Die Super Nanny in Japan von JinShin ================================================================================ Kapitel 1: Eine fremde Welt --------------------------- Es war mein letzter Vortrag innerhalb eines großen Kongresses in Tokyo zum Thema „Pädagogik an japanischen öffentlichen Schulen“. Anlass meiner Einladung als Gastrednerin war die Erscheinung der japanischen Übersetzung meines Buches „Glückliche Kinder brauchen starke Eltern“. Ich hätte nie gedacht, dass das Interesse an Erziehungsfragen hier auf der anderen Seite der Welt so groß sein würde. Japan und die anderen ostasiatischen Länder waren mir eher bekannt für ihre folgsamen, fleißigen Kinder. Dafür hatten sie hier andere Probleme, wie ich leider erfahren musste. Die Selbstmordrate an den Schulen war so hoch wie sonst nirgends. Und genau darum ging es auch bei diesem fachlichen Treffen. Die junge Frau, die sofort auf mich zusteuerte, als ich das Podium verließ, kannte ich schon von meinem ersten Auftritt vor zwei Wochen. Einige der Vorträge waren öffentlich, damit auch die Eltern Gelegenheit hatten, teilzunehmen, und meine zählten dazu, da mein Spezialgebiet ja die Pädagogik innerhalb der Familien war. Sie war kleiner als ich, eine zierliche Person mit einem kinnlangen Pagenschnitt, sportlich gekleidet und dennoch elegant in einem dunklen Hosenanzug. Ihr Gesicht war von einer Ebenmäßigkeit, die ich nur als schön bezeichnen konnte, und ich mochte jede Wette eingehen, dass sie jünger aussah als sie tatsächlich war. Ich schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie hatte unzählige Fragen gestellt zu ihrem achtjährigen Sohn, der ihr anscheinend große Schwierigkeiten machte. Soweit ich mich erinnerte, benahm er sich trotzig, wusch sich nicht, schlug andere Kinder in der Schule und weigerte sich sowohl an den gemeinsamen Mahlzeiten teilzunehmen als auch abends schlafen zu gehen. Obwohl ich ihr schon damals erklärt hatte, dass ich keine Patentlösungen aufweisen konnte, erwartete ich nun ein erneutes Fragenbombardement. Doch sie überraschte mich, indem sie nach einer höflichen Verbeugung lediglich drei Sätze sagte: „Mein Name ist Midorikawa Nami. Vielleicht erinnern Sie sich noch an mich vom letzten Mal. Ich würde Sie gerne mit jemandem bekannt machen.“ Ihr Englisch war ausgezeichnet, und sie überreichte mir eine Visitenkarte mit japanischen Schriftzeichen, die ich natürlich nicht entziffern konnte. Kurz befürchtete ich, sie hätte ihren Sohn mit her gebracht, doch sie deutete auf eine Dame, die in einigem Abstand von uns neben dem Ausgang stand und zu uns herüber schaute. Sie trug einen dieser fantastischen Kimonos, die ein Vermögen wert waren, und auch ihr Haar war kunstvoll in traditioneller Art hochgesteckt. Sie neigte leicht den Kopf, als ich zu ihr hinüber sah, auf eine durch und durch elegante Weise, fast majestätisch. Auch sie war sehr gut aussehend, wenn auch mehr auf eine klassische Art, nicht so grazil wie die junge Frau, die mich angesprochen hatte. Mein Dolmetscher und ständiger Begleiter, der ebenfalls neben mir stand, entschuldigte sich etwas überstürzt nach einem Blick auf die Visitenkarte, und damit verschwand meine einzig mögliche Ausrede, mich nicht auf ein erneutes Gespräch mit dieser aufdringlichen Mido-wie-auch-immer einzulassen. Ein Nein war sowieso eine heikle Angelegenheit hier im Land des Lächelns, soviel wusste ich schon. Unschlüssig drehte ich das kleine Kärtchen in meiner Hand, soviel wusste ich ebenfalls. Auf der Rückseite standen die Angaben in Romanji, also lateinischen Buchstaben. „Nanjo Kaoruko“ stand da als Name. Mir sagte das nichts. Ein weiterer Blick zum Ausgang sagte mir, dass die vornehme Dame nicht mehr zu sehen war. „Kommen Sie bitte“, sagte Mido-und-so-weiter-san. „Nanjo-sama möchte unter vier Augen mit Ihnen sprechen.