lyze, meinte: „Wenn dich Comerence schon beeindruckt, musst du erstmal Destercity, die Hauptstadt Desterals sehen.“ „Ja, die ist hochmodern!“, Tracy sah dabei hinter Lyze hervor. „Hochmodern?“, kurz blickte Siri umher, „Ihr meint mit richtiger Technologie und so? Warum gibt es die nicht auch hier zu sehen?“, sie deutete auf die altmodischen Pferdekarren, auf dessen Ladeflächen so einiges an Handelsmaterial gepackt war. Der Hauptlatz, auf dem sie jetzt standen, beinhaltete einen kleinen Springbrunnen in der Mitte, der Boden war gepflastert und die Häuser und dessen Fassaden wie in unserem 18. Jahrhundert. „Die gibt es…“, meinte Lyze, „Jedoch können sich kleinere Dörfer außerhalb Destercity solch eine gewaltige Technologie nicht leisten – noch nicht.“ Während sich Tracy von der Gruppe entfernte und begeistert zu einem Hutladen lief, kam Siri zum Halbengel rüber: „Solch eine gewaltige? Was haben die denn, was sooo viel kostet?“ „Etwas, das sich Energie nennt – Elektrizität, gewonnen aus einem ganz bestimmten Kristall. Dadurch gibt es so allerlei Dinge… gesehen habe ich bisher nur Straßenlaternen, die mit Elektrizität beleuchtet wurden… aber ich war damals auch nur kurz in Destercity, auf der Durchreise.“ „Ach so…“ „Hey Leute!“, Tracy deutete auf einen Stand, der Kleidung verkaufte, „Kommt mal her, hier gibt es für uns alle etwas!“ Über den Fund der Katzenfrau waren alle begeistert. Lyze war froh, endlich sein zerschlissenes Gewand loszuwerden; ebenso seine Gefährtinnen, die sich neue, kurze Kleider heraussuchten. Siri ihres war bläulich, mit weißen Streifen; Tracy hatte sich eines in olivgrün ausgesucht. Als Lyze dem Verkäufer sein neues, weißes Hemd hinlegte, sah Siri ihn mit einer trockenen Mimik an. „Das sieht ja genauso aus wie dein altes… man, bist du fad.“ „Darum geht es nicht.“, er gab dem Verkäufer ein paar Münzen, „Die sind gut, reißfest und leistbar.“, dann deutete der Halbengel auf die beiden Kleider, „Könnt ihr sie selbst bezahlen?“ „Nein…“, Tracy schüttelte den Kopf, „Mir wurde im Gefängnis alles weggenommen. Entschuldige, Lyze…“ „Äh-“, begann Siri, die nach ihren Nacken fasste, „Mir tut es auch Leid, aber ich weiß nicht einmal, mit was hier bezahlt wird.“ Ihre Mitreisenden sahen sie dabei an, als ob die junge Frau scherzen würde. „Nein- nein, ich meine es ernst! Wie heißt Desterals Währung!?“ „Ach, Siri…“, Lyze schüttelte den Kopf, bevor er anfing sie aufzuklären: „Das Geld in Desteral nennt man „Nima“. Das Hemd hier zum Beispiel kostet 4 Nima. Wenn du in einem recht guten Gasthof übernachtest, kostet das 10 Nima; und solltest du nach einer ordentlichen Waffe oder einem Musikinstrument suchen, kosten die meistens 60 Nima aufwärts. So – jetzt weißt du auch über den Wert bescheid.“ „Ah gut, danke…“, sie schaute zu ihrem Kleid, „…Ich kann es auch gerne zurückhängen; wenn dein Geld nicht reicht, versteht sich…“ „Nun gib es mir schon her.“, Lyze griff nach ihrem und nach Tracys Kleid, „Ein wenig Geld habe ich zum Glück noch aufgespart.“ Er drückte dem Verkäufer 15 Nima in die Hand und bekam drei zurück. „Hm, das ist nicht mehr viel.“ „Was? Hattest du nur 15 Nima bei dir?!“, so Siri, die ihm über die Schulter sah. „Ja. Die Armee des Lichts bezahlt eben nicht sehr gut. Bei den Engeln hat alles einen etwas anderen Wert…“ Da seufzte Tracy, ehe sie nach ihrem neuen Kleid griff. „Ich bin dir ja dankbar… aber jetzt haben wir nicht genug Geld für eine Bleibe. Das reicht mit Glück für eine Mahlzeit…“ „Ich weiß. Aber wir sind Flüchtlinge; mit so wenig Geld müssen wir im Moment leben.“ Gerade als die drei anfingen zu überlegen, schauten zwei Gestalten, die gerade am durchforsten des Nachbarstandes waren, zu den drei frisch in Comerence Eingetroffenen auf. Der Kleinere der beiden nahm seine Kapuze ab, ehe er mit offenem Mund in Richtung der Katzenfrau starrte. „…Tracy?“ Als sie ihren Namen hörte, drehten sich erst ihre Ohren, ehe sie durch die bekannte Stimme zu dem jungen Mann aufschaute. „Ricci…“, sie sah ungläubig auch den zweiten an, „Oto? Seid ihr es wirklich?!“ Als sie ihr Glück kaum fassen konnte, ging Tracy zuerst auf sie zu, ehe sie begann zu laufen. Lyze und Siri blickten erst in dem Moment hinüber, als sie ihren beiden verloren geglaubten Brüdern in die Arme fiel. Kapitel 8: Eine ruhige Minute ----------------------------- „Ricci, Oto, ihr seid es!“, Tracy drückte die beiden Jungs fest an sich, „Ihr seid es, ihr seid wirklich hier! Ich habe euch gefunden!“ „Nein Tracy-“, die zwei umarmten zurück, was ein ziemlich witziges Bild ergab. „Wir haben dich gefunden!“ Ihre Kameraden standen neben ihnen und beobachteten das Spektakel. Während Siris Augen sich leicht mit Tränen füllten, hatte Lyze die Arme verschränkt und schüttelte lächelnd den Kopf: er hätte nicht gedacht, bereits so kurz nach dem Ausbruch der Festung auf Geschwister aus Tracys Familie zu stoßen – und Tiermenschen waren in Desteral wirklich nicht häufig anzutreffen. „Lyze, Siri!“, Tracy wischte sich eine Freudenträne weg und trat zu ihren Mitreisenden, dabei hatte sie einen Arm auf den Rücken des kleineren Jungen gelegt. „Darf ich euch zwei meiner Brüder vorstellen? Das hier ist Ricci.“, dabei trat der Kleinere vor. „Er ist ein Fledermaus-Animo und Bastler; er geht momentan in eine Lehre. Und das hier ist Oto, er ist ein Panda-Animo!“, bei der Ansage seiner Schwester verbeugte er sich, „Er will einmal ein guter Arzt werden und ist gerade in Ausbildung.“ Da trat Siri vor und schüttelte ihnen die Hand. „Freut mich, euch kennen zu lernen! Ich bin Siri und das hier ist Lyze. Nett habt ihr es hier; etwas lebhaft, aber ganz gemütlich.“ „Oh, wir wohnen nicht hier.“, so Ricci, „Ich bin mit meinem Meister in Comerence, um ein paar Teile einzukaufen; für normal bin ich in Destercity zu finden. Oto ist auch eher auf freiwilliger Basis hier. Er versorgt die verwundeten und tapferen Männer, die vom Krieg aus hierher finden.“, da legte der Fledermausjunge eine Hand auf Tracys Schulter. „Es ist so schön dich wieder zu sehen! Wollt ihr nicht ein wenig bei uns bleiben? Ihr habt sicher einiges zu erzählen!“ Während Lyze eher skeptisch schaute – er hatte Angst, zu lange an einem Ort zu verweilen – nickte Siri darauf heftig: „Ja ja ja! Wir bleiben gerne über Nacht!“ Die junge Frau dachte dabei daran, dass Lyze sein letztes Geld für die Kleidung ausgegeben hatte; so hatten sie nun wenigstens eine Unterkunft. Auch den Nachmittag verbrachte die Gruppe gemeinsam mit Tracys Geschwistern. Sie redeten von alten Zeiten, damals, als die Katzenfrau mit ihrer Familie auf der Heimatinsel Palooza lebte. Es war ein altmodischer Ort, mit nur wenig Technik, aber durch die vielen Herrscher und Traditionen wundervoll. Seit dem Krieg waren Paloozas Reiche ein wenig im Streit. Während die einen meinten, sie müssten zum stärkeren Land halten – in diesem Fall Azamuth – meinten die anderen, Desteral helfen zu müssen. Da Desteral unmittelbar ihr Nachbar war und doch einige Beziehungen zwischen ihnen liefen, war es für diese Herrscher klar, wem sie helfen müssten. Wieder andere Reiche behaupteten, es sei das Beste, sich aus der Sache gänzlich herauszuhalten; wie nun die Zukunft aussehen wird, war den Geschwistern unklar. Tracy konnte durch ihre zwei Brüder in Erfahrung bringen, dass sich fast ihre ganze Familie in Desteral verstreut hatte. Auch wenn es naiv war, glaubte Ricci fest daran, dass, wenn der Krieg vorbei geht, sich die Familie auf Palooza wieder vereint. Tracy konnte ihm nicht ganz Recht geben – doch war der Gedanke daran schön. Als die Sonne langsam hinter der Mauer Comerences verschwand, gingen die Drei zu Tracys Brüdern; sie hatten für die paar Tage ein eigenes Haus gemietet und genug Feldbetten für verwundete Soldaten bei sich. Zwar mussten alle in einem Raum schlafen – Ricci und Oto hatten einen eigenen im 2. Stock – doch wenigstens gab es heute Abend keine Verletzten, zwischen denen sie schlafen mussten. Lyze saß auf seinem Feldbett und beobachtete Siri und Tracy, wie sie „typisch weiblich“ über alles Mögliche quatschen. Nach ein paar Minuten kam Ricci hinzu, setzte sich neben ihm aufs Bett. „Na, Flattermann?“, schmunzelte er. „Flattermann..?“ „Ja!“, er lachte, „Siri hat mir erzählt, dass du Flügel hast –“, da flappte Ricci mit seinen Fledermausflügeln am Rücken, „Wir sind Kumpel, wenn’s darum geht. Aber im Gegensatz zu mir kannst du sicher fliegen, was?“ „Du nicht..?“ „Neiiin… aber ich versuche etwas zu erfinden, dass mir beim Fliegen hilft. Darum bin ich bei meinen Meister auch in die Lehre gegangen.“ „Ach so.“, Lyze klopfte ihm auf die Schulter, „Dann viel Erfolg!“ „Danke!“ Währenddessen wechselten die zwei Mädels ihr Gespräch: „Deine Brüder sind unglaublich nett.“, so Siri. Die Katzenfrau kicherte darauf leicht verlegen, „Danke! Na ja, Oto ist sehr schüchtern, wie du vielleicht schon gemerkt hast; er meidet euch zwar nicht, redet aber auch nicht viel… hm, ich frage mich, wo er sich gerade herum treibt.“ „Ach, das macht doch nichts! Ich bin schon für die Unterkunft dankbar.“ „Nun ja, wer weiß.“, Tracy stupste sie, „Vielleicht hast du auch wunderbare Geschwister, weißt es aber nur nicht!“ „Ja, kann sein.“, durch den Satz wurde Siri nachdenklich; sie schaute auf den Boden und spielte mit ihren Fingern. „Ich wüsste zu gern, ob da draußen jemand auf mich wartet… ob ich Geschwister habe, Freunde, Familie, tatsächlich einen festen Freund… und ob es ihnen gut geht.“ Die Katzenfrau hörte ihr aufmerksam zu und hatte die Ohren traurig angelegt, als Siri seufzte. „Weißt du, Tracy… wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, mich schneller erinnern zu können. Hinweise würden mir schon reichen – einfach irgendetwas! Hm, da fällt mir ein… eine Landkarte mit eingezeichneten Dörfern habt ihr nicht zufällig bei euch, oder?“ „Nein, leider nicht…“, Tracy fing an zu überlegen. Nicht nur Lyze hatte ein Ziel vor Augen, sondern ja auch Siri – und Hinweise… tatsächlich verstummte Tracy mit einem Mal völlig und sah über ihren eigenen Einfall überrascht auf. „Siri, das ist es!“, nun mit festem Glauben aufgesprungen, rüttelte sie an ihr. „Was? Was ist was??“ Auch Ricci und Lyze schauten, in ihrem Gespräch unterbrochen, zu der aufgesprungenen Katzenfrau. „Ricci!“, meinte sie schnell, „Hast du ein Buch unserer Märchengeschichten da?“ „Wa- was?“, blinzelnd wurde sie von ihm angeschaut, dann stand er auf und durchwühlte seinen Reisekoffer. „Ja, klar habe ich es da… aber was hat das mit Siri zu tun?“ „Das würde ich auch gerne wissen…“, Lyze kam zum Feldbett der Mädchen rüber, als Ricci das Märchenbuch abstaubte und herbei brachte. Tracy nahm es ihm aus der Hand und durchblätterte Seite für Seite. Neugierig rutschen und schoben sich die Drei näher an sie heran und warteten auf eine Antwort. Nach einem „Verflixt, wo ist es denn?!“ fand Tracy schließlich die gesuchte Seite und zeigte sie stolz den Freunden und ihrem Bruder. „Der Drache der Güte...?“, Ricci zog eine Augenbraue hoch, als er das vergilbte Bild des silbernen Drachen sah. Durch die Runde wandernd, wurde das Buch von allen begutachtet, während Tracy sprach: „Ganz genau. Der Drache der Güte. Er kann dir bei der Suche nach deinen Erinnerungen helfen, Siri! Und Ricci – du weißt, dass viele Märchen aus Palooza nicht einfach an den Haaren herbeigezogen sind – vieles ist tatsächlich passiert!“ „Ja, aber…“, Ricci versuchte die Situation zu erklären, „Selbst wenn es diesen Drachen gäbe, wäre er an die 500 Jahre alt. Das ist unrealistisch, so alt wird nicht einmal ein Drache!“ „…Vielleicht doch…“ Lyze schaute auf, zu Ricci, „Wo lebt angeblich dieser Drache?“ „Hm? Warum willst du das wissen?“ „Kann er uns dabei helfen, Siris Erinnerungen zurück zu bringen?“ „Vielleicht.“ „Dann tun wir es.“ Wirklich überrascht wendete Siri ihre Augen vom Buch ab und schaute auf, zu Lyze. „Wow, was ist denn mit dir los?“ „Na ja…“, ein wenig beschämt kratzte er sich am Kopf, „Um ehrlich zu sein, uns fehlt ein Ziel – und das wäre doch eines, oder?“ Trocken schaute Siri zurück: „Hm. Nach deiner Schwester Aira suchen, wäre auch keine schlechte Idee, finde ich.“ „Natürlich – aber in ihrem Fall haben wir keinen Anhaltspunkt, verstehst du? Auf der Reise zum Drachen und zurück finden wir vielleicht eine Spur, doch bis dahin sollten wir uns auf deine Erinnerungen konzentrieren.“ „Ok Leute, ich habs.“, meinte Ricci, „Der Drache der Güte lebt, laut dem Buch, an der nördlichen Grenze Desterals; da, wo das Meer anfängt, gibt es eine Klippeninsel, die aus einer riesigen Höhle besteht – da drin lebt er… angeblich.“ „Na wunderbar, das ist doch was!“, das erste Mal seit einem Tag schien Lyze wieder neuen Mut gefasst zu haben, „So weit ist das nicht. Einen halben Tag Fußmarsch und dann eine kleine Seefahrt.” „Cool, gute Berechnung.“, stellte Ricci fest, „Woher weißt du das?“ „Ich war lange in Desteral unterwegs, wie ich bereits den Mädchen erklärte.“ Plötzlich stieß jemand die Holztür auf, unterbrach somit das Gespräch. Oto trat ein, ganz aufgeregt und außer Atem. „Schnell! Ihr müsst gehen!“, er zog an Siris Arm, „Ihr habt keine Zeit, beeilt euch!“ „Was ist denn los, Oto? Was hast du?“, Tracy kam zu ihm und versuchte ihn zu beruhigen. Ihm entfleuchten schnell die Worte „Soldaten aus Azamuth!“, schon sprangen alle wie von Insekten gebissen auf. „Bist du dir sicher?“, so Ricci, „Mach unseren Gästen keine Angst, vielleicht sind die Krieger nur auf der Suche nach einer Bleibe?“ „Nein, Ricci! Ich bin mir seeeehr sicher – es sei denn, dieser Ritter Tarrence, von dem ihr erzählt habt, hat einen Zwilling!“ Stöhnend ließ sich Siri daraufhin auf ihr Feldbett zurückfallen. „Ach na toll...“ Ihnen war klar, dass sie nicht einfach bleiben konnten. Tarrence wird jedes Haus durchsuchen lassen, bis sie etwas gefunden haben. So erhob sich Lyze, trat zur Tür und meinte: „Kommt. Tracy, Siri; wir können nicht bis morgen warten.“ Siri nickte schließlich und kam zur Tür. Doch Tracy brachte ihnen zwei dunkelbraune Mäntel, mit Kapuzen. „...Die werdet ihr brauchen...“, sagte sie dabei leise. „Ja- aber... kommst du nicht mit?“ sowohl Lyze, als auch Siri waren überrascht. Sie schüttelte traurig lächelnd den Kopf, ehe sie ihren Arm um Riccis Schultern legte. „Nein… ich weiß, ich habe versprochen, euch bei der Suche zu helfen… aber ich bin da, wo ich hin gehöre. Oto und ich werden Ricci nach Destercity begleiten.“, sie schmunzelte, „Keine bange wegen den Soldaten, mir passiert nichts. Ich verstecke mich oben am Dachboden, außerdem suchen sie nicht direkt nach mir... bitte seid nicht böse...“ „Ist schon ok-“, Siri zog sich den Mantel über und setzte sich die Kapuze auf, genau wie Lyze. „Pass aber auf dich auf, versprochen?“ „Versprochen!“, nickte die Katzenfrau, bevor Ricci weiter sprach: „Im Schutz der Dunkelheit kommt ihr leichter aus Comerence. Zwar haben Dämonen gute Nachtaugen, doch Unbewegtes nehmen die im Finstern genauso schlecht wahr, wie wir. Schleicht um unser Haus herum; hinten gibt es eine dunkle Gasse, ohne Lichter. Wenn ihr die durchquert, müsst ihr nur noch durch den versteckten Hinterausgang und ihr seid draußen!“ „Ist gut... vielen Dank!“, gab Siri, die neuen Mut gefasst hatte, von sich. Dann drehten die Zwei um, bereit zum Flüchten. „Lyze?“, hörte er leise, und so schaute er noch einmal zurück – da fiel ihm Tracy in die Arme, drückte ihn fest. „Passt auf euch auf, ja? Und kommt uns mal besuchen!“ Lyze lächelte schließlich, bevor er seine Hand auf ihren Kopf legte. „Das werden wir. Ich verspreche es dir.“ Nun musste Tracy loslassen. Noch einmal winkend verließen die Zwei das Haus und verschwanden um die Ecke, in der sicheren Dunkelheit. Kapitel 9: 4. Die Insel ----------------------- Im Schutz der Dunkelheit schlichen zwei umhüllte Gestalten aus dem Hinterausgang der Handelsstadt Comerence. Es dauerte nicht lange und die zwei Gesuchten konnten sich auf der freien Steppe Desterals wieder finden; die Nacht war seit einigen Stunden hereingebrochen, doch an eine Pause dachten sie nicht. Zumindest Lyze – er war sich sicher, dass die dämonischen Krieger schon bald das Haus von Tracys Geschwistern erreichen werden – und wenn es so weit war, würde Tarrence nicht zögern und den Beiden nachhetzen. Tatsächlich stand die schwere Holztüre des Hauses offen, dazwischen zwei große, muskulöse Gestalten – sie sahen wie dämonische Türsteher aus. Tarrence ging um die Feldbetten im Erdgeschoss umher und dachte sich, das etwas nicht stimmen konnte; die zwei Tiermenschen standen aufgestellt daneben und ließen den Ritter nicht aus den Augen. „Wofür sind die?”, mit ruhiger Stimme meinend, deutete er auf die drei Betten. „D-die sind für unsere Soldaten…” „Ja!”, Ricci trat vor, „Oto ist Arzt und hilft den Verwundeten, die ihr verstümmelt!” „Ricci…!”, Oto stieß ihm flüsternd gegen die Schulter. „Soldaten also…?”, er ging noch einmal durch die Runde, „Und wieso nur drei Betten?” „An manchen Tagen gibt es zum Glück weniger Verwundete. Drei stehen immer für Notfälle zur Verfügung!”, stolz auf seine Notlüge, stemmte Ricci die Hände in die Hüfte. Tarrence blieb vor den Brüdern stehen. „Ihr kommt doch aus Palooza… ist es friedlich dort?” Während Oto ein leises „Noch…” von sich gab, stampfte Ricci auf: „Ich wüsste nicht, was das euch angehen würde!” „Habt ihr Geschwister? Eine große Schwester vielleicht…?” Plötzlich stockend, trat der Fledermausjunge zurück, schüttelte den Kopf. Als ob Tarrence Gedanken lesen könnte, schmunzelte er finster und drehte sich zu zwei seiner Männer: „Durchsucht den Dachboden.” „Nein!”, piepste Oto auf und hielt sich anschließend, leicht rot, seinen Mund zu. „Wenn ihr nichts versteckt, habt ihr auch nichts zu befürchten.”, der Ritter trat vor den sowieso schon eingeschüchterten Oto und schaute ihn direkt in die Augen. „Wisst ihr was? Comerence ist eine wichtige Stadt. Wenn wir das gefunden haben, wonach wir suchen, lassen wir euch alle in Ruhe. Ist doch ein feiner Handel, meint ihr nicht…?” Währenddessen, knapp drei Stunden von Comerence entfernt, mühten sich die zwei Flüchtlinge durch einen seichten Sumpf. Immer wieder blieb Lyze stehen, da er auf Siri warten musste, der langsam die Puste ausging. Kurz achtete sie nicht auf den Weg – da stolperte sie über eine Wurzel, die im Wasser herausragte. Kurz bevor Siri in den nassen Dreck fallen konnte, fing sie der Halbengel auf. Als die junge Frau wieder auf ihren Beinen stand, räusperte sie sich schnell. „Da- danke…” Lyze nickte darauf, drehte sich nun eilig wieder um und wartete weiter durchs Wasser. „Lyze…”, Siri seufzte, „Bitte, lass uns eine Pause machen… ich kann wirklich nicht mehr.” „Das geht nicht… wenn wir jetzt stehen bleiben, holen uns die Dämonen ein.” „Meinst du wirklich, die sind so schnell? Ich meine, sie-“ „Ja, ich bin mir sicher.“ „Aber Lyze! Ich- aber-“, sie schwang die Arme in die Luft, „Bei Desteral, kannst du stur sein!“ „Ich bin stur, wenn ich es sein muss. Nun quengle nicht rum – achte lieber darauf, wo du hin steigst.“ „Ich quengle aber ni-!” – Lyze überhörend, stolperte das Mädchen abermals vorwärts und flog dieses Mal in den Dreck; sie fing ihren Sturz zum Glück gerade noch mit den Händen ab. „Ah, verflucht…!“ „Was ist?”, nun blieb Lyze stehen und sah zu ihr zurück. „M-mein Kleid ist wieder schmutzig…” Tief seufzend griff sich der Halbengel auf den Kopf, bevor er sie auf die Beine zurückdrängte. „Dann fall nicht so oft auf die Nase.” Wieder Siri ignorierend, ging er weiter – gleich war das Ende des Sumpfes erreicht. „Als ob ich etwas dafür könnte! Lyze!“, sie blieb einen Moment stehen, ehe sie ihm wieder nachlief: „Hey, hörst du mir überhaupt zu!? Ah, ich dreh noch durch!“ Endlich konnte Lyze einen kleinen Hügel hinauf steigen, ehe er hinab sah, auf die andere Seite. Dann drehte er sich leicht um, winkte Siri zu sich. „Schau doch.” Flüche vor sich her murmelnd, stampfte die junge Frau zu ihm und schaute auf das Tal hinab: Wasser. So viel, dass es über den Horizont hinausragte. Davor war ein kleiner Hafen zu sehen; er hatte eine kleine Hütte und ein paar Ankerplätze, an denen so einiges an Schiffe standen: große, prächtige Fähren, stattliche Holzschiffe, kleine Handels- und Segelboote. „Wir haben es geschafft.”, gab Lyze erschöpft, aber erleichtert von sich. Inzwischen, in der Handelsstadt Comerence, saß Ritter Tarrence in der Küche der zwei Tiermenschen und nippte gemütlich an seinem Tee. Ihm gegenüber saßen Ricci und Oto, die von seinem Handeln nicht sehr begeistert waren. Der Fledermausjunge gab sogar ein trockenes „Den bezahlen Sie auch, oder?” von sich. Kaum hatte Tarrence einen bösen Blick zu ihm geworfen, hörte man plötzlich Geräusche auf den Stufen. Einer der großen Dämonen hatte Tracy am Arm gepackt und schliff sie die Treppe hinunter. „Lass mich los!”, sie wehrte sich heftig und biss dem muskulösen Kerl in den Arm. Dies kaum spürend, schliff er sie weiter, bis in die Küche. „Tracy!”, ihre Brüder sprangen gleichzeitig auf, als sie sahen, dass sie gefunden wurde. „Dieses Katzenmädchen versteckte sich oben in einer kleinen Truhe.”, gab der Dämon von sich, „He Meister… die hat mich ja gebissen!” Den letzten verblödeten Satz hatte Tarrence ignoriert. Er stellte sanft seinen Tee ab, stand langsam auf und ging zu Tracy rüber – er war ganze zwei Köpfe größer als sie – und musterte sie kurz von allen Seiten. Als er dann wieder vor ihr stand, holte er plötzlich mit der flachen Hand aus und schlug ihr ins Gesicht. „Ah-!”, Tracy drehte den Kopf zur Seite – es sträubte sich das Fell auf ihrem Katzenschwanz, während Ricci schreiend herbeigelaufen kam: „Aufhören!!” Da kam der zweite Dämon herbei, stellte sich zwischen den Jungen und dessen Schwester. „Also…”, Tarrence beugte sich herab und sah der Katzenfrau in die ängstlichen Augen. „Wo befinden sich deine zwei Freunde?” „Oh, bin ich müde…“, Siri gähnte herzhaft. Die zwei Flüchtlinge saßen in einem kleinen Ruderboot – während die junge Frau sich über ihre Müdigkeit Gedanken machte, saß Lyze ihr gegenüber und übernahm das Rudern. Beiden wäre ein ordentliches Schiff zur Überquerung der kurzen Strecke des Meeres lieber gewesen; doch dadurch, dass Lyze nur mehr drei Nima besaß, hatten sie Glück gehabt, überhaupt ein Boot mieten zu können. „Wie weit ist es denn noch?“ „Wenn man Riccis Worten Glauben schenkt… nicht mehr weit. Bleib auf jeden Fall wach, Siri.“ „Denkst du denn, ich kann so dicht am Salzwasser schlafen…?“, sie sah ins pechschwarze Meer, auf dem sich Nebelfelder drehten. „Irgendwie ist das unheimlich.“ Lyze musste schmunzeln. „Die Sonne ist auch noch nicht aufgegangen. Wir waren ziemlich schnell unterwegs; jetzt müssen wir uns nicht mehr beeilen.“ Bei seinen Worten musste die junge Frau seufzen. Sie legte ihren Kopf in den rechten Arm, ehe sie wieder ins Meer starrte. „Ich verstehe sowieso nicht, wieso du nicht einfach deine Flügel ausbreitest und drüber fliegst.“ „Überlege doch, Siri. Zum einen verspüre ich immer noch Schmerzen, zum anderen könnte ich dich nicht mitnehmen. Und dich alleine über das Meer rudern lassen? Nein, das ist sicher keine gute Idee…“ „Heißt das, du tust das wegen mir?“, sie sah zu Lyze auf, „Das ist aber nett… ich würde mich fürchten, alleine zu rudern… gut, das tue ich sogar jetzt, ich meine-“, kurz blinzelte sie abermals ins Wasser, „Da unten ist sicher irgendetwas Unheimliches…“ Ihre Aussage brachte den Halbengel zum Lächeln. Egal ob es nun mit Siris Meinung übereinstimmte oder nicht, es lag etwas Faules in der Luft. Wolken zogen sich zu einem Sturm zusammen, doch dies beunruhigte den Halbengel zu diesem Zeitpunkt nicht im Geringsten. Im Haus der zwei Tiermenschbrüder war Tracy auf einem Küchenstuhl angebunden. Ihre Backe war vom vorherigen Schlag noch ganz rot; und ihre Beine zitterten leicht vor Angst. Die zwei Brüder wurden in einem der obigen Zimmer gesperrt und von einem der Krieger bewacht, damit sie das Verhör nicht störten. Tarrence kam endlich herbei, er hatte seine Teetasse säuberlich in die Abwasch gestellt. Jetzt ging er, wie bei jedem Verhör, einmal um den Stuhl herum, bis er wieder vor ihm stand. „Nun, Mädchen…”, er beugte sich herab, „Tracy war dein Name? Du musst nicht antworten, aber nicke, wenn dein Name stimmt.” Wütend, mit leichten Tränen in den Augen, drehte sie sich von seinem Gesicht weg. „Hör mal…”, er sprach ganz ruhig, „Du musst nicht wieder ins Gefängnis… wenn du mir dafür verratest, wo sich Siri und der Engel aufhalten.” „Halb.”, reagierte Tracy, leise. „Wie bitte?” „Halbengel. Du Idiot. Und ich werde meine Freunde niemals verraten.”, sie sah ihm hasserfüllt ins Gesicht, „Niemals, hörst du?!” „Das ist aber schade.”, der Ritter schmunzelte, „Dann müssen wir dich wohl oder übel mitnehmen; deine Geschwister leider auch – ich bezweifle aber, dass sie im selben Gefängnis landen und- oh! Richtig, unsere andere Festung liegt ja mitten in Azamuth… wie dumm.” „Nein! Das würdest du nicht tun!” „Ach wirklich?”, er stand auf, „Welchen Grund hätte ich, euch Tiermenschenpack nicht voneinander zu trennen. Keinen?” Da stampfte Tracy mit den Füßen, wenn sie nicht angebunden wäre, wäre die dem Ritter ins Gesicht gesprungen. „Du Monster!!” „Das sagen sie irgendwie alle…”, einen kurzen Moment wurde Tarrence nachdenklich, bevor er sich wieder der Katzenfrau zuwandte: „Verrate mir nur, in welche Richtung die Zwei geflohen sind. Dann lasse ich euch frei – und der Schlag von vorhin bleibt der Einzige. Was sagst du?” Tief stöhnend ließ Tracy den Kopf hängen, es schien so, als würden sie ihre Kräfte verlassen. Sie dachte nach. Entweder sie verriet ihre Freunde – und sie hatte sich geschworen, niemals einem Freund so etwas anzutun – oder sie beschützte ihre Familie. Wenn Tarrence wusste, in welche Richtung Lyze und Siri geflohen waren, würde es sicher ein paar Tage dauern, bis er sie gefunden hätte; und bis dahin würden die zwei schon längst wieder weg sein. „Überlege gut.”, noch einmal umkreiste Tarrence den Stuhl, mit völliger Gelassenheit. „Ach, und noch etwas: Versuche nicht mich anzulügen. In binnen von einem Tag wären wir wieder hier; und du und deine Geschwister Geschichte.” „Also gut…”, sie schluchzte leise, „Sie sind zur nördlichen Grenze Desterals aufgebrochen…” „Was denn… zum nördlichen Meer?”, plötzlich schien Tarrence entsetzt, „Wollen sie es auch überqueren?” „Teilweise… wieso-”, das Mädchen sah auf, „Wieso ist das wichtig?” „Das Wasser dort ist verflucht. Schon seit einigen Monaten.”, nachdem sich der Ritter einen Stuhl genommen hatte, setzte er sich nachdenklich neben die junge Frau, die nun wirklich verwirrt schaute. „Wenn die Wellen sie nicht umbringen, dann der Wassergott in diesem Gebiet…” „Lyze! Lyze, was hat das zu bedeuten!?“, Siri, die immer wieder zum tobenden Unwetter der dunklen Wolken aufsah, geriet langsam in Panik. Auch dem Halbengel wurde nun klar, das etwas nicht stimmen konnte. Die Windböen peitschten um das Boot her, während die wilden, schwarzen Wellen aussahen, als würden sie versuchen, nach den beiden zu greifen. Kurz passte Lyze nicht auf, da entriss ihm eine Welle das linke Paddel. „Verdammt-“, er versuchte es noch zu greifen, da verschwand es in den Tiefen des dunklen Wassers. „Was machen wir denn jetzt?! Wir werden ke- ah!“, schnell kugelte Siri sich zusammen, als eine hohe Welle das Boot erfasste und fast umdrehte. „Was ist hier überhaupt los!?“ „Ich weiß es nicht…“, Lyze hielt sich an den Rändern fest, nachdem das zweite Paddel im Meer verschwand. „Aber wenn wir nichts unternehmen, gehen wir unter-“ „Ah, was du nicht sagst! Und was bitteschön sollen wir tun?!“ „Ich habe eine Idee, bin mir aber nicht sicher, ob es-“, wieder überschwemmte eine Welle das Boot. „Tu es, Lyze! Egal was es ist, tu irgendetwas!“ „Na schön…“, entschlossen von seinem Versuch, das Boot zu retten, stand der Halbengel im stark schaukelndem Boot auf. „Ich werde mit Magie eine Schutzhülle um das Boot formen; das ist mein erster Versuch darin. Siri, halte dich lieber irgendwo fest!“ „Okay!“, Siri klammerte sich an den Bootsrand, „Viel Glück!“ Nun lag alles an Lyze. Wenn er es nicht schaffen würde, die Wellen vom Boot fern zu halten, würde es samt den beiden Flüchtlingen in den tiefen des schwarzen Meeres verschwinden. Trotz des starken Geschaukels hob er beide Arme und schloss die Augen. Im nächsten Moment erschienen seine Flügel, ehe ein mystischer Wind um ihn herum wehte. Er konzentrierte sich weiter, versuchte sich bildhaft diese Schutzhülle vorzustellen. Gerade, als sich diese Hülle ausbreitete und Siri ein wenig Hoffnung gab, geriet das Vorhaben außer Kontrolle. Lyze verlor die Konzentration, als die ausbreitende Schutzhülle unerwartet zurückschlug und wie ein Blitz in seinen Körper fuhr. Man hörte ihn leicht aufschreien, als er sich, von hellem Licht umschlungen, krümmte und zusammenbrach. „Lyze-!“, schnell ließ Siri vom Rand ab und machte einen Schritt zu ihm – kurz bevor sie den Halbengel erreichte, überschwemmten zwei riesige Wellen das zerbrechliche Holzboot und zerdrückten es unter ihrer Masse. Kapitel 10: Ikanas Geschichte ----------------------------- An der sandigen Küste einer Insel, umringt vom schwarzen Wasser, gingen zwei vornehme Männer entlang. Sie trugen beide schicke Anzüge und Zylinder auf ihren Köpfen. Der eine hatte eine goldene Uhr, die aus seiner Tasche schaute. Er redete mit dem anderen Mann übers heutige Mittagessen und wie faul seine Frau doch nicht war. Der andere Mann stimmte ihm zu, bevor er seinen Spazierstock hin und her schwang. „Die Zeiten ändern sich nun einmal, mein Freund. Die Frauen werden langsam aufmüpfig und verlangen nach Rechte.“ „Tss. So etwas Dummes. Als ob sie etwas anderes, als den Haushalt bewältigen, könnten.“ Da hielt der Mann dem anderen den Spazierstock vor den Körper, versperrte ihm somit den Weg. Dann deutete er mit dem Stock an die nahe Strandmulde, wo halb im Wasser eine junge Frau lag. „Sieh doch! Ein Meerweib!“ „Ach, rede doch keinen Unsinn.“, der Mann ging langsam voran, „Das ist eine Meerjungfrau – eine Hübsche noch dazu, das siehst du doch!” Nun standen beide Kerle vor der jungen Frau, beugten sich über sie. Einer der beiden deutete auf ihre Beine, über die das meerdurchtränkte Kleid hin und her schwamm: „Das ist ein ganz normales Weib!” „Ach, so ein Pech…” „Was macht es hier draußen? Glaubst du, wurde es angespült?” „So etwas geht doch nicht… nicht hier.” „Schau, sie wacht auf! Komm, mein Freund, hilf mir.”, er schob sich die Ärmel hoch, bevor er ins Wasser stieg und ihre Beine packte. Der zweite Mann nahm sie vorne – auf Drei hoben sie die junge Frau hoch und trugen sie bis ins beginnende Gras. „Hallo? Guten Tag, geht es Ihnen gut?” Siri schlug langsam ihre brennenden Augen auf, sah dem älteren Mann ins Gesicht. „Ein… Zylinder? Wie seltsam…” „Was redet sie?” „Ich glaube sie fantasiert, mein Freund.” „Tue ich nicht…”, Siri rieb sich die Augen und setzte sich auf, „Ich- ah… was ist passiert?” „Das wüssten wir gerne von Ihnen, junges Fräulein. Sie lagen da vorne im Wasser.” „Im Wasser…?”, den Kopf zum schwarzen Meer gedreht, schoss Siri das letzte Ereignis herein: „Lyze…”, da ließ sie sich fallen, schlug die Hände ins Gesicht „OH VERDAMMT, NEIN!” „Lyze?” „Ich glaube, sie fantasiert, mein Freund.” „Halt’ die Klappe du Spinner! Ich…”, Siri wälzte sich leicht hin und her, „Ich habe ihn verloren! Was ist, wenn er tot ist!? Und wo zum Geier bin ich hier eigentlich!?” „Hat sie gerade ‚Halt’ die Klappe’ zu mir gesagt?” „Ich glaube schon, mein Freund.”, der Mann erhob sich, putzte seinen feinen Anzug ab, „Sie ist sehr verwirrt – am besten, wir nehmen sie mit ins Dorf.” Nach ein paar Minuten Fußmarsch kamen die drei Herrschaften bei einer Kutsche mit zwei braunen Pferden an. Der eine Mann stieg links, der anderen rechts ein; Siri saß ihnen gegenüber, mittig und sagte kein Wort – kurz darauf fuhr der Kutscher los. „Wie heißen Sie denn, junges Fräulein?” „Mein Name ist Siri…”, kleinlaut senkte sie den Kopf, starrte einfach auf den vornehmen Wagenboden. „So sagen Sie, Fräulein Siri, wie kamen Sie hierher?” „Anscheinend… bin ich hier gestrandet.” „Hast du gehört, mein Freund? Gestrandet. Das habe ich schon die ganze Zeit gemeint.” „Mag sein. Aber eigentlich lässt der Wassergott keine Menschenseele am Leben – schon gar nicht so ein hübsches Ding.” „Ich bin doch kein ‚Ding’ – was für ein Wassergott denn? Hat er etwas mit unserem gekenterten Boot zu tun?” „Unserem? Nun, Fräulein Siri. Sie scheinen tatsächlich nicht von hier zu kommen – oder von Desterals weitem Inneren. Seit einigen Monaten schon, ist unser Meer verflucht. Jeder, der es wagt es zu betreten, wird in die Tiefe gerissen.“ „Ganz richtig, mein Freund.”, der Mann neben ihm nickte, „Man erzählt sich, der Wassergott sei sehr verärgert, weil er seine Frau, die See, verloren hat.” „Die See?”, Siri zog eine Braue hoch, „Wie ulkig… ist das eine Sage?” „Ja, ja… tragisch, ein gebrochenes Herz.” „Sagt mal… wo bin ich hier eigentlich?” „Sie befinden sich in unserer schönen Ortschaft der Insel Ikana, Fräulein Siri. Da wir keinerlei Kontakt mehr zur Außenwelt haben, ernähren wir uns hauptsächlich vom angebauten Eigengrün unserer Felder und Bauernhöfen.” „Es ist ein Nachteil; allerdings kam unserem Dorf zu Ohren, dass in Desteral ein Krieg tobt. Von daher ist es nicht so dramatisch, dass niemand zu uns kann, oder von hier weg… nun ja, außer die Personen, die hier gar nicht wohnten und nun nicht mehr nach Hause konnten.” „Heißt das, ich kann hier nicht weg?”, leicht entsetzt schaute das Mädchen zu den beiden Männern. „So ist es. Aber machen Sie sich keine Sorgen. Zur Ablenkung unseres Schicksals veranstalten wir jeden Neumond einen Maskenball; schon heute Abend ist es wieder soweit! Werdet Ihr auch dabei sein wollen, Fräulein Siri?” „Na ja…”, tief seufzend sah sie aus dem Fenster, zum Dorf, auf das die Kutsche nun langsam zufuhr. „Also schön…”, sie nickte, „Ich kann absolut nichts tun… weder für Lyze, noch für mich. Ich komme gerne zum Maskenball mit, danke.” Nach dem Mittagessen – es gab Schweinebraten mit saftigen Knödeln, die Siri wie ein Scheunendrescher in sich hineinwarf – wurde sie von den Frauen der beiden Männer für den heutigen Ball vorbereitet. Sie standen in einem Hinterhaus des kleinen Hofes; Siri vor dem Spiegel, die beiden Frauen flochten ihr die Haare. Rechts neben dem Spiegel war ein Fenster, das direkten Blick auf den höchsten Punkt der Insel Ikana bot: Ein Schloss auf einem einsamen Berg. „Was ist denn das?”, neugierig drehte sich Siri zu den beiden, „Sieht ziemlich verfallen aus… lebt dort oben jemand?” Plötzlich hielt ihr einer der Frauen den Mund zu: „Pssst! Man darf darüber nicht reden!” Die zweite Frau schnürte ihr das Kleid fest am Rücken zu: „Das geht dich als Außenstehende nichts an. Und jetzt halt still, du musst bis heute Abend fertig sein.” „Ach so? Und wer zwängt euch in die Kleider rein?” „Wir haben Erfahrung damit. Hör mal Mädchen, wenn du hier überleben willst, lernst du besser Anstand!” „Wieso?” „Kein Mann duldet ein solches Benehmen einer Frau.” „Lässt ihr euch etwa unterdrücken?” „Sei jetzt still!”, noch einmal zog die Frau fest an den Schnüren, Siri bekam dabei fast keine Luft. Verärgert schaute sie daraufhin in den Spiegel, dann wieder aus dem Fenster. Sie war wirklich neugierig darauf zu erfahren, was da oben vor sich ging. Einer der Männer trat ein, konnte Siris Blick kaum übersehen. „Wollen Sie die Geschichte erfahren?” Auch wenn die beiden Weiber an ihrem Kleid arbeiteten, drehte sie sich schnell zu dem Mann um: „Ja! Ja, wirklich gerne!” „Also schön.”, der Mann setzte sich in ein bequemes Sofa und wollte gerade anfangen zu erzählen – da schüttelte seine Frau empört den Kopf: „Aber Liebster! Sie ist eine Außenstehende, sie darf nicht eingeweiht we-” „Sei Still, Weib!”, fuhr der Mann dazwischen, dabei zuckte selbst Siri leicht zusammen. „Als Mitglied von Ikana galt sie seit dem Moment, in dem sie an den Strand geschwemmt wurde.“, er setzte sich auf, „Nun denn, höre unsere Geschichte… Unsere Großväter erzählen von einer blühenden Zeit Ikanas, als Madame Yne Kynia, Tochter unseres adeligen Herren Kynia, das Sagen hatte. Sie war eine sehr zarte und äußerst gütige Person, die hoch oben im prunkvollen Schloss mit ihren vielen Untergebenen lebte. Sie kümmerte sich rührend um die Probleme aller Bewohner – sogar die der Hausweiber. Doch alles änderte sich schlagartig, als er auftauchte: der Herr der Finsternis! Mit seinem Erscheinen färbte sich der Himmel grau und die Vögel hörten auf zu singen.” Draußen, vor dem Fenster, hörte man zufällig Vogelgesang. Der Mann musste sich räuspern. „Ähem, nun. Der Herr der Finsternis ist ein grausamer Mann. Er verführte die unschuldige Madame Yne und tötete sie einen Tag nach der Hochzeit! Er krallte sich dadurch das gesamte Erbe der Familie Kynia und tyrannisiert Ikana von dem verfallenen Schloss aus… noch heute.“ „Wow… uhm, habt ihr euch denn nicht versucht, zu wehren?“ „Doch, natürlich – unsere tapfersten Männer rückten gegen die Tyrannei aus! Aber… sie kehrten nie zurück.“ Während die zwei Frauen an ihrem Kleid zupften, verdrehte Siri den Kopf: „Das klingt wie eine Sage… hat es denn kein Ende? War der Fürst da oben schon immer so?” „Das Ende, Fräulein Siri, ist noch nicht geschrieben. Man sagt, bei Vollmond kann man nahe dem Schloss die Seelen stöhnen hören, die durch seine Hand starben. Aus diesem Grund meiden wir die Vollmondnächte und haben unseren Maskenball an Neumond angelegt.“ In Siris Augen klangen die Ängste der Bewohner etwas lächerlich; doch als Neuling sollte sie nicht schlecht über die Geschichte Ikanas reden. „Wenn das wahr ist… ist das einfach nur furchtbar.“ „Oh ja. Das ist es…” „Aber… wenn das zur Zeit eurer Großväter geschah… uhm, ich meine – seid ihr euch sicher, dass der Herr der Finsternis noch lebt?“ „Bewohner, die den Berg betreten, können schwören, dort oben Lichter brennen zu sehen… immer noch.“ „Unheimlich… hm, vielleicht ist er ja ein Dämon? Dämonen können nämlich sehr, sehr alt werden.“ „Wer weiß… wir meiden natürlich das Schloss, weshalb man das nicht genau sagen kann.“ Der Mann erhob sich von seinem Sofa, ehe er Siris fertiges Kleid musterte. „Sieht fabelhaft aus, gute Arbeit.”, dabei drehte er sich zu den Frauen, die dankend nickten. Das Kleid war Schulterfrei, am Körper anliegend und ab Hüfte abseits wiederum locker. Zu dem leicht rosa Kleid gab es vornehme Handschuhe, die bis zu den Ellbogen reichten; diese aber wurden erst am Maskenball angezogen. Kapitel 11: Maskenball ---------------------- Eifrig wurde den ganzen Tag an den Vorbereitungen für den Maskenball gearbeitet. Er hatte in Ikana schon vor langer Zeit Tradition gefunden; jetzt, wo die Insel von der Außenwelt abgeschnitten ist, verstärkte sich die Unternehmungslust der vornehmen Bewohner nur noch mehr. Wenn man den Leuten Glauben schenkte, vergaßen sie durch den Ball einmal im Monat ihre Sorgen. Es war kurz nach sechs, als die Dämmerung hereinbrach und die ersten Gäste den Saal betraten. Es war ein großes Gebäude, nahe dem Rathaus des Bürgermeisters, in dem sich die Bewohner versammelten. Auch die zwei Herren, die Siri am Strand gefunden hatten, kamen zusammen mit ihr und in Begleitung ihrer Frauen pünktlich vor dem großen Festsaal an. Sie gingen voraus, während Siri mit hoch aufgerichtetem Kopf das prunkvolle Gebäude ansah. Ihre Gedanken drehten sich um Lyze. Zu gerne wüsste sie, ob er wie sie irgendwo gestrandet war und es ihm gut ginge. „Fräulein Siri?“, einer der zwei bekannten Männer kam zurück und winkte nach ihr. „Kommt Ihr?“ „Oh- j-ja, ich komme schon!“, sie zog sich ihr enges Kleid ein Stück hoch, ehe sie dem Mann nachlief. Ob sie den Maskenball überhaupt genießen konnte? Jedenfalls nicht, wenn sich ihre Gedanken stets um Lyzes Gesundheit drehten. Im Inneren des Gebäudes wurde der jungen Frau klar, dass die Sicht von außen längst nicht alles an Pracht bot: sie ging erst den Flur zum Saal entlang und fand einen unbeschreiblich schön geschmückten Ort vor. Die hellen Wände waren mit roten Vorhängen und kostbaren Bildern dekoriert, an den Säulen und Geländern schlangen sich Gewächse entlang, die mit ihren kräftigen grünen Blättern und zarten roten Blüten hervorstachen. Siri achtete kaum noch auf den Weg des roten Teppichs, den sie ging, da zog sie einer der zwei Männer zur Seite, damit sie nicht in einen anderen Herrn lief. Endlich im großen Festsaal angekommen, glitt ihr Blick an den ebenfalls so schönen Dekorationen wie auf dem Flur vorbei, auf das Buffet an der linken Wand. Bei dem aufgeschnittenen Braten und vielen belegten Brötchen lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Kaum waren die zwei Herren mit ihren Begleiterinnen in ein Gespräch verwickelt, war Siri verschwunden - auf zum Buffet. Der ältere Mann mit seinem Spazierstock blinzelte kurz im Saal umher, bis er die junge Frau wieder entdeckte. Er hob seine Augenbrauen bei dem Anblick, ehe er die Gesprächsrunde verließ, „Entschuldigt mich kurz, die Herren.“, und sich auf den Weg zu Siri machte. „Fräulein Siri, was tut Ihr denn da?“ „Huh?“, sie drehte sich mit vollem Mund zu ihm um, „Was denn? Ich habe Hunger! Es gab ja nichts zum Abendessen!“ „Darum geht es nicht; passt nur bitte auf, dass Ihr Kleid sauber bleibt... Eure Maske, Fräulein Siri.“ „Was ist damit?“ „Wo ist sie? Ihr seid doch auf einem Maskenball, Ihr müsst sie aufsetzen!“ „Ach so!“, schnell die Hände an einer Serviette abgeputzt, griff sie sich in den Ausschnitt und zog eine weißliche Maske, in Form von Schwanenaugen hervor. Während Siri diese um ihre Augen befestigte, ging dem Mann neben ihr stammelnd der Mund auf. „H-habt Ihr die Maske gerade... aus Ihrem...“ „Hm? Ja, ich musste sie doch irgendwo aufbewahren –ihr Männer habt Taschen, was ein Kleid nicht hat.“, sie rückte die Maske auf ihrer Nase zurecht, „Praktisch, ich muss sie gar nicht halten!