The Longest Journey - Beyond the Veil von abgemeldet (Das Ende einer langen Reise steht bevor) ================================================================================ 2.5 "Das Auge im Himmel" ------------------------ ~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~ Die Gedanken überschlagen sich: Schmerz, Angst, Überraschung, Wut… Aprils Sinne verwischen die Vielzahl der Eindrücke und konzentrieren sich auf einen konkreten Nenner: Flucht. In Windeseile ist sie aufgestanden und rennt die Schnee bedeckte Ebene zur Straße hinunter. Sie kann die Rufe der Polizisten hören, die sie zum Stehenbleiben auffordern, doch es kümmert sie nicht. Sie setzt über die Fahrbahnbegrenzung hinweg und eilt die Straße entlang, immer den Blick auf das Gehölz zu ihrer Rechten gerichtet. Als sie schließlich merkt, dass es abwärts geht, hält sie mehr und mehr auf die linke Fahrbahnseite zu, wo die Felder zunehmend aufhören und einem Waldstück weichen, das über zwei Kilometer schließlich am Hof der Ryans endet. In diesem Waldstück versucht April sich zu verstecken, denn es ist unbefahrbar und dicht genug, dass sie darin nicht auffallen wird. Ein wenig hat es vom Versteckspiel, nur dass sich April nicht erinnern kann, hier je eines durchgeführt zu haben. Endlich gelangt April zu einer kleinen Lichtung, einem ehemaligen Wildschweinloch, an dessen Rändern dichte Nadelgehölze zum Verweilen einladen. Hinter eines dieser Gehölze hechtet April jetzt, presst sich gegen einen Stamm und wartet. Sie ahnt, dass ihr die Polizisten dicht auf den Fersen sein werden, und tatsächlich taucht fünf Minuten später der Agent namens Bishop auf der Lichtung auf. Sein suchender Blick verrät genug - er hat April noch nicht gesehen, doch er ist auf alles vorbereitet: sein Gewehr liegt schussbereit an seinem Arm, der fahle Atem entlädt sich Zigarrenrauch gleich in die kalte Luft. Mit dem Gewehr in Anschlag taxiert er ruhig den Rand der Lichtung, jedes Gebüsch einzeln. Unentschlossen tritt er einige Schritte vor, dreht sich nach allen Seiten, und kommt doch Aprils Versteck immer näher. Deren Brust schmerzt inzwischen immer stärker, so heftig pocht ihr Herz vor Aufregung. „Bitte, bitte, hilf mir“, denkt sie flehend und weiß dabei doch gar nicht, an wen sie sich wenden soll. Sie glaubt nicht an eine höhere Macht, selbst wenn ihre Familie es tut. Doch ihr Leben steht auf Messers Schneide, das spürt sie, und so betet sie insgeheim einfach zu dem Gott Pater Marduks und zu dem, was sie den Kollaps überleben ließ. In diesem Moment entsichert Bishop sein Gewehr und ruft noch mal eine Warnung in den Wind. Vor Angst presst sich April noch dichter gegen den Stamm in ihrem Rücken. Dann zählt sie innerlich: eins, zwei, drei, vier…. Die Schüsse kommen. Donnernde Druckwellen fegen durch das Unterholz. Das Holz in Aprils Rücken splittert krachend, doch der Stamm bleibt ganz. Noch einmal kommt eine Warnung, und es scheint fast so, als würde Bishop kommen, um die getroffenen Stellen zu inspizieren. Doch in diesem Moment erreicht ihn ein Funkspruch, und er hebt seinen Handschuh an den Mund. „Du hast ihn? Wer ist es?... Alles klar, halt ihn fest! Ich bin gleich da!