“ Und sie wandte sich schon zum Gehen, anscheinend in der festen Überzeugung, dass ich folgen würde. Sama also, soso. Das war eine Anrede, die es in Deutschland gar nicht gab, so etwas wie "Sehr verehrte Frau". Daher wahrscheinlich die Sicherheit, dass ich als Normalsterbliche mich nicht verweigern würde. Ich warf einen fragenden Blick zu meinem Dolmetscher, doch der nickte mir nur aus sicherer Entfernung aufmunternd zu. Was blieb mir also anderes übrig? Ich folgte der jungen Japanerin. Zu meiner eigenen Überraschung sagte ich zu. Ich saß in einer Limousine der Extraklasse, ein Mercedes mit abgedunkelten Scheiben und Minibar. Trotz der sommerlichen Temperaturen war es angenehm kühl im Inneren des Wagens. Mir gegenüber saß Frau Nanjo, und ich fühlte mich wie in ein modernes, japanisches Märchen versetzt, während sie mir von dreizehn Generationen Schwertkämpfern in der Familie und der Joto-Konzern-Gruppe, dem Familienbetrieb, erzählte. Obwohl ihr Englisch bis auf einen kleinen Akzent nahezu perfekt war, minderte das ihre exotische Wirkung auf mich nicht im Geringsten. Für mich sah sie in ihrem geblümten Kimono aus wie eine dieser Frauenfiguren auf asiatischem Teegeschirr. Mein Flug ging in vier Stunden, und ich hatte Sehnsucht nach meinen Kindern und meinem Mann, die sich schon in Berlin auf mich freuten. Doch ich konnte mich aus diesem zauberbehafteten Szenario nicht lösen. Dies konnte mein exotischster Fall werden. Würde ich jemals wieder die Gelegenheit haben, einen so privaten Einblick in diese fremde Welt zu bekommen? Ich war jetzt seit zwei Wochen in Japan und hatte außer Hotels in westlichem Stil und jeder Menge Stadtrundfahrten noch nicht viel von Japan mitbekommen. Mir war natürlich klar, dass eine Familie wie die Nanjos nicht gerade einer typischen japanischen Familie entsprach. Vielleicht aber auch doch. Immerhin waren ihre Vorfahren vor nicht allzu langer Zeit noch waschechte Samurai gewesen, und eine romantische Vorstellung von Samurai verband ich spätestens seit der Fernsehserie „Shogun“ aus meiner Kindheit untrennbar mit diesem Land. Ich rechnete auch nicht mit einem langen Aufenthalt. Was Frau Nanjo über ihren Sohn erzählte, hörte sich nach einem verzogenen Achtjährigen an, der seine Grenzen austestete, und einem Ehepaar, das dem ungewohnten Verhalten und dem plötzlichen Ungehorsam hilflos gegenüber stand. Ein paar gute Ratschläge, mehr brauchten sie dann nicht. Bevor ich jedoch endgültig ja sagte, wollte ich noch eines wissen: „Weswegen fragen Sie mich? Ich bin sicher, es gibt hier in Tokyo durchaus kompetente Kollegen von mir, die sich auch besser in Ihrer Kultur auskennen als ich…“ Irgendwie hatte ich den Eindruck, als zögere sie mit der Antwort. Zum ersten Mal bröckelte ein wenig von ihrer Selbstsicherheit, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. „Nun, mir ist es so lieber. Sie haben keine Verbindungen zu unserer Familie oder zu Geschäftspartnern meines Mannes. Ich möchte diese Angelegenheit so diskret wie möglich behandeln.“ Ihr Blick schwirrte hinaus in die Welt außerhalb des Autos. Menschen liefen auf dem Gehsteig an uns vorbei, ohne zur Seite zu sehen. Mido-san stand mit dem Rücken zu uns neben der Beifahrertür, als wolle sie uns bewachen. Ich fragte mich, warum sie an dem Gespräch nicht teilnahm. Schließlich war sie es gewesen, die mich angesprochen hatte. In welchem Verhältnis standen die beiden Frauen eigentlich zueinander? Waren sie Freundinnen oder verwandt? Oder war sie das Kindermädchen? „Ihr Mann ist aber damit einverstanden, dass sie mich einladen?“ fragte ich aus meinem Gefühl heraus. Und genau – da war er wieder, der kurze Moment der Unsicherheit. „Er hätte nein gesagt, wenn ich gefragt hätte.“ Doch dann bekam ihre Stimme einen dezent harten Klang, und ihr Kinn schob sich trotzig vor. „Er ist sowieso kaum zu Hause. Es ist mein Sohn genauso wie seiner.“ „Ich werde mitkommen“, sagte ich, bevor sie anfangen konnte, das Thema Geld anzusprechen. Ich wollte nicht, dass es aussah, als würde ich nur deswegen zusagen. Denn das tat ich nicht, und ich hatte auch meinen Stolz. Auf der Fahrt zu ihr erzählte ich ein wenig von meiner Arbeit. Wir hatten mein Gepäck aus dem Hotel geholt, und die Stornierung des Fluges wollte Frau Nanjo übernehmen, sowie alle mir entstehenden Unkosten. Normalerweise ging ich nur in Familien, wenn alle Familienmitglieder inklusive der Kinder von meinem Kommen informiert und damit einverstanden waren. Dann hatte ich allerdings auch immer ein ganzes Kamerateam dabei. Ich erklärte ihr, dass ich am Anfang erstmal nur beobachten würde. Ich wollte mir erst ein Bild von der familiären Situation