“ Zur Rettung des tief entsetzten Mannes, kam der zweite herbei. Er legte eine Hand auf seinen Rücken und führte ihn flüsternd von Siri weg. „Alles ist gut, mein Freund, es ist doch nur für heute. Schon morgen wird sie in die Benimmregeln einer Frau eingewiesen.“, er schmunzelte, „Und wer weiß, vielleicht findet heute am Maskenball ein junger Herr Gefallen an ihr? Wenn sie zur Frau genommen wird, geht die Einweihung noch schneller und sie wird zum vollwertigen Bewohner Ikanas.“ Plötzlich tippte Siri den Männern auf die Schulter: „Hey, wann wird denn nun eigentlich getanzt? Ich dachte, das hier wäre ein Masken-'Ball'.“ „Es wird auch getanzt, Fräulein Siri – aber das Fest hat gerade erst begonnen und die Nacht ist noch jung... Warum seht Ihr euch nicht ein wenig um und plaudert mit anderen Gästen?“ „Muss ich?“ „Natürlich nicht. Aber wenn Ihr auf Ikana bleibt, solltet Ihr euch auch andere Freundsch-“ „Ach, lieber nicht. Ich sehe hier kaum jemanden, mit dem ich auf einer Wellenlänge schwimmen könnte...“, sie sah durch den Saal, zu den Musikern auf der anderen Seite. „Aber ich werde mir mal die Instrumente ansehen gehen – der eine da hat so ein winziges Klavier – ich weiß nicht einmal, wie das funktionieren soll!“ „I-in Ordnung, tut das.“ Als Siri in der sich füllenden Menschenmenge verschwand, atmeten die zwei Männer erleichtert aus. Der Abend schritt voran und die junge Frau hatte einiges über Musik gelernt. Ihr gefiel von den klassischen Instrumenten am Besten die Geige; sie klang zart und traurig, konnte aber richtig gespielt hektisch und lebendig sein. Die Musiker mussten schließlich die Plauderei mit ihr einstellen, als der Bürgermeister den Saal betrat, zu der Spielgruppe sah und auf seine Taschenuhr tippte. Es war das Zeichen gewesen, den Auftakt zum Tanzabend einzuleiten und dass die Musiker spielen sollen. So suchte Siri das Weite, als die Gruppe anfing und die Leute zu ihnen sahen. Gerade hatte sie die Mitte des Saals erreicht, da hing ihr eine Haarsträhne ins Gesicht – eine Klammer hatte sich gelöst und die Frisur, an denen die beiden Frauen der zwei Herren gearbeitet hatten, begann zu zerfallen. „Oh nein...“, fragend sah Siri umher und suchte ihre Bekanntschaften – sie eilte schließlich los und hielt sich mit einer Hand die Frisur nach oben. Nicht einmal fünf Schritte später musste sie sich durch die dichten Menschenmassen zwängen. Überall standen die Damen und Herren bei einander, plauderten, tranken ihren Sekt und lachten laut gemeinsam. In diesem Wirrwarr verlor Siri schließlich die Orientierung und drängte sich einfach, so gut es ging, so lange hindurch, bis sie an einer Stelle ankam, an dem sie ein wenig Platz hatte. Als ihr dabei eine Klammer herunter fiel, drehte sie sich hastig um rempelte einem großen vorbeigehenden Mann an die rechte Schulter. Einen vorbeigehenden Mann, mit unglaublich langen, schwarzen Haaren. Als ob diese zu seinem auffälligen Erscheinungsbild nicht schon genug beigetragen hätten, trug er im Gegensatz zu den meisten Männern keinen schwarzen Anzug, sondern einen weinroten Mantel mit gleichfarbigem Zylinder. Siri hatte ihn nur aus dem Augenwinkel gesehen – als sie ihre Klammer vom Boden aufhob und sich abermals umdrehte, war er verschwunden. Noch einen ganzen Moment lang stand sie da und starrte in die Menschenmenge. Ihr ging es nicht um sein merkwürdiges Aussehen; sie hatte das Gefühl, ihn zu kennen. Ob er jemand aus ihrer Vergangenheit war? „Fräulein Siri!“, ihre bekannten Männer standen, in Begleitung der Frauen, hinter ihr und nippten an den Sektgläsern. „Schön Euch zu sehen, habt Ihr euch schon mit jemanden angefreundet?“, der Mann mit Gehstock lächelte dabei. „Ja- äh, nein. Da war so ein ulkiger Mann, der-“, Siri sah die vier fraglich an, dann den Sekt. „...Seid ihr betrunken?“ „Um Himmelswillen, nein!“, zusätzlich zu dem Mann, lachten die Frauen. „Nein, ich sehe schon...“, so Siri, „Nur angeheitert.“ Für sie war es nicht mehr weiter verwunderlich, dass die Bewohner Ikanas einmal im Monat ihre Sorgen vergaßen. Da sah eine der Frauen auf ihre Frisur. „Oh Liebes, was hast du denn angestellt!?“, sie begann an Siris Haaren zu werken, „Lasst mich die Haare richten.“ „Danke...“, sie schaute währenddessen zu den Männern, „Ihr habt nicht zufällig einen sehr großen Mann gesehen? Er hatte schwarze Haare, die fast bis zum Hint- Gesäß reichten und einen weinroten Mantel!“ Die Männer drehten sich zueinander, ehe sie begannen zu prusten. „Lange Haare? Wie unangepasst für einen Herren auf einer Festveranstaltung! Wir versichern Ihnen, so jemanden hätten wir bemerkt, Fräulein Siri!“, sie lachten, „Ihr seid wirklich ein merkwürdiges Weib. Da stellt sich uns die Frage, wer von uns wohl angetrunken ist…?“ Auf die unhöfliche Aussage, verzog sich Siris Miene. „Wisst ihr was?“, sie unterbrach die Frau, die an ihren Haaren arbeitete, „Ich habe euch langsam wirklich satt – nicht einmal betrunken könnt ihr nett sein! Was ist bloß los mit euch? Mit diesem Dorf hier!? Ihr tut so vornehm und glücklich – in Wirklichkeit vertuscht ihr eure Probleme und versteckt euch hinter euren Masken! Wann habt ihr euch jemals als euch selbst ausgegeben!?“ Die Frau, die versuchte, Siris Frisur zu richten, machte ein paar Schritte zurück, zu ihren entsetzten Freunden. Kurz herrschte Stille, ehe alle vier anfingen zu lachen – laut zu lachen. Siri verkrampfte die Hände zu Fäusten; anstatt dass ihre Bekanntschaften sich verteidigten, lachten sie die junge Frau aus. Ihr wurde in diesem Moment klar, dass sie mit den Leuten in Ikana nie gleichgestellt war – und dies wohl auch nie sein wird. So drehte sie sich ruckartig um und lief los, quer durch die Menschenmassen. Überraschte maskierte Gesichter starrten sie dabei an, als auch ihre Frisur endgültig zusammenfiel. Schnell die zwei letzten Klammern aus den brünetten Haaren gezogen, lief sie weiter, einfach weiter. Dieser vornehme Maskenball wurde langsam zu einem Alptraum. Sie stand vor dem großen Tor nach draußen und rüttelte an den Griffen: es war abschlossen, da die Hauptveranstaltung bereits begonnen hatte und die ersten Gäste anfingen zu tanzen. Siri gab auf. Tief atmete sie aus, ehe sie vom Tor weg schlenderte und sich daneben an die Wand lehnte. Mehr außer abwarten, dass die Tanzveranstaltung zu Ende ging und sich die Tore wieder öffneten, konnte sie nicht tun. Wieder kam ihr Lyze in den Sinn – sie dachte sich, es sei von Anfang an eine blöde Idee gewesen, den Männern ins Dorf zu folgen. Siri hätte einfach am Strand bleiben sollen… so hätte sie wenigstens die Möglichkeit gehabt, nach dem Halbengel zu suchen. Doch was ist, wenn er wirklich nicht mehr am Leben war? In Siris Gesicht breitete sich eine unangenehme Erkenntnis aus: war sie denn jetzt für immer auf der Insel gefangen? Zusammen mit diesen Bewohnern!? Sie schlug ihre Hände vor das Gesicht. Im nächsten Moment ging sie abermals los; ein einsamer Ort wäre ihr nun am aller liebsten gewesen – sie schluchzte, ehe sie sich die Augen rieb und dabei einem Mann hineinlief. Dieser legte seine Hände auf ihre Arme. Überrascht von dieser unerwarteten Reaktion, sah die junge Frau den Oberkörper des Mannes, mit dem weinroten Mantel vor sich. Ihre Augen weiteten sich, als ihr Blick nach oben wanderte, in sein Gesicht. Eine schwarze Maske verdeckten die gelblichen Augen, während sich ein zartes Lächeln auf seinen violetten Lippen ausbreitete. Sofort machte Siri einen Satz zurück: „E-entschuldigung! Das war keine Absicht…“ „Man merkt sofort, dass du nicht von hier kommst.“, der Mann sprach mit ruhiger Stimme, „Geht es dir nicht gut? Du wirkst aufgebracht…“ „N-nein, e-es ist nur-“, sie schluckte, „Dieser Ort, Ikana, er- ich will Sie nicht beleidigen, aber-“ „Ich verstehe gut, was du meinst.“, er seufzte, sah kurz zur Menge, „Nun, die Tanzveranstaltung kannst du nicht verlassen. Jedenfalls nicht sofort; und es macht auch keinen höflichen Eindruck, neben dem Eingangstor zu stehen und darauf zu warten, dass dieses wieder geöffnet wird.“ „Ja…“, Siri fasste sich an den Nacken, „Ich weiß nicht, was ich tun soll, außer warten.“ Da streckte ihr der große Mann die Hand entgegen. „Nun, tanzen.“ „M-meinen Sie das ernst?“, sie sah ihn entsetzt an, „Aber ich kann nicht tanzen!“ „Wirklich nicht?“ „Okay, ich habe keine Ahnung-“ „Dann lass es uns herausfinden.“ Einen kurzen Moment sah Siri unsicher auf seine Hand, „Na schön.“, ehe sie diese griff. „Aber ich habe Sie gewarnt.“ Der geheimnisvolle Mann lächelte, zog Siri sanft mit sich und machte sich auf, weiter in die Mitte des Saales. Immer wieder sah die junge Frau dabei zu ihm hinauf; ihr fiel wieder ein, dass sie ihn doch von irgendwoher kannte. „Uhm…“, begann sie schließlich – doch eher Worte kamen, fingen die Musiker ein neues Lied an zu spielen und der Tanz begann. Die zwei bewegten sich mit der Musik, drehten sich um den Partner. „Na also.“, schmunzelte der Mann, „Du kannst tanzen.“ Auch wenn Siri anderer Meinung war – ihr Tanzpartner hatte viel mehr Erfahrung darin – tanzte sie weiter, während sie fragte: „Kann es eigentlich sein, dass wir uns kennen…?“ „Nein…“, er drehte sich, „Das halte ich für unmöglich.“ Siri blieb daraufhin stehen. „Wieso denn?“ „Weil…“, nun blieb auch er stehen und sah leicht zur Seite, „Weil ich Ikana seit 87 Jahren nicht verlassen habe.“ „Eh?“ Irgendwie konnte sie seinen merkwürdigen Worten nicht glauben. Er sah doch wie ein Mann mittleren Alters aus…? Aus heiterem Himmel bebte die Erde. Es fühlte sich an, als ob nicht weit entfernt etwas explodiert wäre – durch den Schock zogen alle im Saal die Köpfe ein, einige Damen schrieen. Bevor jemand wusste, was los war, hämmerte jemand an das Tor, ehe dieses aufgesperrt wurde und ein aufgebrachter Mann herein lief: „Dämonen! Sie verwüsten das Dorf!” „Was?!”, ungläubig sah Siri umher, „Das ist nicht möglich! Das- das kann nicht Ritter Tarrence sein...! Oder-?” „...Sie greifen aus der Luft an. Die Krieger warnten uns vor, dass auch Ikana nicht vor Azamuth sicher ist.”, dies hatte Siris Tanzpartner vollkommen ruhig gesagt, als ob das für ihn nichts Neues wäre. Ehe sie fragend zu dem Mann sehen konnte, war er verschwunden – in der Masse und gleichzeitig im Nichts. „Was – ja aber, wie…?“, sie suchte mit den Augen nach ihm, „Warten Sie-!” Da brach das Dach über dem Saal zusammen – riesige Steine, ein ganzer Hagel prasselte auf die Bewohner Ikanas hinab. Nun gerieten sie in absolute Panik, liefen zum Ausgang und trampelten sich dabei fast gegenseitig nieder. Siri war ebenfalls in der Menge. Allerdings nicht freiwillig – sie wurde mitgeschoben, mitten in den Steinhagel. Geschickt sprang sie den aufschlagenden Steinen aus dem Weg, rettete dabei sogar einer Frau das Leben. All ihre Geschicktheit half jedoch nichts gegen die erdrückende Menschenmasse – sie wurde unter großem Gedränge auf die Seite geschubst, ehe sie rückwärts von einem panischen Mann gegen eine Säule gestoßen wurde – mit dem Kopf voran. Schmerzend musste Siri feststellen, wie ihr die Kraft in den Armen und Beine verloren ging; im nächsten Moment sank sie auf ihre Knie hinab. Ihr Blick wurde unklarer; überall Sternchen, alles drehte sich. Gleich würde sie in Ohnmacht fallen… und dann? Die Menschenmenge löste sich dabei allmählich, als ihre Augen zufielen. Doch eines nahm Siri noch verschwommen wahr: er war wieder da. Der geheimnisvolle Mann, der sich nun vor ihr befand, sich runterbeugte und schaute, welche Verletzungen die junge Frau erlitten hatte. Kapitel 12: Der seltsame Gentleman ---------------------------------- Da saß sie wieder, im dunkel vernebelten Garten, am Springbrunnen. Der Himmel war von grauen Wolken verdeckt, der Boden unter ihr voller weichem Gras. Siri schmiegte ihre Beine darin, ehe sie neben sich den jungen Mann aus ihrem ersten Traum erblickte. „Du bist am Ziel, Siri.“ „Am Ziel…?“, bei seinen Worten griff sich die junge Frau an den Kopf, „Ich habe das dumpfe Gefühl… dass etwas Schreckliches passiert ist.“ „Es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Aber ja, das Ereignis war der Auslöser deiner Ohnmacht.“ „Meiner Ohnmacht…?“, nun sah Siri dem verschwommenen Mann in die Augen – sie erkannte leichte Spiegelungen und das Aufblitzen eines grellen Grüns. „Du hast grüne Augen… stimmts?“ Auch wenn sie es nicht sehen konnte, ahnte sie, dass der junge Mann lächelte. „Mit der Zeit werden auch deine restlichen Erinnerungen zurückkehren.“, er fasste nach ihrer Hand, „Lass mich dir helfen: du warst auf einem Maskenball.“ „Der Maskenball in Ikana! Natürlich! Da war dieser merkwürdige Mann…“, sie überlegte, „Er behauptete, die Insel seit… mehr als achtzig Jahren nicht verlassen zu haben… aber ist das denn überhaupt möglich?“ „Sag du es mir.“ „Oh…“, sie musste schlucken. „Verdammt, es ist möglich… es hieß, der Herr der Finsternis lebe immer noch… demnach bin ich… ihm über den Weg gelaufen.“ „Welch Ironie, nicht wahr? Er schien die Bewohner genauso wenig leiden zu können.“, er stand langsam vom Brunnen auf, „Nun denn, es wird Zeit zu gehen, Siri. Ich werde auch weiterhin für dich da sein.“ Sie nickte darauf lächelnd. „Vielen Dank… vielen Dank für alles.“ „…Nicht der Rede wert.“ Endlich öffnete Siri ihre Augen. Das erste, was ihr in den Blick kam, war die von Rissen übersäte Steindecke. Wenn sie den Kopf drehte, sah sie das alte Gestell des Himmelbettes, in dem sie lag. Bei dem Anblick zog die junge Frau die Brauen zusammen und setzte sich langsam auf – sie fand sich in einem verwahrlosten, kalten Zimmer wieder. Gerade als sie den Blick zur alten Holztür richtete – und überlegte, in welchem Haus sie wohl sein könnte – wurde die Tür aufgestoßen und drei Frauen kamen ins Zimmer gerannt: die erste schrie „Guuuten Moooorgäään!”, die zweite trug ein Tablett mit Teegeschirr und die dritte blies durch ein Geburtstags-trötchen. Siri hatte sich dabei so erschreckt, dass sie seitwärts aus dem Bett flog – denn alle drei Frauen waren wahnsinnig bleich im Gesicht, als wären sie direkt vom Friedhof auferstanden! „Wa-was seid ihr denn!? Was ist hier los!?” „Nanu?”, die Frau mit dem Teegeschirr schaute im Zimmer umher, „Du bist aber nicht der Meister…” „Hm komisch.”, die mit dem Trötchen hüpfte ans Bett, kroch quer drüber und schaute schließlich hinab zu Siri, die am Boden saß: „Wer bist du denn?” „Da-Das sollte ich euch fragen! Wo bin ich hier überhaupt!?”, sie kratzte sich an der Stirn und entdeckte dabei einen Verband. „Was ist das denn nun wieder!?” „Na ja, also…”, die drei Damen stellten sich nebeneinander auf, „Ich bin Christy, das ist Juls, und die irre hier heißt Rina.” „TAAG!”, rief Rina darauf. Dann tönten alle drei gleichzeitig im Chor: „Wir sind die Putz- und Hausfrauen des Meisters!” Dies konnte Siri sehen. Alle drei waren gleich schwarz-weiß gekleidet, mit einem Rüschchentuch im Haar. Sie sahen fast professionell aus, wäre da nicht die Tatsache, dass dieser Raum kalt und düster war. Noch immer saß die erschrockene junge Frau am Boden und schielte über die Bettkante – ihr war, als sei sie in einem Horrorfilm gelandet. Kurz darauf ging ein Mann am Zimmer vorbei, drehte um und blickte seitlich in den Raum. „Was macht ihr da?” „Meister!”, Christy hüpfte zu ihm, „Da ist ein fremdes Mädchen in eurem Bett!” „Ist sie wach?” „Ja, ist das wichtig?” Auf die doofe Frage tätschelte der Mann ihr auf den Kopf, bevor er andeutete, dass alle drei den Raum verlassen sollen. Nun schloss er hinter sich die knarrende Tür und setzte sich auf das Bett. „Haben die drei dich erschreckt? Keine Angst, die sind so dumm wie Bohnenstroh.”, er lächelte, „Nicht, dass ich gemein wäre. Aber die drei haben so einiges an Jahren durchgemacht… so komm doch hinauf, der Boden ist sehr kalt ohne Schuhe.” Noch immer ziemlich unsicher saß Siri da, schaute geduckt zu dem Mann auf und wusste nun, wo sie war: im Schloss des Herren der Finsternis. Nicht gerade Vertrauen erweckend war sein Gesicht. Gelbstechende Augen, davon das Rechte komplett von Haaren bedeckt. Und… diese seltsamen, violette Lippen, wobei Siri den Kopf verdrehte. Der Mann nahm seinen dunkelroten Zylinder ab, um nach einem Riss im Hut zu sehen: „Mist… das hat man von Rettungsaktionen.” Hinter den langen, schwarzen Haaren blitzten seine Ohren hervor – sie waren menschlich kurz, aber spitz. „Bi-bist du ein Dämon…?” Da seufzte der Mann, ließ kurz lächelnd seinen Kopf hängen und sah zu der jungen Frau auf. „Du steckst scheinbar voller Fragen, Siri.” „Wo-woher kennst du denn meinen Namen!?” „Du hast ihn im Schlaf gesagt, mehrmals. Versteh mich nicht falsch, aber für mich sind das Anzeichen, dass du auf der Suche nach dir selbst bist.”, vorsichtig setzte er sich seinen Hut wieder auf, beugte sich übers Bett und zog Siri am Arm hoch: „Hast du Angst? Nun komm rauf, ich will dir deine tausenden von Fragen beantworten.” Das Mädchen schluckte, wagte sich dann aber doch zurück aufs Bett und nickte, langsam. „Erstmals: du bist im Nachtkleid einer meiner drei Angestellten, weil du im engen Ballkleid hättest ersticken können. Und nein, ich halte sie nicht gefangen; die drei irren freiwillig durch mein Schloss.” „Verstehe… Mo-Moment, was?!”, nun schaute sie an sich runter und sah, dass sie ziemlich leicht bekleidet war. Hochrot zog sie schnell die Decke bis ans Kinn. Von ihrem Handeln nicht gerade überrascht, redete der Mann einfach weiter: „Mein Name lautet Avrial.”, er senkte den Kopf, „Ich bin einer der letzten Arcaner dieser Welt.” „A-Arcaner?” „Ein Magiervolk. Desterals östliches Nachbarland, Arcan, das seit geraumer Zeit eine Ruine ist. Wieso wir immer weniger werden? Wir vermischen uns stetig unter den Menschen; daher fallen wir immer geringer auf. Reinrassige Arcaner erkennst du an ihren gelben Augen und spitzen Ohren, wie du sie bereits bei mir gesehen hast.” „Aha… ein Magier also.” „Ein geborener, ja. Hast du sonst noch Fragen?” „Können… können Arcaner Vergessenheitsflüche oder so aussprechen?” Avrial überlegte kurz, nickte: „Durchaus, ja.”, er ging dabei durch den Raum auf und ab, „Es gibt die, die sich auf dunkle Magie spezialisieren. Ich nehme an, du fragst, weil du wohl deine Erinnerungen verloren hast… es ist tatsächlich möglich, dass du einem Fluch zum Opfer gefallen bist.”, er ging zur Tür und öffnete diese. Dann schaute er hinaus, ob die drei irren zu sehen waren – die Luft war rein, daher drehte er sich zu Siri: „Hast du Hunger? Lass uns doch beim Frühstück weiterreden.” „Aber ich habe gar keinen Hunger…” „Ach, das glaube ich dir nicht.”, Avrial verschränkte die Arme, während sich Siri wieder unter der Decke verkroch. „Dann lass ich dir dein Frühstück eben ans Bett bringen. Oder willst du nicht, weil du im Nachtgewand bist? Im diesem Fall…”, er deutete hinten auf eine alte Kommode: „Da liegt ein Kleid, das du haben kannst. Komm die Treppe hinunter, sobald du umgezogen bist.” Er lächelte noch einmal, verließ anschließend den Raum und schloss hinter sich die Tür. Siri blieb allein zurück und ließ sich mit dem Gesicht in das Kissen fallen – so viel neues, keine Sekunde Ruhe… Gerade frisch umgezogen – mit immer noch leichten Kopfschmerzen vom Maskenball – suchte Siri die Treppe im Schloss. Sie trug ein kurzes, hellblaues Kleid mit langen Stiefeln; ganz nach ihrem Geschmack. Auch wenn sie sich jetzt schon viel wohler fühlte, ließ sie die Tatsache, dass Avrial eigentlich der Herr der Finsternis war, nicht los. Zum Beispiel: Warum war er so unheimlich freundlich und versuchte nicht, sie umzubringen? Er bot Siri sogar Frühstück und Kleidung. Gut, ein wenig seltsam benahm er sich schon; aber wer weiß, wie lange er schon da oben im Schloss lebte – einsam, mit verrückten Putzfrauen. Vielleicht war dies alles auch nur eine Falle… genauso wie in der Geschichte Ikanas, verführte Avrial zuerst die Fürstin und tötete sie anschließend… doch was hätte er von Siri? Nachdem sie dreimal den gleichen Flur abgesucht hatte, kam endlich die Treppe zum Vorschein: versteckt, um eine Ecke. Endlich unten im großen Speisesaal angekommen, blickte die junge Frau erstmals durch den Raum: wie das gesamte Schloss war es brüchig, düster und grau. Quer durch den Saal erstreckte sich ein alter, roter Teppich; darauf stand der lange Holztisch, mit an die zehn Stühlen um ihm herum. Mit weit nach oben gerichtetem Kopf – die Decke war ein altes Himmel-Gemälde – setzte sich Siri in den mittigsten Stuhl und putzte anschließend ihre Tischfläche sauber. Avrial war nicht da. Auch vom Frühstück, oder den drei irren Putzen war keine Spur zu sehen. Nun wurde Siri kleiner, schluckte; dies roch ihr stark nach der bereits ahnenden Falle… Nervös blickte die junge Frau in alle Richtungen, suchte einen Hauch von Verdächtigkeit im Saal. Als sie sich wieder zum Tisch drehte saß ihr plötzlich Avrial gegenüber! „AH!”, wieder einmal vom Schock gepackt, kippte sie rückwärts mit dem Stuhl um – fiel aber nicht zu Boden. Blinzelnd schaute sie unter ihren gekippten Stuhl; warum stand sie in der Luft? Mit der rechten Hand gehoben, machte Avrial eine Bewegung zu ihm, darauf hin stellte sich Siris Stuhl wieder auf. Als der Spuk vorbei war, brachte das geschockte Mädchen zuerst nur ein „Wow…” hervor. Dann stemmte sie die Hände auf den Tisch: „Sag mal hast du sie noch alle?! Du kannst mich jetzt doch nicht jedes Mal so erschrecken, das geht mit der Dauer aufs Herz, du Scherzkeks!” „Tut mir Leid”, Avrials Reaktion war leise und doch schmunzelnd. „Plötzliches Auftauchen mag es für dich sein; ich nenne es schnelle Fortbewegung innerhalb eines Ortes… ich werde es mir während deines Aufenthaltes ersparen.” „Dankeschön…”, Siri wollte gerade fragen, wo das Frühstück nun sei, als es, genau wie Avrial vorhin, plötzlich auf dem Tisch stand. Ein wirklich gewöhnungsdürftiger Ort… Kapitel 13: Ikanas wahre Geschichte ----------------------------------- Es war Mittag in Ikana geworden. Die drei Schlossputzen Christy, Juls und Rina räumten den Tisch und spülten das Geschirr in der altmodischen Küche ab. Wie das Frühstück auch, erschien das Mittagessen einfach vor Siris Augen; zwar durch Magierhand, aber sich selbst reinigen konnte es nicht. Avrial erklärte ihr, dass auch zum Kochen immer alle Materialien vorhanden sein mussten, denn Nahrung aus dem Nichts erschaffen konnte nicht einmal ein Arcaner. Den Nachmittag saßen die zwei in einem der vielen Wohnzimmer und spielten Dame – Siri verlor so ziemlich jedes Spiel; wahrscheinlich verbrachte der Magier auch viel mehr Zeit mit seinen Hobbys. Sie hatte ihm nebenbei alles erzählt: dass sie ihre Erinnerungen durch gezieltes Ausschalten verloren haben könnte, dass sie von einem Ritter aus Azamuth, Knight Tarrence, gejagt wurde – sie erzählte ihm sogar von ihrer Mission, den Prinzen finden zu müssen, damit der Krieg endlich beendet werden konnte… und Tarrence sie jagte, weil er glaubte, sie wüsste etwas über den Aufenthaltsort des Prinzen, da scheinbar selbst Azamuth keine Ahnung hatte, wo sich ihr eigener Thronfolger befand. Für dies alles hatte Avrial eine gute logische Erklärung. Zum Beispiel konnte er aus ihrer Geschichte folgendes schlussfolgern: „Du sagtest, jemand gab dir den Auftrag, ihn zu suchen? Vielleicht hattest du ihn gefunden. Eventuell wurdest du ausgeschaltet, damit du nicht ausplauderst, wo er sich befindet…” Darauf konnte Siri nur nicken, zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, eine Lösung des Puzzles gefunden zu haben. Nun stellten sich noch die Fragen, wer ihr den Auftrag gab, wo sich nun wirklich der Prinz befand und wer sie ausgeschaltet hatte, damit sie nichts verriet; und natürlich, wer Siri eigentlich war. Nach einem Moment der Stille – Avrial hatte Feuer im Kamin angemacht, da es im Schloss recht schnell kalt wurde – fiel zögernd die Frage von Siris Seite: „…Hast du… hast du tatsächlich Madame Yne umgebracht?” Als ihr Name fiel, legte Avrial den Zunder zur Seite. Er senkte den Kopf und schien irgendwie nicht ganz da zu sein, eindeutig weckte Madame Yne in ihm einige Erinnerungen. „Nein.” „N-nein?” Avrial stand schließlich seufzend auf und setzte sich zurück in seinen Stuhl. Siri konnte sehen, dass sie einiges in ihm aufgewühlt haben muss… seine Augen schienen plötzlich so traurig und voller Schmerz. „…Egal was dir das Volk von Ikana erzählt hat. Glaube den Primitiven kein Wort.” Siri lehnte sich nach vorne, zu Avrials Sofa gegenüber. Sie legte ihre Hände auf die Brust und schaute traurig in sein Gesicht; die ganze Zeit beobachtete er das knisternde Feuer. „Darf ich… erfahren, was wirklich geschehen ist?” Auf ihre leise Frage hin senkte der Arcaner den Kopf und schüttelte ihn leicht. Das Mädchen verstand seine Reaktion. Immerhin war es seine Vergangenheit und ging sie nicht im Geringsten etwas an. Aber dann lächelte sie und versuchte, ihn aufzumuntern: „Eine Freundin von mir, ein Katzen-Animo, sagte einmal, dass es hilft über Schmerzen der Vergangenheit hinweg zu kommen, wenn man möglichst oft darüber redet.”, sie schmunzelte, „Praktisch redest du dir dein schwarzes Loch von der Seele!” Von ihrem Rat doch recht beeindruckt, sah er zu ihr rüber. „Das ist ein weiser Satz, Siri.”, dann seufzte er, „Wenn du nur wüsstest, wie sehr du ihr ähnelst.” „Ihr?”, das Mädchen setzte sich in ihrem Stuhl zurück, „…Meinst du Madame Yne?” „Also schön.”, nun schmunzelte Avrial, der sein Sofa in Siris Richtung rückte, um sie besser sehen zu können. „Ich werde dir Ikanas wahre Geschichte erzählen.” „Es gab viele, die Ikana für die Hauptstadt Desterals hielten. Tatsächlich war es zur damaligen Zeit eines der größten und fotschrittlichsten Dörfer des Landes – wie du vielleicht schon festgestellt hast, blieb Ikana in seiner Entwicklung stecken. Jedenfalls gab es zu dieser Zeit einen stolzen Fürsten, der über diese Insel herrschte. Es war Brauch, Ikana innerhalb der Familie weiter zu regieren… und da der stolze Fürst nach seinem Tode nur ein Kind besaß, welches aber kein Junge war, stieg zum ersten Mal eine Frau, seine Tochter Yne zur Macht auf. Du weißt, auf der Insel sind Frauen in den Augen der Männer an der niedrigsten Position; einzig und allein die Tochter des Fürsten, Yne, durfte über den Männern stehen. Sie war eine sehr warmherzige Person… sogar für die Rechte der Frauen hat sie gekämpft, doch gegen die Primitivität des Volkes kam sie nicht an.” Kurz stand Avrial auf, holte ein eingerahmtes Bild von der Wand und kam zurück zu Siri. „Das ist sie.” „Wow…”, Siri strich über die staubige Oberfläche des Glases, indem sich das verblichene Bild einer jungen Frau befand. Lange, gelockte Haare, blond an der Farbe. Blaue Augen und ein überaus herzerweichendes Lächeln hatte sie auf dem Foto. „Sie war wirklich schön…” „Ja, das war sie. Und es wurde ihr auch zum Verhängnis…”, Avrial stellte das Bild beiseite und sprach weiter: „Eines Tages machte sie einen Spaziergang am Strand. Dabei stieß sie auf ihre Entführer… sie wurde gefesselt und auf ein Schiff gebracht. Ich weiß es nicht genau, aber ich denke, die Entführer wussten nichts von ihrer Position in Ikana; sie sollte wohl auf das Festland als Sklavin in einem anderen Reich verkauft werden. Ihre Entführer kamen nicht weit… ein junger Arcaner, neu in Ikana, hatte den Vorfall mit angesehen. Er war voller Leben; hatte schulterlange Haare, schwarz.”, er schmunzelte, „Dem Jungen war an ihm nichts wichtiger als seine gepflegten Haare. Er nutzte seine Magie, um das Schiff vom Kurs abzulenken und zurück ans Ufer Ikanas zu leiten-” „Avrial!”, Siri saß gar nicht mehr in ihrem Sofa, sondern hatte sich aus Spannung vor ihm auf den Teppich gesetzt, „Der junge Mann warst du, stimmts?” „Ja. Ich sollte von mir nicht in der dritten Person reden… auch wenn ich mir manchmal selbst so fremd vorkomme. Also, weiter. Der Tag, an dem ich sie rettete, war auch der Tag, an dem wir uns zum ersten Mal trafen. Ich war für einen Neuanfang nach Ikana gekommen… und den hatte ich nun gefunden. Fortan trafen wir einander öfter. Das Volk liebte Yne. Es mochte mich, auch wenn es mit der Tatsache, einen Arcaner vor sich zu haben, leben musste. Wir zwei liebten einander – und auch der Tag kam, an dem ich mir nichts sehnlichster wünschte, als auf ewig mit Yne zusammen zu sein. Siehst du den hier?”, er nahm seinen Zylinder ab und zeigte ihn Siri, „Am Tag unserer Hochzeit hatte mir Yne diesen anfertigen lassen. Du kannst dir sicher denken, dass ich vorher keinen Zylinder trug…” „Den hast du noch immer?” „Seit 86 Jahren.” „Schon wieder diese hohe Zahl! Wie-” „Arcaner werden doppelt so alt wie Menschen. Mischlinge verlieren dieses Gen, absolut immer.” Nachdem Avrial den Faden verloren hatte, nahm er seinen Hut wieder, musste kurz überlegen. „Erm. Wo war ich? Ah… Ein Tag nach unserer Hochzeit…. Ich werde ihn ewig bereuen. Yne blieb alleine im Schloss, als ich hinunter ins Dorf ging, um Rosen zu kaufen. Wegen einfachen Rosen… beging ich diesen schweren Fehler, sie alleine zu lassen… Ich kam heim und hörte diesen Schrei. Ich lief die vielen Stufen hinauf, in einen der Turmräume… und da lag sie…“, Avrial stockte kurz, „Sie wurde erstochen; die Tatwaffe lag neben ihr. Sie lebte noch, als ich sie in die Arme nahm und meine Hand auf ihre blutende Wunde auf der Brust legte. Ich versuchte sie zu beruhigen… einen Moment später starb sie. Leute aus dem Dorf waren die Stufen zu uns hinauf gelaufen, da sie in der Nähe den Schrei gehört hatten. Diese Dummköpfe sahen sie und meine blutverschmierte Hand, und schlossen daraus sofort, ich müsste der Mörder sein! Ich war in diesem schweren Moment so durcheinander und wütend, dass ich meine Magie dazu nutzte, diese Idioten aus dem Schloss zu jagen… wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese falsche Annahme unter dem Volk Ikanas. Egal was ich nun tat, keiner wollte mich je wieder sehen… aber ich wollte nicht zurück. Nicht wieder hinaus in die Welt Airas, um immer wieder von Null anzufangen; also blieb ich hier.” Sichtbar fertig senkte er den Kopf. Siri schaute traurig zu ihm auf und konnte seinen tiefen Schmerz fühlen. Wie dieser und die Einsamkeit über ein halbes Jahrhundert an ihm zehren mussten… „Was ist mit der Sage, dass die tapfersten Männer gegen deine „Tyrannei” ausrückten…?” „Tss. Tyrannei. Ikana war mir seit dem Zeitpunkt völlig egal, so wie ich ihnen. Gegen meine Einsamkeit mischte ich mich manchmal am Maskenball unter – so traf ich schließlich auch dich. Männer rückten zwar gegen mich aus, ja – dies waren aber genau zwei Großmäuler, die „im Namen Ikanas“ unten am Tor standen. Getötet habe ich niemanden – die zwei kriegten Panik als ich hinaus trat und sind, statt zurück ins Dorf, vor Scham von der Insel geflohen. Yne hatte viele Angestellte im Schloss… die meisten von ihnen sind nach ihrem Tod gegangen. Drei ihrer treuesten Bediensteten weigerten sich, in das frauenfeindliche Dorf von Ikana zurückzukehren.”, dabei drehte er sich kurz zur Seite und zeigte zu den drei ihnen zuwinkenden Haushälterinnen, „Christy, Juls und Rina wollten bei mir bleiben. Ich gab mein Einverständnis. Sogar den Wunsch, genauso lange leben zu können wie ich, erfüllte ich ihnen.” „Darum die graue Farbe!” „Ja… graue Farbe… Menschen sind nicht für zwei Ewigkeiten gemacht, darum ist es verständlich, dass ihr Verstand langsam eine breiige Masse wird…” Passend zu dem Moment, spielten die drei mit einer Klopapierrolle, quer durch den Raum fangen… „Das mit deiner Frau tut mir so Leid für dich. Ich weiß, es hilft dir nicht, aber ich kann deinen Schmerz wirklich gut verstehen…” „Doch, es hilft mir.”, beruhigt beugte er sich hinab zu Siri, „Du bist neben meinen drei Angestellten die vierte Person in meinem Leben, die meine Geschichte gehört und geglaubt hat.” Das Mädchen warf ihm schon viel fröhlicher ein Lächeln zu und erhob sich nun vom Boden. „Sag Siri, wie bist du eigentlich in Ikana gelandet?” „Oh? Das habe ich noch gar nicht erzählt? Ich bin auf der Suche nach dem Drachen der Güte hier gestrandet. Lyze und ich waren mit einem Boot unterwegs, als-” „Lyze?” „Ja, Lyze Noshyru…”, sie senkte traurig den Kopf und sprach leise weiter, „Unterwegs haben wir uns verloren… ich weiß nicht, ob die See ihn verschluckt hat.” „…Was sagt dir dein Gefühl?” „Mein… hm? Na ja, ehm…” „Tendierst du mehr für Tod, oder Leben?” „…Leben, ganz klar.” „Dann wird es ihm gut gehen.”, Avrial war da sicher, „Vermutlich ist dein Freund bereits beim Drachen angelangt.” „Du glaubst an den Drachen?” „Selbstverständlich, in Sagen und Märchen steckt doch immer ein wahrer Kern. Sag… ist dein Freund auch ein Mensch?” „Zur Hälfte.”, ein wenig stolz lächelte Siri, „Er ist ein Halbengel! Und er kann sogar ein bisschen Magie!” Bei ihrem Satz wurde der Arcaner neugierig. Er zog eine Braue hoch und lehnte sich vor, zu Siri: „Magie…? Engel haben nur Lichtmagie… falls du den Unterschied kennst.” „Natürlich kenne ich den Unterschied – Lyze hat mittels Magie mühelos Steine aus einer Gefängnismauer gedrückt! So viel ich weiß, kann das Lichtmagie nicht…”, Siri überlegte kurz, „Ich wusste, dass da was nicht stimmen kann… aber was hat das zu bedeuten?“ „Dass durch Noshyrus Adern Arcanerblut fließt.” „Was!?” „Ach, keine Sorge… viele „Menschen” wissen das nicht. Aber vielleicht solltest du es ihm eher schonend beibringen, solltet ihr einander wiedersehen.” Kapitel 14: Arcan, das gespaltene Land -------------------------------------- Der Nachmittag in Ikana verging zügig. Nachdem Avrial Siri über Ikanas Geschichte aufgeklärt hatte, half sie seinen drei Bediensteten bei der „Hauspflege“. Zwar sah es der Magier nicht gern, wenn ein Gast den Besen schwang, doch Siri entfernte freiwillig die Spinnweben in den Ecken – es ging ihr auf die Nerven, dass wann immer sie sich entspannen wollte, eine Spinne ihr von oben zugrinste. Keine Stunde später wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und blickte zufrieden in ihre Lieblingsräume, die nun frei von jeglicher Art Kabbeltieren waren. Nun aber konnte sie Avrial nicht mehr finden. Die junge Frau sah in allen Wohnzimmern nach, suchte in der Küche und im Speisesaal nach ihm. Selbst in seinem Zimmer war er nicht aufzufinden. Schließlich entschloss Siri sich, ihre Suche auszuweiten und ging im Erdgeschoss, im linken Flügel, einen langen Flur entlang, den sie noch nicht erkundet hatte. An den Wänden hingen kostbare, alte Gemälde – von Fürsten, Rittern und künstlerische Darstellungen der Insel Ikana. Sie erreichte die Tür am Ende des Ganges und stellte fest, dass dort Licht brannte. So stieß sie diese vorsichtig auf und blickte anschließend im großen Raum umher: Bücher, Bücher jeder erdenklichen Art in hohen Regalen. Bevor Siri mit dem Schauen richtig fertig war, erblickte sie vor sich einen langen Holztisch mit vielen Stühlen. Sie ging darauf zu und setzte sich, als Avrial, mit einem Buch in der Hand, um die Ecke auftauchte. „Oh.“, gab der Magier von sich, als er Siri entdeckte und nun schmunzelte. „Willkommen in meiner Bibliothek.“ „Wow, so viele Bücher… hast du die etwa alle gelesen?“ „Die meisten, ja.“, er stellte das Buch zurück ins Regal, „Es hat sich einiges im Laufe der Jahre angesammelt.“ „Das ist beeindruckend… so viel Wissen, das in diesem Raum stecken muss!“ Avrial nickte darauf: „Allerdings. Es war mein Zeitvertreib, möglichst viel Wissen zusammen zu tragen.“ „Hast du auch Bücher aus deiner Heimat hier?“ „Meiner Heimat…?“ „Na aus Arcan!“ „Ach so ist das gemeint.“, er setzte sich zu ihr, „Nun Siri, Ikana ist meine Heimat. Ich bin in Desteral aufgewachsen.“ „Oh. Entschuldige…“ „Das konntest du doch nicht wissen… Bücher aus Arcan habe ich aber gesammelt, ja. Das Wissen seines Volkes sollte man sich immer bewahren.“ „Oh toll! Darf ich eines lesen?“ Der Magier musste lachen. „Es tut mir Leid, aber du wirst sie nicht lesen können; die Bücher sind in arcanisch geschrieben.“ „Oh…“, Siri seufzte, „Schade.“ „Nun – soll ich dir etwas über Arcan erzählen?“ „Das wäre toll! Ich meine, sehr gerne.“ Avrial schmunzelte, ehe er überlegte. „Wo fange ich am Besten an… hm.“ „Bei der Sprache – fang gleich bei der Sprache an.“ „In Ordnung… Nun, es gab zu Beginn eine gemeinsame Sprache in Arcan, genannt arcanisch. Als sich das Land entzwei teilte, veränderte sich diese Sprache. Es gibt noch heute einige alte Schriften, Aufzeichnungen und wertvolle Magiesprüche, die in der alten Sprache geschrieben wurden. Man nannte sie fortan altarcanisch. Die Worte von damals klingen dem neuen arcanisch ähnlich und doch gibt es Unterschiede. Es ist wichtig, beide Sprachen zu können, auch wenn altarcanisch nicht mehr gesprochen wird. „Wieso wird es nicht mehr gesprochen? Was ist denn passiert, dass sich Arcan entzwei teilte?“ „Ganz genau kenne ich die Hintergründe nicht; ich bin am Ende der letzten Ära geboren und habe von dem Ereignis kaum Kenntnis genommen. Aber es wird erzählt, dass sich das Land, als sich zum ersten Mal die dunkle Magie ausbreitete, in zwei Teile spaltete. Die dunkle Magie übernahm den gesamten Osten, weshalb dieser verlorene Teil Altarcan genannt wurde. Arcan selbst existierte danach noch ein halbes Jahrhundert, ehe die dunkle Magie voran schritt und die Arcaner zum Krieg innerhalb des eigenen Volkes zwang. Das Resultat aus diesem Krieg war, dass die verbliebenen Bewohner flüchteten und ein sehr dünn besiedeltes Land zurück ließen. Mittlerweile sind auch die dunklen Magier sehr selten geworden… es steht nichts über sie geschrieben, aber ich persönlich gehe davon aus, dass sie sich gegenseitig dezimiert haben, als es nichts mehr zum Zerstören gab.“ „Du meine Güte… klingt, als wäre die dunkle Magie eine Seuche gewesen.“ „Hm… damit habe ich sie noch gar nicht verglichen – aber der Gedanke gefällt mir.“ „Und… was liegt hinter Altarcan? Ich meine, der Kontinent hört doch nicht bei Arcan auf, oder?“ Siri brachte den Magier zum lachen; er musste kurz den Kopf schütteln, ehe er sprach: „Natürlich hört der Kontinent nicht bei Arcan auf… Azamuth und Desteral liegen am linken Ende; hinter Arcan liegt ein weiteres, von Menschen besiedeltes Land. Es ist sehr spannend darüber zu lesen, da die Sprachen, Gewohnheiten und Gerätschaften völlig anders funktionieren als in Desteral – sie arbeiten viel mit Edelsteinen und Metallen, ich glaube, dass das Land darum im Volksmund auch „Mondland“ genannt wird. Vielleicht kommt der Name aber auch von den dort lebenden Mondengel.“ „Mondengel?“ „Ja, das sind-“, Avrial suchte nach Worten, „Mondengel sind Verwandte der Engel, die in Desteral leben. Im Gegensatz zu den hier lebenden, haben diese Engel keine weißen oder gelben Flügel, sondern graue oder blaue. Legenden besagen, dass die Engel vom Mond herabstiegen…“, er schmunzelte, „Aufgrund meines Wissens kann ich dir aber sagen, dass das nicht stimmen kann.“ „Wieso nicht?“ „Weil es auf dem Mond kein Leben gibt.“, nun stand Avrial auf, „Keine Atmosphäre, die Mondengel zum Atmen hätten. Es wäre ziemlich kalt dort oben.“ „Aw. Manchmal kann Wissen einem die schönen Vorstellungen entzaubern.“ „Haha, das tut mir Leid… ich weiß was du meinst, vieles möchte man gar nicht wissen.“ Siri nickte darauf, als Avrial lächelnd zur Tür ging. „Ich glaube… das war genug Unterricht für einen Tag. Hast du Lust auf einen Tee?“ „Und wie!“, so Siri, die ihm sogleich folgte, „Meinen bitte mit viel Zucker!“ Auch wenn es die junge Frau nicht so sehr merkte – Avrial freute sich, endlich einen Gesprächspartner gefunden zu haben. Man könnte sogar meinen, dass er in den einem Tag, den Siri im Schloss verbrachte, mehr gelächelt hatte, als im vergangen halben Jahrhundert der Einsamkeit. Kapitel 15: Das Monster in Mir ------------------------------ Es verging ein Tag in Ikana, bis die Sonne schließlich wieder den Mittelpunkt des Himmels erreichte. Etwas war heute anders. Schwarze Wolken zogen über den Horizont, die nun langsam über ganz Ikana wanderten. Sie brachten das ohnehin aufgewühlte Meer zum stürmen, als dann auch die ersten Tropfen das Festland berührten. Außer diesem normalen Regentag schien es Avrial schlechter zu gehen. Seit dem Morgen schon, krümmte er sich immer wieder vor Schmerzen; egal ob seine Angestellten oder Siri, er wies sie immer ab und wollte nicht darüber sprechen. So schickte er die vier Mädels los, die öde Bergstraße runter, um frische Lebensmittel zu holen – und alleine sein zu können. Alle vier waren in schwarze Regenmäntel gehüllt, die Kapuze schützte den Kopf vor dem starken Schauer. Von den drei Verrückten schien Christy in Siris Augen die relativ Normalste zu sein. So lief sie das kleine Stück zu ihr nach vorn an die linke Seite, da sie in der Rechten den Einkaufskorb trug. „Hi Christy! Sag mal, wo kauft ihr eure Lebensmittel ein? Ich meine, immerhin könnt ihr nicht ins Dorf, oder?” „Nee, aber das wollen wir auch gar nicht.”, sie schwang ihren Arm, Siri duckte sich und konnte somit einen Zusammenstoß verhindern, „Hier links biegen wir ein. Der Weg führt zu einem kleinen Bauernhof runter.” Plötzlich quiekte sie: „Der Bauer ist sooo süß! Wie sein Vater auch! Jetzt betreibt er den Hof und verkauft uns Lebensmittel!” „Ah, Avrial kauft also bei einem Familienunternehmen ein… raffiniert.” Siris Überlegungen konnte Christy kaum folgen, sie verdrehte nur mehr den Kopf. „Hä?” „Ach, ist nicht so wichtig!”, Siri winkte ab, „Schau lieber, dass Juls und Rina nicht verloren gehen.” Gesagt, getan. Als die drei Erwachsenen und doch irren Kleinkinder Regentropfen auffingen und dabei umher hüpften, fühlte sich Siri das erste Mal wie die Stärkste der Gruppe. Sonst war es immer Lyze gewesen, der den Anführer spielte. Sei es nun, weil sie sich schlecht wehren konnte, oder schwach war. In dieser Chaotengruppe musste sie aufpassen, dass keiner der drei verschwand. Und kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende geführt und sich umgedreht, war Juls plötzlich weg. „Wo-?”, sie suchte umher, „Wo ist Juls!?” „Hier bin ich!” Die zwei anderen irren Mädchen kamen vom kleinen Weg zum Bauernhof ab, hielten kichernd vor einem hohen Mast an. Darauf waren einige Steckbriefe und Zetteln angeschlagen, einige gut erkennbar, viele vom Regen verwischt. Siri schob die drei zur Seite, um zu sehen, worüber sie so kicherten: „Was?!” Auf dem Mast hing eine Zeitungsseite, auf der ein Phantombild von Siri zusehen war – darunter stand groß die Überschrift: ‚Des Herren der Finsternis neuestes Opfer! Wer wird die Nächste sein…?’ „So ein Humbug!”, mit einem Mal riss Siri die Seite vom Mast, zerknüllte diese, steckte sie aber anschließend in ihre Tasche: „Da sieht man, dass Avrial wirklich die Wahrheit erzählt hat! Kommt, lasst uns Lebensmittel kaufen.”, Siri drehte sich um, bereit zum Gehen. „Aber was machst du denn mit dem Papier…?” „Das nehme ich mit und zeige es euren ‚Meister’. Kommt schon, oder wollt ihr Wurzeln schlagen?” „Wurzeln?”, die drei schüttelten den Kopf, bevor sie ängstlich Siri nachliefen: „Ah, ich will keine Wurzeln schlagen!” „Ich auch nicht! Rina, nicht stehen bleiben, hörst du!?” Nur mehr tief seufzend trottete Siri weiter und versuchte sich nicht zu den drei Irren umzudrehen. Nachdem alles Nötige in den Körben war – Eier, Milch, Fleisch, Brot, Obst, Gemüse und Gewürze – ging es nun den Weg zurück zum Schloss… und wenn da nicht Christy gewesen wäre, sogar doppelt so schnell. Denn sie stand noch Minuten lang nach dem Aufbruch vor dem eingeschüchterten Bauern und rührte sich, kichernd und hochrot, nicht von der Stelle. Also mussten die Mädels umdrehen, sie von dem armen Bauern wegholen und auf dem Weg nach Hause aufpassen, dass sie nicht unerwartet umdrehte. Zurück im Schloss, schob Siri die knarrende Tür auf und trat ein. „Aaavrial!”, rief sie, „Wir sind zurück!” „Meeiiiiiiisteeeer! Wir haben ein Eichhörnchen gesehen~”, hoch entzückt sprang Rina auf und ab, bevor sie ihren zwei Kolleginnen in die Küche folgte, um das Eingekaufte auszuräumen. Siri zog sich den pitschnassen Mantel aus und legte ihn über einen Stuhl, bevor sie langsam die breite Treppe hochstieg: „Avrial? Wir sind wieder da, hast du gehört?”, sie schaute in dem Flur nach links und nach rechts: es war ganz still im Schloss. Noch stiller als sonst. Der Regen klopfte an den alten, brüchigen Fenstern und der kalte Wind raunte durch die Türspalten – doch von Avrial war nicht das Geringste zu hören. Langsam schritt das Mädchen den linken Flur voran. Sie hatte sich angewöhnt, anstatt sinnlos durch das Schloss zu irren, gleich am wahrscheinlichsten Aufenthaltsort von dem Arcaner zu schauen: in seinem Zimmer. Die alte Holztür war nicht zugesperrt. Leise drehte sie nun den Knauf, bis es klickte und die Tür sich langsam öffnete. „Avrial?”, mit leiser Stimme schaute sie einen Spalt ins Zimmer hinein, bis sie ihn schließlich auf seinem Bett sitzend fand. Nun trat sie ein, schritt langsam auf das Bett zu. Avrial saß auf der anderen Bettkante, mit dem Rücken zu ihr gedreht. Er schien schwer zu atmen; man merkte sichtlich, wie schlecht es ihm ging und er sich nun wieder krümmte. „Avrial?”, sie stand neben ihn, legte die Hand auf seine Schulter, „Dir geht es immer schlechter… du brauchst einen A-” „Es gibt keinen Arzt für mich.” „…was?” „Niemand kann mir helfen.”, er krümmte sich enger und redete mit schwerer Stimme, „Du musst fliehen, Siri…” „Fliehen? Aber wieso?” Plötzlich schlug Avrial ihre Hand von seiner Schulter, schaute ihr danach ernsthaft ins Gesicht; seine Augen waren so anders als sonst… „Lauf! Verlasse das Schloss, ehe es zu spät ist!” „Für was Avrial?”, sie kniete sich zu ihm, „Für was zu spät? Lass mich dir hoch hel-” „Verschwinde endlich!!”, mit einem Mal stieß er seine Hand gegen Siri, sodass sie mittels Magie in hohen Bogen gegen die alte Tür flog; die darauf nach außen hin zerbrach. „Ah!”, sich den Rücken haltend, setzte sich Siri auf und schaute unter ihre Beine: „Du hast die Tür ruiniert…!” Doch sie ahnte nicht, dass sie gleich noch viel entsetzter schauen würde… Vom lauten Aufprall aufgeschreckt, kamen die drei Putzen den Flur entlang gelaufen, hielten hinter Siri an und schauten ebenfalls völlig fassungslos ins Zimmer. „Meister-!” Ihr Meister schien sich zu verwandeln. Zuerst in die Knie gehend, dann laut aufschreiend, veränderte sich sein Körper: Anfangs wuchsen seine Beine, dann der gesamte Oberkörper. Die vier Mädchen mussten immer weiter nach oben schauen, da Avrial nun bis an die Decke reichte. Schließlich hielt es Siri doch für besser, einige Schritte nach hinten zu machen. „Wa- was ist das?”, sie schaute zu den Putzen, „Was geschieht da mit ihm?! Seht nur, er sieht aus wie-” „Wie eine gewaltige schwarze Spinne!”, in manchen Notsituationen hatten die drei ja doch noch einen klaren Kopf. Noch immer von Schmerzen geplagt, zerriss sich Avrial sein vornehmes Gewand, nur der Zylinder blieb verschont. Sein Unterkörper bestand aus dem Körperbau einer Spinne, mit dessen riesigen, langen Beinen. Alles über der Gürtellinie blieb Menschlich; bis auf diese eigenartige, schwarze Hautfarbe, den messerscharfen Zähnen und Krallen an den Händen… Völlig verängstigt versteckte sich Juls hinter ihrer Freundin Christy und zeigte auf das Monster: „Das muss der Fluch sein!” „Welcher Fluch?!” „Unser Meister ist seit laaanger Zeit im Krieg mit einem anderen Arcaner… als sie sich das letzte Mal trafen, sprach des Meisters Erzfeind einen Fluch aus!” „Ein anderer Arcaner? …Warum bricht der Fluch erst jetzt aus?!” „Vermutlich, weil der Meister nach langer Zeit der Isolation-”, Avrial schlug aus heiterem Himmel mit der Hand nach den Mädchen aus, unterbrach Juls bei ihrer aufklärenden Rede. Die drei Putzen kreischten um ihr Leben, als das Monster nur knapp an ihnen vorbei zog – und sie von Siri auf der anderen Seite des schmalen Flurs trennten. Gerade hatte das Mädchen von außerhalb diese Tatsache bemerkt, schlug er erneut wild umher, zerfetzte dabei sogar das Holzgeländer am Treppenabgang. „Lauf, Siri!”, schrien die Putzen, als das Monster ihnen den Rücken zudrehte und begann das Mädel auf dem einzig verfügbaren Flur zu jagen. So schnell Siri auch hetzte, ihre Angst und Verwirrtheit hinderte sie am Flüchten. Immer wieder holte der einstige Arcaner auf, stampfte Löcher in den Boden des zweiten Stocks und versuchte, sie mit seinen Krallen zu erwischen; dabei mussten Vasen, Säulen, Fenster und andere Teile der Einrichtung dran glauben. „Avrial!”, rief sie immer wieder zu ihm zurück, „Avrial, ich bin es – bitte hör auf!” Erneut holte er aus, hatte sie diesmal erwischt und gegen die Steinwand geschleudert. Nur mit großem Glück konnte Siri einer schlimmeren Verletzung als einer Prellung ihres Handgelenkes entgehen und kauerte am Boden. Nun stand das Spinnenmonster über ihr und versuchte sie zu zertrampeln. Trotz ihrer Schmerzen rollte sie sich zur Seite, kroch langsam unter seinen umherstampfenden Beinen durch und lief weiter, auf die Tür am Ende des Flures zu. Kurz stolperte Siri, fing sich dann aber wieder und rüttelte panisch an der alten Türe – wohin sie führte, wusste sie nicht. Da flog plötzlich ein schwerer Holztisch auf sie zu! Kreischend ging sie in die Hocke, als dieser über ihren Kopf hinweg auf die alte Tür flog; und sie somit aufbrach. Sie verlor keine Zeit und stieg über die Trümmer hinweg, um in den Raum zu laufen: eine Wendeltreppe aus Stein führte schmal immer weiter hinauf; sie muss bei einem Turm angekommen sein. Kaum hatte sie sich kurz umgesehen, ging die Verfolgungsjagd weiter. Dem alten Ungeziefer und Netzen schenkte Siri dabei kaum Beachtung – zwar lief sie durch und ekelte sich nachher darüber, stieg aber immer weiter die Treppe hinauf – das Monster hinter ihr her. Oben angekommen, wurde der Durchgang zum Turmraum zu schmal für Avrials Größe, weshalb Siri über die letzte Stufe springen konnte und das Monster stecken blieb. Brüllend versuchte es mit seinen langen Armen nach ihr zu greifen, kam aber nicht heran. Völlig aus der Puste und mit rasendem Herz presste sich das Mädchen an die hintere Wand des runden, kleinen Turmraumes. Sie war erleichtert, endlich nicht mehr in Reichweite von dem verwandelten Avrial zu sein… doch schon bald stellte sie fest, dass sie auch hier, im dunklen Turm nicht vor ihm sicher war: die gewaltige Kraft des Monsters in ihm war so stark, dass er es schaffte, Risse in den schmalen Durchgang zu reißen. Und wohin als Nächstes? Siri war am Ende. Sowohl in einer Sackgasse, als auch mit ihren eigenen Kräften. Aber aufgeben wollte sie nicht: sie konnte nicht glauben, dass Avrial für den Rest seines Lebens in diesem Zustand aushaaren musste. Was würde aus Ikana werden, wenn so ein Monster rumwütet und niemand die Insel verlassen konnte? Immer weiter drängte er sich durch den schmalen Steindurchgang – die Wände bröselten ab, nun dauerte es nicht mehr lange, bis er wieder frei war. In die Knie gesunken, saß Siri nun da, während ihre Hoffnung schwand… und plötzlich spürte sie etwas. Sie schaute rechts zu ihrer Hand, als neben ihr am kalten Steinboden ein leicht glühender Anhänger lag. Vorsichtig griff sie danach, hielt ihn in beiden Händen und konnte ihren Augen nicht trauen: „Der- der türkise Stein…?”, sie erinnerte sich, an den Traum. Der Traum, in dem die Person vorhersagte, sie müsse den türkisen Stein finden. Und hatte die Person im zweiten Traum nicht auch gesagt, Siri wäre am Ziel? Nun hielt sie ihn in den Händen und wusste nicht, was sie damit anfangen sollte. Im nächsten Moment zerschmetterte das Spinnenmonster den schmalen Durchgang und stand nun im Raum. In seiner Wut schlug es aus, riss die halbe Turmwand ein und hatte somit ein großes Loch nach draußen geschaffen, wo es allerdings sehr lange bergab ging. Die kalten Regenwindböen wehten um die beiden, machten die Situation für Siri nur noch unangenehmer. „Avrial!”, sie saß da, eingekauert am Boden, als das Monster auf seinen Namen reagierte. „Avrial, ich bin es! Du bist stärker als so ein blöder Fluch – wer so viel durchgemacht und so viele Jahre erlebt hat, muss doch mehr Erfahrung als irgend so ein anderer Arcaner haben, oder?”, sie zuckte mit den Schultern, „Gut, ich kenne ihn nicht, aber ich wette, du bist stärker!” So seltsam es auch schien, das Spinnenmonster griff nicht an. Zumindest jetzt. Das Fünkchen Avrial schien dem Mädchen zuzuhören… Genau in diesem abgelenkten Moment sauste hinter ihm, durch die große freie Fläche ein Drache in den Turm! Er stürzte Avrial mit seinen Vorderkrallen um, stand anschließend auf ihm und schaffte es somit, ihn bewegungsunfähig zu machen. „Ok…?”, Nun konnte Siri gar nicht mehr durchblicken. Immerhin war gerade ein riesiger, silberner Drache mit langem grauen Bart, vier Füßen und zwei weißen Hörnern am Kopf aus dem nichts in den Turm gerast… und stand nun vor ihr. Als er seine Flügel anlegte, kam sein Rücken zum Vorschein – Lyze saß da, winkte Siri von oben aus zu. Im Gesicht des Mädchen breitete sich sichtlich die Freude aus: „Lyze!”, rief sie, „Du lebst! Dir geht es gut!” „Ja, und ich habe den Drachen der Güte gefunden!”, dabei klopfte er ihm auf dem Rücken. Nun hob der alte Drache seinen Kopf, übertrug Siri langsam Wörter mittels Gedanken in den Kopf: „Schnell, benutze den Stein.” „Den Stein…?”, sie schaute auf das türkis Glühende hinab, anschließend zum Drachen: „Aber wie denn-?” „Halte ihn gegen den Fluch. Der Stein ist in der Lage, Zauber und Flüche zu absorbieren… du musst dich beeilen!” Noch immer unsicher, aber mit Vertrauen, näherte sie sich langsam dem Spinnenmonster, das mit aller Kraft versuchte, sich aus den Krallen des Drachens zu befreien. Vorsichtig richtete sie den Stein auf ihn, näherte sich dem Kopf. Da begann der türkise Stein hell zu leuchten, schien eine schwarze Aura vom Monster in sich zu ziehen! Natürlich brüllte es, wandte sich wild umher; dabei verlor es sogar den roten Zylinder; doch der Stein schien zu helfen: nach und nach verwandelte es sich in den Arcaner zurück, der er einst war, bevor ihn die Kraft verließ und reglos am Boden lag. Nun ließ der Drache von ihm ab, suchte sich eine sichere Stelle im kleinen Turm und beugte seinen Körper, damit Lyze abspringen konnte. Siri, die den Stein und anschließend sich selbst sinken ließ, blickte fassungslos, aber auch erleichtert zu Avrial: „Zum Glück… es ist vorbei… Oh-”, beim genaueren Anblick stieg ihr die Röte ins Gesicht, da er bei seiner Verwandlung doch all seine Kleidung zerrissen hatte. Sofort lief das Mädchen zu einer Kommode, zog eine alte, verstaubte Decke heraus und legte sie auf Avrial. „Das muss für jetzt reichen…” „Es ist kalt hier oben.”, der Drache sprach zu Lyze und ihr, „Bringt ihn in ein warmes Bett. Ich werde unten, vor dem Schlosstor warten, bis ihr alles erledigt habt…”, mit diesen Worten verschwand der Drache, zuerst in die Luft, dann flügelschlagend gen Boden, während die zwei Avrial nach unten brachten. „Wo warst du?”, fragte Siri, „Wie konntest du dich retten?” Lyze schmunzelte und schüttelte anschließend den Kopf: „Es ist schön, dich wieder zu sehen – ich würde auch gerne wissen, was du erlebt hast und wer dieser Mann hier ist… aber lass uns das unten besprechen, in Ordnung?” Kapitel 16: 5. Magie mag gelernt sein ------------------------------------- Sanft schloss Siri hinter sich die Tür. Das halbe Schloss war vollkommen verwüstet und glich nun noch mehr einer Ruine, als vor dem ausgebrochenen Fluch. Seufzend stand sie auf dem Gang, hielt sich eine Hand auf die Stirn und blickte auf die zerstörten Gegenstände, die doch eigentlich schon beinahe in ein Museum für Antikes gehört hätten. Neben ihr stand Lyze, der ihren Blick nicht wirklich verstehen konnte – schließlich war er erst vor kurzem gekommen und kannte das ursprüngliche Schloss nicht. „Schläft er jetzt?” „Ja.”, Siri ging den Flur entlang, er folgte ihr. „Seine drei „Angestellten” kümmern sich um ihn und geben Bescheid, wenn er wach ist…”, sie blieb kurz stehen und schaute trocken: „Das hoffe ich zumindest… Ahm – komm, gehen wir ins Wohnzimmer am Ende dieses Flures. Dort wütete Avrial nicht, also ist dort alles noch ganz.”, so ging sie voran, nun mit einem Lächeln auf den Lippen. Die beiden betraten das vornehme Wohnzimmer, das in verblichenem Rot gestaltet war. Lyze konnte noch immer keinen Unterschied zum zerstörten Flur erkennen und blieb vorerst stehen, als sich Siri ins rote Sofa schmiss. Erst jetzt, als der Regen vorbei war und die Sonne nun direkt durch die drei großen Fenster auf Lyze schien, konnte sie diese plötzliche Veränderung in seinem Gesicht erkennen: „Was… was ist denn mit deinem Auge…?” Auf ihre Handdeutung hin, griff er sich auf sein rechtes, gelbes Auge. Da seine natürliche Farbe eigentlich blau war, hätte das Mädchen diesen Unterschied eigentlich schon früher sehen müssen. „Ach das?”, er setzte sich neben sie, „Wenn du dich erinnerst, habe ich versucht das Boot zu beschützen, doch der Zauber ging schief…”, er lächelte, sah dabei aber gen Boden „Scheinbar habe ich mich dabei mehr verletzt, als ich dachte; als ich in der Höhle des Drachen aufwachte und ins spiegelnde Wasser blickte, sah auch ich die Färbung zum ersten Mal.” „Arcanerblut…”, Siri gab es leise murmelnd von sich, sodass Lyze sie nicht richtig verstand: „Was?” „Ach, ist nicht so wichtig. Hat dir der Drache der Güte sagen können, warum sich dein Auge verfärbt hat?” „Nein, er wollte nicht.” „Wie denn das?” „Er meinte, er sei nicht die richtige Kreatur, um mir dabei weiter zu helfen…” „Das ist ja komisch.” Seufzend lehnte Lyze den Kopf nach hinten, „Wem sagst du das.”, dann drehte er ihn zu ihr: „Jetzt bist du dran. Was hast du so erlebt?” Erlebt hatte das Mädchen einiges. So holte sie zuerst aus und überlegte, was nun das Wichtigste sei: „Also… zuerst bin ich im Dorf Ikana gelandet, wo Frauen keine Rechte haben, und dort hab ich erstmals mein „bestes” Benehmen gezeigt, genauso wie am Maskenball, der abends stattfand; die meinten Avrial – den ich übrigens am Ball traf – sei der Herr der Finsternis, aber in Wirklichkeit ist er gar nicht so übel, weil er doch nur seine Frau verloren und nicht umgebracht hat, also hat er mich vor einem Angriff gerettet und in sein Schloss gebracht, wo ich die drei Putzen traf und Avrial schließlich vom Fluch überrumpelt wurde; und dann kamst du und nun sind wir hier!” „Aha…”, Lyze hatte sichtlich nur die Hälfte mitbekommen… „Oh! Und noch was Wichtiges: Avrial ist ein Arcaner!” „Arcaner!?”, bei ihrem Satz sprang der Halbengel urplötzlich auf. Sie verstand seine Reaktion nicht und schaute erstmals schief, bevor er anfing zu erklären: „Siri, Arcaner sind ganz fiese Typen! Die haben Spaß daran, ihre angeborene Magie für den Alltag und gegen andere Leute zu richten! Nicht zuletzt werden sie deshalb als „Dämonenart” bezeichnet, obwohl sie eigentlich mehr einem Menschen gleichen!” „Arcaner sind Dämonen?” „Nein, aber sie sind so falsch wie Dämonen.” „Avrial ist nicht falsch!”, Siri war ebenfalls ruckartig aufgestanden, „Ich weiß nicht, wo in all den Jahren du dich in Desteral herumgetrieben hast, aber nicht jeder Arcaner ist gleich!” „Aber es ist ihnen angeboren!” „Bist du- bist du überhaupt schon jemals einem Arcaner begegnet?” „Ehm…”, er senkte den Kopf, „Nein.” Auf Lyzes voreiligen Schluss konnte Siri nur mehr die Hände in die Hüfte stemmen und den Kopf schütteln. Von ihm hätte sie am wenigsten so eine Reaktion erwartet; noch dazu hatte er doch keinen blassen Schimmer, dass er selber mit einem verwandt sein könnte. „Vorsichtig sein ist gut, aber denkst du nicht, dass all diese Märchen, Sagen und Geschichten unter dem Volk Desterals falsch sein könnten…? Wie der ‚böse’ Wolf auch… und dabei sind Wölfe richtig liebe Tiere, wenn sie nicht kurz vor dem Verhungern sind. Ich glaube… ich glaube, dass selbst Dämonen nicht alle gleich sind.” „In Ordnung.”, Lyze hatte sich wieder gesetzt, „Mag sein, ich bin vielleicht etwas übervorsichtig… aber einem Dämon sollte man nun wirklich nicht blind trauen.” „Das kann ich bestätigen.”, Lyze und Siri schauten gleichzeitig zur Tür, in dessen Schwelle Avrial stand – mit Kleidung. „Avrial!”, das Mädchen lief zu ihm, „Geht es dir besser?” „Ja… es geht wieder. Danke. Ohne euch wäre ich sicher längst vom Fluch verschlungen… nur eine Bitte hätte ich.” „Ja?” „Ich brauche meinen Hut, Siri.” „Oh je, der wird noch oben im kaputten Turm liegen!” „Ach so ist das… wir waren oben im Turm.” Lyze kam hinzu, als Avrial plötzlich überlegend wirkte. Er schien sich gar nicht mehr um seinen Hut zu sorgen. „Stimmt was nicht?”, fragte das Mädchen schließlich. „Nein… es ist nur…” „Hm?” „In dem Turm starb Yne.” „Oh, was!?” „Nein. Nein, das ist gut.”, nun lächelte er, „Ich hatte so ein Gefühl von Schmerz, aber auch Geborgenheit. Der Aufenthalt im Turm hat verhindert, dass ich dich angegriffen habe. Sagt… wie habt ihr es geschafft den Fluch zu brechen? Ich habe nicht mehr damit gerechnet, noch einmal klar denken zu können.” „Oh, ach das… ich habe da oben einen türkisen Stein gefunden…”, nebenbei kramte Siri in ihrer Tasche, bis sie den glühenden Anhänger herauszog und auf der Handfläche zeigte. „Der Drache der Güte sagte mir, ich solle ihn gegen den Fluch richten… weißt du etwas darüber?” Den Blick gen Boden gerichtet und doch lachend, schüttelte Avrial den Kopf, bis er wieder aufschaute und begann zu erklären: „Besser, als du denkst. Das ist ein Aquamarin; jedoch kein gewöhnlicher. Er absorbiert und schützt vor dunkler Magie und Flüchen. Die Legende besagt, dass ein junger Mann vor langer Zeit diesen für seine Verlobte eigenhändig anfertigte. Ich habe ihn bei einem umherziehenden Händler gekauft… aber ich wusste nicht, dass der Stein so mächtig sein kann. Nun, du ahnst es vielleicht schon: der Hut war Ynes Hochzeitsgeschenk an mich. Der Stein war für sie.” „A-ach so ist das!” Kaum war Avrial fertig, legte die junge Frau den Stein in seine Hand, doch er schüttelte abermals den Kopf. Er nahm Siris Hand und gab ihr den Stein zurück: „Er wurde für eine Frau angefertigt, nicht für einen Arcaner wie mich. Ich gebe dir ein Lederband, dann kannst du den Stein um den Hals tragen – er soll dich beschützen. Du wirst ihn mehr brauchen als ich.” Nickend nahm Siri den Aquamarin an sich und lächelte traurig. „Danke.” „Hey…”, da schummelte sich Lyze hinein, „Ich will euch nicht unterbrechen… aber draußen wartet ein sehr alter, müder Drache der Güte, der mit dir sprechen will, Siri.” „Ah.”, Avrial drehte sich zu ihm, „Du musst Lyze Noshyru, der Halbengel sein…”, Lyze schaute etwas skeptisch, als der Magier einmal um ihn herum ging, „Wirklich einzigartig. Du hast Flügel, die du per Lichtmagie erscheinen lassen kannst. Irre ich mich?” „Kann sein… wüsste nicht, was dich das interessieren sollte.” „Oh, mich interessiert so einiges – und Rassenvermischung ist ein Thema davon. Sag, plauderst du wie ein Engel alles aus, oder bist du eher wie ein Mensch orientiert?” „Hey – ich bin kein Versuchsobjekt!”, der Halbengel trat zurück, als ihm Avrial näher kam, „Warum gehst du nicht und spielst mit ein paar Ikana-Bewohnern?!” Da griff Siri ein: „Ach hört doch auf! Avrial, du gehst deinen Hut holen und du Lyze kommst mit mir, zum Drachen!” Gleich darauf verließ sie die Runde, Richtung Ausgang. Während Lyze dem Arcaner wieder einen misstrauischen Blick zuwarf, hatte Avrial nur eines zu sagen: „…Pass auf Siri auf. Und verscherz es dir nicht mit ihr, ich habe das starke Gefühl, dass du noch lange mit ihr reisen wirst.”, er ging ebenfalls, „Bis später, Noshyru.” Draußen, so weit wie man auch nur zum Horizont sehen konnte, sank langsam die Sonne gen Ende des Tages. Der Himmel, an dem nur wenige Wolken hingen, war hell orange gefärbt; alles und jeder warf einen langen Schatten. Hier oben, am höchsten Punkt Ikanas, konnte man einen Sonnenuntergang hervorragend sehen. Vor dem alten Schlosstor hatte sich der Drache der Güte in das nasse Gras gelegt und schaute nun auf, als Lyze mit Siri herauskam. Als die zwei vor ihm standen, hob er seinen schweren Körper und blickte zu den beiden hinab. Siri war wieder aufs Neue von dem alten Drachen beeindruckt; seine trüben Augen verrieten, dass er fast nichts sehen konnte – dennoch schien er sich gut orientieren zu können. „Siri.”, sprach er nun in den Köpfen der beiden, „Ich weiß über alles Bescheid, dein Freund hatte es mir bereits erzählt.”, er hob den Kopf, gen Horizont, „Das, wonach du suchst, findest du am Festland, mittig Desterals… doch ehe ihr beide aufbricht, möchte ich euch um einen Gefallen bitten.” Bei seinen traurigen Worten wagte Siri einen Schritt nach vorne: „J-ja?” Der Drache senkte seinen Blick. „Ich weiß nicht, ob ich euch mit meinem Problem belästigen sollte.” „Das sind wir dir schuldig.”, Siri und der Drache schauten rüber zum leicht lächelnden Lyze, „Sag uns was du brauchst und wir werden es für dich erledigen.” Nun konnte man auch auf dem Gesicht des Drachen ein zartes Lächeln sehen, er sah richtig erleichtert aus. „Gut… so höret meine Worte.”, wieder schaute er zum Ozean, „Der Wassergott in dem Gebiet rund um der Insel Ikana leidet sehr. Wir kennen uns seit geraumer Zeit und als sein Freund fühle ich mich verpflichtet, ihm zu helfen… doch ich bin alt und schwach; und tief tauchen kann ich auch nicht mehr. Darum brauche ich eure Hilfe. Steigt zum Wassergott hinab und erlöst ihn von seiner Qual. Sagt, der Drache der Güte schickt euch, dann wird er euer Leben verschonen.” „Erm… alles gut und schön… aber wie sollen wir ihn erlösen?”, so Siri. „Der Aquamarin…”, Lyze überlegte laut, „Er kann Flüche und Magie absorbieren. Aber kann er auch Schmerz heilen?” „Nein.”, der Drache schüttelte schwer seinen Kopf, „Nicht direkt. Aber bloßes Reden allein wird ihm schon helfen – und Siri, du hast eine Begabung dazu.” „Also soll ich da hinab?”, sie zeigte auf sich selbst, „Und wie? Sehe ich aus, als könnte ich unter Wasser atmen?” Passend zu ihrem Satz öffnete sich das alte Schlosstor, aus dem Avrial trat, der seinen Hut gefunden hatte: „Ach. Das lässt sich schon machen – ich habe da eine Idee.” Kapitel 17: Die Idee -------------------- Neben dem alten Schloss Ikanas führte ein schmaler Weg zwischen den Felsen vorbei, bergab, quer auf die andere Seite der Insel. Auf diesem Pfad lag auch der Bauernhof, der den Arcaner und dessen drei Putzfrauen versorgte. Heute blieb er allerdings unbesucht, denn die Reise ging weiter, bis zum weiten Strand hinab. Hier waren Lyze, Siri und Avrial völlig ungestört, da die sandige Bank von den Felsen und Hügeln des Berges umgeben war und nur dieser eine schmale Weg zu ihm führte – praktisch ein privater Strand. Noch immer war das Wasser trüb-schwarz und schien durch die einkehrende Nacht noch finsterer; die Gischt peitschte regelrecht gegen die Klippen und wirbelte den Sand auf und ab. Die Arme verschränkt stand Lyze da und ließ Avrial nicht aus den Augen. Neben ihm standen Siris Stiefel, denn mit Schuhen steht es sich schlecht im Meer. Da deutete Avrial auf ihre Kleidung: „Die da auch.” „Hä?” „Du kannst mit Kleidung nicht gut schwimmen, sie zieht dich runter.” „Ja aber…!”, sie fuchtelte erklärend mit den Händen umher, „Das kann nicht dein Ernst sein!” „Wieso nicht?” „Hallo!? Ich bin eine Frau!” „Na und?” „Vielleicht werde ich nicht gerne von Kerlen angegafft!?” „Ja aber, du kennst uns doch.” „Na du bist mir ein schöner Gentleman-” „Hör mal, du hast Unterkleidung an. Das… hoffe ich zumindest. Und damit mein Zauber wirken kann, darfst du nun einmal keine langen, oder schweren Kleider tragen. Also verschwende bitte nicht noch mehr Zeit, in Ordnung?” Nach einen langem und wirklich zähen Stöhnen fand sich Siri schließlich mit der Situation ab. „Na schön.”, sie warf einen schnellen Blick zum Halbengel, „Lyze – umdrehen!” Noch immer Arme verschränkt stand er da, kehrte dem Mädchen seufzend den Rücken zu. „Einen Augenblick-”, er deutete auf Avrial, „Warum muss er sich nicht umdrehen?” „Weil ich derjenige bin, der auf Siri die Magie anwenden muss, Noshyru.”, er schmunzelte, „Stört dich das?” „Hey ihr zwei!”, die Stimme vom Mädchen klang leicht sauer, „Lasst den Quatsch, ich will endlich anfangen!” Während die zwei mit streiten beschäftigt waren, hatte Siri ihr Kleid ausgezogen und zu den Stiefeln geworfen. Sie stand in Unterwäsche da, stellte sich dabei vor, sie sei im Bikini und verdeckte dabei trotzdem ihren Körper schützend mit den Händen. Auf ihren Ausruf von vorhin, drehten sich beide wieder in ihre Richtung. Selbstverständlich war dies dem prüden Mädel noch unangenehmer als vorhin, weshalb sie leicht nervös auf und ab sprang: „Verdammt Lyze, dreh dich gefälligst um!” „E-entschuldige!”, blitzartig wechselte er die Richtung, „Ich warte einfach dort hinten, in Ordnung?”, so ging er ab, zu den Felsen im Hintergrund. „Beeil dich bitte, mir wird kalt!” Prüfend schaute der Arcaner um sie und der Umgebung her, er sicherte die Lage und ob alle Vorbereitungen getroffen waren. Dann hob er beide Hände – rückte seinen Hut zurecht – und richtete sie schließlich auf Siri. „Stillhalten.” Nun schloss er die Augen und drehte die Handflächen nach oben. Nach und nach spürte Siri, wie Kräfte auf sie einzuwirken schienen, sie schaute dabei hinab und sah, wie das Wasser stieg – nein, Moment; sie kam dem Wasser näher, bis sie das Gleichgewicht verlor und hineinfiel. Danach senkte Avrial die Arme. „H-habe ich was falsch gemacht?”, Siri griff sich verlegen auf den Nacken, „Tut mir leid – fang noch mal an, wenn ich aufgestanden bi-”, da fiel sie wieder ins Wasser, „Was zum…? Ich kann nicht aufstehen!”, sie sah um sich her. Zufrieden wandte sich der Arcaner in Lyzes Richtung: „Du kannst herkommen, Noshyru. Es ist vorbei!” Nickend stand er von seinem Fels auf und kam herüber, dann zog er eine Augenbraue hoch: „Sie sieht doch aus wie immer… Hm?”, er schaute genauer hin, „Was ist denn das!?” „Was?”, Siri schaute nervös um sich, „Was ist was?? Oh HEI-”, sie griff nach ihren einstigen Beinen und konnte nur eine große, blaue Flosse hervorziehen. „Eine Nixe?” „Nein, eine Meerjungfrau. Da besteht ein kleiner Unterschied, Noshyru.” „Verschone mich mit deinen ‚Lehren’… warum denn ausgerechnet das?” „Na ja, Siri in einen Fisch verwandeln… das konnte ich ihr doch nicht antun.” „Mag sein, aber-” „Ich finde es klasse!”, als sich die zwei Männer zu ihr drehten, planschte sie mit der Flosse umher. Noch immer hatte sie oben herum nur ihre Unterwäsche an, dies schien sie aber gar nicht mehr zu stören. „Ich wollte schon immer mal wissen wie es ist, eine Ni- äh Meerjungfrau zu sein! Und… jetzt kann ich wirklich unter dem Wasser atmen?” Avrial nickte. „Ja, wie ein Fisch. Aber sei bei Sonnenaufgang in der Nähe dieses Strandes; wenn die Wirkung aufhört, willst du wohl kaum mitten im Meer sein…” „Es gibt ne Zeitbegrenzung?” „Ich gab so viel Zeit, wie es mir möglich war. Mehr wollt ihr sicher auch nicht verschenken – schließlich habt ihr noch viel vor. Also: Finde den Wassergott, bringe ihn zur Vernunft und sei bei Sonnenaufgang wieder am Strand. Kriegst du das hin, Siri?” „Na ja, ich…”, sie war sich unsicher, „Ich denke schon…” „Gut, fantastisch – wir lassen dir deine Kleidung da… und ein Handtuch.” „Wie meinst du das?”, Lyze drehte sich wieder einmal misstrauisch zu dem Magier, „Wir lassen sie alleine ins Meer schwimmen?” „Ja, natürlich; ich glaube nicht, dass du hinterher schwimmen kannst.” „Das meine ich auch nicht! Was ist, wenn Siri da unten etwas passiert?” „Ist schon gut, Lyze!”, Siri lächelte zu ihm, „Ich werde es schon schaffen. Mach dir keine Sorgen, okay?” Da klopfte ihm Avrial auf die Schulter. „Die Nacht ist kalt in Ikana. Ich gehe zurück ins Schloss… du kannst natürlich hier draußen warten, aber erwarte keine aufregenden Ereignisse.” „Ach Quatsch.”, Siri begann langsam ins offene Meer zu schwimmen, „Lyze, bleib bei Avrial. Eventuell könnt ihr zwei euch endlich besser kennen lernen…?” „Hach, okay…” „Schau nicht so böse…”, spaßig stupste der Arcaner gegen Lyzes Schulter, „Sie ist dabei, abzutauchen. Gehen wir zurück?” Wortlos, einfach nur mit einem Nicken, folgte er dem Magier. Auch wenn Siri ihn verteidigte, so hatte Lyze noch immer kein Vertrauen in ihn gefunden. Sei es, weil er nun wirklich übervorsichtig war, oder der unauffindbare Grund irgendwo tief in seiner Vergangenheit lag. Kapitel 18: Gewässer, Magie und Wein ------------------------------------ Immer tiefer tauchte Siri ins pechschwarze Meer hinab. Sie schlug mit ihrer blauen Flosse, die sie dank Avrials Zauber hatte, große Wellen und konnte somit sehr schnell durch das Wasser gleiten. Das, was zuerst schwarz und trüb schien, löste sich nun mit der Tiefe stetig auf, bis das kühle Nass dunkelblau und rein war. Dies war durchaus seltsam und warf die Frage auf: Wieso? Sicher hatte der Wassergott seine Gründe. Vielleicht wollte er sich von der oberen Welt abschotten – von allen Menschen? Sicherlich würde er nicht seine eigene Umgebung verdunkeln; das wäre auch eine Antwort. Als Siri die vorbeischwimmenden, bunten Fische und die farbenfrohe Korallenvielfalt bestaunte, sah sie anschließend nach oben, an den silbrigen Fischschwarm vorbei, zum Licht, dass bis an den sandigen Boden des Meeres reichte. Es war der Mond, der trotz der tiefen Nacht den Wasserkreaturen und somit auch Siri Licht spendete. Nun konnte mit der Suche begonnen werden. Doch wo sollte sie anfangen? Sie wusste schließlich nicht, welche Gestalt ein Wassergott hatte. Er konnte demnach so gut wie alles und jeder sein: die Krabbe unter ihr am Korallenstein, die Koralle selbst, irgendeine Fischart, Pflanze, oder sogar das Wasser selbst. Siri könnte Fische befragen – jedoch wusste sie nicht, ob sie dies konnte. So schwamm sie erst einmal voran, um nach Hinweisen und einer Spur zu suchen. Inzwischen, in einem Wohnzimmer des Schlosses, saß Avrial im gemütlichen Sofa und trank Tee. Neben ihm knisterte das Feuer im Kamin, während Lyze unruhig auf und ab ging. Nervös machte das den Magier nicht, aber Juls, Rina und Christy wurden auf den Halbengel aufmerksam. Sie schauten hinter dem Stuhl hervor und beobachteten ihn beim Auf- und Abgang, wie neugierige Kinder, die eine fremde Person zum ersten Mal sahen. „Der ist süß.”, es hätte so schön ruhig sein können, wenn da nicht Christy gewesen wäre, die unüberhörbar ihre Meinung äußerte. Auf ihren Satz hin wurde sie von ihren Gesellinnen langsam angeschaut. „Du findest alles süß.”, tönte es von unten, als Avrial wieder an seinem Tee nippte. „Ja stimmt. Du findest wirklich alles süß!” „Ach sei still, Rina.”, war Christys Antwort, „Du findest auch alles süß. Was war noch mal neulich mit dem Eichhörnchen?” „Aber Eichhörnchen sind doch süß!” „Meister!”, mischte Juls hinzu, „Auf dem Weg nachhause haben wir ein süüüßes Eichhörnchen gesehen!” „Das ist schön.” „Jaaa!” – die drei hüpften urplötzlich auf, was Lyze aufschauen ließ: „Toll. Jetzt wundert mich nichts mehr.” Natürlich bekam Avrial mit, dass Lyze mit seinem Satz provokativ auf ihn anspielte, antwortete aber trotzdem gelassen: „Etliche Jahre der Einsamkeit sind Gift für jede Seele. Es tut gut, Gesellschaft zu haben; egal welcher Art.”, er nippte an dem Tee, „Ich würde dir gerne ein Getränk anbieten, aber du würdest es nicht annehmen. Also, Noshyru. Ich habe gehört, du bist mit Magie begabt?” „Begabt?”, der Halbengel blieb stehen, „Ich kann es, ein bisschen. Aber jeder Engel beherrscht die Lichtmagie, das ist nichts Besonderes.” „Mag sein. Aber ich spreche auch nicht von Spielereien, sondern von richtiger Magie.”, Avrial stellte seine Tasse ab, ehe er sich von seinem Platz erhob und zum misstrauischen Lyze hinüber trat. „Lass mich dir etwas zeigen.” Es war kurz vor Mitternacht, der Mond schien hell und Siri war noch immer am Grund des Meeres auf der Suche nach dem Wassergott. Nicht einmal das war sicher: der Aufenthaltsort. So gesehen müsste Siri das gesamte Gebiet, rund um die Insel Ikana und dem Festland Desterals absuchen, was allerdings länger als eine Nacht dauern würde. Von daher stand fest: sollte sie bis zum Morgen in diesem Gebiet, zwischen Ikana und dem Festland, nicht fündig werden, musste abgebrochen werden und das Wasser erstmals in diesem Zustand verweilen. Einiges hatte sie schon untersucht, hochgehoben und Tiere genervt, aber noch nichts herausgefunden – bis auf die Tatsache, dass sie eindeutig nicht mit Wasserwesen sprechen konnte… na ja, es war irgendwo doch nur ein Zauber. Sie hatte gerade die Hoffnung aufgegeben, als vor ihr in der Ferne eine verdächtige Höhle lag. Nun wieder lächelnd, schwamm sie voran zu diesem Unterwasserversteck. Wie an einer Türe auch, klopfte sie an die Höhlenwand, ehe sie hinein schwamm. Wieder fand die junge Frau so allerlei an Leben: Einsiedlerkrebse, Seesterne und sogar kleine, weißliche Höhlenkäfer… wohl eine Wasserspezies. Jedenfalls fand sie dort alles Mögliche, nur keinen Wassergott – und im Wasser „Hallo?” konnte man schließlich auch nicht fragen. Gerade als sie sich zum wegschwimmen umdrehte, machte sie noch eine grausige Entdeckung: hinter ihr tauchten aus der dunklen Höhle große Tentakelarme auf, bis ihr schließlich das riesige Tintenfischauge direkt ins Gesicht blickte. Wenn man unter dem Meer schreien könnte, hätte es bestimmt mehr als nur der gesamte Ozean gehört – und Siri wusste gar nicht, wie schnell sie um ihr Leben schwimmen konnte! Ihr Glück war es, dass dieser riesige Tintenfisch wohl keinen Appetit auf verzauberte Meerjungfrauen-Mädchen hatte und sie auch erst gar nicht verfolgte… „Was soll das?”, Lyze schaute fragend in Avrials offene Hand, in der ein kleiner Lichtschein tanzte. „Frage nicht. Versuche das gleiche in deiner Hand – oder bist du doch nicht so begabt, wie ich annahm…?” Von dem schmunzelnden Magier angestachelt, imitierte Lyze seine Bewegungen; hob die linke Hand, drehte einen leichten Kreis und öffnete diese: nun bildete sich auch in seiner Handfläche ein kleines Lichtlein. „Wunderbar, es geht doch!”, Avrial ließ den Zauber verschwinden, „Und jetzt eine Stufe schwieriger.” Er begann mit beiden Handflächen ineinander gedreht einen Kreis zu bilden, bis eine kleine Lichtkugel aufleuchtete und nun vor sich her flackerte. Lyze hielt dies für Kinderkram. Wieder imitierte er Avrials Handbewegungen und formte in seinen Händen diese flackernde Lichtkugel. „Hervorragend!” „Mag sein…”, meinte der Halbengel, „Aber was soll daran so besonders sein? Lichtmagie eben. Leuchtet im Dunkeln, wenn dir eine Fackel fehlt, toll.” Mit einem Mal schüttelte der Magier die Hände, bis das Licht verschwand. „Oh, nein Noshyru, das ist viel mehr als Lichtmagie – das sind Grundkenntnisse von richtigen Zaubern. Die ersten Schritte eines wahren Meisters, von Magiern, die schon seit ewigen Zeiten mit dieser übernatürlichen Macht zu tun haben.” Kopfschüttelnd schaute Lyze in sein Gesicht und machte einen kleinen Schritt zurück: „Ehrlich. Ich weiß wirklich nicht, worauf du hinaus willst… was willst du mir denn damit sagen? Dass ich ‚tatsächlich’ begabt bin?” „Nein. Viel mehr noch:”, Avrial beugte sich nach vorne, „Noshyru, durch deinen Adern fließt Arcanerblut.” Drei Stunden suchte sie jetzt schon. Mitternacht war vorbei und die eigentliche, dunkle Nacht kündigte sich an. Der Mond wanderte, stellte sein Licht schief, sodass es nur noch zart bis zum Grund reichte. Neben einer großen, grün-violetten Koralle ließ sich Siri auf einen Stein nieder und dachte nach. Es blieben nicht mehr viele Stunden, um mit dem Wassergott sprechen zu können; und den Eindruck er tauche in den nächsten Minuten auf, hatte sie auch nicht. Was nun? Umkehren, zurück an den Strand? Dies schien Siri die beste Entscheidung zu sein. Doch, als hätte man es nicht schon geahnt, sprach eine sanfte Stimme aus dem Nichts zu ihr, gerade als sie wegschwimmen wollte: „Gehe nicht.” Die junge Frau drehte sich um, suchte mit hochgezogener Augenbraue umher. „Wer ist denn da?”, diese Worte, muss man erwähnen, sprach sie nicht aus, sondern dachte sie; denn sprechen unter dem Meer ist nicht so einfach. „Ich bin der Hüter des Wassers…” „Des Wassers…?”, sie blickte gen Wasseroberfläche, „Aber ich kann dich nicht sehen! Bist du denn der Wassergott?” „…Ich habe viele Namen.” „Ich muss mit dir reden. Wo bist du?” Hinter sich spürte Siri plötzlich jemanden – sie drehte sich abermals um und sah, wie ein Mann praktisch aus dem Nichts Gestalt annahm. Blasse Haut. Meerblaue Augen und tiefblaue Kleidung mit langen Ärmeln. Mit seinen bloßen Füßen berührte die menschliche Gestalt den Sandboden und ging wie in Zeitlupe über den Grund, auf Siri zu. „Was suchst du in meinem Reich? Du gehörst nicht hierher.” „Ich weiß. Und ich habe auch nicht mehr viel Zeit!”, sie verbeugte sich, „Herr Wassergott, der Drache der Güte hat mich zu dir geschickt.” „Ist das wahr? …Und weshalb?” „Es geht um Ikana – nein, ganz Desteral! Du musst dem tödlichen Wasser seine ursprüngliche Form zurück-” „Nein, niemals.”, er wendete ihr langsam den Rücken zu, „Die Menschheit hat mir das Kostbarste geraubt, jetzt werde ich ihr Kostbarstes nehmen: ihr Leben. Gehe, oder auch deines wird für immer dem Meer gehören.” „Ganz ehrlich: deine Witze sind grausam!” „Das ist kein Witz, Noshyru. Es tut mir leid, falls du es so empfunden hast.” Gegenüber Avrial ließ sich der Halbengel in das Sofa fallen. Rumhängend pustete er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und starrte fassungslos ins Feuer, dies für einige Minuten. Währenddessen schenkte sich Avrial noch eine Tasse Tee ein und nippte daran; kurz schaute er etwas skeptisch und gab sich zwei Stück Würfelzucker in die Tasse. Nach einer kleinen Weile des Umrührens kostete er noch einmal und nickte dann zufrieden. „Ein Arcaner also…”, begann Lyze, „Und was tue ich jetzt?” „Nun, weißt du denn, wer aus deiner Familie ein Arcaner war?” „Nein. Woher denn auch?” „Deine Mutter war ein reiner Engel?” Lyze nickte. „Gut. Dann steckt das Gen in deinem Vater. Ist dir denn jemals etwas Seltsames an ihm aufgefallen?” „Ja… aber darüber spreche ich äußerst ungern…” „Ach so ist das…”, Avrial schenkte eine zweite Tasse ein und schob sie Lyze zu. „Trink das. Es wird dir gut tun.”, abermals nippte er an seinem Tee. Nun doch endlich schien Lyze langsam sein Misstrauen gegenüber dem Magier abzubauen, griff nach seiner Tasse und nickte. „Danke. Kann ich dich etwas fragen?” „…Wenn es dir hilft, über deinen Vater zu sprechen, natürlich.” „Wieso ist deine Frau gestorben?”, schief wurde er daraufhin von Avrial angestarrt. „Ich verstehe nicht ganz…” „Siri hat mir – wenn auch nur grob – erklärt, dass du deine Frau verloren hast… warum ist sie gestorben?” „Das weiß ich leider nicht.”, er seufzte, „Tatsache ist, dass sie erstochen wurde, mit einem Dolch. Warum sie sterben musste, oder wer es war, weiß ich bis heute nicht… Also!”, er faltete seine Hände zusammen, „Wir haben in meinem Topf gewühlt und jetzt bist du dran: Was ist dir so Seltsames an deinem Vater aufgefallen?” „Mein Vater, Xasa… traf sich oftmals mit einem Vampir… ich habe mal seinen Namen gehört, er hieß Kenji. Meine Mutter sah es nicht gerne, wenn er mit diesem Dämon sprach. Der Typ war der, der mein Leben ruinierte.” „Mhm, verstehe. Darum dein Hass gegen Dämonen – aber das erklärt nicht deinen Zorn gegen Magier. Jedenfalls nicht bewusst.” „Wie meinst du das?” „Xasa war auch nur ein Mischling und ein Opfer seiner selbst. Der Drang, Magie zu erlernen, stieg mit dem Alter; also suchte er sich einen Lehrmeister – nur leider den Falschen und somit den Henker seiner Familie. Kannst du mir folgen? Dein Großvater muss ein reiner Arcaner gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären… wenn ich mich irre, musst du es mir sagen – aber sehr viel kannst du scheinbar nicht über deinen Großvater gewusst haben.” „Es stimmt… ich weiß nicht viel über ihn. Meine Großmutter hatte mir nur kurz in der Kindheit von ihm erzählt. Er verließ meine Familie, als mein Vater noch klein war.“ „Ich schätze, da haben wir unsere Antwort.