“ ‚Wer kann das nur sein?’, denkt April, ein wenig mitleidig der armen Person gegenüber, die es da erwischt haben mag. Doch sie hat keine Zeit und auch nicht die Macht, dem entsprechenden Menschen aus der Misere zu helfen. Nach allem, was sie mitbekommen hat, sind diese Polizisten so oder so nicht jedermanns „Freund und Helfer“, und überstürzte Hilfeaktionen würden überhaupt nichts bringen. Doch ihr geglücktes Entkommen kann nicht darüber hinweg täuschen, dass sie in der Klemme steckt. Sie hat nur noch wenige Stunden, um eine CID zu bekommen, ohne gleichzeitig den Funken einer Ahnung zu haben, wo sie eine zugeteilt kriegt. Sie geht der Reihe nach jeden durch, an den sie sich wenden könnte, doch weder Daniel noch Owen kommen dafür wirklich in Frage, und ihre Mutter wäre zwar mehr als Willens, ihr zu helfen, doch würde sie nicht weit genug gehen, wenn es der Notfall erforderte. Dann denkt sie an Pater Marduk und erkennt eine letzte verzweifelte Chance: der Pater hat Erfahrung in Gemeindeangelegenheiten und Krisensituationen – er wird ihr helfen können. Doch dazu muss sie schnellstmöglich zurück ins Dorf kommen und herausfinden, wo der Pater wohnt. Und wer könnte ihr da besser helfen als...? April seufzt auf. Endlich hat sie einen Plan, endlich laufen die Dinge nach ihrem Willen. Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hat, dass Bishop fort ist, läuft sie mit großer Eile durch den Waldstrich zum Hof hinunter. Bishop hängt seine Waffe unzufrieden ins Halfter. Er hätte schwören können, auf der richtigen Spur gewesen zu sein, doch ohne die Ortungsgeräte seiner normalen Dienstrüstung ist er auf Funktionsfähigkeit seiner fünf Sinne angewiesen. Der Instinkt hat kein Mitspracherecht. Er hofft, dass Knights Fang rein zufällig ein Treffer geworden ist, denn sonst steht er wirklich wie ein Einfaltspinsel da. Genervt schiebt Bishop ein paar Zweige vor seinem Gesicht beiseite und schaut sich die Lage auf der Straße an: Knight hat den bewusstlosen Gefangenen in festen Griff genommen, ein kaputtes Gravycycle liegt wenige Meter entfernt auf der Fahrbahn. Der Gefangene ist noch recht jung, trägt eine Lederjacke, passende Handschuhe und einen Helm. Als Knight den Helm abnimmt, werden glatte dunkle Haare sichtbar. Bishop erkennt den Jungen von den Überwachungsvideos wieder – den Bruder der zu observierenden Person. „Ich hab ihn hier am Waldrand erwischt“, sagt Knight. „Er hat sich zwischen den Bäumen verborgen und nicht auf meine Warnung reagiert. Als ich geschossen habe, ist er auf sein Rad gestiegen und wollte wegfahren.“ „Bravo, tolle Verhörmethoden“, zischt Bishop. „Woher willst du wissen, dass er es war? Dass ich darauf reingefallen bin...“ Er stöhnt genervt auf, winkt aber dennoch ab und hebt das Gravycycle auf. „Gehen wir zum Van zurück! Wenn es wirklich die war, die ich im Auge habe, dann wird sie früher oder später sowieso dorthin kommen, wo wir sie haben wollen.“ „Owen? Nein, der ist nicht hier“, antwortet Jennifer Ryan auf Aprils Frage. „Normalerweise bastelt er vor dem Abendessen immer an seiner Maschine herum. Vielleicht fragst du mal Daniel: er gibt ihm regelmäßig andere Aufgaben um diese Zeit.“ Doch April kann sich weitere Verzögerungen nicht leisten, und so schaut sie letztendlich ins Adressbuch der Familie. Pater Marduk wohnt direkt in der Nähe der Kirche, die April auf ihrem Weg durchs Dorf gesehen hat – ein recht moderner Bau unter den alten Farmhäusern, die die Straßen ausfüllen. April schaut auf ihre Uhr, die sie eingesteckt hat: von den zwei Stunden, die sie hatte, sind bereits vierzig Minuten vergangen. Was am Ende der Frist geschehen wird, entscheidet sich jetzt, als April die Klingel drückt und auf Einlass wartet. Die Tür öffnet sich, und das im Schatten der Dämmerung überschattete Gesicht des Paters erscheint. „April“, ruft er erstaunt aus, „Sie habe ich gerade jetzt nicht erwartet.“ „Es geht um eine wichtige Angelegenheit, Pater. Darf ich hereinkommen?“ „Aber selbstverständlich! Kommen Sie!