machen. So konnten wir dann ganz individuell an den Schwierigkeiten arbeiten. Mido-san saß vorne hinter dem Steuer und schien sich ganz auf den Verkehr zu konzentrieren, ohne uns zuzuhören. Also war sie die Chauffeurin. Dann fand ich dem Umstand, dass sie ihre Chefin dazu bewegt hatte, meinen Vortrag zu besuchen, erstaunlich. Vielleicht waren sie ja noch außerberuflich miteinander befreundet. Dieser Gedanke bestätigte sich bei unserer Ankunft im Hause Nanjo allerdings nicht. Im Gegenteil. Kaum durchfuhren wir das große hölzerne Tor und gelangten auf das von einer hohen Steinmauer umgebene Anwesen, wurde ihr Verhalten Frau Nanjo gegenüber noch distanzierter und förmlicher, falls das überhaupt möglich war. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, als ich mich umblickte. Es war, als hätten wir das Japan des einundzwanzigsten Jahrhunderts verlassen und nun eine Welt betreten, in der die Zeit still stand. Ich wusste noch nicht genau, wie ich diesen ersten Eindruck deuten sollte, aber zunächst bewunderte ich die perfekte Harmonie des japanischen Gartens, der uns auf einem geschwungenen schmalen Pfad durch das riesige Grundstück geleitete. Kleine kunstvolle Bodenlaternen aus Stein säumten den Weg. Das ganze Anwesen wirkte wie ein Palast und war komponiert aus mehreren freistehenden Bauwerken in typisch asiatischem Stil. Die Dächer neigten sich an ihrem Rand dem Himmel entgegen und schützten die um die Häuser führenden Holzveranden vor Sonne und Regen. „Wohnen Sie hier allein?“ fragte ich, während ich mich staunend umsah. Nanjo-sama nickte. „Außer meinem Mann und unserem Sohn leben hier nur mein Schwager, meine Schwägerin und das Personal.“ Ihre Worte waren begleitet mit zeigenden Armbewegungen. „Dort drüben befindet sich das Dôjô, der Stolz der Familie.“ „Was ist Dôjô?“ fragte ich. „Die Schwertkampfschule.“ Beeindruckt betrachtete ich das flache Gebäude, das von der Abendsonne angestrahlt wurde. Dennoch erschien es mir irgendwie bedrohlich. Vielleicht nur, weil ich wusste, dass dort früher echte Kämpfer darin ausgebildet worden waren, wie man Menschen am effektivsten töten konnte. Bevor ich diese Gedanken vertiefen konnte, waren wir schon am Eingang des Hauptgebäudes angelangt. Mido-san wachte sorgfältig darüber, dass ich zur rechten Zeit die Schuhe auszog und gab mir die berühmten Besuchshausschuhe, die ich aus meinen Reiseführern kannte. Sie trug auch mein Gepäck, ohne dass es einer Aufforderung bedurft hätte und bevor ich nach meinen Koffern greifen konnte, und brachte mich zu meinem Zimmer. „Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich bitte an mich“, sagte sie, nachdem sie die rechte Zimmerwand zur Seite geschoben hatte. Dahinter erschien eine Art historisches Badezimmer. „Alles ist vorbereitet. Es ist Tradition, vor dem Abendessen ein entspannendes Bad zu nehmen. Bitte sehr.“ Sie hatte die Wassertemperatur geprüft und stand schon halb auf dem Flur. „Wenn Sie soweit sind, führe ich Sie in das Esszimmer.“ „Ja, vielen Dank.“ „Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Sie schien mein Zögern zu bemerken und wartete aufmerksam, während ich kurz nach den passenden Worten suchte. „Können Sie mir bitte noch einmal Ihren Namen sagen, ich habe ihn leider wieder vergessen, tut mir leid“, sagte ich etwas verlegen. Doch sie lächelte nur freundlich. „Natürlich. Midorikawa Nami“, sagte sie langsam und wiederholte den Namen noch einmal. Ich sprach ihn laut nach. Sobald sie die Tür hinter sich zuschob, nahm ich mein Notizbuch und schrieb mir den Namen in Lautschrift auf. Midorikawa. Midorikawa-san. Frau Midorikawa. Das war vielleicht alles förmlich hier! Dafür war das Bad herrlich. Kapitel 2: Abendessen mit fliegender Misosuppe ---------------------------------------------- Es war eigentlich unüblich, dass ich mit meinen Klienten an den Mahlzeiten teilnahm, aber hier würde ich gleichzeitig einige Tage zu Gast sein, daher ging es nicht anders diesmal. Ich war sehr gespannt, den Rest der Familie kennen zu lernen. Midorikawa führte mich durch lange Gänge und schob etliche Türen vor mir auf und hinter mir wieder zu. Die Wände schienen im Inneren des Hauses ohne Ausnahme aus Papier zu bestehen. Und sie schien tatsächlich nicht nur Chauffeurin