“ „Ja…“, Lyze beugte sich nach vorne und zog überlegend die Brauen zusammen. Als Avrial dies sah und ihn beruhigen wollte, sprach der Halbengel weiter: „Es ist in Ordnung, denke ich. Aber… bei dem Gedanken daran, mein Großvater könnte noch immer jung durch Desteral streifen, wird mir schlecht.“ Nun musste der Magier schmunzeln. „Der Gedanke ist durchaus seltsam. Es ist traurig, dass er nicht bei der Familie blieb… er hätte deinen Vater unterrichten können.“ „Also bin ich zu einem Viertel Arcaner und zur Hälfte Engel…” er schwang kurz seine Arme, „Wunderbar, besser geht’s nun wirklich nicht mehr.” „Doch – wenn du noch einen Dämonen in dir hättest!” „Was?!” „Nein, keine Angst – das war wirklich ein Scherz; ehrlich.” „.Und… was nun?” „Damit du nicht so wie dein Vater endest – und eines Tages deine Familie ruinierst – solltest du anfangen Magie zu üben.”, Avrial stand von seinem Sofa auf und ging ein bisschen durch den Raum. „Klug wäre es, du beginnst damit, dir einen umher ziehenden Lehrmeister, am besten einen waschechten Arcaner, zu suchen.” „Ja, das ist auch einfach zu sagen.”, Lyze ging ihm nach, „Wo soll ich denn so einen finden?!” Dem Mädchen war mulmig zumute, als die Kreatur davon sprach, ihr das Leben zu nehmen. Sie schluckte, packte all ihren Mut zusammen und schüttelte deutlich den Kopf: „Herr Wassergott, ich gehe nicht, ehe wir nicht vernünftig mit einander gesprochen haben!” Das Wesen der Tiefe drehte sich sacht zu ihr um und sagte nichts. Stumm sah er nur auf die vorbeischwimmenden Fische herab und überlegte. Hätte er Siri umbringen wollen, wäre dies sicher längst geschehen. So setzte er sich nieder, auf einen niedrigen Stein und schaute auf den weichen Sand zu seinen Füßen hinab. Siri blieb einen Moment an ihrem Fleck. Scheinbar war dieses Wesen zum Reden bereit, weshalb sie zögerlich zu ihm schwamm und sich setzte. „Du willst also reden.”, begann der Wassergott, „Nun gut. Dann rede.” „Das habe ich doch schon… bitte, verrate mir den Grund für deinen Zorn.” „…Warum sollte ich das tun.” „Na weil…”, Siri suchte eine Erklärung, „Weil oft über schlimme Erlebnisse reden das beste Mittel ist, um vom Schmerz der Vergangenheit loszulassen. Das… sagte mir eine Freundin.” „Deine Freundin ist sehr weise.” „Huh?” „Allerdings, sie hat Recht. Nur mit Fischen zu reden, ist nicht die optimale Lösung…” Siri musste kichern: „Na ja, sie sind gute Zuhörer!”, verkniff es sich aber dann, als der Wassergott sehr ernst zu ihr schaute. „…Mein kostbarster Besitz wurde mir gestohlen. Keiner auf der Welt kann mir diesen zurückbringen. Und daran sind allein die Menschen schuld.” „Was wurde dir gestohlen…?” „…Meine Geliebte.” „Huh!? Du hattest eine Frau? Vielleicht… die See?” „So ist es. Sie hieß Sea. Sie war im Übrigen eine Meerjungfrau; eine Echte.” „Verstehe! Fischer müssen sie gefangen haben…”, das Mädchen seufzte und senkte ihren Kopf, „Meerjungfrauen sind nicht gerade häufig anzutreffen. Gut möglich, dass die Fischer- ähm… ich… es tut mir leid für dich…” „Dann verstehst du auch meinen Schmerz.” „Ja… ich wünschte, ich könnte irgendwie helfen, aber das kann niemand mehr.” „Dann ist es also entschieden…” „Nein, ist es nicht!”, Siri schwamm auf, „Es waren die Fischer, nicht die Menschheit! Du kannst doch nicht eine ganze Spezies für etwas bestrafen, dass fünf-sechs Männer angerichtet haben! Die… sicherlich schon dank deines Fluches verschlungen wurden… warum dann weiter Rache an Unschuldigen ausüben? Da draußen tobt ein Krieg – ist die Menschheit denn nicht schon genug gestraft!?” Und da – plötzlich begann der Wassergott zu schmunzeln, dann zu lachen. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte und Siri verschreckte, begann er zu sprechen: „Du bist ein sehr außergewöhnliches Wesen. Ein Mensch, das ist gewiss, aber dieses Feuer…” „…?”, schief wurde er von ihr angesehen. Er stand auf, ging umher und sah gen Oberfläche: „Du bist ein Kind des Wassers. Das Einhorn ist dein Wappenzeichen. Mitgefühl und Schlagfertigkeit sind deine Stärken – es würde mich nicht wundern, wenn du ein außergewöhnliches Schicksal trägst.”, er drehte sich zu ihr, „Übrigens habe ich dich und deinen Freund beim überqueren des Meeres nur darum verschont.” „Du hast uns am Leben gelassen?” „Natürlich. Ich wusste mit jeder Faser meines Körpers, dass ihr anders seid. Du suchst deine Vergangenheit? Dann gehe an den belebtesten Ort Desterals – in der Hauptstadt Destercity findest du die Person, die du suchst.” „Destercity… ja aber, warum hilfst du mir?” „Das hat seine tiefen Gründe. Nun geh, dir bleibt nicht mehr viel Zeit, um an die Wasseroberfläche zurückzukehren.” Sie nickte, blieb aber vorerst am Fleck: „Ist gut. Doch… möglicherweise finden wir eine Lösung für beide Seiten: Du hast deine Ruhe vor den Menschen und die Menschen haben ihre Ruhe vor dem Ozean…” „Hm, tja. Eine gute Frage.”, Avrial, der durch den Raum ging, blieb urplötzlich stehen, sodass Lyze ihm fast hineingelaufen wäre: „Wo findet man einen guten Arcaner als Lehrmeister…” „Kennst du denn keine anderen?” Er schüttelte den Kopf: „Nicht sehr viele. Wenige, um genau zu sein. Einen kenne ich, er wohnt nahe von hier am Festland – aber den als Lehrer…”, er schmunzelte, „Da kannst du genauso gut diesen Mörder deiner Familie um Hilfe fragen.” Während sich beide daran machten, scharf über einen möglichen Lehrer nachzudenken, kamen die drei Hausfrauen Avrials hereingehüpft. Sie blieben neben der Eingangstüre stehen und begutachteten einen sehr alten, hohen Schrank – sie wirkten, als wäre ihnen dieser bis heute nicht aufgefallen. Es dauerte keine zwei Minuten, da begannen sie den Kasten zu untersuchen und an den Türchen zu rütteln. Sichtlich von den drei gestört, warf Avrial ihnen einen bösen Blick zu: „Seid doch still, ich versuche zu denken! Wenn ihr den Schrank öffnen wollt, sucht doch nach einem passenden Schlüssel!” Daraufhin maulten Christy und Juls zurück. Als Lyze die Diskussion beobachtete, fiel ihm plötzlich auf, wie lehrreich Avrial eigentlich war… „Ich habe eine großartige Idee, wer mein Lehrmeister sein könnte.” „Oh.”, überrascht sah der Magier zu ihm, „So? Und wer könnte es sein?” „Du!” „W-wie bitte? Nein. Nein, das geht nicht!”, schnell wies Avrial ab und ging ein paar Schritte durch das Zimmer, Lyze ihm hinterher. „Wieso denn nicht? Du bist ein Arcaner, der sich hervorragend mit Magie auskennt!” „Das mag ja sein, aber wie soll ich dich denn unterrichten? Das braucht Jahre, und hier im Schloss bleiben kannst du nun wirklich nicht.” „Dann komm doch mit uns!” „Mit euch?” „Genau – wir könnten Unterstützung gut brauchen.”, Lyze kam zu ihm rüber, „Und mal unter uns: Siri braucht einen Bodyguard; Ritter Tarrence wartet garantiert bei der Küste Desterals auf uns.” „Mitkommen…”, ein bisschen geistesabwesend und doch nachdenklich drehte sich Avrial zur Seite, „Euch begleiten… hinaus in die Welt… ja.”, nun schaute er lächelnd auf, „Ja! Das ist eine großartige Idee!” Auch schmunzelnd blickte Lyze dem aufgeregten Magier nach, wie er auf den Flur hinaus eilte, dabei irgendetwas unverständliches von sich gab und anschließend mit einem Koffer wieder hinein kam. Als er den Raum betrat, konnte man den Rest seiner Worte hören: „…und das Schloss zerfällt ja auch schon. Ich könnte es in meiner Abwesenheit wieder aufbauen und dir nebenbei die Magie beibringen! Hach, das ist herrlich!” Weiterhin beobachtete Lyze, wie Avrial allerhand Zeugs und Bücher in den kleinen Koffer stopfte und wunderte sich, warum der denn nicht voll wurde. Als der Magier das halbe Schloss leer geräumt hatte – und nebenbei noch mehr unverständliches Zeug vor sich her murmelte – klappte er den Koffer zu und hielt die Handflächen über ihn: plötzlich war das Gepäck weg! „Den habe ich jetzt bei mir und kann ihn herbeiholen, wenn wir irgendwo eine Pause einlegen. Nützlicher Zauber, bringe ich dir bei, wenn du fortgeschritten bist, Noshyru!” „Oh. Okay.”, Lyze hatte den Überblick verloren. Da krachte es, als die drei Hausfrauen den großen Schrank neben der Tür geknackt hatten und nun mit einer Flasche Wein umherschwanken: „Meister! Wir haben da etwas gefunden – sieht alt aus!” „Lasst sehen, lasst sehen…”, Avrial kam zu den drei irren Damen und drehte das Flaschenetikett zu sich: „Oh, der ist knapp 88 Jahre alt – welch guter Jahrgang, und so passend! Rina, Christy, Juls – holt doch mal die alten Gläser aus der Küche, wir wollen anstoßen!” „Anstoßen…?”, sprach Lyze halblaut, während er fragend eine Augenbraue hochzog. „Ja, lass uns feiern!” „…Ich glaube nicht, dass das so gut wäre. Es ist bald Morgen und wir sollten fit sein, wenn-” „Och, das geht schon. Hast du eine Allergie oder so gegen Wein…?” „Keine Ahnung”, er zuckte mit den Schultern, „Ich habe noch nie welchen getrunken.” „Noch nie? Ehrlich? Dann wird es aber Zeit. Mädchen, wo bleibt ihr?” „Schon da, Meister!”, die drei Hausfrauen waren wieder da. Sie hatten sogar ein Tablett mit zwei Weingläsern dabei, ohne etwas zu verschütten. Zuerst griff Avrial zu, dann nach zögern Lyze. Er hatte noch nie ein alkoholisches Getränk gekostet – und seltsamerweise schien dies den Magier zu interessieren; er schmunzelte immerzu, als er schließlich sein Glas hob: „Auf uns, Noshyru! Auf Siri, die hoffentlich bald wieder unter uns ist – und auf die Reise, auf der ich euch fortan Gesellschaft leisten werde! Na, was sagt man wenn man angestoßen hat? Zum Wohle!” „Zum… Wohle.” „Genau!”, nun stieß Avrial überfröhlich sein Glas gegen das von Lyze und trank. Der Halbengel tat dasselbe, schnupperte allerdings vorher an dem Wein, ehe er sein Glas zum Mund führte: „Riecht eigentlich gut…” Im nächsten Moment schielte Avrial über sein Glas hinweg. Lyze hatte gerade einen Schluck vom Wein gemacht, als er ziemlich überrascht aufschaute – und anschließend regungslos zusammenbrach. Über ihn beugten sich die drei erschrockenen Frauen und rüttelten an ihm. Avrial stellte währenddessen sanft sein Glas zur Seite, ehe er zu dem verschüttetem Wein am Boden sah: „Tja… der Teppich ist ruiniert.” Anschließend blickte er seufzend zu Lyze: „Bringt ihn ins Gästezimmer.” „Zum ausruhen? Zu Befehl, Meister!” Die drei Hausfrauen trugen den bewusstlosen Lyze aus dem Raum, als Avrial ihnen kopfschüttelnd nachsah: „Ach, Noshyru. Du hast mehr von einem Engel, als du wahrhaben möchtest.” Kapitel 19: 6. Verlorenes Reich ------------------------------- Erschöpft wurde die Schlosstür bei Tagesanbruch von Siri aufgeschoben. Sie hatte es rechtzeitig zum Strand geschafft und kann von erfreulichen Verhandlungen berichten. Ihre Haare waren noch pitschnass, als sie die Treppen hinauf zu den Gästezimmern stieg. Sicher schliefen Avrial und Lyze tief und fest, also schlich sie leise durch die Flure. In ihrer Müdigkeit hätte sie beinahe eine Vase von einem Potest umgestoßen – zum Glück konnte sie rechtzeitig vor dem Aufprall aufgefangen werden. „Puh.”, Siri stellte die Vase zurück an ihren Platz und ging weiter. Sie freute sich auf ein warmes Bett und ein paar Stunden Schlaf, als sie die Tür zum Gästezimmer öffnete. Doch alle Gedanken, die sie im Moment hatte, schob sie bei dem kommenden Anblick zur Seite – sie war auch gar nicht mehr müde, nur ein wenig aufgebracht. „LYZE!?”, bei ihren schroffen Ausruf hatte es den Halbengel aus dem Schlaf gerissen. Er rieb sich die Augen, ehe ihm bewusst wurde, wo er eigentlich war: „Uhm… Siri? Hallo, du bist schon zurück?” „Ja und wie ich zurück bin!”, kaum zu glauben, doch sie warf einen ihrer Stiefel nach ihm. Schnell sich geduckt, flog er über seinen Kopf hinweg, hinter das große Bett. Jetzt erst drehte er sich zur Seite und sah den Grund für Siris unsanfte Begrüßung: links klebten Rina und Juls, rechts Christy an ihm! „WA..!? Was macht ihr denn hier!?” „Das wüsste ich auch gerne!”, Siri stampfte im Raum umher, „Da bin ich mal für eine Nacht weg und unser Romeo hier muss gleich mal drei Putzen abschleppen!” Hochgradig beschämt schubste er die Haushälterinnen aus dem Bett, ehe er sich versuchte zu verteidigen: „Es ist nicht so, wie du denkst! Ich weiß gar nicht, was gestern Nacht passiert ist, das-” „Hä?”, Siri schlug sich die Hand ins Gesicht, „Oh man, was in aller Welt Airas habt ihr gestern Nacht eigentlich getrieben!?” Da ertönte eine dritte Stimme vom Flur: „Wir haben nur angestoßen.”, als Avrial ins Zimmer kam. Ein wenig überrascht zog auch er beim Anblick seiner drei Haushälterinnen eine Augenbraue hoch, behielt aber die Fassung. „Avrial!”, rief Lyze, der nun aus den Bett kroch, „Du warst gestern dabei – sag Siri was passiert ist! …Und eventuell auch mir…” „Nichts ist passiert. Wir haben mit Wein angestoßen, woraufhin Lyze in Ohnmacht fiel.” „Da! Siehst dus?” „Sag Noshyru, warum musst du dich eigentlich vor Siri rechtfertigen…?” „Na weil wir Reisepartner sind!”, Siri holte ihren Stiefel hinterm Bett hervor. „Ach so? Na, auch wenn ich mitkomme, werde ich euch gewiss nicht alles sagen.” „Moment, was?”, die junge Frau hielt inne und blickte überrascht zu Avrial. „Du hast richtig gehört: Ich werde euch begleiten.” „Ah, das ist ja wunderbar!”, ihre Freude war so groß, dass sie den Arcaner gleich umarmen musste. Sehr wohl überrascht ließ er es geschehen, fühlte aber insgeheim ein Gefühl, dass er schon lange nicht mehr hatte: Vertrautheit. Freundschaft. Wärme. Nun sah Siri auf, blickte schief in das überraschte Gesicht des Magiers. „Stimmt was nicht?” „Geh von ihm runter Siri, du machst ihm Angst!” „Er ist doch kein Hund oder so was.”, war Siris trockene Antwort. Nun löste sich Avrial von der Umarmung, schob sie leicht zur Seite: „Ja… ähm. Ich bin gekommen um zu fragen, wie es dir beim Wassergott ergangen ist. Wenn du nicht erfolgreich warst, haben wir Schwierigkeiten von der Insel zu kommen.” „Ach so! Es ist alles geklärt. Der Wassergott hat seine Frau verloren… so wie du, Avrial. Also folgendes: Der Fluch ist aufgehoben, jedoch das Wasser bleibt schwarz – es schreckt die Menschen ab, ist aber nicht tödlich.”, Siri grinste, „So hat der Wassergott seine Ruhe und die Insel Ikana bleibt fürs erste vom Krieg verschont.” „Wow.”, Lyze hatte sich umgezogen, „Raffiniert, das muss man dir lassen!” „Jap! Jetzt können wir los!”, Siri stieg über Rina hinweg, ins Bett und kuschelte sich in die Polster, „…Aber zuerst mach ich noch ein kleines Nickerchen…” Schmunzelnd verließen Avrial und Lyze den Raum – nahmen vorher die drei Putzen mit – und ließen Siri bis Mittag ihren Schlaf nachholen. Viel zu lange waren die zwei Reisenden schon an einem Ort. Sie hatten gefunden, wonach sie suchten, nun stand ihrem nächsten Ziel nichts mehr im Wege. Siri hatte dem Halbengel erzählt, dass der Wassergott die Zielangaben des Drachen der Güte noch genauer beschrieben hatte. Nun ging es los, über den Ozean zurück ans Festland, bis mittig von Desteral: an den belebtesten Ort namens Destercity. Doch vorerst standen sie unter den Mauern des Schlosses von Ikana – und verabschiedeten sich von Avrial. „Ich komme nach, sobald ich alles Nötige erledigt habe.” „Was gibt’s denn da noch zu erledigen? Dein Schloss ist ne Bruchbude!” Auf Siris Aussage hin nickte der Magier, meinte: „Ganz genau. Während meiner Abwesenheit lasse ich das Schloss renovieren. Es dauert ein bisschen, aber mit ein wenig Magie geht es sicher schneller von der Hand, als fünf Jahre lang auf die Baumeister zu warten.”, er schmunzelte, „Rina, Christy und Juls werden hier bleiben und sich um all den Rest kümmern. Und jetzt geht – ich komme nach, sobald als möglich!” Die zwei Reisenden nickten, drehten sich zum gehen um und winkten Avrial noch zum Abschied. Als sie in die Mittagssonne hinein bergab gingen, vernahmen sie noch einen mächtigen Rumms; beim Hindrehen war schnell klar, dass der linke Turm vom Schloss in sich zusammengebrochen war. Avrial zuckte darauf hin mit den Schultern. „Ich war das nicht. Na, jetzt seht ihr wenigstens wie dringend eine Renovierung nötig ist.” Nachdem Siri und Lyze das Dorf zum Hafen hin durchquerten, hatte es sich schnell herumgesprochen, dass der Herr der Finsternis bald das Schloss und die Insel verlassen würde. Es dauerte nicht lange und in den zukünftigen Generationen wurde den Kindern auch der Schluss der Sage erzählt: „Es war ein zartes Mädchen, die beschloss den Berg zu erklimmen. Sie hatte Mitleid für den Herrn der Finsternis empfunden, so stand sie bald unter den Mauern. Als sie das Tor berührte, gleich einem Sonnenstrahl, erfüllte Wärme jenen Ort. Das alte Schloss Ikanas, welches einst so unheilvoll und kalt schien, war fortan zu Staub zerfallen; und der Herr der Finsternis für immer verschwunden.” Im verwachsenen Garten, mittig des Schlosses, gut durch eine durchlässige Wand dank Magie geschützt, kniete sich Avrial zu einem alten Marmorgrab hinab. Es war nicht viel, doch legte er eine einzelne Rose bei. Für einen Moment verweilte er an dem einsamen Ort und hatte den Kopf gesenkt, um noch einmal Abschied zu nehmen. „Yne. Es ist Zeit für einen Neuanfang.”, er musste über sich selbst lächeln, „Du hättest sicher bereits vor 86 Jahren gewollt, dass ich diesen einsamen Ort verlasse. Nun, für alles gibt es einen richtigen Moment… und meiner, meiner ist jetzt gekommen.” Nun aufgestanden, drehte er sich noch einmal um, bevor er den Garten verließ: „Ich verspreche dir, dass ich zurückkommen werde.” Währendessen, zurück am Festland, schlichen Lyze und Siri durch die Büsche hin zum Wald. Immerzu hatte die junge Frau Schwierigkeiten mit den vielen Ästen – oftmals war auch Lyze der Grund; ihr schnalzten andauernd Zweige entgegen. „LYZE!”, sie fluchte nebenbei, „Noch ein blöder Ast und ich mach Kleinholz aus dir!” „Pssst!”, war seine flüsternde Antwort, „Willst du, dass uns die Dämonen entdecken?!” „Nein, natürlich nicht aber-” „Sei einfach leiser, ok?” „Dann knall du mir nicht andauernd diese blöden Äste entgegen! Gibt es denn keinen leichteren Weg zu Destercity? Vielleicht einen ohne Bäume?” „Natürlich gibt es den.”, der Halbengel kämpfte sich weiter durch das Gestrüpp, „Aber zwei Gesuchte auf offener Straße… keine gute Kombination…” „Okay. Ist gut. Ich hab verstanden… mal nur hoffen dass hier nicht ne gewaltige Schlucht oder ein Fluss voller Piranhas auf uns wartet… sonst-… LYZE!” „Was denn!?” „Du hast mir schon wieder Äste entgegen geschossen!” „Gut, machen wir es anders: Ich sage dir die Richtung und du gehst vor mir.” „Schön!” So tauschten die Zwei den Platz und hatten trotz der neuen Reihung jede Menge zu diskutieren… Was sie nicht wussten war, dass die Dämonen sie schon längst gesehen hatten. Tarrence beobachtete sie, seit sie wieder am Festland waren. Es war hart so lange an einem Ort zu campieren, aber die Mühe hatte sich für ihn gelohnt. „Gebieter… sollten wir sie nicht einfangen?” Tarrence drehte sich zu seinem Dämonenkrieger um und schüttelte den Kopf: „Nicht nötig. Es soll nicht auf einen Kampf hinaus laufen, bei dem am Ende unsere Krieger verletzt werden…”, er schaute schmunzelnd in die Richtung, in die Lyze und Siri gingen, „Nur Geduld. Bald haben wir Siri in unserer Hand; auch ganz ohne Kampf…” Kapitel 20: Die vergessene Liebe -------------------------------- „Der Himmel…? Dieser Hochnebel…“, Siri drehte sich, spürte wieder dieses Gras unter ihren Füßen. Immerzu kam ihr dieser Ort bekannt vor und doch wusste sie, dass er nicht real sein konnte. „Ich träume wieder…“ Doch dieses Mal war etwas anders. Sie konnte mehr von ihrer Umgebung erkennen, als in den Träumen davor: mittig wieder der weiße Springbrunnen, blaues Wasser. Das Gras gepflegt, seitlich eine Bank aus Stein. Um sie herum hohe Mauern, nur der Himmel, Wolkenverhangen, war sichtbar. Es war ihr schnell klar geworden: sie musste sich in eine Art Garten einer Festung, eines Schlosses, oder ähnlichem befinden. Ehe Siri überlegen konnte, spürte sie wieder den ihr aus Träumen bekannten Mann hinter sich stehen. Lächelnd drehte sie sich um, wollte ihn fröhlich begrüßen – jedoch packte er ihre hochgehobenen Arme und schien aufgeregt: „Gehe nicht!“ „Gehen…?“, Siri blinzelte, in das ihr noch immer undefinierbare Gesicht, „Wohin gehen?“ „Du darfst nicht weggehen!“ „Ja, aber… das ist ein Traum, wohin sollte ich denn gehen wo-“ „Snowwitch.“ „Hä? …Schneehexe?“, das Mädchen befreite sich erstmals aus seinem Griff und seufzte tief: „Haach… ich wünschte du würdest nicht in Rätseln sprechen… kann ich das Gespräch hier nicht irgendwie beeinflussen?“, sie suchte umher, „Immerhin ist das ja mein Tr-“ „…Wenn eine Seele in ihrer Gewalt ist, ist sie für immer verloren!“ Langsam wurde ihr das verwirrende Gespräch zu viel – sie wollte gar nicht mehr wissen, wo sie sich befand, oder wer genau mit ihr redet. Als sie sich „Ich will hier raus.” dachte, nahm der Mann erneut ihre Hand, doch dieses mal sanfter: „Ich weiß es ist verwirrend… aber merk dir meine Worte! Höre auf mich – dieses letzte Hindernis ist unserem Wiedersehen im Weg…”, er griff nach dem türkisen Stein um ihren Hals, „Vergiss nicht, dass er in deinem Besitz ist. Dann werden wir uns schon bald wieder sehen… und dieser Traum wird der Letzte gewesen sein…” „Was? Nein!” Rückwärtsgehend löste sich der Mann in Luft auf und gab Siri das Gefühl, ihn nie wieder sehen zu können. Ehe sie ihm nachlaufen konnte, verwischte nun auch der Garten um sie, bis sie schließlich im schwarzen Nichts stand – und erwachte. Sie öffnete ihre schweren Augen und rieb sie sich murmelnd. Neben ihrem kleinen Schlafplatz lag die längst verglimmte Feuerstelle und auf dessen andere Seite lag Lyze, der noch schlief. Es muss früh gewesen sein, denn für normal war es der Halbengel, der Siri aufweckte – und dabei schon längst die Schlafplätze, also die Decken eingeräumt hatte. So setzte sie sich auf, seufzte einmal tief und begann über diesen besonders merkwürdigen Traum nachzudenken. Es war immer der gleiche Ort gewesen. Immer war der Himmel Wolkenverhangen. Eventuell war dieser Ort doch real… und eine Erinnerung, anstatt Einbildung… Während Siri in ihren Gedanken versunken war, setzte sich auch Lyze auf, der jeden Morgen sich neu zu orientieren schien. Nachdem ihm wieder klar war, wo er sich befand, blickte er zu dem Mädchen hinüber, das scheinbar noch vor ihm wach geworden war. „Uhm… hast du schlecht geschlafen, Siri?” „Was..? Ach, nein.” „Dann vielleicht schlecht geträumt?” „Auch nicht.”, sie senkte den Kopf und hatte somit verraten, dass hierbei etwas nicht stimmen konnte. Nur seufzend stand der Halbengel auf, beutelte seinen Schlafplatz aus und faltete ihn anschließend klein zusammen. „Du musst es mir nicht sagen, wenn du nicht willst. Irgendwann erzählst du es mir sowieso – ich kenne dich doch.” Und wie aufs Stichwort begann Siri, die langsam auch wach wurde, zu reden: „Ich hatte wieder diesen Traum, zum dritten Mal.” „Na also.”, Lyze packte nur mehr schmunzelnd die Decke in die Tasche. „Im ersten Traum verriet mir die Person, wo sich der türkise Stein befand, wenn du dich erinnern kannst. Beim zweiten Mal bekam ich den Hinweis, am Ziel zu sein… und jetzt warnte mich der dritte Traum.” „Und vor was?”, er zog an der Decke, auf der Siri saß, „Steh mal auf.” Nickend erhob sie sich und ging ein wenig zur Seite: „Ich weiß auch nicht, die Person faselte was von ‚Ich soll nicht weggehen’ und ‚Sie wird deine Seele verschlingen’.”, anschließend zuckte Siri mit den Schultern. „Aha… keine Ahnung.” Abermals seufzte Siri und lehnte ihren Kopf gegen einen Baum: „Dann sind wir schon zwei.” Alles war eingepackt und zur Weitereise bereit. Wie sonst auch ging Lyze voran und gab die Richtung vor, doch schon nach ein paar Metern war ihnen ein Strauch im Weg, dessen Ast mal wieder auf Siri zurückschnalzte; so wechselten sie wieder die Position und die junge Frau ging voran. Hier und da raschelte und knisterte es bedrohlich hinter, vor, oder neben den Beiden, doch immer konnte Lyze genau sagen, dass es sich hierbei um irgendein Waldtier handelte. Siri hatte beim Geräusche erkennen Probleme, weshalb sie bei jedem kleinen Knistern aufschreckte – und dem Halbengel bei seiner Diagnose einfach vertrauen musste. Nach einer Weile des durch den Wald Kämpfens konnte Siri etwas durch die Büsche blitzen sehen, weshalb sie vorerst stehen blieb. Direkt hinter ihr blieb jetzt auch Lyze stehen und sah an ihrer Schulter vorbei: „Was hast du denn?” „Da vorne ist etwas… sieht aus wie… eine alte Mauer?”, sie drehte sich zu ihm, „Kann das schon Destercity sein?” „Nein… das kann nicht die Stadt sein, wir sind noch nicht so lange auf den Beinen.”, er zwängte sich an Siri vorbei, hindurch auf die andere Seite. Dort drüben angekommen, blieb er angewurzelt stehen und blickte fassungslos im Halbkreis. „Lyze?”, sie zwängte sich nach, „Ist alles in Ordnung? Keine Dämonen oder gefährliche Raubtiere..?” Auch sie blieb stehen, neben Lyze und sah überwältigt umher. Alles was sie hervorbringen konnte, war ein „Wow”. Vor ihnen lag eine gewaltige Ruine. Alte, umgestürzte Säulen, Steinmauern, zerbröselte Häuser und Wege. Einzig ein riesiger, hoher Turm im Zentrum schien ganz geblieben zu sein. Nur kurze Zeit später schüttelte Lyze den Kopf, drehte sich von diesem Anblick weg: „Lass uns weitergehen. Hier gefällt es mir nicht.” „Weiter?”, Siri blickte zu ihm, anschließend zur Ruine, „Meinst du rundherum? Wäre es nicht leichter, direkt hindurch zu gehen? …Außerdem könnten wir hier bleiben und auf Avrial warten-” „Nein.”, Lyze ging zurück, „Wir können auch woanders auf ihn warten.” Etwas stimmte nicht. Siri merkte, dass sich Lyze beim Anblick dieser Ruinen nicht wohl fühlte. „Kennst du diesen Ort?” „Ich kannte ihn; bevor er so aussah wie jetzt. Lass uns einfach zurückgehen und einen anderen Weg einschlagen, in Ordnung?” Gerade als Siri ein „Ok!” nickte, riss der Halbengel seine Augen auf und lief an ihr vorbei. Als Siri mitbekam, was überhaupt los war, kam er bereits beim Geschehen an: Dämonen! Sie verfolgten scheinbar jemanden, quer durch die Ruinen. „Hey, warte!”, sie lief ihm zwar nach, versteckte sich aber hinter einem Steinbrocken und lotste zum Kampfgeschehen hervor. Es waren zwei Dämonen – ein Schwertkrieger und ein großer Typ mit Hammer gewesen. Wie sollte Lyze gegen zwei von denen ankommen? Immer wieder sah Siri, wie er Schwerthieben und dem großen Hammer auswich. Hier und da wehrte er sich mit seinem erschienenen Lichtschwert, doch die meiste Zeit nutzte er nur seine Geschwindigkeit aus. Natürlich wusste Siri, dass sie ihm helfen musste; aber wie? Sie entdeckte neben sich einige Steine liegen, die sie nacheinander nahm und auf die Dämonen zur Ablenkung warf: „Verschwindet!” Beim siebten Steinchen werfen hörte sie ein Stückchen weiter weg eine Person völlig aus der Puste atmen. Geduckt kroch sie rüber, schaute hinter einen weiteren Fels: Es war eine junge Frau, etwa im selben Alter, die erschöpft und verängstigt am Boden saß. „Hey-” Siri kam zu ihr, „Geht es dir gut? Du brauchst keine Angst mehr zu haben, wir sind jetzt da.” Das Mädchen mit den langen, seidigen schwarzen Haaren schaute zu Siri und nickte dankend. Sie schien von einer adeligen Familie zu kommen: ihr Kleid war detailliert schwarzweiß verziert, ihr Haarreif mit Juwelen ausgeschmückt und ihre Haut blass. Durchaus war Siri über ihren Anblick verwundert, während sie noch einmal zum Kampfgeschehen schaute, fragte sie: „Was macht jemand wie du an so einem Ort?”, sie drehte sich wieder zu ihr, „Woher kommst du?” Das gefundene Mädchen spielte nervös mit ihren Händen, stammelte leise: „Ich… habe etwas gesucht… aus meiner alten Heimat…” „Alten Heimat?”, kaum hatte Siri ihre Frage beendet, waren Schreie zu hören. Sie sah erneut zum Kampfgeschehen und stellte fest, dass Lyze die zwei Dämonen in die Flucht geschlagen hatte. Nur mehr mit hochgezogener Augenbraue stand sie aus ihrem sicheren Unterschlupf auf und schaute fragend zum schnaufenden Halbengel. Er aber hob die Schultern und konnte auch keine Antwort darauf geben, wieso zwei überlegene Dämonen einfach so weglaufen – denn es gab kein Erdbeben, Katastrophe oder sonstige Gefahr, weit und breit Stille. So entschloss er sich den Kampf sein zu lassen und zu seiner Reisegefährtin zu kommen. „Mein Name ist Siri.”, lächelte sie zu der sitzenden jungen Frau, bot dabei ihre Hand als Hilfe zum Aufstehen an, „Wie ist deiner?” „…Limiu.”, der Name kam nicht aus ihrem Mund. Siri drehte sich um, als sie den Halbengel zögernd stehen sah. Auch das adelige Mädchen schien sehr überrascht, bevor sich ein überglückliches Lächeln in ihrem Gesicht ausbreitete – „Lyze!”, dann von selbst aufstand und ihm wortwörtlich in die Arme fiel. Kapitel 21: Der geschriebene Satz --------------------------------- Fassungslos stand Siri neben den beiden, deutete hin und her: „Er- sie- ihr kennt euch!?” Die zwei sich endlich wieder Gefundenen gaben keine Antwort. Jedenfalls nicht sofort, denn sie waren damit beschäftigt, sich fest zu umarmen und nie wieder loszulassen. Dann, nach einigen Sekunden, versuchte Siri erneut zu fragen, wedelte mit der Hand vor Lyze umher: „Haa-lloho! Siri an Lyze!” „Was? Oh-”, endlich ließ das Pärchen von einander ab, „Ja, wir kennen uns.” Trocken nickte Siri, „Ja, das sehe ich. Und woher? …Zombie.” „Zombie?” „Ach nichts.”, sie verschränkte die Arme und setzte sich ein wenig beleidigt auf eine umgestürzte Säule. „Weil du nicht reagiert hast.” Das adelige Mädchen, Limiu, kicherte über Siris Verhalten und deutete auf den Turm der Ruine. „Lasst uns hinein gehen. Unterwegs können wir dir erklären, woher wir uns kennen!” Nickend folgte ihr Lyze, mit ihr Händchen haltend, Siri kam nach. Es gefiel ihr nicht, dass die zwei so verblendet waren. Nicht, dass ein Wiedersehen nicht schön wäre, aber vor dem Kampf wollte Lyze einen weiten Bogen um die Ruinen machen – und nun führte sie der Weg direkt ins Herz der Ruine: in den Turm. „Limiu ist hier geboren worden.”, der Halbengel sah dabei nach hinten zu Siri und strahlte dabei wie schon lange nicht mehr. „Ich war damals nur der Gast. Als ich meine Familie verloren hatte, war ich lange Zeit auf mich allein gestellt und irrte ganze zwei Jahre durch Desteral. Eines Tages, als ich nicht mehr konnte, sah ich die hohen Mauern dieser Stadt… zu der Zeit war sie wunderschön. Ich brach noch vor den Toren zusammen, erwachte allerdings in einem warmen Bett. Der Fürst dieser Region hatte mich bei ihm aufgenommen – ausschlaggebend dafür war Limius Bitte an ihn; sie ist seine Tochter gewesen.”, Lyze musste lachen, „Wir waren Kinder, aber schon damals war das Zusammensein schön.” „Ja – nur leider…”, begann Limiu. „Leider entschloss ich mich nach drei Jahren weiter zu ziehen. Für gar nicht lange, ich wollte zurückkehren. Doch das Reich befand sich mit dessen Nachbarreich untereinander im Krieg – und als ich erneut vor den Mauern stand, war alles zerstört.”, er blieb stehen und senkte den Kopf, „Schon wieder musste ich mit ansehen, wie meine Heimat abbrannte.” Gerade als Siri tröstend eine Hand auf seine Schulter legen wollte, mischte sich Limiu dazwischen und hob sanft seinen Kopf, um ihm ins Gesicht sehen zu können. „Sei nicht traurig… mir geht es gut. Ich konnte fliehen, bevor mich dasselbe Schicksal wie meinen Vater ereilte.” „Ach ja?”, wieder verschränkte Siri die Arme, „Und wo lebst du jetzt?” „In Destercity…”, Limius Antwort war leise. „Bist du so eine Art Berühmtheit dort? Für ein Fürstenkind, das seine Heimat verloren hat, bist du ziemlich schick angezogen.” „Siri!”, der Halbengel schien verärgert, „Das reicht, sei nicht so gemein.” „Ich bin nicht gemein! …War doch nur eine Frage.” Im Turm angekommen, konnte man gut erkennen, dass dieser einst das Zentrum der Stadt gewesen sein muss. Von Innen wirkte er größer als von Außen, nicht zuletzt besaß er einen hohen Innenkern, an dessen Spitze ein Turmraum war, zu dem man mit einer langen Wendeltreppe, die rund um die Innenwand des Turmes führte, gelangte. Damals gingen hier viele Menschen aus und ein, viel wurde hier verhandelt, viel besprochen. Doch nun glich er einer ähnlich vernachlässigten Behausung, wie dem Turm von Avrials Schloss. Apropos Avrial: Als Siri erneut fragte, wo sie denn nun auf ihn warten würden, konnte man sich die Antwort darauf bereits ausmalen: hier im Turm. Diese Wartezeit war immer noch lang – und jetzt, wo Limiu bei ihnen war, schien die Zeit für Siri noch langsamer zu vergehen. Sonst konnte sie mit Lyze über alle möglichen Dinge diskutieren, doch seitdem seine verlorene Liebe dabei war, fühlte sie sich oftmals ausgeschlossen. Zu Mittag gab es ein paar Sandwichs, die die zwei Reisenden aus Avrials Küche mitgenommen hatten. Sie waren jetzt zu dritt und Lyze bestand darauf, dass Limiu auch etwas von dem Proviant abbekommt; somit musste Siri ein halbes Sandwich reichen. Als die zwei dann nach Mittag anfingen mit einander zu turteln, suchte Siri das Weite und versuchte, eine Beschäftigung zu finden. Sie trottete im Turm umher und fühlte sich dabei etwas verletzt – wieso sie dies allerdings empfand, war ihr nicht klar. Sie strich etwas neben sich stehend im Erdgeschoss mit der Hand über die alten Steinwände und begutachtete dabei die eingravierten Verzierungen, Formen und Gestalten. Unter anderem waren da Krieger auf Pferden, die gegen andere Menschen kämpften. Auch die damalige Stadt mit dessen hohen Turm im Zentrum war in der Mauer eingraviert. Knapp neben dem Eingang nach draußen strich Siri erneut über die Wand und drückte dabei unbeabsichtigt einen Stein ins innere – Kaum wurde ihr klar, was gerade geschehen war, verschob sich eine Steinplatte des Bodens und gab eine lange Treppe nach unten frei. Ein geheimer Gang? Die Katakomben? Vielleicht ein Gefängnis…? Überaus neugierig – und da im Moment sowieso nichts Besseres zu tun war – stieg Siri die alte, verstaubte Steintreppe ins Finstere hinab. Unten angekommen, tastete sie sich durch, bis hin zu einer Fackel, die an der Wand hang – nur leider hatte sie nichts, um sie anzuzünden. Leicht verärgert, fragte sie sich selbst was passiert, wenn sie die Kette abnimmt und vor sich in die Dunkelheit hielt. Siehe da: der türkise Stein leuchtete heller als sonst und erfüllte Siris Umgebung mit schwachem Licht. So ging sie voran, den engen, stickigen Weg. Es ging immer weiter und weiter – langsam kam Siri der Gedanke, sie habe den Fluchtweg der Stadt gefunden. Theoretisch müsste sich dann das andere Ende des Ganges außerhalb der Stadt befinden. Doch der Endpunkt, an dem sie ankam, war keineswegs eine versteckte Treppe in die Freiheit, sondern ein kleiner Raum im Untergrund, irgendwo im nirgendwo. Höchst skeptisch leuchtete sie mit ihren kleinen Stein umher, durchsuchte die Gegend: Tische, Regale, Betten. Alles leer und verstaubt. Vielleicht eine Art Bunker für Notfälle? Die junge Frau begann den Stein nach unten zu richten, um zu sehen woraus der Boden bestand – graues Gestein. Doch genau in diesem Moment bekam Siri so einen Schreck, dass sie ihren Stein fallen ließ: denn überall lagen Gebein und Schädel von längst verstorbenen Menschen. Kurz gefror ihr das Blut in den Adern, bevor sie sich auf die Suche nach ihrem türkisem Stein machte. Er war bei einem an der Wand gelehntem Skelett gelandet, der scheinbar mit einem Buch und einer Schreibfeder in der Hand gestorben war. Vorsichtig kniete sich Siri hinab, nahm den Stein und leuchtete zum vergilbten Buch, um zu lesen, was da drinnen geschrieben stand. „Oh, mitgeschriebenes der Vergangenheit…”, stellte sie fest. Ihr kam der Ort noch immer unheimlich vor, doch setzte sie sich neben das Skelett, nahm ihm das Buch aus den toten Händen und begann, daraus zu lesen. „Oh je.”, sie drehte den Kopf zum Toten, „Mitten in der Kriegszeit, du Armer.”, nur mehr seufzend lehnte sie sich gegen die Wand und las ein paar weitere Zeilen: „Die Mauern sind schon seit gut drei Tagen zerstört. Feuerpfeile und Katapulte haben begonnen, die Innenstadt zu verwüsten. Frauen und Kinder wurden zu den Bunkern gebracht, zumindest die, die noch halbwegs gehen konnten. Ich selbst habe nur eine Fleischwunde am Oberschenkel, doch das tut wohl auch nichts mehr zu Sache – denn uns geht die Nahrung aus. Unser Fürst ist bereits am ersten Tag des Angriffes gefallen, nur unsere kleine Fürstin konnte sich zu uns in die Bunker retten.” Hier war ein Absatz. Ein neuer Eintrag begann: „Ich bin schwach. Meine Wunde hat sich verschlimmert, sie sieht aus, als würde sie schimmeln… von den zehn Personen, die mit mir in diesem Bunker lebten, sind nur noch wir drei am Leben. Die Schreie aus der Umgebung verstummten gestern bis zur letzten Frau. Ich bin mir nicht sicher, ob unsere Feinde die Überlebenden in diesem Moment getötet haben, oder der Schrei eher der Aufmerksamkeit nach Hilfe galt. Jedenfalls schwächt meine Hoffnung, jemals wieder Tageslicht zu sehen, immer mehr… ich fürchte, wir drei sind die letzten Überlebenden der Stadt-” der Rest war unleserlich. „Ach du- heilige…”, Siri sah bleich auf, als ihr klar wurde, was wirklich geschehen war, warum auch Lyze zuerst überhaupt nicht die Ruinen betreten wollte: es gab keine Überlebende. „Doch wieso…”, sie blätterte eine Seite zurück und las noch einmal den Absatz: „Unser Fürst ist bereits am ersten Tag des Angriffes gefallen, nur unsere kleine Fürstin konnte sich zu uns in die Bunker retten.” „In die Bunker?”, sie überlegte, „Sagte sie nicht, sie wäre nach Destercity geflüchtet…?”, dies hätte zur Folge, dass Limiu eigentlich nicht mehr leben durfte… Aber vielleicht hatte sich der Mann bei seiner Schreiberei geirrt? Limiu könnte im Geheimen geflohen sein – nur weshalb sollte der Mann alles so preziöse ausdrücken und sich ausgerechnet bei seiner eigenen „kleinen” Fürstin irren? Siri schlug das Buch zu. Sie hatte den Beschluss gefasst, es mitzunehmen und den beiden Verliebten vorzulegen; vielleicht konnte Limiu mehr dazu sagen. So ging sie den langen Gang zurück, die Treppe hinauf und stand wieder im Hauptturm, als sich hinter ihr der Steinboden zurück verschob und den Eingang nach unten versperrte. Kurz blieb sie stehen und lauschte, woher das Gerede ihrer Kameraden kam – von oben. Eine Stufe nach der anderen ging sie hinauf, bis zum oberen Raum des Turmes. Sie stand schnaufend an der Schwelle und stellte fest, dass dieser Raum in luftiger Höhe – mit großem Buntglasfenster – so etwas wie der Thronsaal, oder der Regierungsraum war. Ein alter, prunkvoller Thron an der rechten Wand, der Boden mit feinen Fliesen belegt, formten zum Zentrum hin ein kreisförmiges Muster; hinten beim großen Bundglasfenster stand Lyze. Er drehte sich um, „Ah, Siri! …warum schnaufst du denn so? Bist du gelaufen?”, und deutete umher, „Ist das nicht toll? Es hat sich fast nichts verändert. Sieht genau aus wie damals, als Limiu und ich-” „Lyze, sei mal still.”, sie kam zu ihm und öffnete das Buch, „Das hier habe ich gefunden. Es schrieb ein Bewohner des Reiches hier… kurz vor seinem Tod.”, sie deutete auf die paar Zeilen, „Er starb, Lyze. So wie absolut jeder in diesem Land – sie sind alle verhungert, verbrannt und ermordet worden… auch Limiu.” Der Halbengel musste, so tragisch das Buch auch war, auflachen. „Das ist doch albern.”, er schüttelte den Kopf, „Limiu ist nicht tot. Sie lebt!” Dies sagte er so überaus fröhlich. „Siri, sie lebt – sie steht im Nebenraum und denkt darüber nach ihr Reich wieder aufzubauen!” „Das ist toll! Dann kann es ja, wenn Avrial eingetroffen ist, endlich normal weitergehen.” „Genau! Ihr werdet in einem Tagessprung in Destercity sein, ohne Umwege!” „Ihr?”, Siri senkte das Buch und glaubte, sie habe sich verhört. „Jap. Du und Avrial.” Ungläubig konnte sie nur den Kopf schütteln, sie verstand nicht: „Du willst doch nicht etwa hier bleiben, oder? Wenn du dich erinnerst, wir haben ein Ziel, dass wir erreichen müssen-” „Dass du erreichen musst.”, zufrieden drehte er sich dem Glasfenster zu, „Ich habe meines gefunden…” „Lyze, du-”, sie fand keine Worte, „Du bist total verblendet! Ich weiß zwar nicht, wer diese Frau ist, aber Limiu würde dich sicher gehen-” Da drehte sich Lyze sonderbar verärgert um, sprach im lauten Ton: „Ich – bleibe – bei ihr!”, er schritt auf sie zu, „Warum willst du nicht wahrhaben, dass wir unser altes Glück gefunden haben?”, er schlug ihr das Buch aus der Hand, „Wegen dem Schrott hier?! Du glaubst einem Buch von einem Toten mehr? Das ist dumm, Siri!”, er drehte sich abermals um, schritt zurück zum großen Glasfenster, „Geh einfach! Du kannst genauso gut draußen warten.” Das war heftig. Überaus geschockt von seiner Reaktion starrte Siri, den Tränen nahe, hinab zum Buch. In der gesamten Zeit, die sie miteinander verbrachten, hatte sie Lyze noch nie so erlebt – er war so fremd… „Und was wird aus Aira… deiner kleinen Schwester…?”, ganz leise hallte diese Frage durch den Raum, erreichte den Halbengel zwar, doch Siri bekam keine Antwort. „GUT!”, sie schrie aus sicherer Entfernung zurück, „Ich gehe, alleine! Bleib doch bei deiner glücklichen Erinnerung, bis ans Ende deiner Tage… es ist mir egal! EGAL, hörst du!?” „Lyze?”, langsamen Schrittes kam Limiu in den Raum, „Ist alles in Ordnung bei euch?” Er nickte, noch immer mit dem Gesicht zum Glasfenster. „Sie wollte gerade gehen.” Sanft nahm sie ihn in ihre Arme, strich ihm durchs blonde Haar. Dann starrte sie, finster lächelnd, zu Siri nach hinten. „Gehe. Du hast hier nichts mehr verloren, Kleine.” Und Siri ging. Nicht, weil Limiu es sagte, sondern weil sie diesen Anblick nicht mehr ertragen konnte. Sie stieg mit Tränen in den Augen die Treppen hinab und hinaus, ins Freie. Alleine. Kapitel 22: In der Gewalt einer Hexe ------------------------------------ Zurückgewiesen. Verscheucht. Alleine… Die junge Frau, welche gerade die steinigen Stufen des Turmes hinuntergetaumelt war, wischte sich eine Träne von ihrer Backe, ehe sie durch das offene Tor hinaus ins Freie schritt. „Gehe nicht…!” Starr blieb sie stehen, denn etwas hallte in ihr wieder. Es war die Stimme dieser vertrauten Person aus ihren Träumen. Doch zum Nachdenken kam Siri nicht. Sie schaute auf und musste mit Entsetzen feststellen, dass um den Eingang des Turmes der Ruine jede Menge Dämonen aufgestellt waren. Als sie nervös durch die Runde blickte, starrten und belächelten sie spöttisch die Fratzen der Krieger, rührten sich aber nicht vom Fleck. „Was – was wollt ihr denn?!”, ohnehin schon verwirrt, verstand sie die Welt nicht mehr. „Komm, Siri.”, da war Ritter Tarrence, der langsam aus der Menge schritt und ihr die Hand anbot, „Es ist vorbei.” „Was? Nein!” „Weigere dich nicht. Es ist niemand mehr hier, der dich beschützen könnte; lass uns gehen.” Nun begann das Mädchen zu verstehen. Wieso die zwei Dämonen zwar Limiu jagten, aber dann flohen… „Das war eine Falle…!”, sie ging kleine Schritte rückwärts, „Das war von Anfang an geplant, um uns zu trennen!” Tarrence konnte Siri nur belächeln – viel zu spät hatte sie es bemerkt. „So ist es. Du kannst auch nichts mehr für ihn tun. Lass uns gehen.” „…Nichts mehr für ihn tun? Was mein-?”, da traf es Siri, wie ein Blitz und die Warnung aus ihrem Traum wurde lauter: „Snowwitch…”, sagte sie, zuerst leise. „Snowwitch! Wenn eine Seele in ihrer Gewalt ist, ist sie für immer verloren!” Unerwartet lief sie auf Tarrence zu, schlug ihm mehrmals auf die Brustrüstung: „Tarrence, du Monster! Du Monster!!