“ Das Innere des Hauses ist düster und elegant eingerichtet, mit lauter dunklen Hölzern und gedeckten Farben, dem Kleidergeschmack Pater Marduks nicht unähnlich. Dieser geht jetzt die Treppe zum ersten Stock hoch und bedeutet April zu folgen. „In meinem Arbeitszimmer sind wir ungestört. Meine Köchin bereitet gerade das Essen zu, aber ich werde sie anweisen, es noch ein wenig warm zu halten.“ Oben angekommen schließt Pater Marduk die Tür hinter ihnen und setzt sich auf einen Stuhl gegenüber einem schmalen Schreibtisch. „Bitte setzen Sie sich“, sagt er und weist auf ein kleines Sofa an der Wand. April folgt seiner Anweisung und setzt sich. Das Ticken einer altmodischen Wanduhr erfüllt den Raum und nimmt ihr fast den Atem, doch sie fasst sich den Mut und erzählt Pater Marduk nach und nach von dem angehörten Gespräch, von ihrer Identitätslosigkeit und ihrem Auftauchen mehrere Wochen zuvor im Wasser eines Nationalparks, denn das alles gehört ihrer Meinung nach zusammen und sollte nicht verschwiegen werden. Pater Marduk hört geduldig zu und stellt Fragen, wann immer ihr Redefluss zu stocken droht. Einen Bruchteil dieser Fakten habe er schon vor ihrer Ankunft von Owen erfahren, doch die Probleme, die sie anspricht, sind auch ihm neu und unbekannt. „Eine CID-Nummer ist nicht einfach zu erlangen. Allerdings wäre es mir neu, dass die Polizei deswegen Verhaftungen vornimmt.“ „Aber weswegen haben sie dann eine Einsatzgruppe gerufen? Was wollen diese Leute von mir?“ Der Pater schweigt einen Moment. Er steht auf und geht zum Fenster, um in das letzte Tageslicht zu blicken, wie es hinter die Dächer der Häuser sinkt. „Möglicherweise – und das rate ich nur – haben Sie in ihrem früheren Leben etwas getan, was sie in Konflikt mit den Konzernen gebracht hat. Die Polizei soll angeblich dienen und schützen, aber sie ist den Interessen der Konzerne verpflichtet. ... Haben Sie irgendein Logo gesehen, als sie dort waren?“ „Doch! Einen durchgestrichenen Kreis, und einen Schriftzug, der MTI lautete.“ „MTI... MTI...“ Pater Marduk dreht sich wieder April zu, und seine Miene ist von Sorgen gezeichnet. „Das bedeutet in der Tat große Probleme... aber ich kann mir nicht sicher sein.“ Nun beginnt der Pater nervös im Zimmer umher zu laufen. Seine Lippen bewegen sich dabei, als spräche er mit jemandem. „Malkuth Technologies sind seit Jahren nicht mehr auf der Höhe ihrer einstigen Macht“, sagt er schließlich. „Früher gehörten ihnen ganze Planeten und Armeen, aber mit dem Kollaps ist vieles davon in die Brüche gegangen. Welchen Einfluss sie heute noch haben, ist ungewiss, aber es wird gesagt, dass sie mit mehreren Firmen fusionieren mussten, um zu überleben. Sie sollen auch Kontakte im religiösen Bereich gehabt haben, aber was davon übrig ist, weiß ich nicht.“ „Aber was hat das alles mit mir zu tun?“ fragt April ungeduldig. „Was habe ich getan, um sie gegen mich aufzubringen?“ Der Pater antwortet nicht sofort. Wieder geht er im Zimmer herum. Seine Stirn runzelt sich mehr und mehr. Dann sagt er leise: „Das könnten wir wohl nur vor Ort erfahren… in Newport.“ April braucht eine Weile, um das Ganze zu erfassen. Sie soll nach Newport – zu dieser Stunde? Und was tut ihre Familie in der Zwischenzeit? Daniel und Rebecca sind ihr ziemlich schnuppe, aber Owen und Jennifer möchte sie keine Schwierigkeiten machen. „Ich kann jetzt nicht weg!“, sagt sie schließlich. „Es gibt Menschen, die mich brauchen – Menschen, die ich brauche. Ich kann sie nicht ohne Nachricht zurücklassen.“ „Dann müssen Sie sie anrufen!