zu sein. Vielleicht so eine Art Mädchen für alles? Oder eher eine Art Leibdienerin von Frau Nanjo? Gab es so etwas noch? Beim Esszimmer angekommen verneigte sie sich und ließ mich allein eintreten. Der Esstisch in der Mitte des Zimmers war niedrig, und statt Stühlen lagen große viereckige Sitzkissen auf den Tatami-Matten. Außer einer Vase mit kunstvoll arrangierten Blumen darin und einem Kalligraphie-Bild darüber waren die Wände leer, und es gab auch keine weiteren Möbel. Es war für fünf Personen gedeckt. Ein Gedeck stand am Kopfende des Tisches, die vier anderen rechts und links auf beiden Seiten, und jedes bestand aus mehreren kleinen Schüsselchen und einem Paar Stäbchen. Der Platz am Kopfende war unbesetzt. Links davon saß ein junger Mann in einem grauen Anzug. Die Krawatte hatte er abgelegt und die oberen Knöpfe des Hemds geöffnet. Er hätte bestimmt auch als Star auf der Titelseite der Gala eine gute Figur gemacht, so wie er aussah. Er mochte Mitte zwanzig sein und blickte mich überrascht an. Also hatten sie noch nicht von mir gesprochen. Ihm gegenüber saß der Junge, wegen dem ich hier war. Auch er hatte ein hübsches, ansprechendes Gesicht, obwohl er gerade eine ziemlich finstere Mine machte. Kein Wunder, ich wusste, dass das gemeinsame Essen eines der Dinge war, die er sich weigerte zu tun. Er trug feine Kleidung, Hemd und Hose, keine Jeans. Im Gegensatz dazu waren seine Haare sichtlich ungepflegt und nicht gekämmt. Auch da verweigerte er sich. Aber mir fielen sofort seine schönen Augen auf: mit dichten, langen Wimpern. Neben dem Jungen saß Frau Nanjo, die bei meinem Eintreten sofort aufstand, um mich willkommen zu heißen und den anderen vorzustellen. „Saalfrank-san, treten Sie bitte ein! Dies ist mein Schwager Akihito und mein Sohn Tatsuomi. Und dies ist Saalfrank Katharina.“ Wir verneigten uns alle höflich, und ich nahm gegenüber von Frau Nanjo Platz, neben Akihito. Endlich ein Name, den ich mir merken konnte, denn so hieß auch der Kaiser. Überhaupt nicht kaiserlich war allerdings das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, als Frau Nanjo weiter sprach. „Saalfrank-san ist Diplom-Pädagogin aus Deutschland. Ich habe einen ihrer Vorträge gehört und sie eingeladen, unser Gast zu sein.“ Akihito beugte sich hinüber zu seinem kleinen Neffen und sagte etwas auf Japanisch in spöttischem Tonfall. Der Junge antwortete mürrisch und Frau Nanjo ging dazwischen und wies beide zurecht. Dann wandte sie sich wieder mir zu: „Entschuldigen Sie. Mein Mann kommt heute später nach Hause, wir brauchen mit dem Essen also nicht zu warten.“ Wie aufs Stichwort erschien eine Dienerin im Kimono und brachte vier Schüsseln mit dampfendem weißen Basmatireis. Bevor sie den Raum wieder verließ, schenkte sie uns noch heißen, grünen Tee ein. „Guten Appetit“, sagte Frau Nanjo, legte die Handflächen aneinander und verneigte sich leicht. „Itadaki-masu.“ Akihito tat das gleiche, nur der Junge und ich saßen regungslos daneben. „Kaoruko, wie hast du nur Hirose dazu gebracht, dabei zuzustimmen?“ fragte Akihito, jetzt auf Englisch, und schon wieder mit einem leichten Grinsen im Gesicht. Er nickte kurz in meine Richtung während er sich von Reis und Gemüse nahm. Ich kostete an der Miso-Suppe und prägte mir die Aussprache der Namen ein. Kaoruko zuckte nur die Schultern und widmete sich ihrem Sohn. Sie sprach leise zu ihm und deutete auf die duftenden Speisen. Ich konnte die Worte nicht verstehen, aber ich war sicher, es war das, was alle Mütter dieser Welt ihren Kindern sagen, die nicht essen wollen. Er schüttelte jedoch ausdauernd den Kopf und sagte immer wieder ein Wort, das sich wie ja anhörte. Später erfuhr ich, dass es ausgerechnet nein bedeutet. „Die Mühe kannst du dir auch sparen“, sagte Akihito neben mir leise, aber deutlich hörbar. „Wegen mir kann dieses stinkende Balg verhungern.“ Ich verschüttete beinah meine Suppe. Nur gut, dass der Junge die Englisch gesprochenen Worte nicht verstanden hatte, dachte ich und starrte den Mann verblüfft an. In einer solch vornehmen Umgebung hatte ich eine derartige Bemerkung nicht erwartet. „Akihito!