The Longest Journey - Beyond the Veil von abgemeldet (Das Ende einer langen Reise steht bevor) ================================================================================ 3.2 "Kahina Damja" ------------------ In der Vergangenheit Das Haus der Ryans, etwa 18:30 „Seien Sie sich bewusst, dass wir nicht mit uns spielen lassen!“, schärft der Kommandeur Jennifer Ryan mit leiser, aber schneidender Stimme ein. „Wir können ihre ganze Familie in Gewahrsam nehmen, bis Sie uns den Aufenthaltsort sagen. Wir werden jedes ihrer Worte gegen Sie verwenden. Wir werden…“ „Sparen Sie sich die Vorrede, Knight!“, kommt es plötzlich von der Eingangstür: Ein anderer EYE-Kommandeur, der ebenfalls seinen Sensorhelm abgenommen hat, betritt das Wohnzimmer. Er hat einen magnetischen Schraubenzieher in der Hand. „Wenn diese Frau sie wirklich nicht gesehen hat, dann werden wir andere Möglichkeiten der Investigation in Erwägung ziehen müssen.“ Der mit Knight angesprochene Agent scheint nicht recht zu begreifen. „Wovon reden Sie, Bishop?“ „Spirituelle Möglichkeiten, Knight!“, antwortet Bishop erregt. Seine Augen bekommen auf einmal einen merkwürdigen Glanz. „Möglichkeiten, die sich Ihr Polizeiprotokoll nicht vorstellen kann. Möglichkeiten, die nur Eingeweihten offen stehen.“ Er hält den Schraubenzieher hoch. „Möglichkeiten der Magie.“ Niemand im Raum sagt ein Wort, doch Daniel Ryan fühlt die Verwunderung selbst bei den EYE-Soldaten. Möglicherweise ist manchen von ihnen sogar nach Lachen zumute, aber im Gegensatz zu ihnen weiß Daniel die Lage besser einzuschätzen. Diese Typen sind wahnsinnig! Und April hat sich mit ihnen angelegt, in ihrer typischen aufsässigen Art! Wie kann seine Mutter jetzt noch darauf bestehen, sie zu ihrer Angelegenheit zu machen? Doch das ist jetzt nicht der springende Punkt – er muss seine Familie aus dieser Sache herausholen, um jeden Preis. Selbst, wenn er dafür Aprils Plan folgen muss. „Hören Sie!“, sagt er schließlich in den Raum hinein, und alle Augen richten sich auf ihn. „Wir können Ihnen nicht viel mehr sagen. April hat mir vorhin Bescheid gegeben, dass sie übermorgen wieder da sein wird. Sie wird sich eine CID besorgen, so schnell wie möglich. Es gibt also keinen Grund…“ „Eine CID wird ihr nichts bringen“, unterbricht ihn Bishop, der den Schraubenzieher wieder gesenkt hat, leise. „Es geht um viel mehr als eine CID.“ Er denkt eine Minute nach. „Aber ich denke, Ihre Kooperation hat uns sehr geholfen. Wir wissen nun schon eher, wo sie hin will. Gehen wir!“, richtet er seine Worte nun an den Rest der Gruppe. „Wir haben hier genug Zeit verloren.“ Die EYE-Einsatztruppen folgen seinem Befehl. Nur der andere Kommandeur, Knight, bleibt, wo er ist. Bishop dreht sich nach ihm um. Seine Faust krallt sich noch fester um den Schraubenzieher. „Sie wollen uns wohl nicht mehr mit ihrer Anwesenheit beehren?“ Knight antwortet nicht darauf, sondern hebt nur seine Kanone und stellt sie auf eine andere Stufe ein. „Ich glaube, es wäre wirklich besser“, fährt Bishop gelassen fort, „wenn Sie sich meinem Befehl unterordnen würden. Alles andere führt nur zu… Komplikationen.“ „Für Sie vielleicht“, entgegnet Knight, „aber was ist mit mir?“ Daniel hat komplett den Überblick verloren. Seit wann treten EYE-Truppen nicht als geschlossene Formation auf? Er schaut zu seiner Mutter herüber, die ihm gegenüber zwischen den Kommandeuren steht. Und auf einmal überkommt ihn die Panik. „WEG MIT DIR!“ Er hechtet nach vorn, doch im gleichen Moment schießt Bishops Arm vor, Knights Kanone gibt einen Blasterschuss von sich, und Daniels Mutter schreit. Zwei hochauflösende Strahlen, einer in kaltem Technoblau, der andere orangegelb und funkelnd, treffen sich in der Luft. Doch anstatt sich gegenseitig aufzulösen... verschmelzen sie. Sie verschmelzen zu einer Kugel. Nur für einen winzigen Moment tanzen Funken in komplizierten Bahnen über seine Oberfläche, blendend hell für jeden Beteiligten, ein Krachen fährt durch die ganze Küche, und Jennifer Ryan Schrei erstirbt und weicht einem verzweifelten Röcheln. Als Daniel wieder klar sehen kann, erblickt er zwei Personen auf dem Boden. Eine ist der Agent Knight, dessen Gesicht beinahe nicht mehr als menschlich zu erkennen ist, so schwarz und verkrustet ist es nun. Die andere Person ist Jennifer Ryan. Daniel rennt sofort zu ihr, und obwohl es ihm Widerwillen bereitet, dreht er sie so, dass sie freier atmen kann, und fühlt ihren Puls, der langsam schwächer wird. Die Bewegungen gehen ihm geradezu mechanisch von der Hand, denn er hat Angst, dass er, wenn er auch nur einen Moment die volle Tragweite der Verletzungen anerkennt, sich sofort übergeben müsste. Hinter ihm wendet sich Bishop zum Gehen, doch Daniel hält es für absurd, aufzustehen und ihm ins Gesicht zu sehen. Vielmehr versucht er, den Blick seiner Mutter zu erhaschen, denn sie muss ihm bestätigen, dass seine Erste-Hilfe-Maßnahmen von Erfolg gekrönt sind. Dass sie, anders als sein Vater, überleben wird. Doch Jennifer Ryan starrt bis zum Ende ins Leere, die Emotion des Augenblicks zwischen Hoffnungslosigkeit und Ergebenheit verschwimmend. Im gleichen Moment, da es mit ihr zu Ende geht, hört Daniel draußen an der Hauswand etwas explodieren, die EYE-Truppen machen sich schleunigst auf den Rückzug, und die Küche erbebt ein weiteres Mal. Daniel hört das Glas der hofseitig liegenden Fenster splittern, fühlt die Aufhangschränke krachend von der Wand fallen, zuckt zusammen unter dem brutalen Splittern des Geschirrs. Dennoch wagt er nicht aufzusehen. Vielmehr nimmt er den Körper seiner Mutter in die Arme, stemmt sie hoch und trägt sie halb stolpernd