“ „Beruhige dich-” „Du Monster! Ich hasse dich!!”, in ihrer Wut schlug das Mädchen mit all ihrer Kraft auf ihn ein, dies brachte allerdings wenig – außer dass sie dem Nervenzusammenbruch immer näher kam, schließlich auf die Knie sank und begann, zu weinen. Dies wiederum brachte Gelächter in die Dämonenrunde und führte dazu, dass die Krieger endlich mal wieder Spaß hatten. „Hört auf!”, schallte es schließlich von Tarrence, der dies ganz und gar nicht als witzig empfand. Er beugte sich hinab und zog Siri mit einem Arm zurück auf ihre müden Beine. Anschließend drehte er sich zu der Meute und deutete mit einer klaren Kopfbewegung an, dass die Reise weiterging. Die Reise ging auch weiter – ganze zehn Schritte. Dann fielen nämlich auf einmal die vordersten Dämonen um und bewegten sich nicht mehr. „Was ist das?”, Tarrence schaute hinauf zu den Bäumen und zu den Büschen, „Da ist doch jemand… zeige dich!” Wie auf Befehl raschelten kurz die Büsche auf, als Avrial gelassen hervorkam. Bei seinem Anblick verzerrte sich Tarrences Gesicht zu einem müden Lächeln. „Tse. Ein Arcaner, das fehlte uns gerade noch… Was willst du?” Sich räuspernd richtete er seinen Hut, ehe sein starrer Blick dem verzweifelten Mädchen galt. Mit nur einer Handbewegung machten sämtliche Dämonen, die dabei waren ihn zu bedrängen, einen weiten Flug zur Seite. Sofort danach bewegte er sich mittels Magie so schnell am Ort, dass er für keinem Anwesenden mehr zu sehen war, Siri beim vorbeikommen mitnahm und mit ihr vor dem Eingang des Turmes wieder auftauchte. „Ich will Freiheit für Siri.” Dies sah der überraschte Dämonenanführer gar nicht gerne. Immerhin war er im festen Glauben, Siri endlich alleine erwischt zu haben – und dann tauchte dieser Typ auf. Zornig zog er sein blasses Schwert aus dem Hüfthalter heraus, deutete mit ihm auf den Arcaner: „Tötet ihn!” Sofort liefen die Muskelbepackten Krieger, brüllend, mit deren Waffen auf Avrial zu, der sich schützend vor Siri stellte und schnell mit kurzen Handbewegungen ein durchsichtiges Schutzschild um sich errichtete. Er hielt die linke Hand angespannt in die Richtung der Angreifer, um das Schild aufrecht zu erhalten, mit der anderen stieß er Siri sacht näher zum Eingang des Turmes. „Schnell! Du musst dich beeilen, Siri!” „A-aber was wird aus dir?!” „Ich komme klar.”, er stieß schwungvoll das Schild gegen die Meute, die darauf hin zu Boden gingen, „Lauf, du musst Lyze aus den Klauen der Schneehexe befreien!” „Das kann ich nicht!”, sie schluchzte, „Das schaffe ich nicht alleine, es ist zu spät!” „Es ist nicht zu spät. Glaube mir, ich wäre nur im Weg.”, Avrial ging in Kampfpose, bereit die nächsten Dämonen abzuwehren, „Lauf endlich! Du bist die einzige, die ihm jetzt noch helfen kann!” Doch sie stand immer noch da. Den Glauben an sich selbst hatte sie längst verloren. Kleinlaut senkte sie den Kopf und schüttelte ihn leicht. „Lauf!”, erneut stieß er sie ein Stück, „Tue es, oder es wird tatsächlich zu spät werden!” „Avrial…”, traurig sah sie auf, seufzte leicht. Einen kurzen Moment verweilte sie noch an ihrem Platz, dann gab sie sich einen Ruck, nickte: „Danke!”, und lief los. „Das war ein schwerer Fehler, Arcaner.”, Tarrence schnaufte ein wenig, seine Wut war ihm sichtlich ins Gesicht geschrieben. Weiter vorne kämpfte Avrial immer noch gegen die Krieger. Es sah fast elegant aus, wenn er gegen fünf dieser Kerle kämpfte, geschickt mit einer Umdrehung auswich, zur Seite wanderte und hier und da mal einen Dämonen mittels Magie in den Boden stampfte, gegen altes Gemäuer warf und seine Hand gegen den Dämonenkörper stieß, worauf dieser von unsichtbarer Kraft zu Boden gerissen wurde. Als langsam keiner mehr übrig war, der ernsthaft kämpfen konnte, putzte Avrial seinen Mantel ab, ehe er zum Dämonenanführer blickte: „War das alles?” „Oh nein.”, Tarrence riss sich seinen schwarzen Umhang von den Schultern und knackste mit den Fingern seiner rechten Hand, „Wir fangen gerade erst an.” Inzwischen eilte die junge Frau erneut die Stufen des Turms hoch. Beim ersten Mal wurde sie verscheucht – doch diesmal würde sie nicht ohne Lyze das alte Gebäude verlassen. Kurz stolperte sie, wäre fast die Stufen hinab gefallen; es war Glück, dass sie sich auf den Beinen halten konnte und weiterlief. Oben angekommen, bremste sie sich am Eingang zum alten Thronsaal ein und suchte umher. „Lyze, wo bist du!?” Keine Antwort. „Lyze!”, sie ging in den Raum, doch er war nicht da. Erst als Siri sich erneut umdrehte, tauchte Limiu aus dem Nebenraum auf. „…Suchst du etwas?” Auf ihre Frage ging sie nicht ein. Sie wusste nun, dass Limiu schon lange nicht mehr lebte und diese Person vor ihr ein Dämon, eine Schneehexe war. „Wo ist Lyze?”, ernst schauend stand sie da, machte nicht den Eindruck wieder gehen zu wollen. „Ohh.”, die Hexe grinste, als sie ihre Hand ins Nebenzimmer ausstreckte und Lyze hereinführte. „Du meinst ihn hier?” „Lyze…!” Etwas war anders. Etwas, das einem verriet: hier fehlte doch etwas. Tatsächlich blickte durch seine verschieden farbigen Augen kein Leben. Er bewegte sich, ohne seine Umgebung zu beobachten; er sah einfach unheimlich aus. Sacht setzte sich die Hexe in Limiu-Gestalt auf den Thron, führte an ihrer Hand den Halbengel herbei. Als er sich neben ihr zum Thron stellte, war Siri bewusst, dass Lyze jeden freien Willen verloren hatte. „Los, hole deine Waffe!”, Tarrence hatte sein Schwert gezogen und wollte Avrial zu einem Zweikampf herausfordern. Er aber schaute schief durch seine langen Haare hinweg zu ihm und nahm langsam seinen Hut ab. „Das brauche ich nicht.” „Tse.”, leicht schmunzelnd trat der Dämonenanführer näher, „Ihr Arcaner seid so eingebildet.” Avrial lächelte jedoch nur zurück, ließ sich von seiner Provokation nicht beeindrucken: „Besser eingebildet als hochnäsig.”, legte seinen Hut zur Seite, auf eine umgestürzte Säule und kam zurück zu Tarrence. „Mir wurde von euch erzählt… Ihr seid einer von denjenigen, die direkt unter dem König stehen.”, völlig gelassen stand er da, plauderte ein wenig mit Tarrence. „Aber eines kann ich nicht verstehen.” „…Das wäre?” „Müsstet ihr Ritter nicht normalerweise auf eure Prinzen Acht geben?” „Sei still.” „Habt ihr ihn verloren, verbannt, oder ist er euch weggelaufen?” „Du sollst still sein!” „Ich weiß zwar nicht eure Hintergründe, aber glaube mir – Siri kann euch dabei nicht helfen.” „Was weißt du schon?”, Tarrence machte sich zum Kampf bereit, „Du kennst sie nicht und weißt gar nichts!”, nun holte er zum ersten Schlag aus, den Avrial mit einem Schritt zur Seite auswich. „Dann lehrt es mich. Sagt mir, was Ihr über Siri wisst, damit ich es an sie weitergeben kann-” „NEIN!”, erneut schlug Tarrence zu, „Das geht keinem außerhalb Azamuth etwas an!” Da verschwand Avrial. Kurze Zeit später stand er auf einer Hausruine und sah überlegend drein: „Ahaa… nun, da kommen wir der Sache schon näher.” „Feigling!”, der Dämonenanführer warf sein Schwert weg. Mit großen Schritten ging er auf die Hausruine zu, griff über seine Schulter hinweg auf den Rücken und zog ein mächtiges, schwarzes Breitschwert hervor. Mit einer schwungvollen halben Umdrehung schlug er gegen die Mauern auf denen Avrial stand, die zugleich in sich einfielen. Wieder sprang der Arcaner weg, landete hinter Tarrence und zog ihm mit dem Fuß ein Bein weg, worauf hin der Dämon zu Boden ging. Gerade als er mittels Magie zuschlagen wollte, rollte sich Tarrence zur Seite und sprang auf die Beine zurück. Plötzlich packten den Arcaner zwei der Dämonenkrieger von der Seite und hielten ihn fest, während ihr Anführer zu einem weiteren Schlag mit seinem Breitschwert ausholte. „Lyze, lass uns gehen! Avrial wartet unten auf uns, wir müssen ihm helfen!” „Er kann dich nicht hören, Kleine.” Durchaus war dies Siri bewusst. Doch wer sagt, dass zureden nicht hilft? „Ich weiß, du hast das vorhin mit dem Buch nicht so gemeint. Es tut mir auch leid, dich angeschrien zu haben; im Grunde ist das Buch ja auch alt – aber für normal würdest du den Büchern mehr Glauben schenken als ich.” Der Halbengel rührte sich nicht. Nicht einmal blinzeln tat er, einfach starr stand er da, neben dem Thron der Schneehexe. Höchst über Siris Mühen Lyze zu erreichen amüsiert, lachte die falsche Limiu und genoss die Vorstellung. „Lyze!”, rief die junge Frau abermals, die immer noch knapp neben dem Ausgang stand, „Komm zu mir! Bitte!” Nun schmunzelnd hob die Hexe ihren rechten Arm, „Na, ich werde mal nicht so sein.”, machte eine Handbewegung und Lyze reagierte. Er ging bis in die Mitte des Saales, im gleichen Abstand zu Siri und der falschen Limiu entfernt. Tatsächlich im Glauben nun endlich mit ihm reden zu können, lief das Mädchen zu ihm und rüttelte an seinen Schultern: „Gehen wir, los!”, dabei sah sie in seine vollkommen leeren Augen; sogleich verließ sie wieder etwas die Hoffnung. „Lyze, bitte!” „Es ist zwecklos.” Nun stand die Schneehexe langsam auf, blickte zu den Beiden rüber. „Seine Seele gehört mir. Und denke nicht, dass ich sie einfach so wieder hergebe; er ist längst nicht meine erste Trophäe…”, schmunzelnd hielt sie sich eine Hand zum Mund, „…und doch ist so eine durchleuchtete Seele nicht oft zu finden…” „Hör auf!”, Siri wurde wütend, „Er gehört dir nicht!” Wieder höchst amüsiert kicherte die Frau, dann seufzte sie: „Ach, Schätzchen. Er gehört mir bereits seit dem Moment, in dem du diesen Turm verlassen hattest.” „Das stimmt nicht!” „Oh doch. Willst du etwa mit mir streiten…?” „Nein, kämpfen!!”, auf ihre Worte hin lief Siri tatsächlich los, auf die Hexe zu – doch noch bevor Siri sie erreichen konnte, stellte sich Lyze in den Weg und schlug das Mädchen mittels Windstoss weit zurück in den Saal. Da brach die Hexe im Lachen aus: „Ahahahaha! Du willst kämpfen? Ahaha, na gut, dann kämpfe!”, sie hob den Arm und zeigte auf Siri, „Lyze, töte sie!” Und der Halbengel trat vor, bereit sie anzugreifen. Inzwischen holte Tarrence mit einigem Kraftaufwand zum Schlag aus, während Avrial fest im Griff zweier Dämonenkrieger war; scheinbar. In dem Moment, wo das Breitschwert auf ihn zuraste, schnappte er sich mit der rechten Hand den linken und mit der linken Hand den rechten Dämonen, zog sie mit etwas Hilfe von Magie vor sich – und war vor dem Schwerthieb geschützt, im Gegensatz zu den zwei Kriegern. „Das war nicht nett, Herr Ritter.” Nach seinem spielerischen Satz kam der Magier endlich an die Reihe: er stampfte mit dem rechten Bein, um Halt zu gewinnen und schlug dem Dämonenanführer fest den Ellbogen in die Magengrube. Tarrence flog darauf hin ein kleines Stück zurück, auf den Boden, stand danach aber wieder sofort auf den Beinen; knackste wieder mit seinen Fingern. „Oh.”, Avrial lächelte, „Du hältst einiges mehr aus, als dass ich erwartet habe.” „Jetzt bin ich dran!”, nun griff Tarrence an, mit allem was er hatte. Er ließ den Arcaner keine zwei Sekunden Zeit, schlug mit dem Breitschwert immer wieder zu, rechnete sich schließlich aus, wo Avrial als nächstes hin ausweichen würde; und stieß mit seinen großen Hörnern des Kopfes zu. Wie von einem Rammbock gestoßen, ging der Arcaner durch den Rückstoß zu Boden und spürte, dass da etwas in seinem Brustbereich nicht stimmte. Tatsächlich breitete sich ein Blutfleck durch seine Kleidung hindurch aus. „Ah…”, Avrial stand langsam zurück auf die Beine auf, hielt sich dabei die Hand an die Brust. „Wie unfair…” „Erzähle du mir nichts von fair.”, stolz schritt Tarrence auf ihn zu, „Ihr Arcaner mit eurer ach so tollen Magie… glaubt auch, ihr wäret deswegen das stärkste Volk der Welt.”, und holte abermals zum Schlag aus: „Lebe wohl!” Genau auf diesen Zeitpunkt hatte Avrial gewartet. Er mag verletzt gewesen sein, aber noch lange nicht bewegungsunfähig: blitzschnell drehte er sich an Tarrence vorbei, während der Dämon sein Breitschwert daneben im Boden versenkte; und riss ihm sein rechtes Horn ab. Das war die Schwachstelle. Von Schmerzen geplagt, ließ Tarrence sein Schwert los, griff sich auf den Kopf und sank in die Knie. „Ahhrg – Du verdammter…!” „Verdammter was? Magier?” Dies ließ sich Tarrence nicht gefallen. Keuchend nach dem Griff seiner Klinge gefasst, holte er – taumelnd – zu weiteren Schlägen aus. Stark geschwächt und irritiert, war er jetzt kaum noch ein Gegner für Avrial. Anstatt wegzurennen, zu verschwinden oder schnell auszuweichen, ging er einfach immer ein paar Schritte zur Seite. Wütend darüber, ließ Tarrence einen schon leicht verzweifelten Schrei los, ehe er seine auf der Seite kauenden Krieger aufscheuchte: „Starrt nicht so blöd, greift an!“ Wirkliche Lust zum Kämpfen hatte keiner mehr. Doch fürchteten sich die Soldaten mehr vor ihrem Boss, als vor Avrial – und so liefen sie wieder los, mit lautem Gebrülle, um sich selbst ein wenig Mut zu machen. Auch der Magier war durch seine Wunde leicht angeschlagen, schaffte es aber trotzdem, die Krieger ein zweites Mal zu beschäftigen. Beschäftigt war auch Tarrence, der keine andere Möglichkeit mehr sah, als zu flüchten. Er klettere erschöpft auf sein Ross, während Avrial kämpfte. Als der Dämon auf dem leicht nervösen Pferd saß, hob er schließlich die Hand und deutete seinen Männern an, dass nun Schluss sei. „Wir treffen uns wieder, Arcaner…!”, mit diesen Worten ritt er mit seinen angeschlagenen Kriegern von dannen. Es war ein feiger Schachzug und das wusste er auch. Andere Dämonen verwickelten sich tief in Kämpfe und verloren die Kontrolle – es war sein Vorteil, lange klar denken zu können und zu wissen, wann man sich am Besten zurück zog. Auch hoch oben im Turm der Ruine ging der Kampf weiter. Lyze, der inzwischen kein eigenständiges Handeln mehr besaß, war gezwungen gegen Siri zu kämpfen. Immer wieder versuchte sie ihm aus dem Wege zu gehen, flüchtete dabei weit nach hinten. „Hör auf!”, rief sie nebenbei, „Ich will dich nicht verletzen!” Langsam wurde allerdings die Schneehexe ungeduldig, saß im Thron und tappte mit ihren Fingernägeln auf der Lehne herum. „Töte sie, na los! Töte sie!” „Du Feigling!”, Siri ging rückwärts, als der Halbengel wieder näher kam, „Was bist du nur für ein feiger Dämon? Lässt deine Marionetten für dich kämpfen!” Wieder lachte die falsche Limiu, schüttelte dabei den Kopf: „Ich nenne das nicht feige. Eher sich einen klaren Vorteil verschaffen, um nervige Feinde loszuwerden!” „Warum zeigst du nicht dein wahres Gesicht!? Bis du so hässlich, dass du dich hinter der Maske einer Toten verstecken musst-?”, im Moment der Unachtsamkeit hatte Lyze sie eingeholt und eine feste Ohrfeige verpasst – durch die Wucht fiel das Mädchen zu Boden und musste erstmals verstehen, was gerade passiert war. Schon im nächsten Moment packte er sie am Hals, drückte Siri nach hinten bis an die Steinmauer und begann sie zu würgen. „Ly…! Urgh…”, sie versuchte ihn wegzustoßen, „Bi-tte… hör au-” „Tue es!”, die Hexe war begeistert aufgestanden, „Bring sie um, tue es!” Hilflos starrte Siri in seine leeren Augen, konnte aber überhaupt kein Mitleid erwecken; stumm und ohne jede Mimik drückte er ihr immer länger die Kehle zu. Mehr und mehr drängte sich die Gewissheit auf, seine Seele sei für immer verloren. Jeglicher Versuch, den stärkeren Lyze vom würgen abzuhalten, scheiterte und sie spürte, wie langsam die Kraft in den Armen verloren ging. Eben noch hatte sie sich versucht zu befreien, nun sanken sacht ihre Arme hinab und das Gefühl der Ohnmacht wurde stetig stärker. Im Moment der Stille begann der türkise Stein unter ihrer Kleidung zu leuchten – er hob sich von selbst hervor und gab einen starken Impuls ab, dessen Druckwelle den Halbengel von Siri wegdrückte und ihn zwang, mit dem Würgen aufzuhören. Ungläubig stemmte die Hexe ihre Hände auf die Lehne des Thrones, als Siri in die Knie ging und nach Luft rang. „Unmöglich! Töte sie! Ich befehle es dir Lyze, töte sie!”, abermals ging er ihrem Befehl nach und auf Siri zu, die allerdings von seiner Nähe weg kroch und schließlich holprig zurück auf die Beine kam. Ein bisschen röchelte sie noch und stand neben dem großen Buntglasfenster gelehnt: „Du… kannst Lyze nicht zwingen, mich umzubringen… du hast nicht die Macht über ihn…” „Von wegen!”, die Hexe lachte wieder auf, „Seine Seele gehört mir!” „Seine Seele gehört niemanden!”, fuhr Siri zurück und ging dabei auf sie zu, „Seelen kann man gar nicht besitzen, sie sind frei!” Höchst empört über ihre Meinung, stampfte die Schneehexe auf den Boden, grinste aber dann zu Lyze, der sich der jungen Frau langsam von hinten annäherte. „So, Kleine. Du behauptest also, seine Seele gehört mir nicht…?” „Ja, das tue ich!” „Dann beweise es mir!”, erneut deutete sie auf Siri und wollte wieder ein „Töte sie!”, auf den Halbengel loslassen – als sich das Mädchen unerwartet umdrehte und diesmal ihn zurück drängte, Richtung großes Buntglasfenster. „Nein! Was tust du!?” „Lyze-”, Siri schmiss sich mit voller Wucht gegen ihn, „-ist keine Marionette…!”, und flog mit ihm durch tausende Glasscherben hindurch, mit dem Kopf voran steil nach unten. Sie fielen nun aus luftiger Höhe herab, als sich Siri an den Halbengel heran zog und fest umklammerte: „Lyze, wach auf!”, sie rüttelte an ihm, „Breite deine Flügel aus! Bitte…!” Noch immer konnte man in seinen Augen nicht das geringste Leben erkennen. Während sich die zwei vom Fenster immer mehr entfernten, kam ihnen der Boden gefährlich näher, zum Aufschlag würde es nicht mehr lange dauern! „Hör mir zu!”, abermals rüttelte sie verzweifelt an ihm, „Ich weiß, du hast die wahre Limiu für immer verloren. Ich weiß, welche Schmerzen es in dir auslösen muss; aber… bitte! Breite deine Flügel aus, beeile dich!”, Siri stieß den Kopf gegen ihn, „Alleine kann ich mein Ziel nicht erreichen, ich brauche dich, hörst du! Ich brauche dich Lyze, mach keinen Unsinn…!” Abermals begann der türkise Stein zu leuchten. In der Sekunde der größten Not schien sich diese magische Kraft, welche dem Stein innen wohnte, von selbst zu aktivieren und den schweren Zauber von Lyze zu absorbieren – und brachte durch das kleine Fünkchen Restleben in ihm seine Seele aus den Klauen der Schneehexe zurück. Gerade als Siri die Augen fest zusammenkniff, breitete der Halbengel seine hellgelben Flügel aus und glitt über den Boden hinweg, ein kleines Stück weiter, zu einer relativ sanften Landung. Am festen Land angekommen, kippte Lyze von den Beinen und blieb vorerst im Gras liegen, als auch wieder seine Flügel verschwanden. Leicht erschrocken von dieser wirklich viel zu schnellen Landung – und doch erleichtert – sah Siri zu ihm herab, bevor sie sich müde neben ihn setzte. „Heeeey!”, fragend schaute sie zurück, hinauf zum Turm: Avrial stand beim einstigen Glasfenster und winkte zu den Beiden hinab. Er war hinauf gelaufen um ihr zu helfen, allerdings konnte er niemanden vorfinden. Nur ein schwarzes Kleid blieb am Thron zurück, denn die Schneehexe, wie sich später heraus stellte, hatte sich ohne den Besitz einer fremden Seele in Luft aufgelöst. „Meine Güte, nun schlingt doch nicht so!”, lachend schüttete der Arcaner seinen beiden Reisegefährten eine weitere Schüssel heißer Kartoffelsuppe ein. Da entgegnete ihm Lyze: „Ich kann nichts dafür, man kriegt Hunger, wenn man unter dem Bann einer Hexe stand!” Nicht weit von der Ruine entfernt, hatten die drei Reisenden ihr Lager aufgeschlagen und dank Avrials hervorragenden Koffer-Zauber jede Menge Proviant und sogar ein Zelt für die Nacht, welche bereits über ihnen herein gezogen war. Bis zum Kopf hatte sich Siri in ihrer Decke eingemummelt, um sich auch von den Strapazen des heutigen Tages zu erholen. „Und…”, begann sie, „…du hast echt keinerlei Erinnerungen an das, was du im Turm getan hast?” Lyze nickte. „Es war schon erschreckend. Ich wusste, dass ich etwas Falsches tue, aber nicht genau, was es war…” „Na ja.”, Avrial, der seine Wunde bereits verbunden hatte, nahm einen Löffel voll Suppe. „Es ist nochmals alles gut gegangen. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich nicht in der Nähe gewesen wäre?” „Woher wusstest du, dass Lyze von einer Schneehexe besessen war?”, fragte Siri, „Ich wusste es wieder aus einem Traum, aber du? Und… was ist eigentlich aus Tarrence geworden?” Da musste Avrial lachen, bevor er antworten geben konnte: „Ich habe aus sicherer Entfernung aus den Büschen gelauscht. Und was diesen Ritter betrifft… er verliert wohl nicht gerne seine Hörner – ich habe noch nie einen Dämonen so schnell flüchten sehen!”, erneut musste er lachen. „Danke, euch beiden.”, Lyze lächelte zu seinen Kameraden, „Ohne eure Hilfe wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben.” „Bitteschön – aber direkt gerettet hat dich eigentlich Siri, ich habe nur meine Arbeit als Bodyguard erledigt. Wie könnte ich auch; als Mann hat man bei einer weiblichen Schneehexe doch keine Chance.” „Warum denn das?”, wollte Siri wissen. „Na, sie würde sofort versuchen, mich um den Finger zu wickeln; und was dann aus Lyzes Seele geworden wäre, weiß ich nicht.” Der Halbengel nickte erneut dankbar. „Aber…”, er schaute schief zu Siri, „Dieses ‚Ich brauche dich’ – wie hast du das gemeint?” „Oh, ach das…”, Siri war das schon etwas peinlich – die ganze Wahrheit blieb wohl für immer ungeklärt. „Das tut doch nichts zur Sache… ich… brauche dich, um den Prinzen zu finden… genauso wie Avrial!”, sie stand auf und gab ihre Schüssel zum schmutzigen Geschirr, „Ist doch auch egal. Lasst uns schlafen legen, damit wir morgen Früh endlich Destercity erreichen können.” Darauf konnte Lyze nur zustimmen: „Eine wirklich gute Idee.” Und als sich sie kleine Gruppe schlafen legte, konnten alle Drei auf eine gewisse Art und Weise spüren, dass ab nun nichts mehr schief gehen konnte. Kapitel 23: 7. Destercity, die große Stadt ------------------------------------------ Langsam sank der Mond in den Horizont hinab. Die Sterne, welche in jener Nacht hell und klar leuchteten, wechselten ihr Erscheinungsbild am sich stetig orangefarbenen Himmelszelt. Als schließlich die langsam an Kraft gewinnende Sonne über den Rand hinauszog und die ersten Waldvögel ihre Lieder begannen zu singen, konnte man sich denken, dass dies ein wunderschöner Tag werden würde. Der Arcaner, der Halbengel und die junge Frau waren bereits bei Tagesanbruch von den deprimierenden Ruinen des alten Reiches abgezogen und machten sich nun auf dem direkten Weg nach Destercity. Sie mussten kein Gestrüpp mehr überwinden, denn der sie verfolgende Dämonenritter Tarrence schien fürs erste das Weite gesucht zu haben. Immerzu fröhlich schwang Siri ihre Arme beim Gehen, Avrial hatte seine in den Taschen seines Mantels versteckt und Lyze ging ihnen, die Umgebung beobachtend, im Anschluss nach. Manchmal machte der Magier den Eindruck, seine von Tarrence gestern erlittene Wunde bereitete ihm Schmerzen; doch er schien diese verbergen zu wollen. Wieso er dies immerzu tat, war nicht klar… vielleicht ja der Arcaner-Stolz? Allmählich änderte sich der Trampelpfad des Waldes in einen von eindeutig Menschen aufbereiteten Steinboden. Zwar war die Lichtung des Waldes noch nicht in Sichtweite, aber der erste Gegenpassant ließ nicht lange auf sich warten: es war ein alter Hirte auf einem Pferdekarren, im hinteren Bereich waren massig Strohballen geladen. Höflich zog er seinen Hut beim Vorbeifahren, ehe sich Avrial leicht verbeugte und mit seinen Reisegefährten den Weg weiter entlang ging. „Sind wir bald da?“ „Es dauert noch ein wenig, Siri.“, Lyze holte zu ihr auf, „Aber demnächst sollten die ersten Mauern und Hochhäuser sichtbar werden.“ „Hoch…häuser?“ „Ja. Ein Haus, in denen viele Familien auf einmal leben können.“ Avrial mischte sich hinzu: „Das ist aber ulkig. Ist das nicht viel zu eng?“ „Nein… schaut, es sind mehrere kleine Häuser in einem riesigen – diese Häuser nennt man Wohnungen.” „Seltsam…” Nickend stimmte Siri dem Magier zu: „Ja, echt seltsam.” Nur mehr mit einen Lächeln hob Lyze die Schultern: „Große Massen verlangen nach vielen Behausungen… so ist das nun mal, in einer Großstadt.” „Ich frage mich…”, begann Avrial, „Ob Destercity tatsächlich so einen gewaltigen Wandel hinter sich gebracht hat.” „Warst du denn schon einmal in Destercity?”, so Siri. „Ja. Allerdings vor mehr als 86 Jahren. Damals war dieses Dorf schon groß. So groß, dass es als Stadt bezeichnet wurde. Die Technik stand damals allerdings in Kinderschuhen – man hatte diese Art von Energiequelle, einen bestimmten Kristall, erst vor kurzem entdeckt gehabt. Sie werden noch heute aus den Bergregionen rund um Destercity abgebaut.”, kurz überlegte er, „Ich glaube… diesen entdeckten Kristall nennt man Fendus… benannt nach seinem Entdecker, Cornelius Fendus.” „Wow, was du alles weißt!” „Ach. Das ist fast ein Jahrhundert her, Siri.”, er lächelte, „Auch ich bin gespannt, wie das heutige Destercity aussieht.” Da raschelte etwas. Avrial hob die Hand und symbolisierte somit, dass die Gruppe stehen bleiben soll. Auch Lyze sah nun misstrauisch gen Baumkronen, in denen sich an den unterschiedlichsten Stellen nach einander die Äste bewegten. „Da ist jemand.” Avrial nickte zu ihm, ehe er Siri ein Stückchen zurückschob. Sie wusste, die zwei wollen nur für Sicherheit sorgen; aber ein wenig bedrängt fühlte sie sich dabei trotzdem. Sie ging absichtlich noch zwei Schritte von den Jungs weg, ehe sie sich umdrehte und in ein ihr – kopfüber hängendes – fremdes Gesicht blickte. Mit einem leichten Schreck ging sie abermals nach hinten, bevor sie Rücken an Rücken mit Lyze stand, der sich nun fragend umdrehte. „Da-”, begann er, doch ehe er auf den seltsamen Fremden deuten konnte, war er auch schon verschwunden. „Du hast das auch gesehen, oder?!”, Siri wurde allmählich nervös. „Was gesehen?”, wollte nun auch Avrial wissen. Lyze deutete wieder an die Stelle, wo sie den Fremden sahen: „Da war eben noch ein Mann… er hing von dem niedrigen Ast runter und schien absolut keinen normalen Eindruck zu machen…” Umso länger Siri an dieser Stelle stand, desto nervöser wurde sie: „E-ein Dämon?” „Nein… ich denke nicht.”, Avrial drehte sich wieder dem Weg zu: „Lasst uns weitergehen, das wird das Beste sein.” Lyze nickte, ehe er ihm folgte. Auch Siri kam, Arme eng am Körper anliegend, den zwei Jungs nachgewandert. Die Tatsache, dass sie von jemandem beobachtet wurden, verunsicherte sie aufs Äußerste. Es dauerte nicht lange, da raschelte es wieder um sie her; doch dieses Mal blieben sie nicht stehen. Immerzu wollte Siri auf das Geräusch aufmerksam machen, doch die zwei Reisegefährten schienen mit Absicht nicht darauf zu reagieren. Als die junge Frau dann knappe fünf Schritte zu langsam war, kam der Fremde schließlich vor sie herunter gesprungen und versperrte ihr den Weg! Ihr erster Blick fiel auf das rechte gelbstechende Auge – sein anderes war von seinen langen dunklen, fast grünlichen Haaren verdreckt, wie bei Avrial, nur gespiegelt. Er machte den Eindruck, nicht oft Dörfer zu besuchen; seine violette Kleidung, der Umhang und die Stiefel waren alt und schmutzig. Sie wollte um Hilfe rufen, doch der Fremde hielt ihr den Mund zu: „Das ist nicht sehr nett, Süße. Nicht schreien.” Fragend fiel Siris verschreckter Blick auf ihn, ehe dieser sie genauer betrachtete: „Süße, das passt gut!” „W-wer bist du?”, fragte sie, „Du bist ein Arcaner, oder?” Plötzlich lachte der seltsame Fremde laut auf, machte damit Siris Reisegefährten auf sich aufmerksam. „Selbstverständlich, selbstverständlich! Du hast ein gutes Auge, Süße!”, da verschwand er vor Siris Augen und tauchte neben ihr, Arm um ihre Schultern gelegt, wieder auf: „Sag doch mal ehrlich, so was macht euch Frauen an.” „Furah Saci…”, Avrial kam hinzu und schien äußerst verärgert, er ballte die Fäuste. „Verschwinde.” „Avrial!?”, der seltsame Kauz ließ von Siri ab und ging grinsend vorwärts: „Du? Hier an der frischen Luft!? Und du lebst noch! Ich dachte mein Kreatives Spinnen-Geschenk hat dir das Licht ausgepustet!” „Das warst du!?”, mischte Siri ein, „Wie gemein! Ganz Ikana hätte dabei verwüstet werden können!” „Ja, das ist der Bonus an der Sache!”, erneut breitete der Arcaner die Arme aus und wollte Siri tatsächlich umarmen. Doch schnell sich gebückt lief Siri an ihm vorbei, zu Lyze und versteckte sich sicherheitshalber erstmals hinter ihm. „Pah, Mädels.”, so Furah. Avrial trat vor: „Was hast du hier verloren?” „Na ich jobbe – von irgendwas muss ich auch leben!” „Jobben?” „Jap.”, wieder grinste er, „Ich erleichtere arme Destercity-Bewohner um ihre schweren Geldbörsen! Aber jetzt mal zu dir: was hast du hier verloren…?”, dabei wanderte sein Blick zu Lyze, hinter dem sich Siri versteckt hatte. „Ach… sag bloß…”, er fand das überaus amüsant, „Du spielst den Bodyguard! Avrial, du alter Hund du!” „Genug!”, mit einem Mal stampfte er fest am Boden auf, entfesselte somit eine Windböe die Furah als Warnung leicht streifte. „Verschwinde, oder du wirst es bereuen!” Von seinem Verhalten war dieser andere Arcaner kaum beeindruckt. „Ich?”, er zückte ein merkwürdiges, braunrotes Pergament aus seinem langen Ärmel, „Wenn hier einer Probleme kriegt…”, er warf damit blitzschnell nach Avrial, „…dann bist du das!” Lyze und Siri konnten nicht schnell genug hinsehen, da verschwand ihr Freund und tauchte ein Stückchen daneben wieder auf – das Pergament schoss vorbei, gegen einen Baum; der unheimlicher Weise alle Blätter braun färbte, fallen ließ und sichtbar abstarb. „Was war das!?”, Siri traute ihren Augen nicht. Der Halbengel schluckte hart; ihm war klar, mit wem sie es zu tun hatten: „Das war ein Fluch, Siri… hätte der getroffen, würde Avrial schlecht aussehen.” „Ein Fluch- ?” Kaum hatte sie dies aussprechen können, warf Avrial seinen Zylinder Lyze zu, ehe er zum Angriff gegen Furah überging – oder besser verschwand. Wortlos starrten beide umher, denn die Magier waren nun verschwunden und seit mehr als zwei Minuten nicht wieder aufgetaucht. „Ist das denn normal?!”, sie drehte sich zu Lyze, „Wer ist der Typ?” „…Ich glaube das ist der andere Arcaner, von dem Avrial erzählt hatte. Nur warum sie jetzt kämpfen, ist mir selbst ein Rätsel.”, dabei betrachtete er den Hut in seinen Händen. „Ok.”, so Siri, „Er ist sein Erzfeind, eindeutig – aber waren wir nicht eigentlich auf dem Weg nach Destercity?” Lyze zuckte mit den Schultern. „Avrial!”, das Mädchen rief einfach mal in den Wald hinein, „Lass den Unsinn, wir wollen weitergehen!” „Wir sollten ihm helfen… wenn ihn so ein Fluch trifft, verlieren wir ihn vielleicht.” „Ja – aber wie?” „Das weiß ich leider auch ni-” Da waren sie wieder. Beide Magier jagten sich von Ast zu Ast, stellten sich gegenseitig Fallen, demolierten dabei Baumstämme – woraufhin einige Vögel aus dem Wald flüchteten – und behinderten sich gegenseitig mit Magie. Da traf ein Stoß Avrial, der ungewollt gegen einen massiven Baum flog und am Boden sitzen blieb. „Was ist los?”, Furah lachte von oben hinab, „Ich glaube, du hast ein Handicap – zwei oder drei deiner Rippen sind geprellt oder gebrochen, du fliegst so ungerade…” Ein wirklich seltsamer Satz, von einem seltsamen Kauz. Tarrence hatte Avrial gestern mit seinen Hörnern gerammt, seine Schmerzen könnten tatsächlich auf einer schwereren Verletzung beruhen. „Hört auf!”, rief Siri, „Es ist zu gefährlich, weiterzukämpfen; lass uns weitergehen!” „Nein…”, der Arcaner taumelte zurück auf die Beine, „Das ist eine persönliche Angelegenheit.”, und verschwand wieder. „Oh Mann, ist der stur!” „Fast so stur wie du.” Sogleich schnaufte Siri und sah dem Halbengel ins grinsende Gesicht: „Was soll denn das nun heißen!?” „Nichts-” „Nichts?” „Ist das nicht nebensächlich? Avrial prügelt sich gerade bis zum bitteren Ende.” „Ja, dann tu doch was!” Gesagt getan. Lyze schob Siri etwas zur Seite, ehe er einen gut in die Hand passenden Stein vom Boden aufhob und kurz darauf achtete, wo es in den Bäumen raschelte. „…Wenn ich recht habe reicht ein Stein,…”, er holte aus, „…um die zwei Magier aus ihrem für uns unsichtbaren Kampf rauszuholen.”, und warf ihn mit Kraft in die raschelnde Baumkrone. Tatsächlich: der Stein prallte an einer Art Schutzhülle ab, die darauf hin verschwand und die zwei Arcaner in ihrem Kampf für das menschliche Auge sichtbar machte. Avrial stieß Furah mit dem Fuß vom Baum, der sich geschickt wie ein Affe am darunter liegenden Ast festhielt, bevor sein Feind ihm nach sprang und versuchte ganz vom Baum zu kriegen. Furah zog die Hand weg, landete mit einer Rolle seitwärts am Boden, ehe ihm Avrial nachkam und der Kampf am Boden weiterging. Bei diesem maßlos übertriebenen, Zeit vergeudenden Katz-und-Maus-Spiel ballte Siri die Fäuste und wollte dem Kampf nicht mehr lange zusehen. Sie wurde noch von Lyze zur Seite gezogen, als Avrial zurückgeschleudert wurde und beinahe auf sie gefallen wäre. Dann riss sie sich los, lief zu Avrial und stellte sich, Arme ausgebreitet, quer vor ihn, als ihn Furah eigentlich per Nahkampf angreifen wollte. Lyze kam nicht einmal dazu, laut nach ihr zu rufen, als Furah ganze zwei Zentimeter vor ihrer Nase stoppte und sich plötzlich weigerte anzugreifen – Siri hatte dabei die Augen zugekniffen. „Tss.”, Fruah sprang zurück und schien nicht kämpfen zu wollen, solange die junge Frau im Weg stand. Sie rührte sich immer noch nicht vom Fleck, was dem Arcaner wohl zu lange dauerte; er sprang zurück in die Bäume und verschwand wortlos. „Ist er… weg?”, wollte Lyze wissen. „Ja…”, Avrial setzte sich schwerfällig auf, „Fürs erste…” Kapitel 24: Wie aus Freundschaft Feindschaft wurde -------------------------------------------------- „So ein unhöflicher Kauz!“, Siri und Lyze halfen dem Arcaner auf die Beine, „Hoffentlich kommt der nicht zurück!“ „Das… wird er nicht…“, Avrial keuchte, griff sich auf seine schmerzende Wunde an der Brust, „Ihm ist vorerst die Lust auf einen Kampf auf Leben und Tod vergangen.“ Verständlich drückte Lyze ihm seinen Hut in die Hand, fand es aber trotzdem seltsam, dass Furah einfach geflüchtet war. „Er war doch klar im Vorteil. Warum hat er gestoppt, als Siri eingriff?“ „…Vielleicht greift er einfach nicht an, wenn ne Frau vor ihm steht…“, so das Mädchen, mit trockener Miene. „Nein, das ist es nicht. Für normal macht er keine Unterschiede.“, der Arcaner überlegte, „Es schien, als würde er dich kennen…“, und setzte seinen Hut auf. „Meinst du…?“ „Gut möglich-“, so Lyze, „-du könntest dich, selbst wenn du ihn kennst, nicht an ihn erinnern…“, dann schmunzelte er: „Aber vielleicht hat er dich auch einfach nur lieb gewonnnen.“ Siri rempelte ihn vom Weg. „Ach, sei doch still. Der hat mir gerade noch gefehlt-“ Über den kleinen Streit der zwei war Avrial sichtlich amüsiert und lächelte, so als hätte er den Kampf von vorhin schon beinahe vergessen. Die drei Reisenden setzten ihren Weg in die große Stadt fort, es sollte nicht mehr lange dauern, dann würde die Straße enden und eine hohe Mauer beginnen. Vorerst aber hielten sie zu Mittag, am Wegesrand bei einer Picknickbank an, um zu essen. Auch diese Sitzgelegenheit war ein sicheres Zeichen von Zivilisation. Wieder genoss Siri nicht ihr Mittagessen, sondern beschwerte sich lieber über das Sandwich. Sie hatte bereits gestern Sandwich. Und heute Früh. Da legte ihr der Magier die Hand auf die Schulter und versprach ihr, in Destercity eine Speise, ganz nach ihrem Wunsch, zu spendieren – ebenso dem Halbengel, dem das wiederholte Sandwich-essen allerdings keine Sorgen bereitete. Zurück auf dem Weg begegneten ihnen wieder Passanten. Diesmal waren es drei alte Männer, die beim Vorbeigehen irgendetwas über Dämonen diskutierten. Man konnte nur die Satzfetzen „Abgrenzung vor der Außenwelt” und „Familien haben Angst einen Fuß aus der Stadt zu setzen” verstehen. Dann schwieg die kleine Reisegruppe eine Zeit lang. Siri ging nur das Essen durch den Kopf, Avrial überlegte sich, doch besser einen Arzt in der Stadt aufzusuchen und Lyzes Gedanken beschäftigten sich mit Furah. Die beiden Magier kannten sich. Sie bekriegten sich. Beide hatten einen bestimmten Blick, der sie verband. Beide hatten… „Avrial?” Der Arcaner drehte sich während des Gehens zu Lyze. „Sag, was versteckst du eigentlich unter deinen Haaren…?” Fragend blieb der Magier stehen. „Wie meinst du das?” „Dein Auge.”, Lyze deutete auf das rechte, „Warum versteckst du es. Ich will wissen, wieso ebenfalls Furah sein linkes Auge versteckt.” „Weil… nun…”, Avrial tat sich sichtlich schwer zu sprechen. Da kam Siri hinzu, stellte sich dazwischen: „Lyze… ich bin auch neugierig, aber findest du nicht, dass die Frage ein wenig zu sehr in Avrials Privatsphäre eindringt?” „Das… spielt doch keine Rolle mehr.”, der Magier schaute lächelnd, aber traurig auf, „Ihr habt bereits so vieles gesehen… den Kampf, den Fluch, meinen Erzfeind…”, er strich sich die Haare vor dem rechten Auge weg, „…Es wird Zeit, dass ihr alles erfährt.” „Du-”, ungläubig schlug Siri die Hände vor das Gesicht, „Du bist blind!” In Avrials grauem Auge spiegelte sich nichts außer der Leere… „Und trotzdem kannst du so hervorragend zielen…”, Lyze lächelte, „Jetzt weiß ich wieder, warum ich dich als Lehrmeister wollte!” „Hä? Was?”, nur mehr fragend schaute die junge Frau zwischen den beiden her. „Avrial kam sowohl als Bodyguard, als auch als Lehrmeister mit uns.” „Ah…”, Siri seufzte tief und trocken: „Na das erfahre ich aber auch früh…” Weiter entfernt stand der Magier, er war bereits vorgegangen: „Was ist nun?” „Wie ‚was ist nun’?”, die zwei liefen ihm nach. „Wollt ihr nun meine Vergangenheit hören, oder nicht…?” „Es regnete. Es goss aus Strömen, als ich zum ersten Mal mein neues Zuhause betrat. An mein altes kann ich mich nicht richtig erinnern… Ich war fünf. Die Kinder um mich herum waren streng, wie meine Erzieher. Es kam nicht selten vor, da diente ich als Ventil der älteren Kinder. Wieso das ganze? Weil ich Arcaner war – in einem Kinderheim für Menschen. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nicht, dass ich nicht alleine war. Es gab da jemanden, der seitdem er ein Baby war, im Heim lebte. Furah Saci. Am dritten Tag, ich saß nach einen weiterem Attentat der älteren Kinder unter einem Baum im Hof, da legte dieses gleichaltrige Kind seine Hand auf meine Schulter. „Warum bist du so traurig?”, fragte er. Er verstand damals gut, wie ich mich fühlte. Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied: er war seit Anbeginn in diesem Heim, weshalb ihm so gut wie jeder kannte und niemand verachtete. Seit diesem Zeitpunkt an folgte ich ihm auf Schritt und Tritt, er beschützte mich nämlich, sollte mir wieder ein Älterer zu nahe treten. Die Zeit verging und wir wurden Freunde, gute Freunde. Gemeinsam büchsten wir schon mal aus dem Heim aus, nur um mit Fröschen des Teiches in der Nähe spielen zu können. Wir bekamen Ärger, doch das störte uns nie. Wir trieben gerne Schabernack und erschreckten die Kinder aus dem Heim.”, er lachte, „Einmal haben wir einer Erzieherin Mistkäfer im Bett versteckt. Es waren fröhliche Jahre und unsere Freundschaft glich langsam einer Bruderschaft. Aber… Acht Jahre nach meiner Ankunft entdeckten wir zum ersten Mal unsere Magie. In der Pubertät entscheidet sich für einen Arcaner sein zukünftiger Weg, so heißt es. Unsere Streiche gingen wie gewohnt weiter, nur dass immer öfter Magie im Spiel war. Anfangs flogen nur Schulbücher und Schreibmaterialien durch die Zimmer. Dann verschoben sich die Betten auf wundersamer Weise. Doch es gibt immer einen Punkt, wo Harmlosigkeit aufhört und der Ernst beginnt. Ich war dabei, fühlte mich aber äußerst unwohl, als wir bei einem Ausflug des Heimes Steine eines Berges in Bewegung setzten und somit Leben in Gefahr brachten. Wir unterschieden uns langsam immer mehr von einander. Was Furah Spaß machte, löste in mir einen inneren Kampf der Entscheidung aus. Eines Tages hatte er einen Plan entwickelt, um ein Buch über Magielehre aus der Bibliothek zu stehlen. Obwohl es uns beiden sicher in der Entwicklung geholfen hätte, so entschied ich mich dagegen. Anfangs akzeptierte Furah meine Meinung; er schlich alleine in die Bibliothek und konnte mir am nächsten Morgen tatsächlich ein Buch vorlegen. Er war stolz auf seine Beute, doch als ich es mir näher ansah, schüttelte ich den Kopf. „Bringe es zurück, wo du es her hast, ehe es jemand vermisst.” „Wieso?”, war seine Frage. „Weil das ein Lehrbuch für dunkle Magie ist.” „Ich weiß.”, dabei lächelte er glücklich. „Aber wenn du es für besser haltest-”, antwortete er, „Dann bringe ich es zurück.” Ich war erleichtert über seine Entscheidung. Schon am darauf folgenden Tag ging der Alltag normal weiter… scheinbar. Ich kann es nicht erklären, aber ich fühlte, dass etwas nicht stimmte. Es schien mir, als wäre das gesamte Heim von einer düsteren Stimmung, oder auch Aura umgeben. Natürlich brauchte ich nicht lange, um den Grund herauszufinden. Furah hatte das Lehrbuch nicht zurückgebracht. Anfangs erzählte er mir, er würde von ihm angezogen werden… vielleicht war es zu verlockend für ihn, einen Blick hinein zu werfen. Vielleicht fehlte ihm aber auch einfach jemand, der ihn daran hinderte… denn Eltern, Verwandte, oder Erzieher, die sich drum scherten, gab es nicht – es gab nur uns. Und ich war zu unerfahren, um die Gefahr hinter der dunklen Magie zu erkennen: Einmal in seinen Fängen, entkommt man ihr nie wieder. Furah hatte damit seinen Weg gewählt. Ich wollte ihn daran hindern, diese Magie einzusetzen, doch die dunkle Gabe hatte ihn mir ganz entrissen. Unkontrolliert begann er Flüche auszusprechen, übte sie heimlich an verborgenen Orten. Als ich seinen Unterschlupf fand, war es bereits zu spät. Zu diesem Zeitpunkt war er schon gar nicht mehr er selbst. Was zuerst fröhlich und frech wirkte, war nun gefährlich und zerstörerisch. Er wandte sich gegen mich. Versuchte sogar, mich aus dem Weg zu räumen. Es mag unsinnig klingen, doch in diesem Moment spürte ich, was wohl in den Wurzeln eines jeden Arcaners verankert liegt: ich musste der dunklen Magie ein Ende setzen. Am letzten Tag im Heim begannen wir zu kämpfen. Furah wollte mich tot sehen und ich ihn. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, dass dieses Schauspiel vor einem Menschenheim Aufsehen erregte. Die Erzieher riefen die Gesetzeshüter Desterals herbei, doch sie trafen zu spät ein. Denn in der Hitze des Gefechtes sprachen wir Magie aus, die für uns Knaben noch viel zu früh war – wir verletzten dabei nicht unser Gegenüber, sondern verloren jeweils unser halbes Augenlicht. Trotz der Schmerzen, die wir empfanden, sowohl körperlich als auch seelisch, verschwand Furah, ohne sich jemals wieder beim Heim blicken zu lassen, in den Weiten Desterals. Noch am selben Tag wurde ich zum Gehen gezwungen. So zog ich los, verletzt, auf der Suche nach einem Neuanfang – und traf zwei Jahre später in Ikana ein.” Mit Interesse, aber auch Mitleid, lauschten Lyze und Siri der Geschichte. Den beiden war nun so einiges klar geworden. Kurz schwiegen sie, ehe der Halbengel zu Avrial aufsah: „Er hat also praktisch dein Leben ruiniert… das ist der Grund, weshalb ihr euch streitet?” Er nickte. „Ja aber…”, begann Siri, „Ihr wart einst mal beste Freunde und trotzdem wollt ihr euch umbringen? Wieso?” „Weil er die dunkle Magie ausübt.” „Nur deswegen?” „Er ist viel zu gefährlich für die Welt, Siri. Du hast gesehen, zu was er im Stande ist. Einen Arcaner wie ihn darf und soll es nicht geben.” „Sagt wer?” „Jeder!”, Avrial war lauter geworden, worauf hin Siri den Kopf einzog. „Tut mir Leid…”, meinte er anschließend. „Nun… das ist jetzt nicht mehr so wichtig.” „Wieso denn das nun wieder?” „Weil vor euch, liebe Freunde, Destercity liegt.”, dabei hob er die rechte Hand und präsentierte die gigantische, weiße Mauer. Kapitel 25: Eine fremde Welt ---------------------------- Der Anblick war unglaublich. Für das sonst so unbelebte Land schien diese Stadt wahrhaftig das Zentrum zu sein – hinter der gewaltigen, massiven Steinmauer reichten noch viel höhere Gebäude in den Himmel. Wenn welche von ihnen spitze Dächer besaßen, dann waren diese bläulich, die Ummantelungen von den Häusern selbst waren weiß. Mittig der Stadt, man konnte es selbst von außen kaum übersehen, ragte das höchste aller Gebäude empor, mit zwei kleineren Geschwistertürmen – dies musste wohl das Hauptgebäude der Stadt sein, so etwas wie ein Rathaus, denn es war einem Schloss gleich; zumindest schien es die älteste Behausung zu sein. Die Köpfe fasziniert in den Himmel gestreckt, standen die drei Reisenden da, hatten schon fast vergessen, dass sie eigentlich in die Stadt wollten. „Kommt.”, Avrial ging als erster los. Die gesamte Stadt schien von dieser weißen Mauer umkreist zu sein; am einzigen Durchgang standen ganze fünfzehn mit Schusswaffen bewaffnete Männer, die strenge Kontrollen bei denen vornahmen, die in die Stadt wollten. Bei dem Anblick blieb Siri stehen und begann zu überlegen: Klar, die Stadt musste vor dem Krieg mit Azamuth geschützt werden. Das Mädchen sah hinauf. Und wer schützt die Stadt vor Angriffen von oben? Zum Beispiel vor irre Dämoninen, die auf riesigen Vögeln sitzen? Sie hob einen Stein auf, zielte, holte aus und warf den Stein über die Mauer: er prallte ab! Ganz kurz beim Aufschlag konnte man sehen, wie ein durchsichtiges Schild sich wellenartig bog, bevor es wieder verschwand. „Wie ich es mir dachte…”, überlegte sie laut, „Eine Schutzbarriere.” „Siri?”, Avrial hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt, „Kommst du?” Sie nickte, ehe sie den beiden Gefährten zum Eingang folgte. Lyze war bereits kontrolliert worden und konnte unter dem Torbogen warten, dann kam Siri dran. Sie hob die Arme und schaute hilflos, als sie von oben bis unten nach Waffen abgesucht wurde, während ein zweiter sie ausfragte: „Name?” „Siri…” „Geburtsdatum?” „Weiß ich nicht…” „Heimat?” „Weiß ich nicht…” „Grund für den Besuch?” „Weiß i- äh, wir suchen eine Person.” Der Mann, der sie noch eben abgetastet hatte, kam hoch und sah ihr mit hochgezogener Augenbraue ins Gesicht. Dann trat er zur Seite: „Du darfst weiter.” Sicherlich durfte sie hindurch, weil sie so absolut menschlich aussah – und keinerlei Bedrohung darstellte. Wie die Kontrolleure allerdings ein echtes Mädchen von einem dämonischen Formwandler unterschieden, war ihr unklar. „Was soll das!?”, Avrial wurde von zwei Männern gepackt. „Sie haben keinen Zutritt, gehen Sie bitte zur Seite.” „Nein!”, Siri und Lyze kamen herbei, versuchten die Männer von ihrem Freund loszukriegen, als sie schließlich auch gepackt wurden. „Geht in die Stadt und kümmert euch um eure Angelegenheiten.”, so der Kontrolleur. „Lasst ihn los! Er ist kein Dämon!”, rief Siri. Sich wehrend rief auch Lyze dazwischen: „Er ist kein Dämon! Er ist ein Arcaner, kein Dämon!” „Ein Arcaner…?”, die zuständigen Männer sahen aus, als würden sie das Wort zum ersten Mal hören. Wieder trat der Kontrolleur näher, begutachtete den armen Avrial noch einmal genau. „Es stimmt, er ist kein Dämon…”, er gab ein Handzeichen, „Lasst die drei los.”, und drehte sich anschließend zu ihnen: „Verzeiht bitte die Verwechslung. Arcaner sind selten geworden und Unerfahrene kennen den Unterschied zwischen ihnen und Dämonen nicht.”, er lächelte, „In Kriegszeiten ist es besser auf Nummer sicher gehen, nicht wahr?” „Ja… schon klar…”, völlig fertig von dieser Aktion schritten die drei voran, durch den Torbogen. Avrial griff sich auf den Nacken: „So muss sich also ein vom Aussterben bedrohtes Tier fühlen…” „Aber du bist doch gar keines…?” „Metaphorisch gemeint, Siri.” Lyze kam zu dem Magier hinzu: „Es gibt da noch eine Frage bezüglich Magie, die ich gerne wissen möchte.” „Die wäre?” „Du sagtest, als du mit Furah einen für euch viel zu starken Zauber eingesetzt hattest, habt ihr jeweils euer halbes Augenlicht verloren…” „Das ist richtig.” „Ja, nur…”, er schaute auf, „…Hätte mir etwas Schlimmeres passieren können, als ‚nur’ ein gelbes Auge zu kriegen?” „Ach so ist das gemeint. Nun, durchaus. Du hättest auch blind werden können.”, er versuchte es dem Halbengel zu erklären: „Magie geht immer vom Kopf aus. Wenn du einen Spruch aussprichst, musst du zuerst an das denken, was du bewirken willst, bevor du es auch einsetzen kannst. Die erste Zone nach dem Kopf sind deine Augen, dann Nase, Mund, Hals und dann erst der restliche Körper. Umso schwerer der Zauber, desto mehr Druck wirkt sich auf deinen Körper aus. Und da die Augen nun Mal die erste Zone nach dem Kopf sind, wirkt sich zu starke Magie auch als erstes auf diese aus. Danach wandert sie in den Rest des Körpers; aber wenn man vollständig erblindet, kann man davon ausgehen, dass man den Zauber sowieso nicht mehr überlebt…”, er seufzte, „Du als Mischling hast es sowieso noch schwieriger, dein Körper ist weniger Magieresistent als der eines Arcaners. Drum solltest du besonders darauf achten, keine für dich zu starken Zauber auszusprechen. Also: besser nicht experimentieren!” „Gut.”, Lyze nickte dankbar. „Ich werde es mir merken.” „Wooooaaauu!” Auf Siris überlauten Ausruf hin sahen die beiden zuerst zu ihr, blieben dann ebenfalls stehen und blickten nach vorne – in eine ihr unbekannte Welt. Überall Menschen. Nein, hauptsächlich Menschen, aber auch Kreaturen jeder Art aus jeder Region Desterals, nur keine Dämonen. Sie gingen alle eilig auf schmalen gepflasterten Wegen, obwohl eigentlich das gesamte Gebiet gepflastert war. Haus stand an Haus, es gab nur wenige kleine Gassen. Und dann waren da noch seltsame Bodenmarkierungen, die von einem schmalen Weg, über einen breiten, hinüber auf die andere Seite, zum anderen schmalen Weg führte. Die Leute dort standen am Rande und warteten darauf, dass dieses bläuliche Licht auf einer Art Laterne aufleuchtete, dann erst gingen sie los. Lyze, Siri und Avrial schlossen sich der Masse an und begannen ihren Weg durch Destercity mit einer Straßenüberquerung einer Kreuzung. Dann blinkte das blaue Licht der Laterne. Danach verschwand es gänzlich und ein blaues Lichtlein gegenüber sprang zwei Mal, bis es den untersten Bereich erreichte und hell aufleuchtete. Von diesem Spiel fasziniert blieben Avrial und Siri stehen, Lyze war inzwischen auf der anderen Seite der Straße angekommen. Und da: plötzlich kam eine ulkige, stählerne Kreatur auf sie zu. Sie hatte vier Räder… und in dessen inneren saß eine Person! Da stellte sich mutig Avrial vor Siri, sagte noch „Keine Angst!” zu ihr. Doch das Ding griff sie nicht an. Die Reifen quietschten und das weißblaue Geschöpf war gerade noch so stehen geblieben. „Wa-warum tut es uns nichts…?”, Siri sah hinter dem Magier hervor. Da gab das stählerne Monster ein lautes Hupen von sich! Die zwei Reisenden riss es für einen Moment auf. Der Mann in diesem Ding begann die Seite runter zu kurbeln, welche aus abgerundetem Glas bestand: „Runter von der Straße, ihr Penner!” „Penner…?”, Siri zog eine Braue hoch. „…Wohl ein Stadtbegriff des Volkes, ich glaube es ist eine Abänderung von ‚Idiot’.” „Siri, Avrial!”, der Halbengel rief es ihnen vom schmalen Weg aus zu, „In Städten geht man auf dem Bürgersteig! Kommt herauf, damit die Autos weiterfahren können!” „Autos…?” „Keine Ahnung.”, Avrial hob die Schultern, ehe er sich in Bewegung setzte, „Lyze muss es wissen, wenn er vor kurzem schon einmal hier war.” So verließen die zwei die erste Straßenüberquerung ihres Lebens. „Fortbewegungsmittel… ist ja ulkig.” „Ganz meiner Meinung.”, Avrial stimmte Siri zu, „Ich kannte bislang nur Pferde, Kreaturen und Kutschen – mit Kreaturen oder Pferden vorne dran.” „Ja, aber diese hier benötigen keine Zugkraft.”, Lyze war im Moment noch der einzige der Gruppe, der sich halbwegs mit dieser Technologie auskannte, „Sie werden ebenfalls mit den Energieliefernden Kristallen, dem Fenduskristall betrieben.” „Wird hier auch irgendetwas ohne diese Kristalle betrieben?”, wollte Siri wissen. „Ja.”, so Lyze, „Wasser und Nahrung.” Die drei kamen an einem runden Platz an. In der Mitte war ein Springbrunnen mit steinernen Frauen als Verzierung, in den Häusern an den Seiten waren Wirtshäuser, genannt „Café”. „Sieh mal einer an…”, Avrial musste schmunzeln, packte Lyze an den Schultern und deutete auf einen kleinen Stand der gratis Getränke anbot. „Na, was ist, Noshyru. Wollen wir einen trinken gehen?” „Alkohol…?”, Lyze versuchte sich, so freundlich es ging, aus Avrials Griff zu befreien. „Nein… nein, lieber nicht. Ich glaube, schon langsam kenne ich mich gut genug um zu wissen, was passiert-” „Hört auf Quatsch zu machen.”, Siri stand leicht gereizt neben ihnen, „Wie in aller Welt sollen wir in so einem Großstadtdschungel eine Person finden, dessen Aussehen und Namen wir nicht einmal kennen? Stellt euch lieber diese Frage, anstatt an saufen zu denken!” „Aber ich habe doch gar nicht-”, weiter kam Lyze nicht. Er wurde unterbrochen, als plötzlich ein lautes „Lyyyyyzze!”, von der Seite zu den drei Reisenden durchdrang. Überrascht, dann fröhlich sahen sowohl der Halbengel, als auch Siri in die Richtung des Rufes: „Tracy!” Sie liefen dem vertrauten Katzenmädchen entgegen und bekamen auch gleich eine Schön-dich-wiederzusehen-Umarmung verpasst. „Aber… was machst du denn hier, Tracy?”, wollte Lyze auch sogleich wissen. Sie kicherte, ehe sie antwortete: „Ihr wisst doch, dass mein Bruder Ricci hier in Destercity arbeitet. Nachdem wir von diesem Ritter Tarrence heimgesucht wurden, hielten wir es für das Beste, die Handelsstadt Comerence zu verlassen. Oto und ich sind Ricci gefolgt, da Destercity derzeit die sicherste Stadt Desterals ist! Hier findet auch Oto als Arzt genug Kundschaft, da bin ich mir sicher.” „Dein Bruder ist Arzt…?”, drang es aus dem Hintergrund, als Avrial herbei kam. Tracy sah hoch in das ihr noch fremdes Gesicht. „Oh, ein Freund von euch?” „Das ist Avrial.”, stolz plusterte sich Siri auf, „Er ist mein Bodyguard!” „Bodyguard…?”, Tracy musste kichern, „Na, gefährlich siehst du aber nicht gerade aus!” Avrial verbeugte sich. „Ich bin Magier. Nun, du sagtest dein Bruder sei Arzt…” „Ja, das ist richtig.”, sie sah zur Seite, „Oto ist allerdings noch in Ausbildung, darum-” Der Arcaner schüttelte lächelnd den Kopf. „Das reicht mir. Solange er Rippenprellungen, oder Brüche behandeln kann, ist es mir recht… wo kann ich ihn finden?” Tracy schwang den Arm nach links, hinter ihr: „Im Ärztezentrum der Stadt. Er hat seinen eigenen Raum zugeteilt bekommen, du musst nur den Namensschildern folgen…” Kurz hielt das Katzenmädchen inne, musterte ihre Freunde. „Aber bevor ihr euch ins Großstadtabenteuer begebt… solltet ihr euch neue Kleidung kaufen, ihr werdet die ganze Zeit schon von anderen Leuten angegafft.” „Wirklich?”, Siri drehte sich um, „Ist… mir gar nicht aufgefallen.” Tracy lächelte nur mehr: „Sie machen es im vorbeigehen, damit glauben sie, es wäre nicht auffällig.” So kam es, dass die Reisenden von Tracy zu einem Gewandgeschäft mitgenommen wurden. Lyze, der stets ein Hemd trug, fiel noch am wenigsten in der Stadt auf und brauchte keine große Veränderung. Siri nutzte die Einkaufstour und kaufte sich wieder ein kurzes Kleid, mit passender Weste und einem dünnen Schal. Avrial, der eigentlich immer mit seinem dunkelroten Mantel unterwegs war, bekam von Tracy einen weinroten Anzug aufgedrängt – auch wenn der Magier am Anfang nicht viel von ihm hielt, bekam er von seinen Gefährten positives Feedback, als er ihn angezogen hatte. Nicht zuletzt passte der Anzug immer noch gut zu seinem Zylinder. Währenddessen, außerhalb der Stadtmauern, hatte eine kleine Dämonengruppe ihr Lager aufgeschlagen. Sie schienen vom Krieg mehr als genug zu haben, zumindest saßen die meisten von ihnen müde neben und in den Zelten. Ganz anders hingegen ihr Anführer, der immerzu den kleinen Hügel hinab zur Stadt sah. Er hatte die Arme verschränkt und konnte an nichts anderes denken – bis ihm hin und wieder sein Horn schmerzte. Hand gehoben griff er sich dann immer an die Stelle, wo sich einst sein rechtes befand und musste dabei an das Kampfgeschehen denken, indem er so gedemütigt wurde. „Mein Gebieter…” Langsam sah er zur Seite, hinab zu der Ursache der Unterbrechung. Ein kleiner, grüner Dämon verbeugte sich und hatte einen Brief bei sich, den er Tarrence überreichte. Als er den schwarzen Umschlag öffnete, hoffte er insgeheim auf gute Neuigkeiten seines Heimatlandes… doch es kam anders. Mit strengen, aber auch traurigen Blick senkte er den Brief nachdem er ihn gelesen hatte. „Dann ist es also geschehen…” „Mit Erlaubnis, mein Gebieter…”, begann der Kleine neben ihm, „Was ist geschehen?” „…Das werdet ihr noch früh genug erfahren… wichtig ist jetzt nur mehr, das wir unseren Prinzen finden… und zwar schnell.”, mit diesen Worten setzte sich Tarrence in Bewegung, zurück ins Lager. „Aber… aber Gebieter!”, sprach der Kleine und lief ihm nach, „Wie wollen wir das anstellen?” „Wir warten ab.”, so Tarrence, „Siri und ihre neuen Gefährten sind in Destercity. Wir können nicht hinein, aber wer sagt, das wir dies auch müssen…?”, er grinste, setzte sich in seinen Stuhl. „Dort ist jemand, den Siri sehr gut kennt. Sobald sie die Stadt verlassen, werden wir ihnen folgen. Denn wenn sie heraus kommen, dann nur mit der Gewissheit, wo sich unser Prinz befindet.” Kapitel 26: Klänge der Erinnerung --------------------------------- Der Anfang in Destercity war schwer gewesen. Nun aber, wo Tracy bei ihnen war, schien alles leichter zu sein. Sie erklärte ihnen zum Beispiel, was Firmengebäude sind, dass dort jede Menge Angestellte unter einem Boss arbeiten, diese dafür mit Nima bezahlt werden, die sie sich wiederum bei einer so genannten Bank abholen konnten. In Siris Augen war dies zu Beginn ein großer Schwachsinn. Immerhin arbeiten die Leute, um Nima zu verdienen und um Nima zu verdienen, müssen die Leute arbeiten. Es war ein ewiger Teufelskreis aus dem man, wenn man einmal begonnen hatte, nicht mehr herauskam – so meinte sie. Auch Lyze war diese Art von Arbeit fremd, immerhin hatte er bis jetzt keinen richtigen Boss, abgesehen von den Engeln in der Lichtarmee. Er verdiente sein Geld mit Obsternten aus seinem vom Haus nahe gelegenen Wald, die er in Dörfern seiner Umgebung verkaufte und dort hin und wieder durch Hilfsbereitschaft Nima geschenkt bekam. Hier aber, in Destercity, war all dies unmöglich. Keiner würde einem Nima geben, wenn man eine alte Dame über die Straße führt oder ihren Einkaufskorb trägt. Wenn man hier keine Arbeit hatte, dann war man obdachlos und lebte auf den Straßen. Dies wiederum brachte Siri zu der Erkenntnis, eigentlich obdachlos zu sein… Während Avrial den Tag damit verbrachte, Tracys Bruder Oto, einen Arzt in Ausbildung, zu suchen, spielte Tracy die Fremdenführerin und brachte Siri und Lyze in ein so genanntes Hotel. Dies war schon wieder anders als im Rest Desterals. Gasthäuser beherbergten Leute auf ihrer Durchreise, in denen man sich für ein paar Tage ein Zimmer zum Übernachten mieten konnte. Hier war es ebenfalls so, aber viel, viel teurer – und moderner. Vielleicht ja gerade deshalb der hohe Preis. Jedenfalls hatte Avrial der Gruppe 65 Nima gegeben, um Siris versprochenes Wunschessen zu bezahlen und um drei Zimmer zur Übernächtigung zu buchen… nun ja, aus den drei Zimmern wurde eines. Als Lyze den enormen Preis an der Rezeption sah (drei Zimmer – 60 Nima für eine Nacht), hatte er beschlossen nur ein Zimmer mit drei Betten zu nehmen (insgesamt 30 Nima). Natürlich freute sich Siri darüber nicht besonders, aber über den enormen Wucher ärgerte sie sich richtig. Tracy erklärte ihnen, dass Destercitybewohner viel Lohn ausgezahlt bekamen und darum die restlichen Preise der Stadt stiegen – so was nannte man angeblich Inflation. Siri meinte: „Dann müssten alle Leute, wenn sie die Stadt verlassen, sehr reich sein!” Selbstverständlich hätten sie außerhalb mehr Geld. Doch durch den Krieg wollte niemand die sichere Stadt verlassen. Es waren bereits so viele Einwohner und Flüchtlinge innerhalb der Mauern, dass ihnen langsam die Gebäude ausgingen – doch sich ausbreiten ging auch nicht, gerade weil diese schützende Mauer um der Stadt herum existierte. Sei es wie es sei, Tracy begleitete die zwei noch bis in ihr Zimmer; denn so ein Aufzug war auch was Besonderes, was ihnen erklärt werden musste. Oben, im 21. Stock angekommen, sperrte Lyze die Tür auf und fand kurz danach auch gleich den Grund für den hohen Preis heraus: für eine Unterkunft war das Zimmer riesig. Ein Bad, ein Wohnzimmer mit Bar und ein gemeinsames Schlafzimmer für drei Personen, Zimmerservice war inbegriffen, doch eigentlich nicht von Nutzen. Während Lyze die Bar unter die Lupe nahm (und dabei herausfand, dass er nicht freiwillig etwas davon trinken würde), inspizierte Siri das Sofa. Sie schmiss sich hinein und entspannte sich erstmals, bevor ihr Blick durch den Raum wanderte und sie direkt vor sich einen merkwürdigen Kasten entdeckte. Zögernd lehnte sie sich nach vorne. Zuerst fragend, dann auch neugierig, näherte sie sich mit ihrer Hand den zwei Knöpfen, neben der mit Glas bedeckte Fläche. Als sie den oberen Knopf „ON” drückte, erschien plötzlich, wie durch Magie, ein Bild unter der Glasfläche. Siri zuckte erschrocken zurück ins Sofa, denn der Kasten mit Bild gab Geräusche von sich! „Nein, Siri!”, Tracy kam herbei, schüttelte den Kopf und drehte die Lautstärke des Gerätes leiser. „Das ist ein Fernseher, du Dummerchen.” „Ein Fernseher…?”, Lyze lehnte sich fragend hinten über das Sofa. Das Katzenmädchen musste kichern. „Ja… wie erkläre ich es euch am Besten…? Hmm. Wart ihr schon mal im Theater? Ein Fernseher kann so ein Schauspiel wiedergeben, es wird mit einer so genannten Kamera gedreht und dann über ganz Destercity ausgestrahlt – mehr müsst ihr für den Anfang nicht wissen. Es gibt allerdings einen Unterschied zwischen Film und Nachrichten. Nachrichten sind Life, also jetzt gerade in diesem Augenblick und real. Da stehen oder sitzen meistens Leute mit Mikrofon vor der Kamera und berichten über Ereignisse. Über den Krieg, über einen Bankraub, einer Heldentat, einem neuen Gesetz… und so weiter! Verstanden?” Schweigend wurde sie von den zwei Außenstehenden angeschaut, dann erst hoben sie die Schultern und gaben ein „Ja… so halbwegs.” von sich. Inzwischen, angekommen im Ärztezentrum, wurde Avrial von Oto untersucht. Wenn man davon ausging, dass der Arcaner zuletzt vor sehr vielen Jahren bei einem Arzt war, konnte man sich denken, wie unangenehm es ihm war. Oto war zwar ein Arzt in Ausbildung, konnte aber mit Standartuntersuchungen sehr gut umgehen. In erster Linie kam Avrial wegen seinem verletzten Brustkorb, doch angesichts dessen, dass er schon lange nicht mehr angesehen wurde, machte Oto ein paar Untersuchungen kostenlos hinzu. So saß der Arcaner am weißen Tisch und wartete geduldig auf den Arzt, der mit den Ergebnissen den Raum betrat. „Alles in Ordnung.“, Oto lächelte dabei, „Die verursachten Schäden sind oberflächlich und werden bald abheilen. Zum Glück ist keine Rippe gebrochen!“ „Wunderbar.“, so Avrial, der dankend nickte und den Untersuchungstisch verließ. „Allerdings…“, bei Otos leisen Worten blieb der Arcaner im Raum stehen. Nun sah der Arzt ernst aus; da Avrial ein Bekannter von Tracy war, auch ein wenig sorgvoll: „Wie lange sind deine Lippen schon violett verfärbt? Weißt du, wann es angefangen hat?“ Avrial antwortete nicht. Er sah gespannt in Richtung Oto und wartete das Ergebnis ab. „Die Blutuntersuchung deutet stark auf Zyanose hin. Es könnte erblich bedingt sein – jedenfalls steht fest, dass wenn du schon länger darunter leidest, es sich um eine chronische Erkrankung handelt. Ich würde empfehlen-“ „Vielen Dank.“, Avrial schritt zur Tür und lächelte, „Aus dir wird bestimmt ein hervorragender Arzt.“ „Ja- aber…“, Oto sah dem Magier überrascht nach. Scheinbar hatte er mehr aufgedeckt, als dass Avrial wissen wollte… Nach zwei weiteren Stunden verstrich langsam der Nachmittag. Von einem so hohen Raum aus, wie das Hotelzimmer der Reisenden, konnte man halb Destercity überblicken – und die sinkende Sonne gut beobachten. Sie warf ein sanftes, orangenes Licht auf die Stadt, die sonst so kühl in ihrem weiß-blau wirkte. Siri stand am Fenster und blickte eine Zeit lang hinaus. Rechts neben ihr das Sofa und der aufgedrehte Fernseher. Lyze und Tracy waren hinunter in die Rezeption gegangen, um Avrial abzuholen, der von Oto zurück war und sich nun fragte, in welchem Zimmer die gemeinsame Unterkunft lag. Ein tiefer Seufzer klang durch den Raum. Siri fragte sich, wie sie die Person aus ihrem Traum jemals finden sollte. Die Stadt war zu groß, um sie unter eine Woche abzusuchen, und Gesetzeshüter an der Suche beteiligen konnte sie auch nicht, denn es gab weder ein Aussehen, noch einen Namen, den sie ihnen mitteilen hätte können. Wie soll man jemanden finden, den man nicht kennt? Für Siri schien es eine Suche nach einer Nadel im Heuhaufen zu sein; von der man nicht weiß, wie sie aussieht. Einige Minuten lang stand sie am Fenster, wurde nebenbei leise vom Fernseher berieselt und hatte ihren Kopf auf dem Arm gestützt. Zuerst bekam sie den Fernseher nur im Hintergrund mit, dann begann sie aufzusehen. Musik. Klänge, die ihr so vertraut vorkamen und doch noch nie gehört hatte. Es war eine sanfte, traurige Musik, die leise aus dem Fernseher raunte. „Was ist das…?”, Siri konnte nicht anders. Sie ging zu dem Gerät hinüber und setzte sich ganz nah vor das Bild. Es war ein Bericht einer Reporterin gewesen, die vor einer großen Menschenmasse stand, die wiederum pfeifend und rufend vor einer Bühne standen und ein paar Leute bejubelten – ein Rockkonzert. Siri konzentrierte sich auf die Musik im Hintergrund, schärfte den Blick auf die Musikgruppe: doch niemand von denen kam ihr bekannt vor. Sie würde sich doch bestimmt daran erinnern, sollte sie einen Rocker kennen, oder? Da öffnete sich die Tür. „Siri, wir sind zurück!”, rief Lyze, doch dies schien sie nicht mitbekommen zu haben. „Bin ich froh, dass es vorbei ist.”, sprach Avrial, „Und dass ich mir den Brustbereich nur geprellt, nicht gebrochen habe…” „Was habt ihr denn gemacht, dass du dich so verletzt hast?”, Tracy erschrak kurz, hielt sich die Hände vor dem Mund: „Tut mir leid, das geht mich nichts an, oder?” „Ist schon okay, Tracy.”, Lyze zog sich die Schuhe aus, „Wir sind Tarrence in eine Falle getappt und Avrial musste uns verteidigen – dabei wurde er von seinen Hörnern gerammt.” „Ach so.”, sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte eine Hand auf Avrials Schulter, „Dann, gute Besserung!” Er nickte schmunzelnd. „Danke.” „Siri!”, erneut rief Lyze, „Wir sind zurück, hörst du?” Doch es kam keine Antwort. „Siri?”, nun fragte auch Tracy und folgte besorgt Lyze ins Wohnzimmer. Siri saß noch immer dicht vor dem Fernseher und starrte auf das Bild. „Was tut sie?” „Sie… sieht fern.”, antworte Tracy dem Halbengel, ehe sie näher schritt, sich streckte und die Tonlautstärke des Fernsehers erhöhte, damit Siri nicht mehr so dicht vor dem Gerät klebte. Dann stützte sie die Hände auf ihre Knie ab und sah seitlich zu ihrer Freundin: „Was schaust du denn?” Keine Antwort. „Ah.”, meinte das Katzenmädchen, „Ein Bericht über das heutige Konzert. Es findet am Hauptplatz, nicht weit von hier hinter dem Park statt-”, kaum hatte sie dies fertig gesprochen, war Siri aufgesprungen: „Am Hauptplatz!” Lyze und Avrial bekamen die Situation nicht so recht mit, als sie an ihnen vorbei lief, den Flur hinaus und verschwand. „Siri…!”, Lyze wollte ihr hinter her, doch Avrial hielt ihn am Arm zurück. „Lass sie laufen.”, er sah zum Fernseher, woraus die Musik raunte, „Ihre Suche ist beendet. Doch es wäre besser, ihr nicht zu folgen. Hier in Destercity kann ihr kein Dämon an den Kragen und ihre Erinnerungen muss sie alleine zurückgewinnen.” Tracy kam herbei, sah traurig zur Tür hinaus. „Können wir denn gar nichts tun?” „Nein.”, Avrial lächelte, „Außer warten, können wir nichts tun. Wie ein Spruch die Situation gut beschreibt: wir haben sie bis zur Tür gebracht, doch hindurch gehen muss sie alleine.” Kapitel 27: Ein vergessener Freund ---------------------------------- Laute Schritte waren zu hören. Sie klangen trotz des Lärms der Autos zur späten Stunde durch die Gassen. Die Sonne färbte die Stadt orange, das Wasser im Brunnen glänzte in warmen Farben. Siri hatte keine Zeit um diese Schönheit zu bewundern. Sie lief dem Klang nach. Dem Klang, der sie seit Einbruch der Dämmerung zu rufen schien. Es war eine traurige Melodie gewesen, die vom Konzert des Hauptplatzes ausging. Für normal war man von Rockbands harte Lieder gewohnt, doch dieses war anders. Siri konnte nicht sagen, was es war, oder was sie dort vorfinden würde, aber sie wusste, dass sie sich beeilen musste, ehe das Konzert zu ende ging. Langsam erreichte sie das Ende des Parks, durch den sie jetzt gelaufen war. Es war ein Hürdenlauf, um Frauen mit Kinderwägen, langsam trottenden Männern, Pärchen beim Picknicken und sogar um einen Hund. Da war plötzlich ein kleiner Zaun im Weg; Siri wollte keinen Umweg machen und den Durchgang suchen, drum sprang sie mit aller Kraft darüber. Sie war auf der anderen Seite angekommen. Völlig aus der Puste stand sie da und erblickte vor sich gerade Wegs die große, jubelnde Menschenmasse – und die Bühne. Inzwischen gingen Avrial, Lyze und Tracy langsam die Straße vor dem Hotel entlang. Es wurde finster und das Katzenmädchen musste zurück zu ihrem Bruder Ricci; nicht, dass er nicht alt genug wäre, um auf sich selbst aufzupassen, aber Tracy war bereits den ganzen Tag unterwegs und er würde sich bestimmt Sorgen machen. Zum Abschied winkten die beiden Jungs ihr nach, ehe sie um die Ecke bog und verschwand. „Komm.”, sprach Lyze, der den Arm senkte und den Rückweg zum Hotel antritt. Doch da fehlte etwas… Avrial war ihm nicht nachgekommen. Noch bevor er nach ihm fragen konnte, sah er ihn auf der anderen Straßenseite, den Blick neugierig bei einem Stand hinab auf die Sachen gerichtet. „Was… tust du denn da?”, Lyze kam zu ihm, „Andenken. Wofür brauchst du denn Andenken an Destercity…?”, er schaute ihn fraglich an. „Na, hör mal Noshyru.”, war die Antwort, „Wer weiß, wann ich das nächste mal wieder hier vorbeikomme? Bis dorthin könnte die Stadt schon wieder ganz anders aussehen.” „Ich dachte, du wirst nur doppelt so alt wie ein Mensch…?” „Das hat doch nichts damit zu tun.”, er begutachtete eine Grußkarte, „Destercity wandelt sich so schnell. Wer weiß, vielleicht gibt es in vierzig Jahren Schwebeautos…?” „Ok…”, Lyze seufzte tief und verschränkte die Arme. Er blieb neben dem Arcaner stehen und wollte warten, bis er fertig war. Auf Andenken hatte der Halbengel nun wirklich keine Lust; erstens fand er, sie wären unnötige Staubfänger, zweitens drehten sich seine Gedanken momentan nicht um ‚Plunder’, sondern um die Frage, ob Siri wirklich alleine zu recht käme. Und plötzlich… Lyze schaute überrascht auf, als er einen weißen Schein um die Ecke laufen sah – waren das Federn…? Ehe er es von selbst herausfinden konnte, schaute jemand um die Ecke hervor: es war ein Engel. Um genauer zu sein, ein ernst dreinblickender, männlicher Engel mit langen Flechtzopf, der direkt in Lyzes Richtung spähte und ein „Komm her” mit seiner Hand andeutete. „Ich ähm-”, begann er zu Avrial, „Ich bin gleich zurück.”, ehe er losging. „Ist gut.”, war die schnelle Antwort. Der Arcaner war viel zu beschäftigt, sich für ein Andenken zu entscheiden, als auf den grimmigen Engel zu achten, der Lyze zu sich wank. Es war klar, dass Siri von vorne, bei so einer großen Masse, keinen Erfolg erzielen würde, darum versuchte sie ihr Glück und schlich hinten herum rein. Für normal gelangte man nicht ohne V.I.P.-Ticket hinter die Bühne und auch für sie gab es keine Ausnahme. Der Türsteher war ein Mensch. In Verhältnis zu Siri sehr groß, breite Schultern und leicht reizbar aussehend. Drum versteckte sie sich anfangs hinter zwei Mülltonnen, bis der Schrank von einem Mann seine Position an der Tür kurz verließ, um sich sein Abendessen – ein Hotdog – abzuholen. In dem Moment kam Siri aus ihrem Versteck hervor, schlich geduckt die drei Stufen hinauf und drehte den Knauf, dessen Türe zum Haus hinter der Bühne führte. Dort angekommen, schloss sie eilig die Tür hinter sich und versteckte sich beim nächstmöglichen Stützbalken. Anschließend schielte sie in den Gang vor sich hervor: es schien niemand da zu sein, die Luft war also rein. Mit diesem Gedanken schritt Siri eine Weile lang voran, drehte sich bei jedem kleinen Geräusch, das nicht zur Musik der Rockband gehörte um und durchsuchte nebenbei den scheinbar leeren Gang. Nur ein paar Truhen, Kisten und Koffer standen herum, sonst nichts. Gerade, als Siri ein schwarzes Tuch von einer länglichen Kiste zog, hörte sie plötzlich Schritte. Eilig schwang sie die Arme beim laufen; die nächste kleine Kiste musste ihr einfach als niedriges Versteck reichen. Da war sie nun, geduckt auf allen Vieren und ganz klein hinter der Kiste, damit sie bloß nicht entdeckt werden konnte – leider war ihr nicht bewusst, dass ein Zipfel ihres kurzen Kleides sichtbar war. Die Schritte kamen näher. Näher und näher; knapp einen Meter vor Siri verstummten diese schlagartig. Sie schluckte panisch. Wurde sie entdeckt? Die Schritte drehten sich, als ob die Person etwas suchen würde. Dann erklang eine vertraute Stimme. „Siri?” Ruckartig musste sie dabei aufschauen. Es war ihr, als ob der Klang, der den ganzen Abend nach ihr rief, persönlich nach ihr fragte. Sie erhob sich, putzte ihre Kleidung ab und starrte in ein aus ihren Träumen bekanntes Gesicht. „Mica…”, der Name fiel leise. Leise und erwartungsvoll. Der junge Mann, der vor ihr stand, trug einen dunklen Anzug, passend für ein Konzert. Jedoch weniger passend war sein schwarzes Halsband, in denen drei blitzgrüne Steine funkelten. Ebenso hatte er gleichfarbige, grüne Augen und schulterlange, violette Haare… sehr ungewöhnlich für einen Menschen. Siri konnte nicht anders. Ihr schossen die Tränen in die Augen, ehe sie auf ihn zulief und in die Arme fiel. „MICA!” „Siri…”, er erwiderte die Umarmung und redete dabei in ruhigem Ton. „…zum Glück. Ich bin so froh dich endlich wieder zusehen.” Von Siris Seite her war es ein ganz seltsames Gefühl. Sie war so glücklich, dass sie weinen musste, jedoch erkannte sie nicht, bis auf seinen Namen, wer er eigentlich war. „Was suchst du hier?”, Lyzes Frage an den Engel war kühl. „Das sollte ich dich fragen, Noshyru.”, er verschränkte die Arme, „Sagt dir zufällig der Satz ‚Sie ist nur ein Mensch, der zufällig in die Arme der Dämonen lief.’ etwas?” Lyze verzog die Miene bei seiner Feststellung: „Ihr habt uns überwacht…” „Du hast gelogen.”, der Engel ging einmal um ihn her, „Uns hast du belogen.” „Für Menschen ist es doch üblich zu lügen-”, er lächelte dabei. „Du bist kein Mensch!”, der Engel stieß ihn, „Unsere Herrin gab dir die Ehre, dich uns anzuschließen – so dankst du uns? Verräter, vor das Kriegsgericht sollte man dich stellen!” „Ihr seid im Unrecht.”, war die Antwort, „Manchmal muss man schattig erscheinende Wege beschreiten, um festzustellen, dass dieser der Richtige ist.” „Willst du dich etwa gegen uns stellen?” „Ich will mich nicht gegen euch stellen.”, er sah den Engel ernst an, „Aber auch ihr seid nicht besser als Menschen, Tiermenschen, Arcaner oder Dämonen. Siri wird bald wissen, wo sich der Prinz von Azamuth befindet. Wir werden ihn finden. Und wenn es so weit ist, kann er zurückkehren und dem Krieg ein Ende-” „Falsch.”, der Engel schmunzelte, „Du glaubst doch nicht wirklich, dass, wenn der Prinz zu seinem Vater zurückkehrt, bei uns der Frieden einkehren wird. Nein, Noshyru.” Der Engel schritt näher an Lyze heran und legte die Hand auf seine Schulter. „Du wirst mit mir kommen. Wenn du dich weigerst, habe ich die Anweisung, dich im Namen unserer Herrin, als einen Verräter zu töten.” Inzwischen brach die Nacht herein. Das Konzert am Hauptplatz war im vollem Gange, das Publikum jubelte, die Türsteher waren im vollem Einsatz und hinter der Bühne haben sich Siri und ihr lang gesuchter Freund Mica auf eine Kiste gesetzt, um in Ruhe zu reden. Siri hatte ihm gerade erklärt, dass sie sich an nichts erinnern konnte und darum nur mit Hilfe von Puzzelstücken aus Träumen zu ihm gefunden hatte. „So ist das also…”, er senkte den Kopf, „Darum bist du nicht mehr gekommen.” „Ja…”, sie kramte in ihrer Seitentasche und zog den goldenen Knopf heraus, den sie seit beginn ihrer Reise bei sich trug. „Das ist alles, was ich bei mir hatte.” „Oh-”, Mica nahm den Knopf in die Hände und musste schmunzeln: „Den hast du noch bei dir?” Siri sah ihn überrascht an: „Kennst du ihn?” „Er gehört zu meiner Uniform… na ja, gehörte. Du wolltest ihn mir wieder annähen.” „Ich kann nähen…?” Er lachte. „Ja! Oh je, du hast tatsächlich alles vergessen.” „Mica…”, sie blickte traurig, „Es tut mir leid, aber… ich habe auch vergessen, wer du bist. Ich meine – du bist mir immer im Traum erschienen, ganz verschwommen und hast mir den Weg gewiesen. Aber ich frage mich die ganze Zeit… wieso?” „Du musst nachdenken.”, er legte seine Hand auf ihre Schulter – einige seiner Finger waren mit Verband umwickelt, was Siri erst jetzt auffiel. Dann stand er auf und präsentierte sich selber: „Siri – ich bin eine Muse!” „Eine Muse…?”, sie zog eine Braue hoch. „Du sahst mich in deinen Träumen, weil noch immer ein Rest der Inspiration dich begleitete.” „Häh? Färbst du etwa ab, oder so?” „Nein, nicht ganz.”, er setzte sich wieder schmunzelnd neben sie, „Aber alles, was du mich in deinen Träumen hast sagen hören, war ein Echo von dem, was du bereits wusstest und vergessen hattest. Kannst du mir folgen?” „Ein wenig… sag… spielst du auch in dieser Rockband? Als Muse musst du doch unglaublich begabt sein!” „Ich spiele Gitarre, ja. Aber nicht in dieser Band. Ich verstecke mich.” „Huh?” „Es gibt kein besseres Versteck, als eine Rockband. Sie lebt von meiner Inspiration, im Gegenzug bietet sie mir Schutz. Diese Stadt, die Bodyguards, die Türsteher… hier bin ich vor den Dämonen sicher.” „Dich jagen sie also auch?”, Siri sah ihn ganz überrascht an. „Wir werden beide gejagt… weil wir unser Land ‚verraten’ haben.” „Könntest… du dich mal klar ausdrücken?” „Hach, Siri.”, er stand auf und streckte die linke Hand nach ihr aus. Als sie nach Zögern sie ergriff und nun vor ihm stand, legte er beide Hände auf ihre Wangen. „Ich glaube… es wäre das Beste, wenn ich es dir zeige.” „Mir zeigen? Heißt das, du kannst mir helfen mich zu erinnern?”, sie lächelte hoffnungsvoll. „Genau das.”, er drückte die Daumen an ihre Schläfe, ehe er seine Stirn gegen ihre legte. „Schließe deine Augen.” Kapitel 28: Reale Vergangenheit ------------------------------- Ein kleines Mädchen, nicht älter als vier Jahre, ging Hand in Hand mit einem Mann durch ein mittelalterliches Dorf. In ihren verweinten Augen spiegelten sich Angst, Unsicherheit und Hoffnung. Denn der Mann war von nun an ihre neue Familie. Trotz seines jungen Aussehens hatte er ganz lange weiße Haare und rote Augen eines Albinos, seine leicht spitzen Ohren ragten durch die Haare hindurch. Er trug ein Schwert an seinem Gürtel, seine Rüstung verriet, dass er ein Krieger sein musste. Als der Mann und das Mädchen vor dem großen grauen Schloss standen, beugte er sich zu ihr hinab und drückte ihre Hand. „Wir sind da, Salieri. Sei artig und bescheiden, dann wird der König auch nett zu dir sein.“, er lächelte, „Wenn alles geklärt ist, bekommst du eine große Schüssel voll Eis. Na, wie klingt das?“ Das Mädchen blieb stumm, nickte aber schon etwas glücklicher. „Salieri?“, Siri unterbrach Mica und damit die Rückblendung. „Salieri, ist das mein Name?“ „Ja. Siri ist dein Kürzel… ich dachte, das wusstest du.“ „Nein, ich dachte die ganze Zeit, Siri sei mein voller Name…“ „Nun, Mairon, der weißhaarige Mann, hatte dich nahe Desterals, neben einer verunglückten Kutsche, verwirrt und ohne Familie gefunden. Du sagtest ihm wie du heißt, doch das war schon alles, was du wusstest.“ „Bedeutet das… ich habe meine Eltern nie gekannt? Ich dachte, ich würde sie kennen!“ „Leider nicht. Du kannst dich nicht an etwas erinnern, was du nie wusstest, verstehst du?“ Siri sah bedrückt zur Seite. Daraufhin berührte Mica sanft ihre Wange und versuchte sie zu beruhigen. „Es ist schrecklich, sich ein zweites Mal im Leben fragen zu müssten, wer seine Eltern waren… aber, deine Kindheit war trotzdem schön. Lass mich dir deine Vergangenheit zeigen.“ Schließlich nickte sie, ehe Mica wieder seine Stirn an ihre lehnte. Der Garten. Der Garten, von dem Siri immer geträumt hatte, war der Ort, an dem das kleine Mädchen nun stand. Lieblich waren die wenigen Blumen, blau das Wasser im Brunnen und grau die Wolken über ihr. Sie waren immer grau. Es verging niemals ein Tag ohne Wolken in diesem Land. „Warte hier.“, Mairon zog die Hand von ihrer Schulter, bevor er weiter voran schritt und durch das zweite Tor gerade aus. Er musste mit dem König über die Adoption dieses menschlichen Kindes reden. Manchmal gab es Unstimmigkeiten, weswegen schon so manches Kind zurück an der Grenze Desterals gelassen wurde, alleine. Die kleine Siri schaute sich währenddessen im Garten um. Er war von hohen Mauern umgeben, die Mitte des Gartens war kreisrund und an den Seiten standen Steinbänke. Das Mädchen beugte sich hinab und begann ein paar der wenigen Blumen zu pflücken. Sie waren rot, gelb und violett und benötigten nicht viel Sonne. Gerade, als Siri an einer Blume schnupperte, stand plötzlich ein Junge vor ihr. Durch das, was sie letztens erlebt hatte, konnte sie nichts mehr erschrecken. Man weiß nicht so recht, was ihr und ihren Eltern zugestoßen war, doch das Erlebnis muss so schrecklich gewesen sein, dass Siri alles mit dem in Verbindung stehenden vergessen wollte… und dies auch tat. „Hallo.“, sagte sie, zum violetthaarigen Jungen aufsehend. Er sprach nicht und zeigte keine Mimik. „Mein Name ist Salieri… und wie heißt du?“ „Ich…“, begann der traurige Junge, „Ich habe keinen Namen.“ „Wie denn das?“, sie verdrehte den Kopf, ehe sie aufstand, „Jeder hat doch einen Namen. Wie alt bist du denn? Ich bin vier, weiß aber nicht genau wann, darum hat Mairon den Tag, an dem er mich gefunden hat, zu meinem Geburtstag erklärt.“ „Vier.“ „Was? Du bist auch vier Jahre alt?“ „Nein… vier Tage.“ Lange blinzelte das Mädchen in seine grünen Augen. Nach ein paar Minuten kicherte sie ihn an und schüttelte ungläubig den Kopf. „Deine Steine glänzen schön.“, dabei deutete Siri auf die drei grünen Steine, die der Junge stets um den Hals trug. „Das…“, erwiderte er, „Wenn ich das Band abnehme, sterbe ich, sagt der König.“ „Mica-“ „Huh..?“ „Ich glaube, ich werde dich ab sofort Mica nennen! Der Name gefällt mir – dir auch?