“, drängt Pater Marduk. „Ich kann Sie nach Newport bringen, aber wenn wir unbeschadet fortkommen möchten, dann müssen wir jetzt los – sofort!“ „Wie soll ich das bloß erklären?“, murmelt April, mehr zu sich selbst als zum Pater. Aber dann nimmt sie doch den Hörer ab und lässt sich vom Pater eine Nummer sagen. Mehrere Minuten nimmt niemand ab. April versucht es wieder und wieder, verwundert darüber, dass niemand da ist. Dann jedoch klackt es. Eine barsche Stimme ertönt – Daniels Stimme. April stockt kurz. Dass sie ihre Mutter überzeugen könnte, sich in Acht zu nehmen, weiß sie. Bei Daniel wird es schwieriger. „Hallo, Daniel, hier ist April. Ich… bin gerade nicht zuhause und -“ „Du bist was? Erst schleichst du dich bei uns ein und dann bist du so unverfroren, einfach wieder zu verschwinden? Verdammt noch mal, ‚Schlampe‘ ist eigentlich noch zu gut für dich!“ „Das hat seine Gründe“, erläutert April, bevor die Schimpftirade weitergeht. „Ich habe noch keine CID-Nummer, und der Pater möchte mit mir wegfahren, um so schnell wie möglich eine zu besorgen. Wir…“ Sie hält inne. Kann sie die ganze Wahrheit sagen? Würde Daniel das verkraften? Sie entscheidet sich für etwas anderes: „Sollte jemand kommen und nach mir fragen-“ „Sollte jemand kommen und nach dir… um Himmels Willen, was hast du getan?“ April seufzt. Der Schuß ging nach hinten los. „Das weiß ich noch nicht“, setzt sie hinzu, „aber falls jemand kommen sollte – verhaltet euch ruhig! Tut nichts Dummes! Und sagt ihnen, dass ich übermorgen wieder da sein werde! Es wird vielleicht jemand zur Überwachung da bleiben, aber ansonsten dürftet ihr unbeschadet davonkommen.“ Am anderen Ende der Leitung bleibt es einen Moment still, dann dringt ein Keuchen durch den Apparat, und es wird aufgelegt. „Das lief in der Tat besser als erwartet“, merkt Pater Marduk an. „Ich fühle mich schlecht“, erwidert April müde. „Das kann ich mir vorstellen. Aber es ist notwendig. Ich denke, Daniel wird seine Sache gut machen. Er wird das Schicksal seiner Familie nicht für seinen Hass aufs Spiel setzen.“ „Wie lange werden wir fahren?“ „Gut sechs Stunden. Ich werde meiner Köchin Bescheid geben, dass sie uns das Essen einpacken soll. Dann fahren wir los. Ruhen Sie sich solange noch ein wenig aus!“ April nickt, aber sie weiß, dass sie weder schlafen noch zur Ruhe kommen wird. Die Zeit rennt davon, und für ihre Familie ist die Gefahr nur geringfügig kleiner als zuvor. Nichtsdestotrotz schließt sie die Augen und versucht, sich zu entspannen. Sie merkt zunächst gar nicht, wie sie in einen unruhigen Traum hinübergleitet. Sie befindet sich auf dem Grunde eines tiefen Brunnens. Sie liegt auf dem Rücken. Von der Brunnenöffnung dringt kaum Licht her, außer durch dünne Spalten. Um sie herum liegen große, rote Äpfel. April versucht sich zu rühren, doch ihre Arme sind unförmig und viel zu groß, und ihr Kopf schlägt immer wieder gegen die Äpfel an ihrer Seite, so oft sie ihn zu wenden versucht. Ihre Beine strampeln in der Luft. Dann öffnet sich der Himmel, der grelle Lichtschein einer Lampe fällt herein. Eine Hand greift hinab in den Brunnen, tastet über Aprils Kopf und ihren harten Schnabel. Sie keucht, versucht zu schreien, doch nur die dünnen Endsilben dringen aus ihrer Kehle. Plötzlich schnappt sie zu, erhascht einen Finger und zieht sich daran hoch. Ehe sie sich versieht, ist sie draußen. Als sie hinab schaut, sieht sie einen bärtigen Mann mit gebeugter Haltung sich zusammen krümmen. „Bei Jaals verkrüppeltem rechten Zeh“, flucht er, „verdammter Vogel!