zum Sofa im Wohnzimmer, wo er ihre Hände über der Brust faltet. Dann rennt er auf den Hof. Er sieht einen der EYE-Einsatzwagen auf die Hauptstraße hinausfahren, ein paar EYE-Soldaten mit sich nehmend, die danach leblos am Boden liegen bleiben. Owen und Rebecca haben sich anscheinend befreien können. Eigentlich sollte dies Daniel beruhigen, doch das Gewicht der toten Mutter auf seiner Seele hält ihn von derlei Gedanken ab. Das einzige Gefühl, das ihn beherrscht, ist der Gedanke des Verrats. Nun ist niemand mehr da, der ihm diese Last abnehmen kann! Zehn Jahre seines Lebens hat er geopfert, um den Hof zu erhalten, zehn Jahre ohne vernünftige Schulausbildung und den Hauch eines richtigen Soziallebens – immer hat er verzichten müssen, bis er schließlich jegliche Aussicht auf Belohnung abgestreift hat. Und nun verliert auf einmal all das, wofür er gearbeitet hat, an Sinn und Bedeutung – er ist allein… und das nur wegen… Daniels Atem bleibt stehen – blinder Hass beginnt sich in ihm auszubreiten. Gegen April. Gegen all ihre verpesteten Worte und verfluchten Taten. Reicht es ihr nicht, dass sie seinen Vater zerstört hat? Muss sie ihm auch den Rest der Familie nehmen? Wann wird sie endlich lernen, sich unterzuordnen? Warum sieht sie nicht ein, dass ihr vermaledeiter Eigensinn nur Katastrophen über sie alle bringt? Er kann dies nicht auf sich beruhen lassen. Er muss sie suchen. Muss sie finden. Und dafür büßen lassen. Und das EYE – so wertlos es auch ist – wird ihm dabei helfen. Er sieht die überlebenden Soldaten wiederkommen, deswegen geht er zum Wohnzimmer zurück, wo er neben Jennifer Ryan niederkniet, als ob nichts geschehen wäre. Hinter ihm taucht bald Agent Bishop auf. Daniel möchte ihn nicht ansehen, doch das braucht er auch nicht – seine Trampelschritte auf den Dielen verraten bereits genug. „Vier Auffahropfer, ein gestohlener Einsatzwagen, Diebstahl von Polizei-Equipment - das haben wir alles Ihrer Verwandtschaft zu verdanken“, sagt er gereizt. „Zweifellos“, bestätigt das Familienoberhaupt und fühlt plötzlich einen ungeahnten Stolz in seiner Stimme. „Sie sind sich darüber im Klaren, dass Ihre Kooperation nun noch nötiger als jemals zuvor ist. Behinderung der Staatsgewalt ist ein schweres Vergehen.“ „Fahrlässige Todesfälle beim Einsatz ebenso“, erwidert Daniel, einen vorsichtigen Blick zur Seite werfend. Nun schauen sich die beiden Männer doch an, und Daniel fühlt, wie sich dabei die Energien austauschen – das Feuer seines Hasses gegen Bishops Energiesparlampe. Bishop knickt schon bald ein. „Sie erhalten ein Schmerzensgeld in angemessener Höhe“, schlägt er vor. „Dazu Begräbniskosten und eine persönliche Entschuldigung unseres Abteilungsleiters. Das kommt alles ohne großes bürokratisches Zutun Ihrerseits aus.“ „Bestimmt. Solange ich keine Anzeige stelle.“ Daniel blinzelt nicht mal. Bishop entgleiten kurz die Züge, doch er hat sich schnell wieder unter Kontrolle. „Wollen Sie uns ernsthaft erpressen?“, bringt er mit einem schwachen Lächeln hervor. „Ich will, dass meine Geschwister bald wieder hier sind.“ Daniel wendet nun seinen gesamten Oberkörper Bishop zu. Seine Herausforderung ist unmissverständlich. „Das ist nicht zuviel verlangt. Ich verlange auch“, fährt er fort, als Bishop bereits nach seinem Messenger greift, „dass Sie mich noch einmal vor Verhandlungsbeginn mit April reden lassen – und zwar unter vier Augen. Sie können gerne Sicherheitsvorkehrungen treffen, wenn Sie wollen. Aber all das ist nicht mehr länger eine Staatsangelegenheit. Ist das soweit klar?“ Bishop kalkuliert die Situation kurz, dann willigt er ein. „Wir werden Sie direkt ins Syndikatshauptquartier in Newport bringen. Dort wird die Verdächtige abgeliefert werden, wenn unsere Ringfahndung denn erfolgreich ist. Mehr können – und wollen – wir nicht für Sie tun. Sonst verklagt man uns noch wegen Polizeiwillkür.“ „Mir kommen gleich die Tränen“, antwortet Daniel müde. „Und jetzt gehen Sie bitte! Solange Sie kein wirklicher Bischof sind, ist das hier nicht Ihre Angelegenheit.“ „Das bin ich nicht“, erwidert Bishop leise. „Da haben Sie unzweifelhaft Recht.“ Nachdem sich die Hoftür geschlossen hat, richtet Daniel die Gedanken wieder ganz auf seine Mutter. Er hat ihr ihre Weichherzigkeit immer vorgehalten. Schon als Kind fühlte er, dass sie nie für ihn einstehen konnte, wenn es um irgendetwas Wichtiges ging. Diese Verantwortung hatte sie immer Vater zugeschoben, der dann doch nur die Härte eines echten Mannes predigte. Als Katholik muss er ihnen beiden dies verzeihen, wie alle menschlichen Sünden… Aber in seiner Seele, jener, die Gott ihm bei der Geburt gegeben hat, ärgert ihn dieser ewige Anspruch der Nächstenliebe – es fühlt sich immer so an, als wäre er nur für die anderen da. Als könne er für sich selbst kein Glück einfordern. Doch das Gebet ist Pflicht, und er fühlt, dass er wenigstens dies seiner Mutter schuldig ist. So spricht er leise: „Ewiger Gott, Herr des Lebens deine Tochter ist uns im Leben und im Sterben vorausgegangen. Jesus hat gesagt:...“ ~~~~~~~~~~ {: * :} ~~~~~~~~~~ Die Landstraße etwa 0:20 Uhr... „... Er hat gesagt: ‚Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ich bin die Auferstehung, wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er gestorben ist.‘ Jennifer Ryan hat aus diesem Glauben zu leben versucht, in diesem Glauben hat sie nun das irdische Leben in deine Hand zurückgegeben. Vollende du, was unfertig geblieben ist, und schenke ihr in deiner großen Barmherzigkeit das Leben in Fülle. Uns aber, die wir noch unterwegs sind zu dir, lass uns deine Hilfe erfahren. Hilf uns, den rechten Weg zu finden und bewahre uns vor Irrwegen und falschen Entscheidungen. Jetzt aber legen wir das Leben von Jennifer Ryan vertrauensvoll in deine Hände, denn du bist unser Vater, durch Christus, unseren Herrn. Amen.