“ Der Junge antwortete nicht. Nachdem er sie eine Zeit lang angestarrt hatte, fing er allerdings an zu lächeln. „Salieri!“ Siri sah auf, als Mairon bei dem Tor stand und nach ihr rief. „Komm, der König will dich jetzt sehen.“ Sie nickte, winkte zu Mica und lief ihrem Erzieher hinterher, ins Schloss. Es war ein großes Schloss, mit nur wenigen Fenstern. Dadurch, dass nur gering Licht hineinfiel, mussten Tag und Nacht Fackeln an den Wänden leuchten. Die Wachen an den Seiten sahen seltsam aus und hatten für Siri einen merkwürdigen Stallgeruch. Fasziniert von ihnen, blickte sie immerzu jeder Wache beim vorbeigehen lange nach, bis sie plötzlich jemanden vor sich gegen die Füße lief. „Hoppla.“, sagte er Mann, in den sie gelaufen war. Er beugte sich hinab und schmunzelte dem drei Mal so kleinen Mädchen in das Gesicht, seine schwarzen Hörner blitzten im Licht der Fackeln. „Mairon, ist das das Kind? Sie ist hübsch – und niedlich.“ „Sie wird später sicherlich ein kleiner Engel- ähm, natürlich im übertragenen Sinne.“ „Pass auf, was du vor dem König sagst.“, der Mann erhob sich, „Für dich als Arcaner mag ‚Engel’ nur ein Wort sein, aber adeligen Dämonen gefällt der Ausdruck überhaupt nicht.“ Er nickte. „Ich werde daran denken. Dem Mädchen soll schließlich nichts geschehen. Tarrence, bringst du uns jetzt zu ihm?“ Der Mann lächelte, ehe er den beiden den Weg in den Thronsaal zeigte. Da waren sie nun. Sie standen mittig im geschmückten und verdunkelten Thronsaal. Hinten thronte der König – sein Gesicht war alt und hatte einen Hauch von Arroganz an sich. Rechts neben ihm, von Siri aus gesehen, stand ein kleiner Junge, etwa fünf Jahre älter als sie selbst. Er war blass, hatte rote Augen und schwarzes Haar. Da er reinen Samt an sich trug, war der Gedanke nicht verkehrt, dass er der Prinz sein musste. Sicherlich war der Thronsaal auch darum verdunkelt: für gewöhnlich meiden Vampire das Licht. Nach einem langen Gespräch zwischen Mairon und dem König gab er das Einverständnis, dass dieses kleine Mädchen in seinem Reich leben durfte. Mairon hatte einen entscheidenden Vorteil an seiner Seite: er war einer der drei Auserwählten, die direkt unter dem König standen. Würde jemand aus dem normalen Volk, etwa ein Bauer, versuchen ein Menschenkind zu adoptieren, war da immer die Gefahr groß, dass es wieder ausgesetzt werden musste. Die Tage vergingen und die kleine Siri lernte die Personen im Dorf besser kennen. Da gab es eine alte Frau mit Schlangenhaaren, eine Hexe, die ihr immer süßes Obst aus ihrem Garten schenkte. Das Pärchen, welches neben Mairons Hütte wohnte, war etwas ulkig. Es waren eine Schattenkreatur, ganz in schwarz und ein etwas übersorgliches Biest gewesen, die immerzu alles gemeinsam machten. Das Ulkige daran war, dass der Mann, also die Schattenkreatur, nie eine Hose trug. Die Kinder aus dem Dorf waren etwas grob. Die Jungs spielten immer mit Holzschwertern und taten so, als wären sie im Krieg. Die Mädchen spielten eher selten, da sie immer im Haushalt zu tun hatten; aber wenn sie spielten, zum Beispiel Teeparty, dann war Siri nie eingeladen. Das wollte sie auch gar nicht. Denn jedes Mal, wenn Mairon ins Schloss gerufen wurde – das kam ziemlich oft vor – spielte sie mit Mica, dem Jungen, der scheinbar nie das Schloss verließ, oder nicht verlassen durfte. Manchmal kam auch der Prinz, Vilior, in den Garten. Er war dann immer ganz in einem schwarzen Mantel gehüllt, sodass nur seine Augen sichtbar waren, damit das Licht ihm nichts anhaben konnte. So spielten die drei Kinder oft gemeinsam. Einmal hatte der König eine wichtige Konferenz, zu der auch Mairon gerufen wurde. Dabei saß Siri im Garten und wartete auf Mica, der heute zum ersten Mal nicht zum Spielen kam. Das Mädchen war traurig darüber. Sie dachte, er möge sie nicht und würde deshalb nicht in den Garten kommen. Doch der eigentliche Grund war sowohl milder, als auch furchtbarer als das, was sich Siri eingebildet hatte. Mica kam nämlich doch noch aus dem Schloss heraus, wirkte aber ganz anders als sonst. Wie bei einer gespaltenen Persönlichkeit waren seine sonst so ruhigen Augen kalt und verachtend. Er erblickte Siri zwar, ging aber an ihr vorbei und setzte sich einfach zum Brunnen. „Was hast du denn?“, Siri kletterte hinauf, neben ihm, „Warum hast du so lange gebraucht?“ „Das geht dich nichts an.“, war die kalte Antwort. „Ich will es aber wissen!“ „Das geht dich nichts an, verschwinde!“, er stieß sie vom Brunnen. Die kleine Siri lag am Boden und sah erschrocken zu ihm auf; einen Moment später fing sie an zu weinen. Tief holte Mica Luft. Er atmete in einem Seufzer aus und griff sich dabei an den Kopf. Als er die Augen wieder öffnete, schien sein kalter Blick verschwunden zu sein. Sogleich sprang er vom Brunnen und half Siri zurück auf ihre Beine. „Entschuldige…“, meinte er, „Es tut mir leid, ich hätte es dir erklären müssen.“ „Was denn erklären?“, sprach Siri, die sich schluchzend eine Träne wegwischte. „Ich bin eine Muse.“ „Muse?“ „Musen werden vom König erschaffen, um sie mit Inspiration zu erfüllen und ihnen beiseite zu stehen… pro König gibt es eine Muse, da adelige Vampire aber lange leben, haben manche zwei, weil ihre alte stirbt.“ „Und du musst dem König dienen?“ „Ich gehorche, wann immer er mich braucht. Es strengt an, darum bin ich, nachdem ich ihm geholfen habe, immer etwas… mürrisch.“ „Ich habe von Musen in Geschichten gehört.“, Siri lächelte, „Aber sie waren alle Frauen.“ „Für normal… sind Musen absolut immer weiblich.“, Mica senkte den Kopf. „Der König meint, ich bin eine Art ‚Unfall’, dass beim Zauber etwas schief ging…“ „Du bist kein Unfall!“, Siri nahm ihn an den Händen, „Du bist kein Unfall, Mica!“ In Micas Gesicht zierte sich ein Lächeln, nachdem Siri dies gesagt hatte. „Das ist lieb von dir.“ Dann war eine Zeit Stille, bis Mica sie näher in den Garten zog, „Komm, lass uns spielen.“ Die Jahre vergingen und aus den Kindern wurden langsam Heranwachsende. Manchmal, wenn es nicht regnete oder nebelig war, machten die drei besten Freunde einen Ausflug vor das Dorf. Zwar sah es der König nicht gerne, wenn seine Muse und der Prinz das Schloss verließen – aber wenn man sich heraus schlich hatte er auch nie etwas davon erfahren. Prinz Vilior, stets im Mantel eingehüllt, Mica und Siri breiteten dann immer auf einem Hügel neben einem Baum, nahe dem Dorf, eine Decke aus und picknickten. Manchmal gingen sie auch zum Fluss und fingen Fische, aber am liebsten bekletterten sie den Baum, fantasierten sich Gestalten in die Wolken und rollten sich den Hügel hinab. Eines Tages, zwei Jahre bevor das schicksalhafte Ereignis eintreten sollte, verließ Mairon das Dorf… und das Land. Siri wollte ihn aufhalten, doch er meinte, er hätte keine andere Wahl. Der ganze Grund würde wohl niemals ans Tageslicht kommen. Das junge Mädchen war darüber sehr traurig. Sie war zwar alt genug, um auf sich selbst aufzupassen, doch Mairon war wie ein Vater für sie geworden – der sie nun für immer verlassen hatte. Dieser Tag war der traurigste in ihrem Leben, gefolgt von dem glücklichsten. Als Mica davon erfahren hatte und sie aufsuchte – sie stand bei heftigem Regen unter dem Baum am Hügel – versuchte er sie zu trösten. Was in diesem Moment geschah, sollte wohl die Beziehung zwischen ihnen für immer verändern: denn es war ihr erster Kuss. Nicht nur die zwei hatten sich, auch Prinz Vilior hatte die bestimmte Frau in seinem Leben gefunden. Immerzu weihte er seine zwei besten Freunde ein, doch seinem Vater erzählte er nie etwas davon: sie war ein Mensch, in Desteral lebend. Als dies nicht bereits verboten genug wäre, erklärte ihm seine Liebste beim nächsten heimlichen Treffen, sie sei schwanger. Dieser Schicksalsschlag war es, der Prinz Vilior dazu verleitete, mit seinem Vater über eine Hochzeit zu reden. Doch als der König von der Liebelei seines Sohnes erfuhr, war er keines Wegs über sein kommendes Enkelkind glücklich. Er ließ Vilior im Schloss einsperren, sodass er sie nicht wieder sehen konnte… und befahl seinen Männern, diese Frau aufzusuchen und hinzurichten. Monate später durfte sich Vilior wieder frei bewegen, sprach aber immer noch kein Wort. Er hasste seinen Vater dafür, war verärgert über diese Adeligkeits-Regel und sein Land. Mica hatte nur flüchtig mitbekommen, was der Prinz im Schilde führte. An diesem Tag suchte Mica Siri so eilig wie noch nie auf: der Prinz war weggelaufen, nach Desteral. Der König durfte davon nichts erfahren; seine falschen Annahmen würden zu einem Krieg zwischen Azamuth und Desteral führen. „Was sollen wir jetzt tun?“, war Siris Frage. „Wir werden Vilior suchen gehen und bitten, wieder zurückzukehren, bevor ein Krieg ausbricht.“ So geschah es. Mica und Siri verließen ihr zuhause heimlich, wenn alles schlief. Desteral war riesig, einen geflohenen Prinzen zu finden würde schwer werden. So trennten sich die Wege zwischen den beiden: Mica ging nach Destercity, der belebtesten Stadt des Landes, um Informationen über ihren Prinzen zu finden. Siri zog weiter und suchte mithilfe einer Karte nach Hinweisen. Sollte einer der beiden etwas herausfinden, so würden sie sich treffen und gemeinsam vor Prinz Vilior treten – doch es kam anders als geplant. Das Mädchen war Rebellen begegnet, die sie direkt zum Prinzen brachten. In einem langen Gespräch versuchte Siri, alleine, ihn davon zu überzeugen, zurück in sein Land zu kehren, doch ohne Erfolg. Sie verließ dieses Versteck und wollte Mica davon in Kenntnis setzen. Doch Prinz Vilior wusste, dass sie sein Versteck verraten würde und hatte keine andere Wahl: in seinem Team gab es einen Magier, der in der Lage war, Flüche auszusprechen. Vilior sagte ihm, er dürfe ihr kein Haar krümmen, sollte aber dafür sorgen, dass sie alles Gesehene vergaß. Im tiefen Wald lauerte dieser ihr schließlich auf. Noch bevor Siri mitbekam, was er vorhatte, versperrte er ihr den Weg und stieß seine Hand gegen ihren Kopf – das letzte, was sie durch ihre leeren Augen sah, war das Grinsen des Magiers, bevor sie zu Boden ging und dort für zwei Monate schlief. „ER war das!“, Siri riss sich von Mica los und tobte durch den langen Gang auf und ab. „Dieses Schwein!“ „Beruhige dich, Siri. Was hast du gesehen?“ Sie blieb stehen. „Huh?“ „Weißt du jetzt wieder, wo sich der Prinz befindet?“ „Ja… ja, das weiß ich tatsächlich!“, sie packte Mica am Arm und zog ihn mit sich, „Komm, wir müssen ihn schnellstens aufsuchen!“ „…Ohne mich.“ Mica war stehen geblieben. Siri sah ihn unverständlich an, während er ihrem Blick auswich und sich auf den Boden setzte. „Ich kann nicht.“ „Was meinst du damit?“, leise fragend kam sie zu ihm und kniete sich schließlich hinab. Er sah traurig auf seine eingewickelten Finger, ehe er die Knöpfe an seinem Anzug öffnete und Siri damit die Verbände um seinen Körper zeigte. „Meine Zeit ist schon lange abgelaufen.“ Sie verstand nicht ganz. „Ich habe Azamuth verlassen…“, er seufzte, „Für zu lange Zeit. Der König hat den Bann gelöst, weil ich nicht mehr von Nutzen war.“ „Willst du…“, Siri stiegen die Tränen in die Augen, „Willst du damit sagen, dass du sterben wirst?“ „Ja…“ „Mica, nein!“, sie fiel ihm in die Arme, „Du musst zurück, geh zurück nach Azamuth!“ „Ach Siri…“, lächelnd schloss er die Augen, ehe er die Umarmung erwiderte. „Das bringt auch nichts mehr… ich habe auf dich gewartet. Und jetzt, wo du hier bist, ist meine letzte Mission erfüllt. Ich werde sterben, ja – aber ich werde in einem Land sterben, wo die Sonne scheint. Ohne Wolken. Wo alle Kreaturen beisammen leben können.“, er fasste sie an den Schultern, sah ihr ins Gesicht. „Denk an mich. Dann bist du nicht alleine.“ „Ich…“, sie schniefte, „Ich bin nicht alleine… ich habe Freunde gefunden, die mir geholfen haben. Avrial, ein Arcaner und Lyze… einen Halbengel.“ „Das ist schön.“, er schloss wieder die Augen, „Dann musst du auch nicht alleine vor Vilior treten.“ „Willst du… willst du wirklich nicht mitkommen?“ „Nein… ich kann nicht.“ „Dann werde ich trotz meinen Freunden an dich denken. Ich verspreche es.“, und sie küsste ihn, einen kurzen Moment lang. Spät in der Nacht verließ Siri das Haus hinter der Bühne, nachdem das Konzert schon lange vorbei war. Auf dem Weg ins Hotel dachte sie noch einige Zeit an ihre Vergangenheit und stellte sich die Frage, ob sie Avrial und besonders Lyze aufklären sollte, dass sie in Azamuth aufgewachsen war. Als sie dann das gemeinsame Zimmer betrat und der Arcaner mit einem Weinglas auf der Couch saß und in den Fernseher sah, stellte sie schnell fest, dass da wer fehlte. „Na, weißt du jetzt, wo sich der Prinz aufhält?“, Avrial sprach zu ihr, ohne vom Fernseher wegzusehen. Sie nickte. „Lass uns bitte gleich morgen aufbrechen, auf dass der Krieg schnell ein Ende nimmt…“, dann suchte sie in der Wohnung umher, bis sie wieder vor Avrial stand: „Wo ist Lyze?“ „Zurück bei den Engeln… er hatte keine Wahl. Wir werden morgen ohne ihn weiterreisen müssen.“ Kapitel 29: 8. Versteckt im tiefen Wald --------------------------------------- Vogelgezwitscher klang früh am Morgen durch den Wald nahe Destercitys. Man sollte meinen, in einer grausamen Zeit wie dieser, wäre das Wetter trüb und regnerisch, jedoch war an jenem Tag das Gegenteil der Fall. Avrial begleitete Siri die Stadt hinaus, durch den Wald. Er wusste nicht genau, wo es hin ging, oder was Siri vorhatte, er wusste nur, dass sie dabei waren den Prinzen von Azamuth aufzusuchen… Dass ihnen beim verlassen der Stadt gerade zu unsichtbar eine einsame Gestalt folgte, kam beiden nicht in den Sinn. Die ganze gestrige Nacht hatte Siri keine Ruhe. Sie konnte nicht schlafen, war besorgt um ihren Freund Mica – den Avrial nicht kennen gelernt hatte – und verwirrt bezüglich dessen, was sie dank ihm in Erfahrung gebracht hatte. Dies war jedoch nur ein Teil des Grundes, weshalb Siri nicht auf den Arcaner wartete und wütend durch den Wald stapfte, denn ein zweiter Grund war, dass Lyze nicht mehr mitreiste. „So beruhige dich, Siri.“, rief Avrial nach vorne, „Wenn du weiterhin so laut bist, werden uns Dämonen entdecken.“ „Es ist deine Schuld!“, warf sie zurück und wich einem Ast am Boden aus, „Warum hast du den Engel nicht daran gehindert, Lyze mitzunehmen!?“ „Was hätte ich denn unternehmen sollen…?“, war die Antwort, „Wenn ich eingegriffen und den Engel daran gehindert hätte, würde ich nun die gesamte Engelsschar zum Feind haben.“ „Ach.“ „Siri – warte!“, Avrial stand plötzlich vor ihr und hinderte sie am weitergehen. „…Da ist jemand…“ Kurze Zeit später schubste sie ihn leicht aus ihrem Weg, „Ich weiß.“, und schritt trotzdem an ihm vorbei. „Bleib zurück, ich muss mich an etwas abreagieren.“, dies sagte Siri mit leichtem Zorn in der Stimme. Gesagt getan. Avrial stand sicherheitshalber in ihrer Nähe, aber weit genug weg, um sie nicht zu behindern. Es brauchte nicht lang und ein bekannter Magier sprang von oben herab, versperrte ihr den Weg: „Ah! So sieht man sich wied-“ Kaum hatte er den Satz begonnen, hatte Siri sich auf Furah gestürzt und zu Boden gerissen. Sie saß auf ihm, sodass er sich nicht bewegen konnte. „Du verdammtes Schwein!“, schrie die junge Frau, während sie ihm am violetten Kragen rüttelte, „Das Gesehene hättest du löschen sollen, nicht meine gesamten Erinnerungen!“ Avrial stand Arme verschränkt abseits und schmunzelte kopfschüttelnd. Auf Siris Wut hin konnte Furah nur lachen, ehe er begann zu sprechen: „Flüche sind unberechenbar. Es hat geheißen ich soll dich vergessen lassen und das tat ich; und außerdem dachte ich zuerst an ein Date bei Kerzenschein, bevor du dich auf mich stürzt-“ Für den Arcaner unvorhergesehen verpasste sie ihm eine feste Ohrfeige. Nachdem sie ihn eine Weile lang böse angestarrt hatte, drückte sie den Magier gen Boden: „Bring uns zu Prinz Vilior. Und keine Fluchtversuche – dieses Mal hat Avrial kein Handicap.“ „Soll mich das etwa erschrecken?“, er lachte, „Warum sollte ich euch zu ihm führen?“ „Weil du ihm gehorchst. Du darfst mir kein Haar krümmen hat er gesagt, und weil ich ihn persönlich kenne-“ Plötzlich war der Magier weg. Siri saß am Boden und suchte verwirrt umher – einen Arcaner zu etwas zwingen schien schwerer als zuerst gedacht. Ehe sie ihn abseits hinter sich fand, hatte er bereits ein Pergament mit einem netten Versteinerungsfluch nach ihr geworfen. „Siri…!“, Avrial war zu spät bei Furah angekommen. Auch das Mädchen drehte sich schützend zur Seite und hatte die Augen zugekniffen, doch es geschah nichts: der türkise Stein meldete sich zu Wort und schmolz das Pergament, noch bevor es Siri erreichen konnte. „Ja wie?!“, Furah verstand scheinbar zum ersten Mal die Welt nicht mehr. Im nächsten Moment hatte Avrial seine Hände fest im Griff und bannte sie ihm mit einem Zauber an den Rücken. „So. Du hast Pergament-Pause, Furah.“ Siri deutete verblüfft auf ihn: „Er… hat mich angegriffen? Ich dachte, du gehorchst Prinz Vilior!?“ Er zuckte etwas beleidigt mit den Schultern. „Versuchen kann man es ja. Und nur zur Information: ich gehorche niemanden, ich tat ihm bloß einen Gefallen.“ „Vorwärts.“, Avrial drängte seinen Erzfeind zum Gehen auf, „Bring uns zu ihm. Danach lasse ich dich frei.“ „Oh ja, weil ich dir blind trauen könnte.“ „Ich werde dich nicht töten, wenn du wehrlos bist. So etwas machen nur Idioten.“ Ein paar Minuten brauchte Furah, er war da schon mitten im Gehen, ehe er anfing zu lachen: „Ah verstehe, mit ‚Idioten’ bin ich gemeint!“ Eine ganze Weile ging es durch den Wald. Zuerst immer den Hauptweg entlang, dann mitten durch die Wildnis. Es war verständlich, dass ein Versteck nicht direkt am Weg liegt, so war es sogar beruhigend, denn Furah könnte sie genauso gut in die Irre führen; auch wenn er dabei Bekanntschaft mit Avrials Faust machen würde. Hinter hohem Gestrüpp kam eine kleine Waldhütte zum Vorschein, hier blieb der gefangene Arcaner stehen. Siri schritt als Erste voran, beäugte die Hütte skeptisch. „Hier soll das Versteck sein? Ich habe es anders in Erinnerung…“ „Manchmal ist etwas nicht so, wie es erscheint, Süße.“, Furah schmunzelte. Dann trat eine Weile Stille ein. Die junge Frau suchte die Hütte ab und konnte nichts Ungewöhnliches feststellen – die Hütte selbst war leer. Als nichts weiter geschah, stieß ihn Avrial auf den Rücken: „Nun mach schon!“ „Ok, ok, nicht gleich grob werden!“, Furah ging weiter voran, an der Waldhütte vorbei und schob mit seinem Fuß Gestrüpp, welches vor einer hohen Felswand lag, zur Seite. „Mit Händen wäre das erheblich einfacher…“ „Mit Händen könnte man dir nicht trauen.“, Avrial machte eine Handbewegung und rückte das Gestrüpp auseinander: zum Vorschein kam eine lange Steintreppe, die unter die Erde führte. Wieder schritt Siri eilig als Erste voran und trat die ersten vier Stufen hinab: „Ja… ja, ab hier kann ich mich erinnern!“ „Gut dann!“, Furah drehte sich um, „Dann kann ich ja gehen.“ „Nein-“, Avrial hielt ihn fest. „Du kannst gehen, wenn alles geklärt ist. Und jetzt vorwärts, wenn da irgendeine Falle aufgestellt ist, wirst du der Erste sein, der hineinläuft.“ Tief seufzte der Magier, ehe er umdrehte und an Siri vorbei, die Stufen hinab stieg. „Ts. Fallen…“ An die zwei Minuten lang ging es die Stufen hinab, anschließend einen schmalen Gang entlang – die alten Stützbalken und die Laternen an den Wänden erinnerten ein wenig an eine verlassene Mine. Vor einer kleinen Holztür blieb Furah stehen. „So. Hier ist es.“ „Das ist es?“, Avrial sah überrascht zu Siri, um sicher zu gehen, dass ihr Gefangener keinen Schwachsinn erzählte. Siri nickte, während Furah kichernd den Kopf schüttelte: „Was hast du denn erwartet? Ein unterirdisches Tunnelsystem mit tausenden Falltüren, Kerkern und Sackgassen?“ „Irgendwie schon…“ „Avrial.“, Siri lächelte, „Das ist eine Gruppe von Rebellen, bei denen sich Prinz Vilior versteckt hält… ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, sie bauen für normal keine Weltwunder. Lasst uns reingehen.“ „Wenn es eine Gruppe von Rebellen ist…“, begann Avrial, während sie den Raum betraten, „Dann frage ich mich, wo sie sich befin-“ Noch bevor er den Satz fertig sprechen konnte und die Tür offen war, wurden die Zwei von einer Rebellenmeute umzingelt. Sie waren bewaffnet und hatten scheinbar auf sie gewartet. Im Halbkreis standen die verschleierten Kerle um sie, bis einer zur Seite schritt und Siri und Avrial Einblick in das Versteck hatten: Betten, Tische, Vorratskammern, Geschirr, Decken… und eine Gruppe von Kindern? Ehe Siri eine Augenbraue hob, trat noch ein verschleierter Mann hervor und nahm seine Kapuze ab: „Hallo, Siri.“, Vilior grinste. Kapitel 30: Fehlschlagende Verhandlungen ---------------------------------------- „Prinz Vilior…“, Siri nickte misstrauisch, sie wollte sich nicht einmal vor dem adeligen Vampiren verbeugen. „…Ich dachte, ich wäre dich losgeworden.“, er seufzte und schritt ein wenig im Raum umher, „Nun dann, rede schnell, meine Freunde sind nicht gerade geduldige Gesellen.“, sein Blick wanderte leicht zu Avrial, der Furah noch immer gefangen hielt. „Noch ein Arcaner, nehme ich an?“ Siri ging nicht auf seine Frage ein. Zwar waren sie und Avrial noch immer umzingelt, aber sie wusste, dass sich die Rebellen nicht rühren würden, ehe es ihnen Vilior nicht befehlen würde – sie sah hinüber in die Ecke, wo eine kleine Gruppe von Kindern dicht aneinander gedrängt stand. „Was-“, sie deutete auf die Kleinen, stoppte aber dann, als ihr ein blondes Mädchen einen traurigen Blick zuwarf. „Diese Kinder?“, ein junger Rebelle stellte sich zu ihnen, ehe er sprach. „Wir befreiten sie aus einem Lager von Dämonen. Wie Tiere wurden sie in einem kleinen Käfig gehalten.“, er lächelte, „Sie suchten ein besonderes Kind, welches angeblich genau zu unserer Zeit leben soll.“ Ohne auf die Rebellen zu achten, ging Siri voran, auf das blonde Mädchen zu. Avrial blieb zurück und lauschte dem Jungen. „Ich kenne diese Legende… dem Kind wird die Weisheit der ganzen Welt, ganz Aira nachgesagt. Habt ihr es unter den Kindern gefunden?“ „Nein.“, der Rebelle lachte, „Wie denn auch? Es gibt tausende Kinder. Aber wir wollen es auch gar nicht finden; wenn die Existenz des Kindes bekannt wäre, wäre es in noch größerer Gefahr.“ „Aira…“, Siri beugte sich hinab und ließ der Kinderschar ein wenig Platz. Das blonde Mädchen reagierte. In ihren großen blauen Augen spiegelte sich der gleiche verträumte Blick wie der von Lyze wieder. Fröhlich streckte Siri die Arme nach ihr aus: „Aira! Du bist es doch, oder? Ich kenne deinen großen Bruder, ich kenne Lyze!“ „Lyze?“, das ängstliche Mädchen drehte sich endlich Siri zu und wischte sich lächelnd eine Träne weg. Sie kannte Siri zwar nicht, doch war es ihr schon viel Wert, dass sie den Namen ihres Bruders genannt hatte. Ganz im Vertrauen verließ sie die Kinderschar und trat hinüber zu Siri. „Dieses Kind.“, meinte Vilior, „Hat den Namen Aira. Die Eltern sind daran schuld, dass es gejagt wurde. Jemand, der den Namen unserer Welt trägt, ist logischerweise die erste Vermutung, das auserwählte Kind zu sein.“ „Sei still.“, Siri drehte sich wütend ihrem Prinzen zu, „Du hast keine Ahnung. Aira hat ihre Eltern nie kennen gelernt. Sie hat gerade mal erfahren, dass einer ihrer Brüder noch lebt!“ „Wie tragisch. Ihr Schicksal erinnert an deines.“, er lächelte, „Vielleicht findest eines Tages auch du einen verlorenen Bruder…?“ „Vilior!“, Siri schritt an ihn heran, wobei die Rebellen von Avrial abließen und sich ihr zuwandten, „Vilior, du musst zurück nach Azamuth. Es war grausam, was dein Vater getan hat, aber irgendwann muss doch Gras über diese Sache wachsen – lass nicht zwei Völker für die Tat eines Mannes büßen-“ „Darüber wird nie Gras wachsen!“, er trat dicht an Siri heran, „Du weißt nicht, wie es ist, mit einem gebrochenen Herzen bis ans Ende deiner Tage leben zu müssen!“ „Ich schon.“, Avrials Stimme klang leise aus dem Hintergrund. „Dann weißt du auch, wie ich mich fühle.“ „In der Tat, ja.“, er sah zu Vilior auf, „Wir, mit gebrochenen Herz, leiden ewig. Ich selbst lebe in einem Schloss einer Insel, dessen Volk mich hasst; und dennoch ziehe ich nicht weg… weil meine Frau in diesem Schloss einst lebte. Nur dort fühle ich mich geborgen.“ Es trat eine Weile Stille ein. „Prinz Vilior.“, sprach Avrial weiter, „Ihr seid in Desteral, weil Ihr Euch an diesem Ort Eurer Freundin nahe fühlt. Doch geht in Euch selbst, fragt Euch, ob dies die richtige Entscheidung ist.“, er machte einen Schritt nach vor, „Begeht nicht den gleichen Fehler wie ich… sperrt Euch nicht eine halbe Ewigkeit in Eurer kleinen Welt ein.“ Auch wenn Furah neben ihm darüber nur prusten konnte, so schien Avrial den Prinzen endlich erreicht zu haben. Der Vampir hatte den Kopf gesenkt und fing das erste Mal an zu überlegen, worüber Siri sichtlich erleichtert war. „Deine Heimat.“, schallte plötzlich aus dem Hintergrund, „Wirst du nie wieder sehen!“ Rebellen, als auch Siri und Avrial sahen überrascht zum Eingang, als eine Schar von Engeln hereinstürmte – sofort stellten sich die Rebellen vor den Prinzen, um den Engeln keinen Durchgang zu lassen. Links standen nun die Rebellen, rechts die Engeln, mittig Siri und Abseits die beiden Arcaner. Als die Gruppe von Engeln stehen geblieben war, trat auch ihr Anführer, ein Engel mit langem Flechtzopf hervor. „Das ist nicht möglich… wie habt ihr dieses Versteck gefunden?“, wollte Prinz Vilior wissen. Der Engel schmunzelte darauf nur, er machte einen Schritt zur Seite um jemanden vorzulassen: „Wir hatten einen guten Informanten.“ Siri traute ihren Augen nicht. „Lyze?!“ Der Halbengel trat hervor, mit gesenktem Blick. „Es tut mir leid…“, ehe er fragend zu dem Mädchen an Siris Seite sah. Im Gesicht des Kindes breitete sich ein überglückliches Lächeln aus, ehe es die Seite wechselte und Lyze weinend in die Arme lief. „Ooch, wie rührend.“, der Anführer der Engel seufzte, „Hebe dir deine Sentimentalität für später auf, Noshyru.“ „Wie kannst du nur so gefühlskalt sein?!“, mischte Siri hinzu, „Die zwei glaubten, sich verloren zu haben!“ „Das taten sie, ja.“, der Engel ging voran, auf Siri zu, „Aber er ist auch daran Schuld, dass wir einiges länger brauchten, um das Versteck des Schattenprinzen zu finden.“, der Engel zog sein Lichtschwert aus dem Gürtel, hielt es Siri vor die Nase. „Ein Mensch, der blind macht, bist du. Weder ein Dämon, noch einer deines Gleichen.“, er stieß sie gewaltsam zur Seite: „Und jetzt aus dem Weg, oder ich töte dich als nächstes!“ Die Rebellen gingen in Kampfstellung, um Vilior vor den Engeln zu verteidigen, ehe abermals Schritte den Gang entlang zu hören waren: Dämonen. „Tarrence?“, Siri setzte sich auf. Der Ritter schmunzelte, als er mit seinen Kriegern den Raum betrat. „…Es war nicht schwer, euch zu finden. Ihr habt uns praktisch direkt zu ihm geführt.“ „Du bist uns gefolgt!“ „Kluges Mädchen.“, er deutete auf den Anführer der Engel, der sichtlich nicht erfreut über den Besuch der Dämonen war, „Verschwindet Engel, ihr habt mit dieser Sache nichts zu tun.“ „Oh, ein Gentleman unter den Dämonen.“, der Engel verschränkte die Arme, „Er spricht zuerst, bevor er aufschlitzt.“ Nun standen links die Rebellen, mittig beim Eingang die Dämonen, rechts die Engeln, mittig Siri und abseits die beiden Arcaner. „Eure Hoheit.“, Tarrence verbeugte sich tief vor dem Prinzen, „Kehrt mit uns nach Azamuth zurück.“ „Was?“, Siri verstand die Welt nicht mehr, „Du wolltest ihn die ganze Zeit zurückholen? Ich dachte, du willst ihn umbringen!“ „Das würde ich niemals tun.“, Tarrence stand auf und sah zu ihr. „Ich wollte es dir die ganze Zeit erklären, Siri. Doch hast du mir nie die Möglichkeit dazu gegeben und bist geflohen…“ Mitten ins Wort hob Vilior die Stimme: „Ich gehe nicht zurück.“, er sah zu Tarrence, dann zu Siri, „Ich sagte es bereits und ich bleibe bei meinen Worten.“ „Eure Hoheit.“, begann abermals Tarrence, „Ihr habt keine Wahl, Azamuth braucht einen Leiter!“ Vilior sah wütend zur Seite. „Das habt ihr… mein Vater macht seine Sache doch ausgezeichnet…“ „Euer Vater…“, Tarrence klang kläglich, „…ist gestorben.“ Wie eine Veränderung der Welt hallten seine Worte durch den Raum. Die Dämonen sahen sich entsetzt untereinander an, sie wussten nicht, dass diese Nachricht in dem Brief, den ihr Anführer bekam, stehen würde. „Du lügst!“, waren Viliors erste Worte, bevor er Charakter wechselnd weiterfragte: „…Wie ist das passiert?“ „Der König lag bereits seit Wochen krank im Bett. Er starb vor zwei Tagen, er hatte aufgehört zu atmen… ich konnte es nicht dem Volk sagen, vor allem nicht den Kriegern; ohne einem König würden sie völlig außer Kontrolle geraten.“ „Der König ist also tot…“ Siri sah auf die andere Seite, wo sich im Gesicht des Anführers der Engel ein schadenfreudiges Lächeln ausbreitete. „Dann steht dem Friede nichts mehr im Wege.“ Im nächsten Moment hob er die Hand, worauf hin die erste Reihe der Engel ihre Armbrüste mit dessen Lichtpfeilen zog. „Nein!“, obwohl die Rebellen den Schattenprinz hätten verteidigen können, stellte sich Siri breit in die Mitte der beiden kriegerischen Gruppen. Vielleicht hatte sie mit ihrem Handeln ein weiteres Blutvergießen verhindert: Wenn die Engel auf die Rebellen geschossen hätten, um den Prinzen zu töten, hätten wiederum die Dämonen eingegriffen und die Engel bekämpft. Die Rebellen hätten dann zurückgeschlagen, denn sie wollten Vilior weder tot, noch zurück in Azamuth sehen. „Aus dem Weg!“, der Engel mit dem langen Zopf sah zornig zu Siri. Sie aber schüttelte nur den Kopf: „Du hast recht, dem Frieden steht nichts mehr im Wege – sofern Prinz Vilior zurück in sein Land kehrt. Du hast Ritter Tarrence gehört: Wenn es keinen obersten Leiter in Azamuth gibt, gerät alles außer Kontrolle.“, sie breitete sie Arme aus, „Wenn du also den Prinzen töten lässt, wird der Krieg erstrecht weitergehen – und zwar Dämonen gegen Engel.“ Lyze, der mit seiner Schwester abseits bei den Engeln stand, konnte verstehen, was Siri meinte. Auch Avrial hätte es nicht besser sagen können; und selbst Furah kam ins überlegen, was dieser bevorstehende Krieg dann für seine Freiheit in Desteral bedeuten würde. Leider aber, kam keiner der Beteiligten dazu, ihr Wort mit den anderen zu teilen. Denn dieser einzelne Engel, der ausgerechnet der Anführer einer Gruppe sein musste, war so engstirnig, dass er nicht einsehen wollte, um den Frieden wiederherstellen zu können, den Schattenprinzen am Leben lassen zu müssen. So führte eines zum anderen: „Dummes Geschwätz!“, meinte er, „Egal ob mit König oder ohne, Dämonen werden sich nie ändern! Und nun zur Seite Mädchen. Aus dem Weg!“, er schritt dieses Mal nicht auf sie zu. Ungeduldig wartete er eine ganze Minute ab, doch Siri rührte sich mit trotzendem Blick nicht zur Seite. Lyze wollte schon seine Position verlassen und ihr helfen, doch Aira neben ihm gab dem Halbengel das Gefühl, etwas ganz Dummes zu machen, sollte er sich von ihr wegbewegen. „Erschießt sie!“, deutete der Engelanführer, doch seine Leute schauten sich untereinander fragend an – keiner wollte diejenige erschießen, die doch eigentlich die Wahrheit aussprach. Tarrence wollte seine Dämonen nicht eingreifen lassen: er genoss die Show, dass sich die Engel gegeneinander stellten. „Erschießt sie, auf der Stelle!“, egal wie laut der Engel auch wurde, niemand wollte auf ihn hören. So schritt er selbst zur Tat: er riss einem Mitengel die Armbrust aus der Hand, zielte noch schnell auf Siri und drückte kalt ab. Kapitel 31: Frieden kehrt ein ----------------------------- Als der engstirnige Engelsanführer einen Lichtpfeil aus der Armbrust abdrückte, gingen Siri in diesem sehr kurzen Moment zwei Dinge durch den Kopf: Erstens, der türkise Stein um ihren Hals wird sie nicht beschützen – ein Lichtpfeil verflucht nicht, sondern erlöst für normal. Zweitens dachte sie sich, es wäre wohl doch besser gewesen, sich nicht zwischen die rivalisierenden Völker zu stellen… Avrial konnte nichts tun. In dem Moment, wo er zu ihr lief, befreite sich Furah und verschwand, auf und davon. Lyze stand mit Aira zu weit hinten, um rechtzeitig einen Pfeil hätte aufhalten können – zwar hielten sofort sämtliche Engel ihren wahnsinnigen Anführer fest, doch war es zu spät. Aus schicksalhaften Gründen aber, traf der Pfeil nicht Siri, sondern ihren Freund Mica, der ihr, schon seitdem sie Destercity verlassen hatte, ungesehen gefolgt war. Im zukunftentscheidenden Moment enthüllte er seine Gestalt und warf sich vor Siri; er war schon seit langem an ihrer Seite gewesen. Erst als der Pfeil seinen Brustkorb durchbohrte und er zu Boden ging, begriffen alle Anwesenden, was gerade geschehen war: eine Muse aus Azamuth hatte sich, um seine menschliche Freundin mit desteralischen Wurzeln zu retten, vor sie geworfen und sich geopfert. „Micaaa!“, Siri stieß einen verzweifelten Schrei aus, ging auf die Knie und rüttelte an ihm, als zur selben Zeit der Engelanführer von seinen eigenen Leuten festgenommen wurde: „Ist Ihnen bewusst, dass Sie gerade eine Unschuldige erschießen wollten?!“ Der Anführer lachte, sprach, wie als wäre er im tiefen Wahn: „Seid nicht blind, im Krieg gibt es keine Unschuldigen! Ihr solltet das am Besten wissen! Niemand ist das!“ Es war traurig, dass es soweit kommen musste. Einer seiner Männer übernahm statt ihm das Kommando, sprach zu dem einstigen Anführer, während ihm die Handfesseln angelegt wurden: „Sie haben gegen eine wichtige Regel verstoßen… im Namen unserer Herrin sind Sie hiermit verhaftet und werden vor das Gericht gestellt.“ Zur selben Zeit lag Mica in den Armen von Siri. Ihre Freunde, der Halbengel und der Arcaner kamen herbei. Lyze wollte näher herantreten, doch hielt ihn Avrial für das Erste zurück. „Mica… Mica, warum?“, sie drückte traurig seine Hand und sagte kaum hörbar ihre Worte. „Wieso hast du das getan?“ Der Brustkorb der Muse hob und senkte sich nur mehr flach. Trotz des tödlichen Pfeils schien er noch einen Hauch von Leben in sich zu tragen. Er drehte den Kopf und öffnete leicht seine grünen Augen, sah dabei ein wenig lächelnd in Siris verzweifeltes Gesicht. „Weil… weil du leben musst.“ Sie verstand nicht ganz, wollte ihm aber nicht unnötig noch mehr Fragen stellen. Nach einer kurzen Pause begann Mica weiter zu sprechen: „…Mein Leben ist seit geraumer Zeit vorüber-“, er zuckte kurz in Schmerzen, was Siri noch mehr besorgt werden ließ, „W-wenn… wenn nicht heute, dann in ein paar Tagen… und wie ich dann gegangen wäre…, ich will nicht wissen, wie ich sterben müsste… Aber- aber du weißt, nach einer sehr schlimmen… Erfahrung, folgt immer eine Gute… merke dir das.“ Seine Stimme wurde mit jedem Satz leiser und leiser. Siri schaute ihm lange in sein Gesicht, nebenbei begann ihr eine Träne nach der anderen über die Wangen zu laufen. Ohne es zu wissen. Sie sah an seinem schwachen Körper hinab, bis hin zum Pfeil, der dabei war sich in einem sanften Licht aufzulösen und Mica langsam mit sich nahm. „Mica…!“, nun geriet sie wieder mehr in Panik, als er sich Stück für Stück im Nichts aufzulösen schien. „Weißt du, Siri…“, sein Händedruck wurde nebenbei schwächer, doch sein Lächeln blieb ihm bis zum Schluss. „…Ich bin dankbar, bei dir sein… zu dürfen.“ Nun verschwand er fast gänzlich im grellen Licht, als Siri ihn noch schnell fest an sich drückte und seinen Namen zum letzten Mal in die Welt herausschrie. Dann war nichts mehr übrig. Er schien nie existiert zu haben. Siri saß noch eine ganze Weile sich selbst umklammernd am Boden, ehe sie sich krümmte und begann richtig zu weinen. Lyze und Avrial knieten sich zu ihr. So gut es ging versuchten sie ihrer Freundin in der schwersten Stunde ihres Lebens beizustehen; Avrial kannte dieses Gefühl nur allzu gut. Rund um sie hatten die drei rivalisierenden Gruppen alles mit angesehen; und zum ersten Mal in der Geschichte Airas waren es die Dämonen, die zuerst ihre Waffen niederlegten. Tarrence schüttelte nur mehr den Kopf und war der Meinung, dass dieser Tod mehr als nur ein Opfer war: ein Zeichen, dass allen Völkern klarmachte, wie unsinnig Kriege untereinander eigentlich waren. Nach den Dämonen kamen die Rebellen. Dann legten die Engel ihre Armbrüste zur Seite. Es war kurz nach Mittag, als tief im Wald, vor einem Rebellenversteck, die Friedensabkommen geklärt wurden. Siri saß schwer erschüttert, aber schon weitaus weniger aufgelöst als vorhin im Versteck, auf einem kleinen Fels und ließ ihre Beine baumeln. Ein wenig spürte sie einen leichten Luftzug, als drei Engel mit dem wahnsinnigen Anführer an ihr vorbei schritten und dabei waren, ihn abzuführen. Sie sah kurz auf und suchte ihre Freunde: Lyze stand mit seiner Schwester Aira bei den Rebellen und besprach mit ihnen etwas, aber wo war Avrial? Er schien nicht mehr da zu sein. Vielleicht war er absichtlich gegangen, ohne sich zu verabschieden, um den Abschied nicht allzu schwer zu machen; vielleicht hatte er aber auch nur einen kleinen Schatten seines Erzfeines wahrgenommen, der ihm vorhin entwischt war. Plötzlich fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter: Vilior, der wieder bis zur Nasenspitze in einem Mantel eingehüllt war, stand nun mit Tarrence neben ihr und erklärte die Situation: „Wir haben uns geeinigt. Die Engel lassen uns in Frieden, wenn wir versprechen sie und Desteral in Frieden zu lassen…“, er schmunzelte unter seinem Mantel, „Vielleicht können bald die Grenzen geöffnet werden – dann könnten alle Völker und Dämonen beisammen leben!“ „Das ist toll…“, meinte Siri mit zittern in der Stimme, noch immer wegen vorhin, „Dann kehrt ihr also heim?“ Der Prinz nickte. „Ja. Ich werde den Thron meines Vaters annehmen. Nie wieder soll eine Schlacht wegen sinnlosen Kleinigkeiten beginnen – zumindest das konnte ich lernen.“ „Und ich werde dafür sorgen, dass unser Prinz sein Wort hält.“, Tarrence mischte seinen Satz schmunzelnd hinzu. Siri antwortete darauf nicht mehr, nickte aber mit einem zufriedenen Lächeln, ehe der Schattenprinz und dessen Ritter zu den restlichen Dämonen abzogen. Eine kurze Weile starrte sie mit einem großen Seufzer zu den Wolken. Desteral war frei – Siri war frei. Es war für sie eine enorme Erleichterung und trotzdem ein schwerer Stein im Herzen, Mica verloren zu haben. Während sie in den Himmel starrte, bemerkte sie nicht, dass ihr abermals eine einzelne Träne die Wange entlang lief. „Siri…“, Lyze stand vor ihr, mit seiner Schwester an der Hand. Erst als sie aus ihren Gedanken gerissen zu ihm blickte, begann er zu lächeln und sprach: „Es ist vorbei. Die Engel haben keine Macht mehr über mich; Aira und ich werden nach Hause gehen.“ „Nach Hause…“, Siri wiederholte seine Worte, als sich der Halbengel zu Aira umdrehte, da sie an seiner Hand zog. Nach Hause. Siri könnte nach Azamuth zurückkehren; höchstwahrscheinlich dürfte sie sogar im Schloss bei Vilior leben, doch… sie war nun mal kein Dämon. „Lyze?“, sie wartete, bis er fragend zu ihr sah. Nebenbei wischte sie sich die einzelne Träne von der Backe, ehe sie traurig lächelnd sprach: „Kann ich… kann ich mit euch kommen?“, kurz trat Stille ein, „Jetzt wo Mica nicht mehr da ist und so… habe ich in Azamuth eigentlich nichts mehr verloren… und Avrial war so schnell weg, dass ich ihn nicht mehr fragen konnte… na ja, ich- da dachte ich mir, bevor man auf der Straße lebt-“, sie sah überrascht auf: Lyze streckte ihr lächelnd seine zweite Hand entgegen. Zuerst mit zögern, dann mit einem leichtem Gefühl von Glück kletterte sie vom Fels herab und gab ihm ihre Hand. Siri links, mittig Lyze, rechts Aira. Zu dritt verließen sie diesen Wald und dessen schrecklichen Erinnerungen. Es war der Wald gewesen, in dem Siri vor knapp einem Monat noch ohne Bewusstsein aufgewacht war – nun kehrte sie mit einem völlig neuen Leben ihrem Alten den Rücken zu. Nicht lange musste die Zeit verstreichen, da beschloss Desteral zum Schutz aller Bürger einen gemeinschaftlichen Vorsitz, bestehend aus den vier Herrschern jedes Volkes, zu gründen. Darunter waren der menschliche Bürgermeister von Destercity, die Herrin der Engel, der älteste und somit weiseste aller Arcaner Desterals und als Vertreter Paloozas, ein Löwenmensch aus einer Königsfamilie des Tiermenschenreiches. Mit König Vilior brach auch für Azamuth eine ganz neue Zeit an; von nun an würde ein langer Frieden zwischen den Ländern stattfinden. Und so war es auch, eine lange Ewigkeit. Doch keiner ahnte zu der Zeit, dass ein längst vergangener und doch neuer gemeinsamer Feind den Frieden Airas stören würde… Doch dies ist eine gänzlich eigene Geschichte. Kapitel 32: 1. Bonus-Geschichte, Teil 1: Das Puppenhaus ------------------------------------------------------- Es stand den ganzen Morgen auf dem Küchentisch. Es war nicht besonders groß oder hübsch, aber Lyze hatte die halbe Nacht an diesem kleinen Haus für seine Schwester Aira gebastelt. Warum? In Lyzes Haus gab es keine Spielzeuge. Wieso denn auch, er verbrachte die meiste Zeit allein für sich; bis der Völker zerteilende Krieg endete und Lyze plötzlich zu Dritt in einem Haus lebte. Als das verschlafene Mädchen dann am Morgen die paar Stufen aus dem ersten Stock herunterkam und die Küche betrat, saß Lyze bereits beim Tisch und trank seinen Frühstücks-Tee. „Guten Morgen.“, entgegnete er seiner kleinen Schwester fröhlich, die sich müde die Augen rieb, ehe ihr Blick auf das Puppenhaus fiel. „Na?“, Lyze schob es lächelnd an die Tischkante, „Was meinst du? Ist doch hübsch geworden, oder?“ Lange schaute das Mädchen auf das liebevoll gebastelte Häuschen. Nach einer Weile hob sie die Schultern und meinte: „Das ist kein Haus, das ist eine Hütte…“, sie kniff die Augen zusammen und blinzelte genauer darauf, „Eine Holzhütte, wenn ich mich nicht irre.“ Wie gemein. Da hatte Lyze die Nacht daran gearbeitet und dann so was. Aber er war nicht beleidigt, er gab nur schmunzelnd die Antwort: „Na, auch Puppen müssen sich ihr Glück erst erarbeiten.