“ Jaal? Der Name kommt April bekannt vor. Sie schlägt noch ein paar Mal mit den Flügeln und landet auf einem Querbalken. Dort erst bemerkt, dass sie sich auf einem Schiff aus rotbraunem Holz befindet, einem Schiff, das gerade beladen wird. Unter ihr senkt sich ein Lastkran zum Deck hinab und lässt eine Kiste in den Laderaum hinabgleiten. Mehrere Matrosen sind sofort zur Stelle, um die Verankerungen zu lösen, während ein großer Mann mit brauner Jacke und Pfeifenpfriem in der Hand – offenbar der Kapitän - sie beaufsichtigt. „Nicht so hastig, ihr Seegurken!“ ruft er seinen Männern zu. „Passt auf eure Beinarbeit auf! Ich will nicht während der Fahrt einen Haufen fußlahmer Schildkröten kommandieren.“ „Käpt’n!“ Eine blauhäutige Frau mit kurzem weißem Haar tritt an ihn heran. „Wir warten auf Angabe des Kurses.“ „Nimm die östliche Route nach Irhad, an der Feuerbucht vorbei, Tun!“, antwortet der Käpt’n, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. „Dank dieser häretischen Westländer können wir Corasan bis auf weiteres vergessen.“ „Die Azadi haben dort Fuß gefasst, Sir?“ „Letzte Woche, wenn man dem alten Spriem Hargutt glauben darf. Er sagt, sie haben schon angefangen, die Tempel dort niederzureißen, kurz nachdem sie das Rebellennest zerstört haben. Der Mo’jaal verdamm mich, wenn dabei etwas Gutes rauskommt!“ „Hat unsere Ladung etwas damit zu tun?“, fragt die junge Frau misstrauisch nach. „Irhad soll noch Verhandlungen führen, heißt es.“ „Das geht dich nichts an, Navigator!“, grollt der Kapitän zur Seite gewandt. „Kümmer dich um den Kurs, dann ist dein Apfel in der Tonne!“ Die Navigatorin salutiert etwas lax und wendet sich schon ab, als der Kapitän, auf einmal beinahe zärtlich, nachsetzt: „Aber du hast Recht, Tun: Sie führen noch Verhandlungen, und wenn mich nicht alles täuscht, dann sind sie auf Krieg aus.“ In diesem Moment erwacht April aus ihrem leichten Schlummer, da der Pater an die Tür klopft. „Wir müssen los!“, sagt er gedämpft. „Das Auto ist gepackt.“ April nickt, doch sie ist noch in Gedanken: Woher kam dieser Traum? Warum war sie ein Vogel? Und woher kennt sie diese Namen - aus einem Fantasy-Buch? Sie beschließt, die Fragen hintenan zu stellen, da sie sie jetzt doch nicht beantworten kann. Vielleicht wird sie eines Tages darauf zurückblicken und über diesen Traum lachen, weil er so bedeutungslos war. Denn am Ende sind es doch nur Träume… Eine halbe Stunde später, im Haus der Ryans… „Du hast sie gehen lassen?“ Jennifer Ryan ist ganz außer sich, ein Gefühl, das ihr sonst fremd ist. Ihr Sohn Daniel schaut sie deshalb auch fassungslos an, denn weder ist er eine solche Lautstärke gewöhnt, noch kann er sich nicht erinnern, seine Mutter jemals so groß wahrgenommen zu haben. „Sie hat es so gewollt. Sie will übermorgen wieder da sein, hat sie gesagt. Verdammt, es würde mich wundern, wenn sie überhaupt wieder kommt, jetzt, wo jemand hinter ihr her ist.“ Jennifer Ryan bleibt ein gewaltiger Kloß im Hals stecken. „Hinter… ihr her?“, fragt sie fassungslos. „Ja“, entgegnet Daniel nüchtern, „sie sagte, es würde jemand kommen, um nach ihr zu fragen. Purer Verfolgungswahn!“ „Sie wollen sie mitnehmen“, sagt Jennifer Ryan erschrocken zu sich. „Sie wollen sie einsperren!“ „Ach was“, widerspricht Daniel, erstaunlich ruhig diesmal. „Sie werden nicht mehr als ein paar Formulare ausfüllen wollen. Kein Grund, einen großen Wind darum zu machen.“ „Worum?“, fragt Rebecca, die gerade gemeinsam mit Alvin hereingekommen ist. „Was ist mit April?“ Daniel geht vor ihr in die Knie und streichelt ihr über den Kopf. „Nichts ist mit April“, sagt er sanft. „Sie ist nicht weiter wichtig. Geh und such deinen Bruder! Es ist gleich Essenszeit.