“ „Amen“, bekräftigen April, Eléna Saucédo und Carol Denvers die improvisierte Totenmesse des Paters. Es ist stille Nacht auf dem Parkplatz der Autobahntoilette, doch in April glühen noch immer die Ereignisse der letzten Stunde nach, wie die verbliebenen Kohlen in einem Kachelofen. Ihre Augen brennen von den Tränen um ihre Mutter, doch ihr Atem geht nun ein wenig ruhiger und hält sie bei Bewusstsein. Der Pater kommt zu ihr und legt eine Hand auf ihre Schulter. „Ich hätte nie gedacht, dass unsere Entscheidung diese Konsequenzen haben würde. Verzeih mir!“ „Da gibt es nichts zu verzeihen“, antwortet April gereizt. „Das EYE hätte mich mitgenommen, wenn ich dageblieben wäre. Und was dann passiert wäre… ich weiß es nicht.“ Das ist in etwa so viel, wie April preisgeben möchte. Denn eigentlich weiß sie, dass sie nie im Leben kampflos mitgegangen wäre. Möglicherweise hätte sie ein noch größeres Chaos angerichtet... und das macht ihr im Moment sogar noch mehr Sorgen. Eléna Saucédo scheint ihre Zweifel zu erahnen. „Laut Bericht kamen auch einer der beteiligten Offiziere und drei Mitglieder der Einsatztruppe ums Leben. Angeblich hatte diese Gruppe konspirative Aktivitäten geplant, und das anschließende Feuergefecht löste Querschläger aus. Die genauen Umstände sollen noch geklärt werden, aber so wie ich das EYE kenne, werden sie eine öffentliche Untersuchung vermeiden und nur Disziplinarverfahren durchführen. Zeugen werden mit Schmerzensgeld zum Schweigen gebracht.“ „Großartige Aussicht!“, murmelt April. Sie geht einige Schritte von den anderen weg, um ein wenig Privatsphäre zu erhalten. Sie muss sich jetzt auf die Zukunft konzentrieren... so gut ihr das nach einem langen und anstrengenden Tag noch möglich ist. „Wenn Sie von Zeugen reden, wen meinen Sie da speziell?“, fragt sie an Eléna gewandt. „Was ist mit dem Rest meiner Familie?“ Eléna lässt sich von Denvers schnell eine Kopie des Berichts übergeben, der im Handschuhfach lag, und blättert die dritte Seite auf. „Also… die Aussage über Ihre Fahrtrichtung wurde scheinbar kurz vor dem Tod ihrer Mutter von einem gewissen D. Ryan abgegeben. Doch nach dem Unfall war er ‚zu geschockt‘, um noch etwas auszusagen, also wurde das Telefon gecheckt und die letzte gewählte Nummer abgerufen. Eine Anfrage bei der Zulassungsstelle in Greenvale ergab dann das Fahrzeugkennzeichen. Von Ihren anderen Familienmitgliedern ist nichts bekannt, nur, dass sie unter der Beobachtung eines Sergeants der EYE-Truppe die Ankunft der Notfallfahrzeuge erwarten würden, und dass dieser Sergeant eine unterschriebene Bevollmächtigung für die Leitung des Abtransports hätte.“ „Lachhaft“, schnaubt Denvers. „Eine unterschriebene Bevollmächtigung, wenn alle Anwesenden entweder minderjährig oder geschockt sind. Nicht mal die Protokollfälschungen sind heutzutage noch besonders sorgfältig.“ „Und ich nehme an, wir können niemand auf die Farm schicken, um die Drei auf einen Prozess vorzubereiten?“, fragt April weiter. „Außer mir sind vielleicht ein, zwei andere Offiziere in die Sache involviert“, antwortet Eléna kritisch. „Und das kann ich auch nur vermuten, weil Commissioner Green nur vage Andeutungen gemacht hat. Unsere Leute sind nicht so vertrauenswürdig oder diszipliniert, als dass wir offen zueinander sein könnten.“ „Ja, das wurde mir gesagt“, erwidert April zerknirscht. Sie muss an Andrew denken, der von ihnen - immer noch nackt und zum Entsetzen des Paters – auf die Sitzbänke im Heckteil des Transporters gelegt und mit einer Notfalldecke eingewickelt wurde. Laut Eléna würde er in einer Viertelstunde wieder wach sein und sich dann hoffentlich in das neu gegründete „Team der Unabhängigen Ermittler“ einfügen. Schon allein aus reinem Ehrgefühl. Und April kann nicht einmal sagen, dass das unglaubwürdig wäre. Doch sie weiß, dass es auch einen anderen Grund gibt, und sie hat den Verdacht, dass Eléna diesen Grund durchaus einkalkuliert hat. April wird sie bei Gelegenheit fragen müssen. Im Moment ist die Offizierin aber dabei, mit Denvers im Führerhaus des Transporters einen unabhängigen Sendekanal einzurichten, auf dem sie Commissioner Green oder seinen nächsten Verbindungsmann, Inspector Farlan von der Netzfahndung, erreichen können. Der alte Veteran Denvers ist aber noch immer weit von allgemeiner Zuversicht entfernt. „Green ist ein geborener Crasher – der brächte es höchstens fertig, den Zentralcomputer zu überhitzen“, sagt er, während er verschiedene Leitungen durchcheckt. „Farlan von der Netzabteilung könnte uns eventuell helfen, aber ich bezweifle, dass er in der Sache mit drin steckt. Er war niemals der Typ, dem Commissioner schöne Augen zu machen.“ Denvers versucht noch einmal eine unabhängige Verbindung aufzubauen. Doch der Computer bringt schon bald eine Fehlermeldung. „Zwecklos!“ murmelt Eléna. „Alle Verbindungen zum Hauptquartier werden automatisch über die staatlichen Verteiler geschickt… und die werden garantiert abgeschirmt. Warum ersetzen sie uns eigentlich nicht gleich durch verdammte Watillas?“ Sie scrollt noch einmal durch alle Einträge, dann kehrt sie zur Übersicht zurück. „Hilft nichts. Auf diese Weise können wir ihnen nicht Bescheid geben.