“ wies Kaoruko ihn auch schon zurecht. Mir kam es fast vor, als hätte sie hier zwei Kinder. Das große benahm sich eher wie ein älterer Bruder und nicht wie ein erwachsener Onkel. War Akihito eifersüchtig? Jedenfalls klang seine japanische Erwiderung nicht gerade freundlich. Kaoruko ignorierte ihn würdevoll. Ihr Sohn presste die Lippen aufeinander und starrte auf sein Eßschälchen. Akihito lachte ein kleines böses Lachen und wechselte wieder in die englische Sprache, als er zu mir weiter sprach: „Ich hoffe wirklich sehr, dass Sie aus diesem Rotzbengel wieder einen anständigen Menschen machen. Sein Anblick und sein Geruch sind wirklich unerträglich! So ist er ein feiner Familienerbe, den kann man ja nirgendwo vorzeigen, und zu gebrauchen ist er auch nicht…“ Ein Misosuppenschälchen unterbrach ihn und kam quer über den Tisch gesaust, traf ihn zielsicher mitten auf der Brust und ergoss seinen würzigen Inhalt auf den Redner, während Tatsuomi noch ein paar wütende Worte hinterher schleuderte. Akihito sprang auf wie von der Tarantel gestochen, und ich brauchte ihn nicht verstehen, um zu wissen, dass er den Jungen weiter beschimpfte. Tatsuomi war genauso schnell auf den Beinen, und bevor sein Onkel ihn packen konnte, hatte er schon einen Teil der Außenwand mit einem Ruck zur Seite geschoben und war in den Garten hinaus gerannt. „So geht das wirklich nicht weiter“, regte sich Akihito auf. „Schau dir diese Sauerei an!“ Kaoruko hatte jedoch keinerlei Interesse an seinem ruinierten Anzug und lief ihrem Sohn hinterher. Auch ich stand auf und folgte ihr, ohne Akihito groß zu beachten. „So ist es ständig“, sagte sie, als ich sie eingeholt hatte. Ich sah, dass sie die Tränen zurückhielt. „Und es wird immer schlimmer. Ich weiß einfach nicht, was ich noch machen soll. Früher war er nie so. Er war so ein lieber Junge, bis…“ Sie brach ab, und ging jetzt langsamer weiter. „Bis was?“ hakte ich nach. „Bis er diesen Unfall beim Aikido hatte. Seit er aus dem Krankenhaus zurück ist.“ Davon hatten sie mir noch gar nichts erzählt. Es war nur die Rede gewesen von seinem aggressiven Verhalten, von seiner Weigerung zu essen und sich zu waschen und den Problemen in der Schule. „Wann war das?“ „Vor zwei oder drei Monaten.“ Und davor war alles in Ordnung? Hm. Ich hatte das Gefühl, etwas verschwieg sie. Wir passierten jetzt das Gebäude, das ich von der anderen Seite schon gesehen hatte als wir angekommen waren, das Dôjô. Ich erinnerte mich an ihre Erklärungen über die hohe Kunst, das Schwert zu führen. Der Garten hinter der Schule lag im Schatten der hohen Steinmauer, und genau von dort hörte ich jetzt ein rhythmisches Geräusch. Es war Tatsuomi, der mit einem dicken Stock auf einen der perfekt geschnittenen Büsche einhieb. Blätter und kleine Äste flogen umher. Ich hielt mich im Hintergrund und beobachtete, wie sich Kaoruko ihrem Sohn näherte. Er wirbelte herum, und einen schrecklichen Moment dachte ich, er würde den Stock auf ihren Kopf niedersausen lassen. Sie dachte das wohl auch, denn sie erstarrte in der Bewegung und rief irgendetwas. Einen Moment lang schien die Zeit stillzustehen, während der Stock zum Schlag erhoben in der Luft schwebte. Dann ließ der Junge die Arme sinken. Seinen Gesichtsausdruck konnte ich von meiner Position aus nicht erkennen. „Du gehst jetzt in dein Zimmer“, sagte Kaoruko barsch, aber ich hörte ihre Fassungslosigkeit. Er ließ den Stock ins Gras fallen und lief widerspruchslos zum Haus zurück. Erst jetzt fiel mir auf, dass auch ich ihre Worte verstanden hatte. Das hieß, der Junge sprach schon Englisch, dachte ich erstaunt. Kein Wunder, dass die Misosuppe geflogen war! Kaoruko stand reglos und sah ihm nach. Ich ging zu ihr. „Wenn sein Vater erfährt, dass er sein Bokken gegen mich erhoben hat, wird er sehr wütend werden. Besser, er erfährt es nicht.“ Ich fragte mich, was ein Bokken ist und hob den Stock auf, um ihn mir genauer anzusehen. Es war kein normaler Stock, sondern ein geschnitztes Stück Holz, das in seiner Form den schlank geschwungenen, japanischen Schwertern ähnelte. „Das ist das Trainingsschwert der Samurai. Richtig gehandhabt, ist es genauso tödlich wie ein Katana“, erklärte sie mir. „Hat er noch mehr Waffen?“ fragte ich und wog das Schwert in der Hand. Sicherlich konnte man fast alles als Waffe einsetzen, aber für sie schien das eine spezielle Bedeutung zu haben. Sie nickte. „Ein Katana natürlich und eine Schleuder für das Bogenschießen.