“ Rebecca nickt mit dem Kopf und dreht sich auf der Stelle um, in die Garage zu gehen. Alvin krabbelt gemächlich hinter ihr her. Jennifer Ryan aber macht keine Anstalten, den Tisch zu decken. Noch ist sie zu aufgebracht. „Ich finde es nicht richtig, wie du denkst. April ist Teil dieser Familie, ob du es nun willst oder nicht!“ Daniel schnaubt wieder - seine alte Wut ist zurück: „Familie! Sie hat uns schon einmal im Stich gelassen – sie wird es ein zweites Mal tun! Du wirst sehen: in zwei Tagen werden wir von ihr…“ Er kommt gar nicht dazu, seinen Satz zu Ende zu sprechen: im gleichen Augenblick hört man das Reifenquietschen zweier Fahrzeuge im Hof. „Was war das?“, ruft Daniels Mutter bestürzt. Der junge Mann kann nicht antworten – entsetzt schaut er durch das Küchenfenster auf die Wagen der EYE-Einsatzgruppen und den MTI-Lieferwagen. Wenige Sekunden später werden die Eingangstür und die Hintertür eingeschlagen, und EYE-Einsatztruppen kommen hereingestürmt. Daniel bleibt regungslos am Küchenfenster stehen. Sein Blick ist abwartend und berechnend: er bedeutet seiner Mutter absolute Ruhe und Gelassenheit. Doch Jennifer Ryan ist weit entfernt von Gelassenheit: zu lange war sie passiv und diplomatisch. Nun tritt sie an einen EYE-Kommandeur heran und verlangt zu wissen, was hier gespielt wird. Der aber schiebt sie beiseite und betritt das Wohnzimmer, sein Betäubungsgewehr im Anschlag. Andere Agenten schwärmen in der Küche aus und stoßen Türen und Klappen auf: Geschirrschränke, Kühlschränke, den Ofen… Jennifer Ryan möchte am liebsten einschreiten, doch ihr Sohn hält sie bewusst zurück. Im selben Moment erstattet einer der Soldaten dem Kommandeur Bericht: „Das Untergeschoss ist gesichert. Die restlichen Einheiten warten auf Anweisungen, das Obergeschoss zu untersuchen.“ „Der Stall und die Betriebsgebäude sind auch gesichert, Sir“, meldet ein weiterer Soldat. „Wir haben ein kleines Mädchen und ihren Watilla in Gewahrsam genommen. Sie behauptet, nichts zu wissen.“ „Obergeschoss ist freigegeben. Bringen Sie das Mädchen in den Einsatzwagen.“ Beim Klang dieser Worte reißt sich Jennifer Ryan los und stürmt auf den Kommandeur los. „Was erlauben Sie sich?“ ruft sie. „Sie ist noch ein Kind!“ „Bleiben Sie bitte auf Abstand, Ma’am!“, antwortet der Kommandeur scharf, ohne auch nur eine abwehrende Geste zu bemühen. „Wir versuchen Opfer während dieses Einsatzes zu vermeiden.“ Jennifer Ryans Augen verengen sich zu kummervollen Schlitzen. Opfer? Was haben diese Agenten vor? Die EYE-Truppen sind inzwischen die Treppe hochgestürmt und besetzen alle Schlafzimmer. Jennifer Ryan kann deutlich den Lärm ihrer Durchsuchungsaktionen hören. Eine halbe Stunde lang geht das so, dann kommt ein Adjutant die Treppe herunter und meldet, dass nichts gefunden wurde. „Haben Sie überall nachgesehen?“, fragt der Kommandeur nach. „Bestätigt! Sie ist nirgends.“ Der Kommandeur seufzt und nimmt den Helm ab. „Okay, dann sind wir jetzt bereit für den schwierigen Teil.“ Gleich darauf wendet er sich an Jennifer Ryan. „Wir suchen die Verdächtige April Ryan. Sie wurde zuletzt in diesem Haus gesichtet. Wir haben einen Zeugen, der sie hier herumgeführt hat.“ „Owen?“ unterbricht ihn Jennifer Ryan. „Was haben Sie mit ihm gemacht? Bitte, sagen Sie es mir.“ „Er ist unverletzt – das muss ihnen genügen! Beantworten Sie jetzt einfach meine Frage: Wo ist ihre Tochter, wenn nicht hier?“ Jennifer Ryan muss sich zwingen, nicht gleich Daniel anzusehen und um Rat zu bitten. Jetzt ist ihre eigene Entscheidungskraft gefragt. „Ich habe sie seit zwei Stunden nicht mehr gesehen. Sie könnte überall sein.