“ „Ich nehme auch nicht an, dass du darauf gesetzt hast“, murrt Denvers. „Was hattest du ursprünglich geplant? – Schätze gar nichts“, fügt er hinzu, als er Elénas leicht verzweifeltes Grinsen sieht. In der Zwischenzeit hat sich Andrew Johnson im Heckteil des Wagens aufgerichtet. Sein erster Blick fällt auf April und den Pater, die sich vor ihm gegenüber sitzen und leise ein Gespräch führen, das April jedoch sofort abbricht, als sie ihn wach erblickt. Währenddessen reibt sich der Pater geistesabwesend die Oberschenkel. „Ich werde mir noch ein wenig die Beine vertreten“, murmelt er. Er wirkt reichlich verstört, und es fällt Andrew auf, dass ein harter Zug um seine Mundwinkel liegt, bevor er die Tür aufreißt und hinausspringt. April bemerkt seine Verwirrung. „Er hat mir eben die Beichte abgenommen – zwölf Vaterunser und vierzehn Ave Marias. Umtauschbar in zwei Werken der Nächstenliebe, wenn er gnädig ist“, ergänzt sie halb im Scherz. „Das ist etwas, was ich über Katholiken nie begriffen habe“, seufzt Andrew. „Aber ich will nicht meckern.“ „Überhaupt nicht?“ „Überhaupt nicht“, bestätigt er. „Also, was geht hier vor?“ April erzählt es ihm zum größten Teil. Er hört geduldig zu, drängt sie nie zu irgendwelchen Details, obwohl Vieles von dem, was sie erzählen kann, einer Erklärung bedarf. Nur ihre Visionen während des Beischlafs behält sie für sich. Sie schließt ihren Bericht mit einer beinah schüchtern zu nennenden Frage. „Also, steht es noch?“ „Kann man wohl sagen“, murmelt Andrew unwillkürlich, doch er korrigiert sich schnell, als April schamrot wird. „Also, wenn du das Versprechen meinst, heißt das! Ja, das steht noch. Du kannst mit mir rechnen. Auch, was die weiteren Prozesse angeht, und so. Ja, genau…“ „Du hast ein verdammt großes Verständnis für jemanden, der gerade verraten wurde“, spricht April bitter. „Ich hätte dich töten können.“ „Hast du aber nicht“, wendet Andrew sanft ein. „Wenn du jetzt so freundlich wärst, mir meine Uniform zurückzugeben…“ „Oh ja!“ April greift schnell neben sich und legt ihm das Bündel auf die Bank. Andrew kann sie schniefen hören. „Ich komm dann gleich raus zu dir“, ruft er ihr nach, als die junge Frau eilig hinausspringt. Sie gibt ihm keine Antwort. Aber wenn Andrew sie richtig einschätzt, ist das wahrscheinlich nichts Ungewöhnliches für sie. Frauen wie sie müssen sich von selbst öffnen… Wenig später meldet er sich bei seiner Vorgesetzten zurück, die bei einem Kaffee aus der fahrzeugeigenen Espresso-Maschine die Lage überdenkt. Denvers setzt natürlich gleich zu einer Strafpredigt an, doch Officer Saucédo unterbricht ihn schnell. „Trag ihm einfach ein paar Strafpunkte ein“, sagt sie gelassen, „und mir gleich dazu – ich hab ihn ja dazu angestiftet.“ Andrews Vorahnungen haben sich bewahrheitet. Er weiß nicht, ob er von hier aus vorpreschen kann. Immerhin steht er in der Hierarchie nicht sehr weit oben. Aber wenn er tatsächlich bei dieser Verschwörung mitwirken soll, braucht er einen genauen Überblick. „Sie hätten mich auch einweihen können, Officer“, bringt er zögernd vor. „Ich habe nicht einmal Denvers eingeweiht“, erwidert Saucédo bitter. Sie nimmt einen letzten Schluck aus ihrem Becher, bevor sie ihn wegstellt. „Green hat mich erst vor einigen Wochen ins Vertrauen gezogen“, erzählt sie dann. „Ich hatte gerade einen Bericht über einen Fall von übermäßigem Amathin-Schmuggel auf dem Schreibtisch liegen. Alle Zeichen deuteten nach Venice als Umschlagplatz, also hätten wir eigentlich nur eine weitere Razzia bei den Shakespearianern vorbereiten müssen. Aber nach dem Zwischenfall im ‚Pavillon’ von vorigem Sommer… na ja, sagen wir, ich hatte keine Lust auf ein weiteres Massaker. Es gab ein paar Unregelmäßigkeiten, die mir auffielen. Zum Beispiel Lieferungen von medizinischem Equipment – Nadeln, Regulatoren, Messgeräte – in das Victory Hotel bei der Rialto-Brücke. Gleichzeitig hatte der Verwalter dieses Hotels, ein gewisser Marcus Crozier, größere Mengen Amathin bestellt, doch angesichts der sonstigen Anfragen konnten wir nicht sagen, ob als Privatkunde… oder als Hersteller. Und als wäre das nicht schon genug gewesen, stellte sich das Gebäude auch noch als Eigentum der WATIcorp heraus.“ „WATI?“, unterbricht sie Denvers. „Seit wann haben die Verbindungen im Hotelgewerbe?“ „Ist mir auch ein Rätsel“, gibt Eléna zu. „Wenn sie eine firmeneigene Unterkunft wollten, warum dann in dieser verrotteten Gegend? ... Na ja, ich habe das Zeug dem Commissioner gezeigt und ihn gebeten, uns einen Durchsuchungsbefehl zu verschaffen und das EYE zu informieren, falls es delikat werden würde. Ich wollte derweil mit Krooks persönlich dort unten warten und das Hotel im Auge behalten – Undercover natürlich. Nur für den Fall, dass sich ein paar erhärtende Beweise ergeben würden. Aber irgendwas muss schief gegangen sein. Wir haben eigentlich nur die anliegende Straße examiniert, als wir plötzlich...“ „... von hinten angegriffen wurden“, beendet Denvers den Satz unleidlich. „Investigationsprotokoll 1-4, Mädchen: Rückendeckung halten, selbst bei klarem Feld! Als nächstes willst du mir noch sagen, dass sie von oben kamen.“ „Sie kam von oben – es war eine Katze!“ Der alte Offizier scheint seinen Ohren nicht zu trauen. „Katze?“ „Katze“, antwortet Eléna peinlich berührt. „Hat sich an Krooks ‘rangehängt wie ein Löwe an den Büffel. Und als nächstes kamen dann die zwei Tokyo-Chicks“, fährt sie fort, bevor Denvers sie erneut unterbrechen kann. „Eine rosa, eine violett. Haben sich an unseren Rücken festgeklammert und uns in Richtung Kanäle gezogen. Wir haben versucht, die Notfallwaffen zu ziehen, aber diese Mädchen waren schneller und haben sie uns quasi aus der Hand gequetscht. Sie haben nicht mal losgelassen, als wir nach unten ins Wasser stürzten – wahrscheinlich, weil das Wasser nicht so tief war und sie womöglich mit dem Ertrinken etwas nachhelfen mussten.