“ „Was macht er denn noch für Sport?“ fragte ich. „Außer Kendo, Aikido und Kyudo? Judo und Karate. Aber im Karate hat er erst den gelben Gürtel.“ Erst den gelben Gürtel, wiederholte ich in Gedanken. Für mich klang das beeindruckend genug, immerhin ging er erst in die zweite Klasse. Ich korrigierte mein Bild von dem verwöhnten reichen Jungen, der seine Grenzen sucht, zu einem überforderten reichen Jungen, der verzweifelt versucht, sich abzugrenzen. Ich fragte mich, was mir noch alles nicht erzählt worden war. Jedenfalls schien er Hilfe dringend zu benötigen. Ich war froh, mit her gekommen zu sein. Wir blieben noch eine Weile im Garten stehen, bis sie sich soweit gefasst hatte, um sich an ihre Pflichten als Gastgeberin zu erinnern. Sie drängte mich, das angefangene Abendessen zu vollenden. Ich hatte zwar gar keinen Hunger im Moment, aber fürchtete, dass eine Ablehnung in diesem Haus und diesem Land zu unhöflich wäre. Also nahmen wir wieder unsere Plätze ein. Akihito war auch schon da, und schaufelte unbekümmert und in neuem Anzug die eingelegten Köstlichkeiten in sich hinein, während Kaoruko und ich eher so taten als würden wir essen. Ich dachte, was der Junge jetzt wohl machte und hätte mir gewünscht, wir wären zu ihm gegangen statt zum Abendessen. „Ich habe Hirose angerufen“, verkündete Akihito zwischen zwei Bissen. „Er kommt nach Hause.“ Hirose war ihr Mann, nahm ich an. Kaoruko kniff die Lippen zusammen, enthielt sich jedoch eines Kommentars. Ich hätte gern gewusst, was sie davon hielt. Und über die Rolle, die dieser Onkel hier spielte, war ich mir auch noch nicht ganz klar. Ich beschloss die Gelegenheit zu einem Gespräch zu nutzen. „Sie verstehen sich wohl nicht besonders gut mit Ihrem Neffen?“ fragte ich und befördere eine nach vorne geratene Strähne meines Haars wieder zurück auf den Rücken. „Ach, wissen Sie, eigentlich ist er mir egal“, sagte Akihito. „Solange er keine Suppe nach mir wirft…“ Er grinste mich an. Auf eine Art fand ich seine Unverblümtheit sogar erfrischend nach den ganzen Förmlichkeiten und Höflichkeiten der letzten Tage. „Kaoruko hat mir erzählt, dass er sich erst seit einiger Zeit so auffallend benimmt.“ Er zuckte desinteressiert die Schultern. „Hier läuft in letzter Zeit einiges drunter und drüber.“ Kaoruko warf ihm einen warnenden Blick zu, der mir bestätigte, dass mir hier irgendwas verschwiegen wurde. „Jedenfalls kann er froh sein, dass Vater nicht mehr lebt“, sagte er in verändertem Tonfall, nicht mehr so gleichgültig. Er hatte den Blick auch bemerkt. „Der hätte ihm schon Manieren beigebracht!“ „Wie meinen Sie das?“ fragte ich. „Na, ordentlich vermöbelt hätte er ihn.“ „Akihito!“ schaltete sich Kaoruko ein. „So redet man nicht über seine Ahnen!“ „Ist doch wahr! Was anderes konnte der alte Knacker doch gar nicht.“ „Akihito…“ „Hat er Tatsuomi denn geschlagen?“ unterbrach ich sie, denn ich fand das zu wichtig, um auf die Ehre der Ahnen Rücksicht zu nehmen. Und ich war ganz stolz, anscheinend den Namen richtig ausgesprochen zu haben, zumindest berichtigte mich niemand. Vielleicht waren sie auch nur zu höflich dazu. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht. Er hat ja nie Anlass zu Ärger gegeben, damals. Ja, Vater, nein, Vater, aber natürlich, Vater“, äffte er den kleinen Jungen nach. Dazu gehörte nicht viel Können, denn er erinnerte mich sowieso die ganze Zeit selber an einen kleinen Jungen. Und er bestätigte, was Kaoruko mir im Garten erzählt hatte – bis vor kurzem schien Tatsuomi noch ein richtiger Traumsohn gewesen zu sein. „Tatsuomi wird nicht geschlagen“, bemerkte Kaoruko, fast ein wenig beleidigt. „Wahrscheinlich fehlt ihm genau das“, ereiferte sich Akihito. „Wann ist denn sein Großvater gestorben?“ fragte ich dazwischen. „Vor ungefähr einem dreiviertel Jahr. Seitdem…“ „Meinen Sie, sein Verhalten hat damit zu tun?“ fiel ihm Kaoruko leider ins Wort. „Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Woran ist er denn gestorben?“ „Hirnschlag“, sagte Akihito ohne Bedauern. „Oben in seinem Arbeitszimmer.“ „War Tatsuomi zu Hause?“ „Ja, aber da hat er schon geschlafen“, sagte Kaoruko. „Es war mitten in der Nacht.