“ „Seien Sie sich bewusst, dass wir nicht mit uns spielen lassen!“, schärft ihr der Kommandeur mit leiser, aber schneidender Stimme ein. „Wir können ihre ganze Familie in Gewahrsam nehmen, bis sie uns den Aufenthaltsort sagen. Wir werden jedes ihrer Worte gegen Sie verwenden. Wir werden…“ „Sparen Sie sich die Vorrede, Knight!“, kommt es plötzlich von der Eingangstür: ein anderer EYE-Kommandeur, der ebenfalls seinen Sensorhelm abgenommen hat, betritt das Wohnzimmer. Er hat einen magnetischen Schraubenzieher in der Hand. „Wenn diese Frau sie wirklich nicht gesehen hat, dann werden wir andere Möglichkeiten der Investigation in Erwägung ziehen müssen.“ Der mit Knight angesprochene Agent scheint nicht recht zu begreifen. „Wovon reden Sie, Bishop?“ „Spirituelle Möglichkeiten, Knight!“, antwortet Bishop erregt. Seine Augen bekommen auf einmal einen merkwürdigen Glanz. „Möglichkeiten, die sich ihr Polizeiprotokoll nicht vorstellen kann. Möglichkeiten, die nur Eingeweihten offen stehen.“ Er hält den Schraubenzieher hoch. „Möglichkeiten der Magie.“ Draußen, in einem der Einsatzwagen, liegt Owen bewusstlos auf dem Boden. Nachdem ihn Knight versehentlich ausgeschaltet hat, haben ihn die beiden Agenten tatsächlich eine Weile befragt, doch da er nichts wusste, haben sie ihn wieder schachmatt gesetzt und zu ihren Kollegen vom MT-7 in den Wagen gelegt. Nun rüttelt eine kleine Hand an seiner Schulter und versucht ihn wach zu kriegen. „Owie“, flüstert Rebecca, „Owie-Bowie!“ „Ich glaube, er wird noch länger schlafen, Rebecca.“ „Er darf aber nicht! Weck du ihn auf!“ Der Watilla setzt einen schrillen, elektronischen Weckton an. Doch Owen reagiert nicht darauf. „Sein Gehör scheint gelähmt zu sein. Ich tippe auf Sonarwellen. Wenn ich du wäre, würde ich auf Schocktherapie setzen!“ „Oh ja - das wird so cool!“ Rebecca schlüpft schnell aus dem Wagen und kehrt eine Minute später mit einem großen Eimer Wasser zurück. SPLASH – kippt sie ihn über Owens Kopf. Keuchend und prustend ersteht ihr Bruder von den Schlummernden auf. „Das war jetzt aber echt nicht nötig – Becky? Was machst du hier?“ „Ich hab Angst gehabt“, erwidert diese unschuldig. „Die Männer haben gesagt, sie suchen April!“ „Das haben sie zu mir auch gesagt“, erinnert sich Owen träge. „Sie wollen April wegen… wegen… Verdammt! Wo sind wir überhaupt?“ „Na, im Hof“, antwortet Rebecca. „Sie sind hier reingefahren, als ich in der Garage war. Mummy und Danny haben sie auch gefangen genommen.“ „Das sieht nicht gut aus“, murmelt Owen und versucht aufzustehen. Seine Beine tragen ihn noch nicht ganz, aber es reicht gerade so, dass sie ihn aus dem Wagen tragen, bevor er auf dem Pflaster des Hofes wieder zusammenbricht. Ihm ist grauenvoll zumute bei dem Gedanken, dass seine Mutter und sein Bruder – so blöd er auch manchmal sein kann – Geiseln sein könnten. Er hat schon einige Geiselnahmen im Film gesehen, doch eine hautnah mitzuerleben, ist eine viel schrecklichere Erfahrung und übersteigt seinen Horizont bei weitem. Noch einmal steht er auf, diesmal, um sich auf dem Hof umzusehen, der seltsamerweise menschenleer ist: alle EYE-Soldaten scheinen im Wohnhaus versammelt zu sein. Ein solches Verhalten von Polizeieinheiten ist ihm zwar neu, aber es macht die Sache vielleicht einfacher. In einer vagen Hoffnung schleppt Owen sich zum MTI-Lieferwagen hinüber. Er hat die verschwommene Erinnerung, dass sich dort sein Gravycycle und vielleicht auch der dazugehörige Schlüssel befinden könnten. Tatsächlich findet er sein Cycle in einer Ecke des Kleinlasters, direkt hinter einer großformatigen Funk- und Werkbank. Doch der Schlüssel steckt nicht, und Owen sieht ihn auch nicht herumliegen. Systematisch probiert der erfahrene Bastler die Schubladen der Werkbank durch, doch außer dem obligatorischen Werkzeug findet er dort nichts. „Soll ich dir helfen, Owie?