“ „Aber wie kommen ‚Tokyo-Chicks‘ nach Venice?“, fragt Andrew, als seine Vorgesetzte einen weiteren Schluck Kaffee nimmt. „Da treiben sich doch normalerweise nur Obdachlose oder Bandenmitglieder rum.“ Er errötet. „Nein, Moment! Vielleicht haben sie sich ja als ... na ja... also...“, der strenge Blick Denvers liegt auf ihm, „... als... Hostess verkleidet?“ „Ja, so sahen sie irgendwie aus“, antwortet Eléna arglos. „Der Szeneclub ‚Fringe‘ soll angeblich ein japanisches Ambiente haben. Da könnten sie ohne weiteres hinter dem Tresen stehen.“ „Unter anderem“, bemerkt Denvers trocken. „Komm zum Punkt, Eléna!“ „Okay, okay. Ich hab’s gerade noch geschafft, mich im Fall um 180 Grad zu drehen, sodass ich mit dem Rücken voran im Wasserbecken landete. Einen Moment glaubte ich... hoffte ich sogar... dass Mädchen wäre tot... doch dann schlang sie schon wieder ihre Arme um meinen Hals und drückte zu... mit einem Griff hart wie Stahl... während irgendwo anders Krooks ächzte und schrie...“ Andrew gefällt es nicht, wie seine Vorgesetzte hier verharrt. Eléna Saucédo hatte nie den Ruf einer Frau, die sich einschüchtern lässt. Er hört zwei Paar Schritte hinter sich näher kommen, fühlt, wie April ihre Hand fast automatisch an seinen Nacken führt. Der Pater geht an ihm vorbei und stellt sich vor Eléna. Er spricht sie an, als würde sie ihn von früher kennen, und tatsächlich tauschen sie ein paar Neuigkeiten aus, die für Andrew böhmische Dörfer bleiben. Denvers gibt dem Pater dann noch eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Erzählung, bevor die junge Offizierin – dank des Kaffees wieder bei der Sache - fortfährt. „Warum das Mädchen mich nicht getötet hat, weiß ich bis heute nicht – sie hörte einfach nur auf zu pressen und versteifte den Körper, als wäre sie in Trance. Wie ein verdammter Roboter, dem der Strom ausgeht!“ „Könnte eine biomechanische Geheimwaffe sein“, vermutet Denvers. „Bei einem Gebäude, das der WATI gehört, würde mich das nicht wundern.“ „Hab ich auch gedacht im Nachhinein“, murmelt Eléna. „Jedenfalls hab ich mich schnell aus ihrem Griff gezwängt und bin zu einem nahe gelegenen Baugerüst gewankt. Als ich wieder auf dem Trockenen stand, sah ich, dass das Mädchen immer noch im Wasser lag. Von Krooks hörte ich nichts mehr, und nach einem Blick über das Geländer sah ich auch, warum... Ich holte mir die Waffen zurück, die wir vorhin fallen gelassen hatten, und rief beim Hauptquartier an. Stellte sich heraus, dass der Untersuchungsbefehl nicht erteilt werden würde, und außerdem, dass das EYE den Fall diskret behandeln sollte... Und noch während Green mir das so erklärte, kletterten diese gottverdammten Tokyo-Chicks aus dem Kanal heraus und rannten mich über den Haufen. Hab sie noch einige Straßenecken weiter verfolgt, bis sie mich in eine Bande verfluchter Shakespearianer hineinmanövriert haben. Als ich da endlich raus war, waren diese Schlampen natürlich schon über alle Berge. Und dann kamen die Männer vom EYE...“ Andrew sieht Elénas Hände sich zu Fäusten ballen. „Ich hab Green deswegen später die Hölle heiß gemacht. Hat den EYE-Leuten bestätigt, ich wär hier mit Krooks privat unterwegs gewesen, weil... Banane! Hat nicht einmal widersprochen, unser schöner Polizeichef. Erst, als wir in seinem Büro waren, hat er mir erklärt, dass das EYE uns den Fall wegen Kompetenzüberschreitung entzogen hat – wenn unsere Abteilung nicht das Gesicht verlieren wolle, müssten wir das unter Verschluss halten.“ „Was meinte dein Vorgesetzter mit privat unterwegs?“, fragt Pater Marduk aufgebracht. „Wollte er dir etwa unterstellen, du hättest...“ „Er hatte Grund dazu“, erwidert Eléna geknickt. Trotz ihrer braunen Haut werden ihre Wangen rot vor Scham. „Ich hatte während meiner Ausbildung und danach ein paar... enthusiastische Verehrer in meiner Klasse. So enthusiastisch, dass ich sie manchmal sehr scharf bremsen musste. Auf ... unkonventionelle Weise.“ Obwohl Andrew versucht, seine Phantasie im Zaum zu halten, kann er sich die Art und Weise gut vorstellen. Eine peinliche Situation, wie er sie durchleben musste, ist wahrlich kein Stoff für Prahlereien unter Kollegen. Was er sich nicht vorstellen kann, ist Elénas Part in dieser Sache. Sicher, es war letztendlich ihre eigene kalkulierte Entscheidung. Doch wie kann man sagen, dass dies für sie in irgendeiner Weise freiwillig war? Und vor allem: Sind die entsprechenden Nebenwirkungen – Gerüchte, Gewissensbisse, die immerwährende Scham - es wirklich wert? Vielleicht hat er vor April doch unbewusst den „edlen Cop“ gespielt, ohne sich über die Bandbreite der Konsequenzen im Klaren zu sein... „Lassen wir das Thema lieber ruhen!“, rät Pater Marduk, als er Elénas Verschwiegenheit in dieser Sache wahrnimmt. „Der Commissioner zog es also vor, nichts zu tun?“ „So kam es mir zunächst vor“, erwidert Eléna zögernd. „Aber er hatte Zweifel bekommen angesichts der Vorkommnisse in diesem Haus. Unser Archiv hatte ihm Querverweise auf unautorisierte Firmentätigkeit in dieser Straße beschert... und einen Link zu einer Akte, welche den Namen ‚April Ryan‘ trug. Der Fall war zehn Jahre alt, doch irgendein Schlaukopf hatte ihn nach dem Kollaps neu aufgerollt und unbefristet weiterlaufen lassen. Eine ganze Reihe Vergehen, von Einbruch und Firmenspionage bis hin zu Cyberterrorismus. Dabei aber keine Details - nur vage Standortcodes für längst aufgelöste Firmenarchive.“ „MTI...“, seufzt April. Eléna nickt. „Der Chef meinte, er würde versuchen, an die neuen Standorte dieser Archivposten heranzukommen. Meines Wissens hat er aber damit noch keinen Erfolg gehabt. Und leider hat ihm seine Ungeduld mit dem EYE heute Nachmittag einen Termin in der Grendel Avenue eingebracht. Sozusagen Nachsitzen beim Rektor.