“ Da hörte man Schritte auf den Stufen: Siri kam gähnend hinab, mit ganz verzausten Haaren stand sie da. Bei der Küche angekommen, wank sie grüßend mit der Hand: „Guten Morgen…“ „Morgen Siri!“, Lyze hob begeistert das Häuschen in die Höhe und zeigte es ihr, „Na, was ist deine Meinung dazu?“ Auch sie schaute es verschlafen an, verschränkte die Arme vor ihrem Bademantel. „Eine Hütte.“, sie blinzelte kurz, „Eine Holzhütte, wenn ich mich nicht irre.“ Beim zweiten Mal nahm Lyze diese Bemerkung nicht so hin. Gerade wollte er etwas kommentieren, als Siri ihn auf die Schulter klopfte: „Ist schön geworden, es hat sogar ein Strohdach!“, anschließend ging sie Aira nach, die dabei war sich ein Müsli zuzubereiten. Lyze blieb zurück, mit offenem Mund, ohne das ein Wort rauskommen wollte. Erst als die zwei Mädels außer Sichtweite waren, kommentierte er Siris zuletzt gesprochenen Satz: „Es gab keine so kleinen Dachziegeln zu kaufen!“ Gegen Nachmittag trafen die drei sich vor dem Haus. Es war anfangs Herbst und der Wald nahe dem Hügel, auf dem das Noshyru-Anwesen stand, trug zu dieser Jahreszeit Früchte. Es war Erntezeit und dies brachte Lyze Jahr für Jahr einen kleinen Gewinn ein, wenn er die in der Natur wachsenden Früchte im nahe gelegenen Dorf verkaufte. Siri und Aira hatten bereit zum Pflücken jeweils einen Korb und eine mittellange Leiter dabei; sie wollten bei der Ernte helfen. „Kommt, lasst uns gehen!“ Aira sprang bereits ganz ungeduldig auf und ab, sie dachte an all die süßen Früchte, die sie schon längst hätte essen können, wenn Lyze nicht seinen Korb im Haus vergessen hätte. Überlegend hielt er sich die Hand ans Kinn, er war sich nicht sicher, ob er überhaupt drei von den Körben besaß. „Ich glaube, in der Abstellkammer liegt noch einer.“, meinte er zu Siri, ehe er sich umdrehte und die Türklinke des Hauses drehte: „Geht schon mal vor, ich komme gleich nach.“ Zum Abschied winkte er den Beiden noch kurz, dann ging er über den Eingangsflur, hinter die Treppen; die Tür rechts daneben führte zum Badezimmer. Unter den Stufen befand sich für normal seine Abstellkammer, dessen Tür zugesperrt war. So holte er erstmals den Schlüssel, ehe er die Klinke betätigte und die Kammertür knarrend den Weg ins Dunkle freigab. Was sich nun dahinter befand, als Lyze den Lichtschalter anknipste, war allerdings nicht seine Abstellkammer: Eine lange Treppe führte immer gerade aus nach unten. „Komisch…“, dachte er sich nur, als er versuchte das untere Ende zu erkennen, „Mein Vater hatte nie erwähnt, dass wir einen Keller haben… in der Abstellkammer.“ Was befand sich denn nun dort unten? Lyze begann eine Stufe nach der anderen hinunter zu schreiten, eventuell könnte sich dort noch eine alte Truhe oder ähnliches befinden, dass den damaligen Hausbrand überlebte. Eine ganze Weile lang ging es bergab. Das Licht der Lampe, welche am oberen Ende der Treppe leuchtete, drang nur mehr schwach bis zu Lyze nach unten. Immer wenn er dachte, das Ende erreicht zu haben, ging es seltsamer Weise weiter; es war, als würden die Treppen in die Unendlichkeit führen. Nun drang kein Licht mehr zu Lyze durch, der Abgang wurde immer schmaler und schmäler; an einer Stelle musste er sich regelrecht durchquetschen, um weiter voran zu kommen. Dann blieb er stehen. Er überlegte sich, doch besser den Weg zurück zu gehen und eine Lampe zu holen – doch ehe er eine Stufe hinauf treten konnte, brach unter ihm die Steintreppe weg und er geriet aus dem Gleichgewicht: er fiel die Stufen hinab. Ganz schlecht. Dies konnte man sich denken – denn wie weit würde der Weg noch führen? Fiel Lyze nun ewig? Der Gedanke lag nicht fern, dass er sich eher etwas brechen würde, bevor er irgendwo ankäme. Doch zu jeglicher Überraschung endete der holprige Fall nach knapp zehn weiteren Stufen: eine alte Holztür befand sich am Ende, die, so schien es, absichtlich aufzugehen schien, bevor Lyze dagegen krachen konnte. Unsanft fing er den Sturz mit seinen Händen ab, ehe er hartes Gras zwischen seinen Fingern spürte. Er schaute kurz zurück zur Türe – die scheinbar nie da gewesen war, dann in die Weite der vertrockneten Steppe, in der er sich nun befand… „Was soll das…?“, sich selbst fragend sah er höchst verwirrt umher. Wo war der Keller? Wo war der Hügel mit dem Haus? Wo war der nahe gelegene Wald? Wo waren Siri und Aira? Wo war Lyze? „Das ist unmöglich.“ Zumindest dachte sich das der Halbengel – man kann doch nicht eine lange Treppe in der Abstellkammer vorfinden und anschließend unter freiem Himmel in einer vertrockneten Gegend auftauchen, oder? Wie Desteral schien diese Umgebung jedenfalls nicht. Und für Azamuth – Desterals Nachbarland – schien es noch zu freundlich. Auf der Suche nach irgendetwas Vertrauten ging Lyze voran, durch die verdorrte Natur. Eventuell war hier irgendwo eine alte Holztür zurück in sein Haus versteckt. Eine ganze Weile ging Lyze also planlos in der Gegend umher, bis er bei einem einsamen Felsen ankam. Um sich einen Moment auszuruhen ließ sich der Halbengel mit dem Rücken zum Stein in das harte Gras sinken und begann über seine momentane Situation nachzudenken: In Desteral konnte er sich nicht befinden. Aber wo sonst? Man hat noch nie gehört, dass es unter der Oberfläche noch einen zweiten freien Himmel mit Ausblick auf die Sonne gab. „Ich muss träumen.“, Lyzes Stirn zog sich überlegend zusammen, „Wahrscheinlich bin ich in der Abstellkammer gestolpert, oder ein Regal ist auf mich gestürzt. Das bedeutet, ich muss irgendwie aufwachen; oder warten bis mich Aira oder Siri findet…“, er seufzte tief, „Das kann dauern…“ Er kam hoch, zurück auf die Beine. Wohin nun? Das Beste würde sein, an einem Punkt nicht für zu lange zu verweilen. So drehte er sich um, schaute hinab zum Fels, gegen den er sich eben noch gelehnt hatte. „Höchst eigenartig…“ Abermals kam er ins Überlegen: auf dem Felsen stand plötzlich das Puppenhaus, dass Lyze vergangene Nacht für seine Schwester gebastelt hatte! Inspizierend nahm er es in die Hände, drehte es in alle Richtungen und versuchte etwas weiteres Ungewöhnliches festzustellen. Wie zum Geier kommt das denn hierher? Seine Augen auf das kleine Werk fixiert, bemerkte er erst nach und nach, dass da plötzlich etwas im Hintergrund stand. Die Überraschungen schienen kein Ende nehmen zu wollen. Ungläubig stellte Lyze das Puppenhaus an seinen Platz am Fels zurück, als er das eben noch begutachtete Häuschen in seinen Händen, nun in Lebensgröße nahe dem Horizont stehen sah. Abermals schaute er umher. Weit und breit gab es immer noch nichts, bis auf den Fels, der verdorrten Wiese und nun dem großen Puppenhaus; so machte er sich auf den Weg, dem Haus entgegen. Vielleicht wohnte dort jemand, der ihm Auskunft über die momentane Gegend geben konnte? Da war ein weiterer Fels nahe dem Haus, darauf saß ein blondes Mädchen, das zu zeichnen schien. Lyze konnte seinen Augen nicht trauen, lief deshalb geradewegs auf sie zu und legte die Hand auf ihre Schulter: „Aira!?“ Das Mädchen reagierte. Leicht verstimmt über diese Störung sah sie auf, in Lyzes Gesicht. „Hier wohnt niemand mit diesem Namen. Du hast dich wohl in der Gegend geirrt.“ Lyze schüttelte abstreitend den Kopf: „Wenn ich wüsste wo ich bin, dann könnte ich mich auch in der Gegend irren. Schau Aira, ich-“ „Ich heiße nicht ‚Aira’!“, unterbrach das Mädchen, „Mein Name ist Erde, du Idiot; ich nenne dich doch auch nicht Alfred oder sonst wie!“ „Erde?“, Lyze zog eine Augenbraue hoch. „Ja, Erde. Meine Mum hat mal ein Buch über einen Planeten geschrieben, da gibt es nur Menschen und jede Menge technologisches Zeugs; sie fand den Namen witzig und hat mich deshalb nach dem Planeten benannt.“ „Das ist aber seltsam…“, Lyze musste darüber schmunzeln, „Wer schreibt denn schon eine Geschichte über einen Ort und benennt ein Mädchen dann wie den Planeten…?“ „Na, meine Mum!“ „Und wo ist sie?“, wollte Lyze wissen, „Ich muss mit jemand Erwachsenen reden – nichts gegen dich Erde, aber ich brauche jemanden, der mir sagen kann, wie ich hier wieder weg-“ „Mum steht hinten beim Haus.“, das Mädchen zeichnete in aller Ruhe weiter, „Hab meinen Papierdrachen aufs Dach fliegen lassen, jetzt krieg ich ihn nicht mehr runter.“ „Aha…“, so Lyzes Antwort, ehe er sich dem Haus näherte, „Danke dir.“ Da stand er nun, vor seinem eigen gebastelten Haus: das Dach war aus Stroh und schien undicht, die Wände waren aus bloßen Holzbrettern und die Fensterscheiben waren – nun ja, es gab keine. Nachdem er das ulkige Haus gesehen hatte, versuchte er die Mutter von seiner hier nicht existierenden Schwester zu finden. „Steht hinten beim Haus…“, wiederholte Lyze die Worte und ging einen halben Kreis zur Rückseite. Hinter der Ecke tauchte schließlich mehr und mehr eine junge Frau auf: sie war hübsch, auch wenn sie ein schmutziges Bauernkleid trug, aber eigentlich viel zu jung um eine Mutter zu sein. Lyze dachte erst gar nicht daran, diese Frage zu stellen, da die Antwort ihn vermutlich noch mehr verwirren würde. Langsam näherte er sich der jungen Frau von hinten, die mit einem Rechen nach einem Papierdrachen auf dem Dach fischte. „Ähm, Entschuldigung…?“ Die Frau drehte sich genervt um. Ihr erster Anblick brachte Lyzes Atem ins Stocken – die Schönheit war fremd, schien ihm aber so vertraut… komischer Weise fiel ihm bei diesem Anblick als erster der Buchstabe ‚S’ ein. „Was denn?“, fragte die Frau, dessen Frage schon allein ihm so bekannt vorkam. „Sagen Sie,…“, begann Lyze, „Dürfte ich wissen, wie Sie heißen?“ Die Frau parkte den Rechen neben sich und stützte eine Hand in die Hüfte: „Nur, wenn du mir zuerst deinen verrätst.“ „Uhm, mein Name lautet Lyze N-“ Die Frau unterbrach ihn; in dieser seltsamen Gegend schien niemand den anderen ausreden zu lassen: „Freut mich Lyze, ich heiße Siri.“ „Siri!?“ Unmöglich. Sie glich ihr nicht im Geringsten. Weder vom Gesicht her, noch in der Art. Plötzlich schmiss die Frau den Rechen aufs Dach, schrie dabei „Dieser bescheuerte Drache!“ Ok. Vielleicht glich sie Siri ja doch ein wenig. „Ich habe das Haus hier gesehen und dachte, ich könnte nach dem Weg fr-“ „Keine Zeit, wie du siehst!“ „Ja aber, könnte ich wenigsten erfahren wo ich hier bi-“ „Ich sagte, ich habe keine Zeit!“ Da stand das Mädchen mit den Zeichnungen und Malstiften hinter den Beiden, meinte trocken: „Vorsicht Mum, der Mann ist begriffsstutzig.“ „Schon gut, Kleines.“, war die Antwort, ehe die Frau versuchte den Rechen, der nun am Dach lag, zu erreichen. „Verdammtes Mistding!“ „Äh- habt ihr denn keine Leiter?“ „Wenn wir eine Leiter hätten, würden wir sie benutzen, Mr. Lyze!“ Tief seufzte der Halbengel und verschränkte seine Arme. Bis der Drache und nun auch der Rechen unten wären, würde es ewig dauern. Da kam ihm eine Idee: „Sag Siri, wenn ich euch die Sachen vom Dach hole, kriege ich dann eine Wegbeschreibung?“ „Wenn du dich beeilst- ja!“ „Gut!“, auf Lyzes Rücken erschienen von einen zum anderen Moment seine hellgelben Flügel, ehe er damit schlug und in binnen von einer Minute auf dem strohigen Dach landete. Er beugte sich hinab, nahm den Rechen und den Drachen und schmiss sie Siri vor die Füße, die im Übrigen, so wie das Mädchen Erde, höchst überrascht zu ihm hinaufstarrten. „Na?“, er lächelte zufrieden, „Kriege ich jetzt meine Informationen?“ Da deutete Erde höchst panisch hinauf: „Ein Dämon!!“ „Ein Dämon!“, wiederholte Siri, bevor sie das Mädchen an der Hand packte und mit ihr im Haus verschwand. „Dämon?“, Lyze, der mal wieder nichts verstanden hatte, sah sich um, auch gen Himmel: da war niemand außer ihm. Warum sollten die Dämonen auch angreifen? Seit König Vilior auf dem Thron saß, musste sich niemand mehr fürchten… Da begann Lyze langsam zu begreifen, wieso die zwei Mädels so schnell verschwunden waren. Er sah hinter sich, zu seinen Schwingen, dann tastete er sich selbst ab: „Meinen die etwa mich!?“ Kapitel 33: 1. Bonus-Geschichte, Teil 2: „Nur“ ein Traum -------------------------------------------------------- „Was soll denn das? Ich bin kein Dämon, kommt heraus, dann beweise ich es euch!“, Lyze, der immer noch am Dach des lebensgroßen Puppenhauses stand, rief mit lauter Stimme hinab ins Stroh, in der Hoffnung die zwei verschreckten Mädchen kämen wieder hinaus. Doch es drang von ihrer Seite kein Sterbenswörtchen durch, es war sprichwörtlich mucksmäuschenstill. Der Halbengel stampfte mit dem Fuß: „Hallo? Ich weiß das ihr mich hören könnt, ich habe das Dach an das Haus geklebt und weiß darum auch, dass es nicht sehr dicht und stabil-“ plötzlich krachte es, als sein Fuß durch das Strohdach durchbrach und nun feststeckte. Erst als er seine Lage begriffen hatte, beendete er seinen Satz mit einem „-ist.“ Noch immer erhielt er keine Antwort, nicht einmal jetzt, wo die Zwei sicher seinen Fuß an der Decke sehen konnten. Lyze fasste sich ans Knie, stützte sich mit dem anderen Bein fest ab und zog einmal kräftig an dem feststeckenden Fuß, bis er schließlich draußen war – dabei aber sein Stiefel nicht mitkam. Kurz überrascht blickte Lyze hinab durch das Loch, wo man noch seinen Stiefel am Boden neben dem Holztisch landen sehen konnte. Er beugte sich schließlich hinab und streckte halb seinen Kopf durch das Loch, sah ins innere des Hauses: „Hallo?“ „Verschwinde!“, erklang es vom alten Sofa, hinter dem Siri mit Erde kauerte. „Das ist doch lächerlich.“, Lyze seufzte, „Ihr habt mit mir sogar gesprochen; sehe ich etwa gefährlich aus…?“ „Das tun Dämonen nie!“ „…Wenn ich eurer Logik folge, dann sind in diesem ‚Land’ also… die Engel gefährliche Dämonen und die Dämonen wären dann… harmlose Engel? Wobei Engel wirklich grausam sein können…“, während Lyze hin und her überlegte, sah Erde hinter dem Sofa auf, hinüber zu dem Stiefel. „Ah – ja, den brauche ich.“, bei seinem Satz zog das Mädchen wieder den Kopf ein. Lyze verschränkte die Arme: „Also entweder schießt mir jemand meinen Stiefel hinauf, oder ich muss zu euch hinab.“ „Nein!“, Siri sprang schnell auf und kam hervor. Ihr war es wesentlich lieber, Lyze nicht mehr in ihre Nähe zu haben. So griff sie nach dem Schuh und schoss ihn zu ihm hinauf – auch, wenn sie genau auf das Loch gezielt hatte, so machte der Stiefel einen Bogen und durchbrach ein weiteres Mal das Dach, diesmal von Innen. Der Halbengel hatte seinen Stiefel gerade wieder, da konnte man Siri über das Missgeschick fluchen hören. „Danke.“, richtete er noch das Wort nach unten, dann zog er sich seinen Schuh wieder an. Kurz trat Stille in die Gegend, Siri stand noch immer an ihrem Platz und schaute nach oben – sie schien sich dieses Mal nicht verstecken zu wollen. „Tja…“, begann Lyze mit leichter Stimme, „Es tut mir leid, aber ich kann euch noch nicht verlassen…“, er stützte die Hände auf den Knien ab, als er zu der fragend dreinblickenden Siri hinab sah, „Erst muss ich wissen, in welche Richtung ich gehen muss, um aus diesem seltsamen Ort zu kommen.“ „Du kannst sie verstecken.“, begann Siri plötzlich. Höchst überrascht und zugleich verwirrt über diese eigenartige Antwort, brachte Lyze ihr nur ein „Was?“ entgegen. Sie deutete auf ihn. „Deine Flügel, warum kannst du sie verstecken?“ „Verstecken?“ „Dämonen können ihre Flügel nicht verbergen!“ „Achso!“, Lyze musste lachen, ehe er ihr eine Antwort gab: „Ich bin ein Halbenge- äh, Halbdämon, darum kann ich die Dinger verschwinden lassen.“, er zuckte mit den Schultern, „Es ist praktisch, wenn man in einer großen Menge von Leuten geht, braucht man nicht so viel Platz.“ „So…?“, Siri zog eine Braue nach oben, „Du bist aber ein ulkiges Wesen.“ Daraufhin konnte Lyze nur lachen, immerhin war sie es, die weitaus ulkiger schien als er selbst. Flügelschläge waren zu hören. Wie aus dem Nichts tauchten sie auf, zuerst leise, dann immer lauter. Während Lyze fragend umher suchte, war dies für die beiden Ortschaftsbewohner bereits die Warnung auf das drohende Unglück von Oben. Panisch liefen sie unten im Haus umher, versperrten Türen und Fenster mit ihren wenigen Möbeln. „Sind das die ‚Dämonen’?“, Lyzes Frage wurde einfach mit einem sarkastischen „Nöö.“ von Siris Seite beantwortet. Das junge Mädchen, Erde, hatte keinen besonders großen Mut und begann zu schluchzen. „Wir sind verloren!“, meinte sie, „Es sind zu viele, sie werden unser Haus niederbrennen! Der Fremde ist schuld, er hat sie hergeführt!“ Der Halbengel saß noch immer am Dach und beobachtete das Geschehen. Siri schob den schweren Holztisch von der Tür weg, die sie eigentlich absichtlich verbarrikadiert hatte und riss sie auf: „Du hast recht Erde, hier sind wir nicht sicher!“, sie zog das Mädchen am Arm aus dem Haus, „Lauf, wir müssen uns beeilen!“ Lyze sah den Flüchteten nach: „Wartet-“, als sie bereits außer Reichweite waren. Es war längst zu spät, nun steuerten die Dämonen in Weiß nicht mehr auf die Hütte zu, sondern auf die längst entdeckten Bewohner. Lyze stellte es mit Entsetzen fest und versuchte nicht noch mehr Zeit zu verlieren, irgendwie musste er ihnen schließlich helfen! Schnell sprang er vom Dach und breitete noch während er fiel seine Flügel aus, um über den Boden hinweg zu gleiten, direkt auf die zwei Mädchen zu. Gerade als der Erste von drei Dämonen die Flüchtenden von oben überraschen wollte, riss Lyze sie zur Seite, wodurch sie einem verheerenden Speerstoß entgingen. Siri, die aus Reflex Erde umarmte, um sie vor dem Aufprall zu schützen, schaute, nach dem sie im harten Gras gelandet waren, völlig überrascht zu Lyze. Er setzte sich sofort auf und suchte die zwei anderen Dämonen – der dritte kämpfte damit, seinen Speer aus dem Boden zu kriegen. „Schnell, wo sind wir sicher?“, fragte Lyze, der noch immer von Siri angestarrt wurde, „In welche Richtung?“ Kurz schüttelte Siri den Kopf, ehe sie nach rechts deutete und antworten konnte: „Dort entlang!“ „Steht auf!“, er half Erde auf die Beine, dann packte er sie und Siri am Handgelenk und lief mit ihnen los – die Dämonen flogen hinterher. „Warum hilfst du uns!?“, keuchte Siri, während des Laufens. Sie verstand immer noch nicht, dass Lyze keiner von denen war. „Weil…“, begann er, „Weil ihr in meiner Welt-“, ein Dämon hatte den Flüchtenden den Weg abgeschnitten und landete vor ihnen, einen Moment später schwang er auch schon seinen Speer nach den Drei. „Runter!“, sofort nach Lyzes Reaktion zogen alle die Köpfe ein, sodass der Speer durch die Luft schnitt. Lyze riss seine Hand nach vorne, worauf hin der Dämon einen weiten, unkontrollierten Flug in die Steppe genießen durfte. „Und was war das!?“ Der Halbengel keuchte nur lächelnd, ehe er sich zum Weiterlaufen umdrehte: „Ihr würdet es mir nicht glauben.“ „Was nicht glauben?“, Siri und Erde liefen ihm wieder nach. „Dass ich in meiner Welt einmal pro Woche mit einem Arcaner trainiere.“ „…Was ist ein Arcaner?“ „Vorsicht!“, Lyze hielt die zwei Bewohner zurück, denn auf einmal erstreckte sich eine sehr tiefe Schlucht knapp vor ihren Füßen. „Oh.“, gab Siri von sich, „Hätte ich dich warnen sollen?“ „Ja…“, so die Antwort, „Wäre nett gewesen.“ Erneut waren die Flügelschläge der schnell heranstürmenden weißen Dämonen zu hören, gleich würden sie aufgeholt haben. „Was machen wir jetzt?!“, Erde zupfte an Lyze, blickte verzweifelt hinter sich auf die Schatten am Himmel. „Haltet euch fest!“, Lyze zog die Beiden an sich heran, „Wir werden auf die andere Seite gleiten!“ „Gleiten? Zu dritt?!“, Siri sah panisch zu ihm, „Bist du verrückt? Wir werden abstürzen, wie ein Stein!“ Der Halbengel beantwortete dies mit einem kopfschüttelnden Lächeln – den Spruch hatte er nicht zum ersten Mal von derselben Person gehört. Er zählte nicht bis drei, bis alle bereit zum Springen waren, die Dämonen würden schließlich auch nicht warten. So schubste er, als er sprang, die Beiden von der Klippe und breitete die Flügel aus, während die Mädels zu schreien begannen. Erst jetzt, wo es zu spät war, bemerkte Lyze, dass die andere Seite der Schlucht zu hoch war, um sicher hinüber zu gleiten. Der Flug senkte sich langsam immer mehr und erreichte den kritischen Punkt, mit allen drei gegen die Klippenwand zu knallen. Lyze schlug so fest er konnte mit seinen Flügeln – es war ihm durchaus bewusst, eine gute Landung könnte und kann es auch nicht geben. Doch trotz der Gewissheit ging es, mit zwei Personen Übergewicht, wieder bergauf! Der Halbengel konnte es selbst nicht glauben: er glitt nicht mehr, sondern flog über die Schlucht hinweg! Fasziniert von dieser Tatsache, sah auch Siri hinab, dann zu den Verfolgern im Hintergrund, die langsam immer kleiner statt größer wurden. Vor Freude schwang Erde mit einem „Wohoo!“ die Hände in die Luft und riskierte dabei für einen kurzen Moment fallen gelassen zu werden – Siri drückte ihr mit einem „Halte dich fest.“ die Hände runter. Nach einer Weile des Fluges durch Wolken, über Berge und Seen, deutete Siri nach rechts auf eine freie Stelle: „Dort können wir landen, Mr. Lyze!“ „Ist gut.“, war die Antwort, als der Flug sich wieder senkte, „Aber lass doch das „Mr.“ weg, das klingt albern.“ „…Nö.“ Zurück auf dem Boden lief die im ersten Moment sehr ernst scheinende Erde über die grüne Wiese und freute sich das erste Mal wie ein richtiges Kind über den Flug, Siri sah ihr dabei mit einem Lachen zu und genoss die vorbeiziehenden Windstöße. Lyze hingegen schaute sich im Kreis gehend um und machte sich ein Bild von dieser völlig veränderten Landschaft: kein trockenes Gras mehr, es war kniehoch und grün. Hügel mit vereinzelten Bäumen erstreckten sich über der Fläche, am Horizont konnte man Berge und vorbeiziehende Vögel sehen. Es fühlte sich fast wie Heimat an. Aber nur fast. Dann senkte Lyze überlegend den Kopf, er dachte über den Flug von vorhin nach. Wie kann es sein, dass er plötzlich aufliegen konnte, als wäre er alleine unterwegs? Da überkam ihn ein Gedanke und sah bei seinem festen Entschluss auf: „Es ist ein Traum…“ Im nächsten Moment spürte er ein zusätzliches Gewicht an seinem Rücken: Siri hatte sich überraschender Weise an ihn gehängt. Gerade als er fragend den Kopf in ihre Richtung drehte, schmiegte sie sich in seine Flügel: „Ich wusste gar nicht, dass Dämonenflügel so weich sind!“ „…Da- das…“, begann er, „Es liegt an der Tatsache,…“, nun versuchte er sich zu befreien, „Dass ich nun einmal zur hälfte ein Engel bin.“ Siri ließ ihn in dem Moment los, in dem er sich nach vorne drücken wollte, worauf hin der Halbengel auf die Nase fiel. „Du meinst Halbdämon.“ „…Nein, ich meine nicht Halbdämon!“, er setzte sich seufzend auf und vergrub kurz sein Gesicht in den Händen, nebenbei verschwanden seine Flügel. „Ist doch auch egal… ähm…“ „Ähm?“ „Ihr habt mir noch immer nicht verraten, wie ich nach Hause komme.“ „Oh, das weiß sicher der Zauberer!“, antwortete hastig Erde. „Der Zauberer?“ Siri beugte sich zu ihm hinab: „Ja, er weiß wirklich eine Menge, noch dazu lebt er nicht weit von hier.“ „Lasst mich raten…“, der Halbengel putzte kurz seine Kleidung ab, „Er lebt hoch oben alleine in einem Schloss und betrauert seine verlorene Frau.“ „Nnnnein…“, so Siri, „Er lebt eigentlich nicht weit von hier auf dem Land mit seiner Frau und elf Kindern.“ „E-el…?“, Lyze wollte nicht glauben was er da hörte. „Reden wir vom selben Magier? Ist sein Name Avrial?!“ „Ja!“, Erde lachte, „Woher weißt du das?“ Und wieder vergrub der Halbengel schwer seufzend sein Gesicht in den Händen, ehe er entschieden aufschaute: „Lasst… uns einfach zu ihm gehen.“, denn verstehen würde er diese verdrehte Welt sowieso nie. Kapitel 34: 1. Bonus-Geschichte, Teil 3: Im Unterbewusstsein ------------------------------------------------------------ Den Rest der relativ kurzen Reise hatten Lyze, die hübsche Siri und ihre Tochter Erde ihre Ruhe vor den weißen Dämonen der Lüfte. Es war richtig entspannend, in einer grünen Gegend umherzustreifen, nicht einmal die vorbeiziehenden Wolken vermiesten die Stimmung. Lyze war sich indes bewusst geworden, dass er mit Sicherheit träumen müsste. Nicht zuletzt wurde sein Entschluss bestärkt, als eine überaus große Wanne mitten im Grünen stand und darin ein grauschwarzer Gorilla mit einer Quietsche-Ente badete… von all den Ereignissen und Verdrehungen, die er in seiner kurzen Zeit an diesem Ort erlebt hatte, würde dies die Merkwürdigste bleiben. Kurz darauf kamen die drei bei einem hübschen Landhaus an, mit weißem Gartenzaun, süßen Apfelbäumchen und lieblicher Terrasse mit Vogelhäuschen – und hier sollte wirklich der Avrial leben? Siri klopfte an die weißgestrichene Holztür und hoffte auf eine Antwort: „Hallo-o!“ Als zuerst gar nichts zu hören war, folgte darauf ein leises „Komme schon!“ aus dem Inneren, bis die Tür aufgesperrt und einen Spalt geöffnet wurde: „Ja?“ Lyze trat vor, um mit dem Grundstücksbesitzer zu reden. „Wohnt hier Avrial?“ „Er steht vor dir. Kann ich dir helfen?“ „Nun. Ja…“, Lyze wartete, bis der Magier die Tür ganz geöffnet hatte – Avrial sah genauso aus wie in seiner Welt, „Ich komme aus Desteral… und finde nicht mehr den Weg zurück… können Sie mir helfen?“ „Na Junge, das ist aber nun wirklich nicht schwer – du musst nur aufwachen.“ „Aufwachen…“, der Halbengel seufzte, „Das ist auch einfach gesagt; wenn ich nur wüsste, wie.“ Avrial brachte den drei Reisenden ein freundliches Lächeln entgegen, ehe er ins Haus deutete: „Kommt doch herein, ich mache uns einen Tee.“ So betraten sie das Haus des Magiers. Was Lyze auf dem ersten Blick auffiel: eine wunderschöne, helle Inneneinrichtung – also genau das Gegenteil von Schloss Ikana – und dass keine Kinder durch den Flur liefen, war die zweite Entdeckung. Kein einziges der angeblichen elf. „Kann ich Ihnen eine Frage stellen?“, Lyze blieb höflich; in dieser Welt kannte man ihn schließlich nicht. Er nahm im Wohnzimmer auf einer Couch neben Siri Platz und wartete, bis der Magier ihm gegenüber nickte. „…Wo sind Ihre Kinder?“ „Draußen.“, war die knappe Antwort, anschließend schenkte Avrial den Tee ein. „Und Ihre Frau?“ „Auch draußen.“ „Ja aber, will sie uns denn nicht begrüßen?“ Der Magier stellte Lyze die volle Tasse sanft auf eine Kante des Kaffeetisches, ehe er sich der nächsten widmete. „Was nicht existiert, kann auch nicht begrüßen, nicht wahr?“ Vorsichtig nahm der Gast die heiße Tasse, trank aber noch nichts. Er war zu beschäftigt damit, über Avrials Gegenfrage nachzudenken. „Aber, die zwei hier neben mir sagten, Ihr habt eine Frau-“ „Die habe ich auch.“ „Und Kinder?“ „Natürlich – ziemliche Rebellen, die Kleinen.“ Nun wirklich mehr als neugierig stellte der Halbengel die Tasse zurück auf den Unterteller am Tisch, ehe er sich zu Avrial vorbeugte: „…wo ist Ihre Familie wirklich…?“ In aller Ruhe machte der Magier währenddessen den ersten Schluck von seiner Tasse, bevor er auf Lyzes Frage reagierte und sich ebenfalls leicht vorbeugte. „Sag du es mir.“ „Das-“, der Gast war aufgestanden, „…macht doch überhaupt keinen Sinn!“ „Mr. Lyze, beruhige dich!“, Siri zog ihm am Ärmel, damit er sich wieder setzte, „Der Zauberer weiß, was er tut, vertraue ihm!“ Mehr als nur angespannt starrte er den überaus zufrieden lächelnden Magier an, der schon wieder an seiner Tasse nippte. Dann sah er zu Siri und Erde – und setzte sich schließlich wieder mit einem Seufzer. „Ich will nicht lange um den heißen Brei reden.“, meinte Avrial, ehe er aufsah, „Hast du dich nie gefragt, wieso diese Welt so ist, wie sie ist?“ „…Ich habe mich gefragt, ob ich träume und wieso ich hier bin.“ „Aber du hast dich nicht nach der Welt erkundigt!“ „Ja, mag sein…“, Lyze verlor langsam die Geduld, „Können Sie mir jetzt sagen, wie ich heimkomme, oder nicht?“ „Das tat ich bereits.“ „Aber ‚aufwachen’ hilft mir nicht viel, wenn ich nicht weiß, wie!“ Avrial musste schmunzeln. Er schüttelte nur den Kopf über Lyzes Engstirnigkeit und so stand er von der Couch auf und bat ihn mit einem „Komm mit.“ wieder aus dem Haus. Draußen angekommen – Siri und Erde sind ihnen in den Garten gefolgt – deutete der Magier in die Ferne. Um sich herum. Überall hin. „…Du musst dir die Frage selbst stellen. Beantworten kannst sie nur du.“ „…Meinen Sie… was ist diese Welt…?“ Avrial nickte zufrieden. Er ging ein paar Schritte abwärts, um den Halbengel in Ruhe nachdenken zu lassen. Die Berge. Das Gras. Die Bäume, die Wolken, der Himmel, der Zaun, das Haus, das Puppenhaus von vorhin, die Schlucht, …die Personen. Da ging Lyze endlich ein Licht auf: Jetzt, wo ihm plötzlich alles so klar und einfach schien, konnte er nur mehr seine Hand auf die Stirn schlagen. „Die Engel! Sie sind in dieser Welt Dämonen, weil…“ „Weil?“, hakte Avrial nach. „…Weil sie für mich nicht mehr als dies sind…“ „Du kannst sie nicht leiden.“ „Ja…“ „Dann müsstest du dich eigentlich auch zur Hälfte selbst hassen.“ „Nein.“ „Wieso?“ „Ich mochte meine Mutter.“ „Vielleicht hast du dich darum bei deiner Ankunft nicht verändert.“ „Sie sind nicht Avrial.“, Lyze sah zu ihm auf, „Ich kann deine Frau und Kinder nicht sehen, weil ich nicht weiß, wie sie aussehen, aber das ist nur die halbe Wahrheit.“ Avrial lächelte den Halbengel einfach nur gespannt an und wartete auf den entscheidenden Satz, den er sprach, nachdem er sich vor ihn gestellt hatte: „Du bist ich.“ „Ach, wirklich?“, der Magier musste lachen. „Warum sonst solltest du besser Bescheid wissen, als alle anderen hier? Warum lebst du nicht im Schloss von Ikana? Ich werde es dir sagen: weil das mein inneres Haus ist.“ Lyze sah rüber zu seiner Schwester, die von der hübschen Siri an den Händen gehalten wurde und lachte. „Erde, oder Aira, ist in dieser Welt Siris Tochter, da wir in Wirklichkeit gemeinsam in einem Haus leben und zu einer Familie zusammenwachsen… das ist mir jetzt klar.“ Dazwischen sah lachend Siri auf, wobei der Halbengel kurz überlegen musste. „Und Siri…“ „Das sind große Erkenntnisse.“, Avrial stellte sich neben ihn, „Ein Traum ist ein Traum. Du musst auf die Details achten, um zu erfahren, was in deinem Kopf vorgeht.“, dann schloss er kurz die Augen, „Deine Reise ist hier zu ende.“ Der Halbengel sah fragend zu ihm rüber: „Wieso?“, anschließend kam Siri zu ihm gelaufen. „Lyze!“ „Lyze? Hast du dir das ‚Mr.’ abgewöhnt…?“ „Lyze!“, die junge Frau rief abermals, bevor sie begann an ihm zu rütteln: „Lyze, wach auf!“ „Wa-was soll das!? Hör auf!“ „Wach schon auf, du Schlafmütze!“ Plötzlich verwischte die Gegend um ihn, alles und jeder verschwand in der Weite des schwarzen Nichts. Als Lyze seine Augen kurz schloss, fühlte er sich schwer. Er schien nicht mehr zu stehen, sondern zu liegen; er spürte den Boden auf seinen Rücken und hörte nebenbei noch immer Siris Ruf. Als er seine Augen schließlich wieder öffnete, war ein bekanntes Gesicht über ihn gebeugt: „Lyze! Hach, na endlich.“, Siri stemmte die Hände in die Hüfte, obwohl sie neben ihm im Gras saß. „Genug geschlafen, die Pause ist doch schon lange vorbei. Wenn du nicht bald aufstehst, wird Aira mehr Früchte verputzt, als gesammelt haben!“ „Pause…?“, Lyze rieb sich das Gesicht und setzte sich langsam auf, „Ich wollte doch den Korb zum Sammeln holen…“ Schmunzelnd zog Siri eine Braue hoch. Der Korb lag schon lange, mit Früchten aufgefüllt, neben Lyze. Sie hob ihn hoch und wedelte damit vor ihm herum: „Wir haben alle drei Körbe gemeinsam in der früh geholt… hast du das etwa vergessen? Langsam machst du mir Sorgen.“ „Ich… ähm…“ „Lyze!“, Aira kam, mit dem Mund voll mit Früchten, herbei gelaufen und beugte sich über ihn. „Ist alles in Ordnung bei euch?“ „Ja…“, ihr Bruder lächelte, „Mir ist nur klar geworden… dass wir jetzt eine Familie sind.“ Beide Mädels um ihn begannen bei seinen Worten gleichzeitig zu lachen, ehe Siri antwortete: „Das sind wir doch schon lange. Ist dir das nie aufgefallen? …Was immer du geträumt hast, es muss verwirrend gewesen sein!“ „Es war ganz seltsam!“, begann Lyze zu erzählen, „Aira war da, sie war deine Tochter und hieß Erde!“ „Erde?“ „Ja! Und du warst auch da, nur viel hübscher!“ „Viel Hübscher??“, Siri hob wortlos den Korb und entleerte die Früchte über Lyzes Kopf. „Wa- was hab ich denn- ?“, er kriegte keine Antwort: Siri war im nächsten Moment davon gestampft. „Ach, Lyze.“, Aira half ihn auf die Beine, „Lass uns die Früchte einsammeln – es dämmert schon, und ich will noch Abendessen!“ „Aira… du hast doch die ganze Zeit gegessen!“ Die Beiden lachten gemeinsam, ehe sie begannen die Früchte um sie herum zurück in den Korb zu tragen. Lyze überlegte dabei noch ein Weilchen, wieso Siri plötzlich so wütend geworden sein könnte. Noch ehe er zu einer Lösung kam, standen alle drei voll beladene Körbe bei einander, um ins Haus getragen zu werden. Dass sein Haushalt zuwachs bekam, lag nun schon fast ein halbes Jahr zurück – und obwohl alle Drei in Lyzes Haus wohnten, fiel ihm als letzter auf, wie nah sie sich alle wirklich standen. An jenem Tag, an dem Prinz Vilior den Thron vom Schattenreich, dem Land Azamuth bestieg, konnte Siri weder in ihre Heimat zurück, noch bei Avrial im Schloss wohnen, da er sich heimlich verdrückt hatte – sie war praktisch gezwungen, bei Lyze einzuziehen. Erst jetzt dämmerte es langsam, dass der Arcaner vielleicht mit Absicht verschwunden war. Fest steht, Lyze würde ihn beim nächsten Treffen des Magie-Trainings danach fragen. Kapitel 35: 2. Bonus-Geschichte: Avrials Lebensziel --------------------------------------------------- Es war nicht schwierig für Avrial, sich nach Kriegsende in seinen Alltag wieder einzuleben, immerhin hatte er dies über ein halbes Jahrhundert getan: aufstehen, den drei Schlossputzen klar machen, dass er kein Frühstück ans Bett gebracht haben will, Dame spielen, Mittagessen, die drei irren Putzen einkaufen schicken, nebenbei die Zeit allein in der Bibliothek genießen, danach Tee am Balkon, die Putzen am Blödsinn machen hindern, Abendessen, einen ruhigen Abend verbringen und ins Bett gehen. Nach alldem, was er mit seinen Freunden Siri und Lyze erlebt hatte, fiel ihm allmählich auf, wie sinnlos er seine Zeit vergeudete. Er tat jeden Tag das gleiche, nun schon über Jahre hinweg… eine Änderung musste dringend her. Sein Glück war es, Lyze versprochen zu haben, ihn in Magie zu unterrichten – so konnte er wenigstens eineinhalb Tage der Woche dem Alltag entfliehen, doch das war ihm zu wenig. Avrial war auch ein Gewohnheitstier. Jede Änderung in seinem Leben hatte er gerne für dauerhaft; so war es zusätzlich schwierig, ein neues Hobby zu finden, welches man jeden Tag wiederholen konnte. Es musste etwas Sinnvolles sein. Überlegend saß der Magier da, in seinem roten Sofa und dachte genau darüber nach. Seine drei Putzen waren damit beschäftigt, alte Kästen abzustauben, als Rina den nachdenklichen Blick ihres Herrn bemerkte. Es brauchte nicht lange und sie hopste zu ihm rüber: „Meister? Geht es Euch nicht gut? Ihr wirkt so traurig, seid Ihr krank?“ „Nein, Rina… es geht mir gut.“ „Wirklich?“ „Ja. Es ist alles in Ordnung.“ „Wirklich wirklich?“ „Ich bin nicht krank und fühle mich wohl in meiner Haut.“ „Wiiiiiiiirklich wiirklich?“ „Rina.“, als Avrial einen leicht entnervten Blick zu seiner Hausputze warf, hopste sie zurück zu ihren Kolleginnen, um schnell weiter die Möbel zu entstauben. Darauf hin senkte der Magier den Kopf und seufzte tief. „Wisst ihr, jeder Tag ist gleich. Allmählich frage ich mich, ob ich etwas im Leben verpasse… ob das, was ich tue, nicht unnütz ist.“ „Aber Meister.“, Christy stemmte lächelnd die Hände in die Hüfte: „Ihr habt doch eine Aufgabe! Ihr müsst den hübschen Jungen Magie beibringen!“ „Ja!“, rief Juls hinein, „Und Dame spielen und Tee trinken und die Bibliothek erweitern und-“ „Das ist es ja gerade.“, Avrial stützte den Kopf auf seiner Hand, „Ich tue das, was ich schon immer getan habe. Ich will damit nicht sagen, dass ich das Schloss aufgeben will – nein, das werde ich niemals machen. Wegen Yne schon allein nicht. Aber… es muss etwas Neues her. Etwas Sinnvolles.“ Rina schnippte mit den Fingern: „Oh, ich weiß was! Hängt eine Angel aus dem Fenster und fängt Luftforellen!“ „Etwas… Sinnvolles…“, kurz hielt sich Avrial überlegend die Hand ans Kinn, dann setzte er sich mit geweiteten Augen auf: „Einen Augenblick… Christy, was hast du vorhin gesagt?“ „Was? Hä? Was hab ich denn gesagt?“ „Lyze-“, Avrial stand sogleich auf, wanderte an seinen Putzen vorbei und suchte nach seinem Mantel: „Wir hatten das Training doch auf heute Nachmittag verschoben! Ich muss mich beeilen, dann schaffe ich es noch, um drei Uhr in den desteralischen Steppen zu sein!“ „Meister?“, Juls lotste um die Ecke des Raumes, als der Magier eilig den Flur hinab lief und verschwand. „Weg ist er.“ „Er macht sich zu viele Gedanken.“, so Christy, die dabei war, einen Fleck wegzurubbeln, „Er hat doch noch so an die hundert Jahre vor sich.“ „Hundert?“ „Ja, ich glaube, es waren hundert, Rina.“ „Hä?“ „Schon vergessen? Er ist Arcaner.“ Nun verdrehte Juls den Kopf. „Was ist Arcaner?“ „Das- äh- hm. Keine Ahnung… Oh man Leute…“, Christy lies vom Fleck ab und war dabei, sich auf den Boden zu setzen, als sie sich auf den Kopf griff: „Fragt ihr euch manchmal nicht auch, was das alles hier soll?“ „Was wie was soll?“ „Das, Rina, genau das!“ Nun seufzte Juls, legte den Wischlappen zur Seite. „Der Meister hat recht… wir tun jeden Tag das Selbe. Und obendrein…“ Christy sprach weiter: „Und obendrein verlieren wir unseren Verstand, endgültig.“ Nun verstand auch endlich Rina, was ihre Kolleginnen meinten. „Verdammt… ihr habt Recht.“ „Schön, dass wir alle drei der gleichen Meinung sind.“ „Welcher Meinung?“ „Dass wir den Verstand verloren haben, Rina. Das, und die Tatsache, dass wir alt sind… sehr, sehr, sehr, sehr, sehr alt…“ Den ganzen restlichen Tag verbrachten die drei Schlossfrauen mit dieser Erkenntnis. Sie fragten sich, ob es denn überhaupt noch einen Sinn für ihr überlanges Leben gebe – ob ihre Zeit nicht bereits vor einer Ewigkeit hätte enden sollen. Natürlich bedachten sie dabei auch, wie es Avrial ginge, wenn sie nicht mehr wären. Während Juls der Meinung war, der Meister war ohne sie besser dran, war Christy am Überlegen, ob er dann nicht endgültig einsam war. Doch genau in diesem Punkt konnte Rina ausnahmsweise das Richtige sagen: Avrial war nicht mehr alleine. Er hatte gute Freunde, die ihn brauchten. So verstrich der Tag. Es war nie die Absicht des Magiers, die drei Putzen über ihr Leben aufmerksam zu machen, welches sie bereits seit fast ein Jahrhundert führten. Auch wenn sie langsam ihren Verstand verloren hatten, so nutzten sie das letzte Fünkchen dafür, um zu entscheiden, was das Beste für Avrial, dem Schloss und vor allem für sie selbst sei. Überraschend warteten die drei somit bereits unten am Tor, als Avrial von seiner Reise zu seinen Freunden zurückkam. Er wusste, dass etwas nicht stimmen konnte, wenn alle drei aufgestellt und ohne einem Lächeln auf ihren blassen Lippen vor ihm standen. „Meister…“, begann Juls schließlich und trat einen Schritt vor, „Wir haben nachgedacht.“ „Gründlich nachgedacht, Meister.“, so Rina. Christy wartete den überraschten Blick des Arcaner ab, ehe sie lächelnd sprach: „Wir sind dankbar, dass wir bei Euch bleiben durften. Über all die Jahre hinweg!“ „Und wir sind dankbar, dass Ihr uns das Leben geschenkt habt… das lange Leben eines Arcaners. Aber…“ „Aber wir können nicht mehr.“, fügte Rina ein. Christy nickte. „Bitte versteht unsere Entscheidung… wir wollen nicht länger zusehen, wie wir den Rest unseres Verstandes verlieren.“ Juls seufzte trocken, „Und so werden wie Rina.“ Als die drei Hausdamen fertig waren, wartete Avrial einen Moment, eher er lächelnd den Blick senkte. „…Seid ihr euch in eurer Entscheidung wirklich sicher? Ihr wisst, dass es, wenn der Bann aufgehoben ist, der euch mit meinem Leben verbindet, kein Zurück gibt.“ „Das wissen wir.“, Juls lächelte traurig, „Bitte… wir sehnen uns nach Frieden.“ Christy deutete auf ihre Kollegin Rina, die einen Koffer neben sich stehen hatte, „Sie hat bereits ihre Sachen gepackt… aber ich denke, dort wo wir hingehen, braucht sie die nicht.“ „Nein… so ist es.“, nun hob Avrial die Arme und öffnete die Handflächen. Sichtlich glücklich über das Handeln des Magiers, rutschten die drei Putzen ein Stück näher zusammen und gaben sich gegenseitig die Hände – denn ein wenig Angst hatten sie schon. Noch ein letztes Mal lächelte Christy freundlich: „Lebt wohl, Meister.“ Avrial musste darauf nicken. „Ich danke euch für eure gute Arbeit. Ihr habt eure Ruhe redlich verdient.“, schließlich schloss er die Augen und breitete die Arme aus, als sich eine geisterhafte Aura um die drei Schlossdamen bildete. „Grüßt Yne von mir.“ Als der Magier ruckartig die Hände senkte, wurden die drei Frauen regelrecht in die helle Aura eingehüllt – im nächsten Moment verschwanden sie, aus Ikana, im Nichts. Als die Tat vollbracht war, drehte sich Avrial seufzend vom vergangenen Geschehen ab; nun war er alleine im großen Schloss. Noch eine ganze Weile ging der Magier mit gesenktem Kopf durch sein großes Heim. Er wusste, dass seine drei letzten Bediensteten niemals mit ihm im hohen Alter von fast zweihundert Jahren sterben würden; doch rechnete er auch nicht damit, dass der Tag des Abschieds so rasch kommen würde. Er setzte sich in sein Sofa in eines der roten Wohnzimmer vor dem Kamin, nahm seinen Hut ab und wischte sich seufzend über die Stirn. Nie mehr sollte ihm das Frühstück ans Bett gebracht werden, auch, wenn er das gar nicht wollte. Er wird selbst zum alten Bauernhof die Straße hinunter gehen müssen, um Lebensmittel zu beschaffen; was vielleicht gar nicht so schlecht war – den jetzigen Bauernhofbesitzer hatte er zuletzt gesehen, als er in Windeln einem Huhn nachjagte. Es war eventuell das Beste für alle, die drei Schlossdamen gehen zu lassen. Viel zu lange schon waren sie auf dieser Welt… ein Zauber, der den Lebensfaden an den eines Arcaners bindet, war vielleicht von Anfang an keine gute Idee gewesen. Und da fiel es Avrial ein… ihm fiel ein, was diese sinnvolle Beschäftigung sein könnte, nach der er suchte: wenn man Lebende an seine Lebensdauer binden konnte… funktionierte das dann nicht auch umgekehrt, mit Verstorbenen? Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)