“, fragt Rebecca, die ihm klammheimlich gefolgt ist. „Danke, Becky, aber ich glaube, mir kann niemand helfen“, antwortet ihr Bruder. „Das Cycle antwortet nur auf die entsprechenden Funksignale eines Schlüssels.“ „Aber Alvin kann Funksignale nachmachen. Danny hat mir so eine App runtergeladen…“ Owen glaubt, nicht recht zu hören. „Danny? Unser Mr. Hochanständig?“ „Nun, er weiß es nicht direkt, aber…“ „Wenn das wirklich wahr ist, werd‘ ich ihn nie wieder einen ‚Rübenkopf‘ nennen! Nicht, dass man jemanden überhaupt so nennen darf…“ „Soll er es nun machen, oder nicht?“ Owen nickt und hebt den Watilla in den Kleinlaster. Geduldig positioniert er ihn über der Funkschnittstelle des Gravycycles und wartet, während Alvin eine Reihe von Interferenzen durchprobiert. Lange Zeit passiert nichts. Owen schlafen sogar die Arme ein. Dann plötzlich leuchten die Augen des Watillas auf. Ein seltsames Zappen ertönt, und die Maschine des Gravycycles springt an. „Klasse!“ Sofort lässt Owen den Watilla fallen und legt seine Hände über die Lenkgriffe. „Okay, jetzt schnell aus dem Weg gehen, Becky, sonst…“ --BLAAAAST-- Im Handumdrehen ist aus Owens Hoffnung grelle Panik geworden. Der Klang einer Blasterkanone dringt nur gedämpft an sein Ohr – doch der ihm folgende weibliche Schrei ist unverwechselbar der seiner Mutter. Nicht einmal Rebecca kann ihn ignorieren, so durchdringend ist er. Mit Owens Vorsicht ist es aus – mit einer schnellen Handbewegung dreht er die Motorenleistung hoch und lässt gleichzeitig das Gravycycle los. Wie ein Pfeil pfeift es über Rebecca hinweg und in die Hauswand hinein, wo es mit einem lauten Krachen zerschellt. Schnell zieht Owen seine zu Tode erschrockene Schwester in den Wagen, schlägt die Türen zu und klettert auf den Fahrersitz. „Schnall dich an - na los!“, brüllt er Rebecca zu und startet den Motor. Er ist noch nie zuvor Auto gefahren, aber er hat oft genug Danny oder seine Mutter dabei beobachtet. Außerdem besitzt er ein gewisses Gefühl für Maschinen, wie es nur jemand haben kann, der seit zehn Jahren Melkmaschinen und Traktoren kontrolliert. Bei seinem zweiten Versuch – die EYE-Soldaten kommen gerade aus der Haustür geschossen – schafft er es bereits, den Motor anzulassen und die entsprechenden Gangschaltungen vorzunehmen, damit das Auto auf Hochtouren kommt. Die Drehzahlen überschlagen sich, als er noch im dritten Gang über den Hof rast und immer weiter hochschaltet. Er fährt mitten hinein in die Soldaten, die nur panisch beiseite springen oder sich ihrem Schicksal ergeben können. Zwei von ihnen nimmt Owen auf der Motorhaube mit. Rebecca auf dem Beifahrersitz schreit und kreischt vor Angst, doch Owen fährt weiter wie ein Berserker, über die Einfahrtsstraße und hinauf auf die Hauptstraße, kontrolliert, doch ohne auf den Sinn und Zweck seines Vorgehens zurückzublicken. Eine Ablenkung wollte er schaffen, seine Mutter und seinen Bruder retten! Aber das hat nun an Bedeutung verloren: nun gilt es nur noch, seine kleine Schwester so weit weg wie möglich zu bringen. Doch schon nach mehreren hundert Metern lässt seine Wut und seine Panik nach. Die Realität holt ihn ein – die Menschen, die vor seine Räder kamen – , und er fährt weiter mit heißen Tränen in den Augen… Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)