“ Andrew kommt nicht umhin, eine Spur grausamer Genugtuung um ihre Mundwinkel zu bemerken. „Ich nehme an, deswegen wollten Sie mich auch direkt dorthin bringen“, schlussfolgert April. „Das EYE will ihn bestimmt gar nicht mehr aus den Augen lassen.“ „Hat er denn keinen anderen Ansprechpartner genannt?“, fragt Andrew zweifelnd. „Wenn sie uns dort erwarten...“ „Das tun sie längst“, entgegnet Eléna grimmig lächelnd. Sie steht auf und nimmt zum allgemeinen Erstaunen ihren Messenger hervor. Dort ruft sie eine Radio-Live-App auf, wo gerade eine müde Frauenstimme die Verkehrsmeldungen durchsagt: „... und zuletzt haben wir noch eine Meldung vom Interstate 605 Richtung Newport. Dort ist kurz hinter der Abfahrt nach Longview vor einigen Minuten ein Massencrash verursacht worden...“ „Du willst mich doch wohl...“, entfährt es Denvers, doch Eléna bringt ihn mit erhobenem Finger zum Schweigen. Währenddessen fährt die Nachrichtensprecherin im monotonen Singsang fort: „Die Polizei in den angrenzenden Bezirken rät allen Fahrzeugen, die zu dieser Stunde noch unterwegs sind, vorerst auf die kleineren Straßen auszuweichen und eine Zeitverzögerung von mindestens ein bis zwei Stunden einzuplanen. Alternativ sei auch ein Besuch im ‚Saucy Presidential Club‘ in Kelso anzuraten, um sich bei einer Bingo!-Cola den Freuden des Lebens hinzugeben. Getreu dem Motto: ‘Let Saucy bring you through the pain of life!’ Rettungsfahrzeuge sollen bereits auf dem Weg sein, um die Toten zu bergen. Wir werden sie natürlich über den Vorfall auf dem Laufenden halten. Ich bin Lucinda Carlyle von Metro Channel Midnight News, wir melden uns wieder um eins nach diesem Song von ‚Postmodern Chat‘...“ „War das eben... ernsthaft...“ Andrew fühlt Zynismus in sich aufsteigen. ‚Saucy Presidential Club' Wirklich? „Jap“, bestätigt Eléna mit mühsamer Zurückhaltung. „Sonderprotokoll EXC.PLT - anonym anwendbar, nicht zurückzuverfolgen, und praktisch sofort wirksam. Die Verkehrsbehörde wird den Interstate sperren und ein Hologramm erzeugen. Alle unautorisierten Fahrzeuge werden gebeten, sich sofort aus der Sicherheitszone zu entfernen. Erfordert im Nachhinein immer einen Haufen Papierkram wegen der ganzen Beschwerden, aber das soll mal nicht unsere Sorge sein. Wir haben nämlich freie Fahrt!“ Pater Marduk ist davon ganz und gar nicht überzeugt. „Und wenn das jemand von deinen Kollegen oder vom EYE bemerkt? Sie wissen, auf welcher Strecke du gefahren kommst.“ „Damit rechne ich“, entgegnet Eléna. Ihren Mund umspielt wieder diese grausame Genugtuung „Umso mehr ein Grund, dass wir uns den Vorsprung nehmen, solange wir ihn haben.“ Zur gleichen Zeit schaut Inspektor Farlan im Newport Police Department entgeistert auf den Bildschirm seines Messengers, aus dem jetzt der weichgespülte Discobeat von ‚Postmodern Chat‘ erklingt. ‚Saucy Presidential Club‘? Soll das wirklich das Codewort sein, das Green ihm in Aussicht gestellt hatte – ein dämliches Wortspiel? Diese Saucédo musste wirklich gute Nerven haben, um solche Spinnereien durchgehen zu lassen. Andererseits musste man die sowieso haben, wenn man sich mit dem Commissioner einließ. Aber egal! Wie war der Rest der Nachricht noch einmal? Longview und Kelso... Farlan schaltet auf das digitale Kartensystem seines Messengers um und gibt einen neuen Streckenverlauf ein. Sofort wird der Interstate 605 hervorgehoben – die lang geplante Verbindungslinie zwischen dem Interstate 5 in Oregon und der ehemals kanadischen Grenze. Und gleichzeitig – seit dem Kollaps - die einzige Auffahrtstrecke zu den oberen Leveln von Newport und dem Syndikatsgebäude, wo die Gesuchte Ryan abzugeben ist. Es ist etwa 0:32. Das bedeutet, er hat noch knapp eine Stunde, um Vorbereitungen für die anstehenden Prozesse zu treffen – eine Aufgabe, die er gern an jemanden anderen abgeben würde, aber sei’s drum! Missmutig stemmt er sich aus seinem Drehstuhl hoch, fährt sich über den breiten Schnauzer und das stoppelige Kinn und dehnt den sehnigen Hals. Manchmal fragt er sich, wie er vom Preisboxen ausgerechnet auf die Informatikschiene geraten ist. Sicher, er hat schon immer einen Hang zu technischen Fachsimpeleien gehabt - speziell, wenn es um Bildschirmtechnologie geht – aber seine alte Karriere hatte wesentlich besser zu seinem Charakter und seiner Veranlagung gepasst. Allerdings sorgten speziell die Kämpfe in der Goldklasse für eine deutliche Ernüchterung – wenn man sich da nicht in jeder Hinsicht als ‚flexibel‘ erwies, war man schneller draußen, als man ‚Ukrainischer Bruderschaftskrieg‘ sagen konnte (eine Anspielung auf politische Geschehnisse im frühen 21. Jahrhundert, die Farlan am Allerwertesten vorbeigehen). Aber er war gut mit Datenbanken, und das hatte ihm nach dem Kollaps sehr genutzt. Er hatte sich auf Datenrestauration spezialisiert und für das Polizeiarchiv eine ganze Menge alter Computersysteme angeschafft, um sie mit Hilfe von Decodierungs-Back-Ups wieder in Schwung zu bringen. Leider dauert die entsprechende Arbeit schon einmal mehrere Monate, und so ist es ihm bis heute nicht gelungen, den gesamten Datenvorrat aus den Jahren 2200 bis 2209 wiederherzustellen und an die entsprechenden Eigner zurückzugeben. Selbst die Übernahme einer ganzen Abteilung von Kommunikationsexperten hatte die Entschlüsselung nicht etwa beschleunigt, sondern – vor allem dank Leuten wie diesem Summers – eher aufgehalten. Von der Ablenkung durch die alltägliche Cyberfahndung ganz zu schweigen. Nun allerdings ... Farlan verlässt sein Büro und geht durch einen kurzen Korridor zu einem der Decodierungsräume. Er zieht seine Identifikationskarte kurz durch den Schlitz, dann nimmt er einen alten Metallschlüssel heraus und schließt den abgedunkelten Raum auf. Nur ein vergittertes Fenster steht auf, lässt durch einen Feuchtigkeitsfilter die eisige Abendluft und das Geräusch von prasselnden Regentropfen herein. Gegenüber dieses Fensters, hinter einer Abblende, steht ein gewaltiger Berg von Cyberschrott. Farlan bemerkt noch ein kurzes Aufblitzen von Glasperlen, bevor er sich umdreht und die Tür abschließt. „Könnten Sie bitte mal das Fenster zumachen, Mister?“, ruft eine weibliche Stimme. „Ich bin hier bald fertig.“ Farlan tut ihr den Gefallen – nicht zuletzt, weil sein Dauerschwitzen ihn in Erkältungsgefahr bringt – dreht sich zum Fenster und betätigt die entsprechenden Schalter. Lautstark schnappen die Schlösser zu. „Nicht gerade die neueste Technik, die Sie hier haben?“, redet die Frau weiter. „Das klang nämlich sehr eingerostet, wenn Sie mich fragen.“ „Das Budget muss für die Vorortausrüstung reichen“, erwidert Farlan trocken, während er das Licht anmacht. „Und für die Sicherheitschecks!“ „Ja, ja“, seufzt die Frau. „Hacker können echt lästig sein. Machen sich ‘nen Spaß daraus, Computer zu crashen, Daten zu klauen... mit ihren fetten weißen Wurstfingern...“ „Stellen Sie mal ihr Licht nicht unter den Scheffel, Miss“, erwidert Farlan und tritt an den Computertisch hinter der Abblende heran. „Ihr neues Decoderprogramm haben Sie ja sicher auch nicht aus dem freien Handel.“ Eine etwa zwanzigjährige, schlanke Berberin mit etwas gebeugtem Rücken blickt ihn an. Vielleicht liegt es an den traditionellen Gesichtstätowierungen, aber etwas in ihren Augen erweckt den Eindruck ständiger Belustigung. „So frei wie es sich für einen echten imazighen gehört“, antwortet sie ausweichend. Dann greift sie zur Seite und setzt eine seltsame rosa Brille auf, deren Bügel mit dem altertümlichen Rechner vor ihr verbunden sind. „Was macht das Ding noch mal?“, fragt der Inspektor. „Ich würde über die Anschaffung nachdenken.“ „Eigentlich ist es nur zur Übersicht: man klickt ein Datenfragment an und bekommt sofort die entsprechende Liste von Interlinks, die irgendwie damit arbeiten. Kombiniert man das jetzt noch mit einem entsprechenden Berechnungsprogramm, kann man die einzelnen Binärcodes nach und nach wieder zusammensetzen. Gilt allerdings nur für einfache Infospeicher, nicht für Bearbeitungsprogramme.“ „Und das Ding hat keine Speicherchips?“, fragt Farlan süffisant. „Wär doch ein Jammer, wenn es keine kleine Kamera eingebaut hätte.“ „Oh, die hat es.“ Die Frau tippt mit dem Finger auf einen winzigen blauen Schlitz, über dem ein Druckknopf sitzt. „Allerdings hab ich das Teil leider ohne Chip gekauft. Passiert eben, wenn man in einer fremden Stadt auf Shoppingtour geht – man weiß nie, wem man trauen kann.“ „Wenn das kein guter Grund ist, sich zu betrinken...“ Doch obwohl Farlan witzelt – insgeheim ist er dankbar: eine Hackerin mit genau der passenden Ausrüstung in der Ausnüchterungszelle kann man wahrhaftig als glückliche Fügung bezeichnen. Fast schon ein bisschen zu glücklich... Er schaut noch einmal genauer auf den Bildschirm, wo gerade der Ladebalken die 100% erreicht. „Die letzte Datei?“ Die junge Berberin nimmt die Brille ab. „Sie haben nach den inoffiziellen Aktivitäten für ’08 und ’09 gefragt – nun, das hier sind sie: Knapp fünfhundert Seiten, fünf gleichzeitig einsehbar! Wann wollen Sie anfangen?“ „Jetzt gleich – suchen Sie mal diese Stichworte hier!“ Er reicht ihr einen Zettel. „Venice... Victory Hotel... Fiona Chamberlain... April Ryan...” “Kennen Sie den Namen?” Die junge Frau lehnt sich zurück, schaut müde zur Decke. „Hat vielleicht meine Trinkpartnerin gestern erwähnt“, murmelt sie dann. „Muss ’ne echte Bombe im Bett sein.“ Farlans Wangen färben sich rot, und er wendet sich mit einem Hüsteln zur Wand. „Name?“ „War mir nich‘ mehr so wichtig, nachdem sie mir diesen Charro Negro spendiert hat“, seufzt sie. „So süß, die Kleine! Hat mich an meine beste Freundin erinnert...“ Genervt winkt Farlan ab. „Machen Sie einfach weiter! Und heulen Sie hier nicht rum!“ Bei genauerer Betrachtung war die Frage sowieso unsinnig – wozu nach den Kontakten einer Frau fragen, deren Aufenthaltsort man längst kennt? Aber wo es sowieso schon um den Aufenthaltsort geht... „Können Sie mir noch einen Gefallen tun?“, fragt er verhalten. „Nicht viel, nur eine Nachricht über eine unabhängige Netzsingularität.“ Die junge Frau wischt sich die Tränen weg. „Für den richtigen Preis? Ganz sicher! Oder denken Sie, ich mache das hier nur, um die Freilassung aus einer Ausnüchterungszelle zu erwirken? Sie sind mir vielleicht eine Ulknudel...“ „Schon gut!“ Farlan seufzt. „V-Mann-Status und geheimer Zahlungskanal also. Wie war noch mal der Name... nur für die Akten?“ Ein Schniefen. Wieder Tränen auf den Wangen, die im grellen Licht des Monitors genauso glitzern wie die Perlen in ihren Dreadlocks und der Glitter auf ihrem Lidschatten. Dann die leise, verzweifelte Antwort. „Olivia. Olivia de Marco.“ Es ist bereits viertel zwei, als der Polizeitransporter nach 100 km Fahrt endlich die Vororte hinter sich lässt und über den Centralia-Tunnel ins Herz von Newport eintaucht. Eléna auf dem Beifahrersitz kann trotz der anstehenden Probleme nicht die zwickende, nagende Ehrfurcht unterdrücken, die sie seit jeher bei dieser Stadt verspürt hat. Der gigantische, technokratische Moloch hat sich in erst in den letzten hundertfünfzig Jahren gebildet, als die USA ihre Bundesverwaltung neu bedachte und die Gegend um den Puget Sound, Washington zu einer Art Kolonie für Landflüchtler machte. Nach und nach verleibte sich die Verwaltung von der Hauptstadt Olympia aus die wichtigsten Städte der Region ein - Seattle, Tacoma, Lacey, Aberdeen und dergleichen – und machte durch die Ansiedlung der wichtigsten Rüstungskonzerne diesen Ort zu einem Kerngebiet in den zeitweiligen Aufständen. Es wurde zum Ausgangspunkt von Raumreisen, zum Hauptsitz einiger der gewaltigsten Firmen der Welt und zu einem Machtzentrum, neben dem sich das alte Washington D.C. wie die reinste Provinz ausmachte. Doch die großen Kriege sind seit gut dreißig Jahren vorüber. Nun hat die Stadt mit einer Anzahl kleinerer Kriege zu kämpfen. Wie so ziemlich jede amerikanische Großstadt irgendwann in seiner Geschichte. Eléna dachte einmal, sie würde in diesen Kriegen – dank ihrer Affinität zu Kunst und den schönen Dingen des Lebens – etwas erreichen können. Nun weiß sie, dass es eine Menge an Mühsal und Entbehrungen verlangt, bevor man einen „politischen Gestaltungswillen“ überhaupt ausdrücken kann. Bevor man Macht erlangt. Sie schaut auf das Navigationsgerät. „Wir sollten jetzt aus dem Gröbsten raus sein“, sagt sie zu Denvers, der am Steuer sitzt. „Wenn du willst, können wir noch einmal eine Pause machen, bevor wir auf die oberste Ebene fahren.“ „Es würde mich wesentlich mehr erfreuen, wenn wir auf Letzteres ganz und gar verzichten“, murrt der alte Officer und gähnt. Für einen Moment lässt sogar seine übliche kerzengerade Haltung nach. ‚Derartige Überstunden sollten nicht mehr üblich sein mit 65‘, denkt Eléna. Sie überlegt, ob sie ihn nicht im Hauptquartier vorbeibringen und aus der ganzen Sache heraushalten soll. „Was glotzt du so?“ „Nichts, nichts!“ „Du denkst schon wieder, ich würde weich werden, nicht? Mit 65! Pah!“ Ein Piepen von der Messengerablage erspart Eléna jede Antwort. Sie nimmt das Gerät in die Hand, doch die Adresse auf der Anzeige lässt sie stutzig werden: „‘Kahina Damja‘? Was soll das denn für ein Name sein?“ „Ist das etwa dein Privatmessenger?“, fragt Denvers streng. „Du weißt, dass ich den normalerweise konfiszie-“ möchte er weiterhin sagen, doch Eléna unterbricht ihn, indem sie auf den Annahmeknopf drückt, und eine sanfte Frauenstimme setzt ein: „Wollten Sie nicht schon immer die Außenwelt aussperren? Sich für einen Abend von den Erwartungen der High Society abschotten? Buchen Sie für sich und eine Begleitung ihr eigenes Separee in ‚The Fringe‘! Lassen Sie sich von uns mit dem besten Sashimi der Stadt verwöhnen und entfliehen Sie für eine Weile in das Arkadien ihrer Träumxtlgoootlfx...“ ‚Was zum...‘, denkt Eléna noch. Doch dann hört sie eine vertraute Stimme. „Saucédo am Apparat? Officer Saucédo, bitte kommen!“ „Inspektor Farlan, sind Sie das? Gott sei Dank, ich da-“ „’Saucy’ - wirklich?” Eléna hat das Gefühl, dass sie diesen Witz noch oft hören wird an diesem Abend. Und er wird kein bisschen witziger werden. Dieser verf... Orlando Green! „Ich freue mich auch, Sie zu hören!“, sagt sie unter größter Beherrschung. „Wir wollten schon lange Kontakt aufnehmen, aber es gab keinen anderen Weg, auf dem wir hätten frei kommunizieren können! Haben... lassen Sie mich ausreden... haben Sie einen Ort gefunden, an dem wir vor dem EYE ein paar Stunden sicher sind?“ „Könnte sein“, murmelt Farlan. „Es ist zwar ein Risiko, aber es könnte für uns von Vorteil sein. Wir haben einen exklusiven Club im Auge – so etwas wie ein VIP-Separee, ganz exklusiv und durch die höchsten Kreise geschützt. Na ja... könnte auch durchaus kontraproduktiv sein.“ „Wieso? Das klingt gut. Wissen die dort schon Bescheid? Haben sie einen Abstellplatz für den Transporter?“ „Tja, damit bin ich noch nicht ganz im Reinen. Sehen Sie – laut Karte liegt der Laden ganz in der Nähe von diesem ‚Victory Hotel‘, in Venice! Und der Manager dort würde mit unserer Ankunft ziemlich überrumpelt. Seine Gäste wollen nicht die geringste Störung.“ ‚The Fringe‘. Natürlich! Darum auch die automatische Werbeschaltung: Farlan benutzt die Verbindungsstation des Clubs als Transmitter, allerdings von einem Privatlaptop. „Und inwiefern haben wir dort überhaupt einen Fuß in der Tür?“, fragt sie genervt. „Hat die Kantine dort einen Jahresvorrat Sashimi bestellt?“ Farlan antwortet nicht gleich, sondern scheint etwas im Hintergrund zu besprechen. Doch dann kehrt er zurück. „Also, wenn meine Quellen mich nicht täuschen, dürfte Ihr Fahrgast unsere Eintrittskarte dort sein. Mehr kann ich nicht sagen!“ Eléna schmeckt die Sache ganz und gar nicht. Aber die Müdigkeit überwältigt langsam auch sie. Und irgendeinen guten Grund muss Farlan ja haben für seine Vermutung. „Riskieren wir‘s!“, erwidert Eléna störrisch. „Schicken Sie uns doch die Adresse gleich rüber und sagen Sie dann irgendwie dem Commissioner Bescheid! Wir sehen uns dort um Zwei. Over und aus!“ Die Verbindung wird beendet. In Bruchteilen von Sekunden aktualisiert sich der Eintrag auf ihrem Navigationsgerät. Gleichzeitig kommt eine Kurznachricht, wiederum von ‚Kahina Damja‘. Während Denvers die neue Route in Augenschein nimmt, klopft Eléna über ihre Schulter an die Sprechklappe. Dann schiebt sie sie vorsichtig auf. Pater Marduk streckt sich ihr entgegen. „Sie schläft gerade. In den Armen von... von deinem Kollegen.“ „Johnson. Sagen Sie ihr bitte, dass wir eine Planänderung haben! Wir fahren nach Venice, ‚The Fringe‘. Und fragen Sie sie nach Charles Layou, wenn Sie...“ Sie wird abrupt unterbrochen durch ein krachendes Rumpeln, Andrews überraschte Rufe... und ein Wimmern, das durch Mark und Bein geht. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)