“ „Wenn Sie mich fragen, ist Tatsuomi das herzlich egal. Den Alten vermisst doch keiner. Außer…“ Diesmal unterbrach sich Akihito selber. „Außer?“ hakte ich nach. „Außer Hirose. Und wahrscheinlich will Tatsuomi nur seine Aufmerksamkeit, darum spielt er das Theater, ist doch ganz klar. Aber langsam kann er damit wieder aufhören. Aufmerksamkeit hat er jetzt genug, finde ich.“ Ich schaute ihn nachdenklich an. Ging es darum, um Aufmerksamkeit? An der Art, wie Kaoruko den Kopf senkte, während er sprach, merkte ich, dass etwas Wahres an seinen Worten sein musste, etwas, das sie betroffen machte. Ich warf ihr einen fragenden Blick zu. „Es stimmt“, sagte sie zögernd. „Mein Mann hat sich seit dem Tod seines Vaters schon ein wenig verändert.“ Akihito gab einen verbitterten Ton von sich. „Ein wenig verändert ist die Untertreibung des Jahrhunderts.“ Er schien noch mehr sagen zu wollen, schwieg aber. Ich hatte den Eindruck, er litt selbst an einem Mangel an Aufmerksamkeit. Das bestätigte mein Gefühl von vorhin, dass Akihito eifersüchtig war. Langsam bekam ich ein Bild von dieser Familie. Und ich wurde neugierig auf den Mann, von dem wir hier redeten. Ich musste mich nicht lange gedulden. Kapitel 3: Beobachtungsphase ---------------------------- Später, als ich allein in meinem Zimmer war und mit meinem Mann telefonierte, ließ ich die Ereignisse noch einmal Revue passieren. Ich hatte die ausdrückliche Erlaubnis, vom hauseigenen Telefon so lange nach Europa zu telefonieren wie ich wollte. Ich war unglaublich müde, und es tat einfach nur gut, seine Stimme zu hören. Wie anders war doch mein Mann im Vergleich zu Kaorukos! Ich hätte nicht mit ihr tauschen wollen. Als Hirose den Raum betreten hatte, veränderte sich schlagartig die Atmosphäre, die ja bis dahin dank Akihitos rüpelhaftem Benehmen recht formlos gewesen war. Die herbeieilenden Dienstboten mit dem Essen verscheuchte er mit einer einzigen Handbewegung. Dieser Mann war gewohnt, zu bestimmen, das sah ich auf den ersten Blick. Unterstrichen wurde seine gebieterische Haltung noch durch seine für einen Asiaten ungewöhnliche Körpergröße. Er war mindestens einen Meter achtzig groß, mit einer stattlichen, muskulösen Figur. Klar, er machte seit frühester Kindheit Kampfsport. Ansonsten sah er eher nach Geschäftsmann als nach Samurai aus, selbst die randlose Brille fehlte nicht, was seinem Erscheinungsbild jedoch keinesfalls schadete. Kaoruko konnte sich glücklich schätzen, so einen vorzeigbaren Ehemann zu haben. Sein Verhalten, und auch ihres, ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie keine gleichberechtigte Beziehung führten. Ich fragte mich, ob sie aus Liebe geheiratet hatten. Noch nie hatte ich eine Frau ihren Mann ernsthaft mit „mein Gemahl“ ansprechen hören. Außer in Filmen aus alten Zeiten. Überhaupt sprach sie sehr ehrerbietig zu ihm. Hinter seinen Namen setzte sie das obligatorische –sama. Aber gut! Ich hatte auch nicht erwartet, hier alles wie zu Hause vorzufinden. Ich sah die Verletzung in Akihitos Augen, als sein Bruder ihn hinaus schickte, um mit uns allein zu reden. Und Kaorukos Nervosität konnte ich fast körperlich spüren. Genauso deutlich war, dass Hirose mit meiner Anwesenheit in seinem Haus überhaupt nicht einverstanden war, obwohl er formvollendet höflich zu mir war. So würde er mich formvollendet höflich vor die Tür setzen, dachte ich. Ich sah mich schon wieder meine Koffer packen. Doch Kaoruko überraschte mich – und wohl noch mehr ihn – indem sie sich einfach durchsetzte. Die entscheidenden Sätze sagte sie allerdings auf Japanisch, so dass ich nur sein grimmiges Nachgeben sah. Später fragte ich sie, und sie erzählte mir, sie hätte ihn in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen, dass ihre Familie durchaus auch über die nötigen finanziellen Mittel für gute Anwälte verfüge. Nur für den Fall einer Scheidung. Und in Tatsuomis momentaner Verfassung seien ihre Chancen sicherlich nicht schlecht, das Sorgerecht zugesprochen zu bekommen. Vor allem, wenn sein Vater sich weiterhin weigerte, sich angemessen um den Jungen zu kümmern. So durfte ich bleiben. Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Hirose-sama. Das Schlimmste aber kam erst noch. Danach hatte ich nämlich das zweifelhafte Vergnügen, Hirose dabei zuzusehen, wie er dafür sorgte, dass seinem Sprössling die dringend benötigte Körperhygiene zukam. Was in der Praxis so aussah, dass ein kräftiger, riesiger Mann (der garantiert noch größer als Hirose war) den schreienden Jungen gewaltsam festhielt, während der Vater ihn mit Wasser übergoss und von Kopf bis Fuß einseifte. Zimperlich gingen die beiden dabei nicht zu Werk. War wohl auf diese Art auch nicht anders möglich, wenn ich so an den gelben Gürtel in Karate und die etlichen anderen vorhandenen Gürtel dachte. Ich hasste solche Gewaltszenen. Besonders in der Anfangsphase, wenn ich nur beobachtete, und bei allem Unwohlsein mich ständig fragen musste, ob ich nicht doch lieber schon einschreiten sollte. Mit Mühe entschied ich mich dagegen. Dies war der Alltag für das Kind, seit Wochen geschah genau das immer wieder, und ich zwang mich, es ein einziges Mal auszuhalten und dabei zuzusehen. Normalerweise kannte ich solche Szenen nur von wesentlich jüngeren Kindern. Ich verstand noch nicht, was mit dem Jungen los war. Ein verstorbener Großvater und ein daraufhin veränderter und ihn womöglich vernachlässigender Vater erklärten mir nicht dieses extreme Verhalten, auch wenn Aktihito das behauptet hatte. Für mich war es noch zu früh, das zu beurteilen. Tatsuomi sah aus, als kämpfe er um sein Leben. In seinem Gesicht las ich nackte Angst. Der Mann, der ihn so eisern festhielt, hatte eine derart versteinerte Miene, dass ich keine Ahnung hatte, was er dabei empfand. Aber wenigstens Hirose sah so aus, als würde er das nicht gern tun, wenn ihn auch gleichzeitig Tatsuomis unverständliches Benehmen sichtlich wütend machte. Das war der übliche Teufelskreis, den man nur mit Einfühlungsvermögen und Zuwendung durchbrechen konnte. Ich blickte zu Midorikawa, die wie ich der Szene zusah. In ihren Augen spiegelten sich exakt meine Gefühle wider, und ich war dankbar für ihre Anwesenheit und den dadurch zustande kommenden stillen Beistand. Zum Glück war das Waschen schnell beendet. Der aufgelöste Junge stürzte in Handtücher gewickelt zu Midorikawa und drückte sich an sie. Sie legte eine Hand an seinen Hinterkopf, und er schob seinen Daumen in den Mund und beruhigte sich zum Glück augenblicklich. „Bringen Sie ihn jetzt schlafen“, sagte Hirose genervt. „Und sorgen Sie dafür, dass er den Finger aus dem Mund nimmt!“ Zu mir gewandt fügte er noch hinzu: „Er ist schließlich kein Baby mehr! Damit hat er eigentlich schon lange aufgehört.“ Ich brauchte nicht fragen, wann er wieder mit Daumenlutschen angefangen hatte. Die Antwort war mir klar. „Verstanden.“ Midorikawa verneigte sich und machte sich sofort auf den Weg. Ich ging mit ihr. Dass sie keinerlei Anstalten machte, der zweiten Anweisung zu folgen und den Jungen am Daumenlutschen zu hindern, machte sie mir gleich noch sympathischer. Tatsuomi sagte zwar, er wolle nicht schlafen, aber die Gegenwehr blieb aus. Die junge Frau sang leise vor sich hin, während sie ihn bettfertig machte, und dann las sie ihm vor, bis Kaoruko kam, um ihm seinen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Alles jetzt wie in jeder normalen Familie, wenn nicht sein Zimmer so karg eingerichtet gewesen wäre. Eigentlich war es leer bis auf das Futon, auf dem er schlief, und einem niedrigen Tischchen mit Sitzkissen daneben. Ach, und in der Ecke stand eine Stehlampe, und an der einen Wand hing ein Bild im klassischen japanischen Stil, eine Szene mit spielenden Kindern vor einer Hügellandschaft. Ich hoffte, dies war nur sein Schlafzimmer. Nur einmal noch flackerte kurz die Angst auf, als Kaoruko von seinem Schlafplatz aufstand: „Aber das Licht bleibt an!“ forderte er, und ich fand, er hatte den Befehlston seines Vaters schon ganz gut drauf. „Ja, natürlich, das Licht bleibt an“, sagte Kaoruko besänftigend und ließ auch die Tür einen Spalt offen. „Er träumt oft schlecht“, erklärte sie mir auf dem Flur leise. Die Information war neu. Warum bekam ich die Informationen nur so häppchenweise? Ich fragte mich, wovor er sich so fürchtete. Und ich begann zu zweifeln, dass es sich hier um ein rein pädagogisches Problem handelte. „Morgen möchte ich mich mit ihm einmal allein unterhalten“, antwortete ich. „Danach besprechen wir, wie wir weiter vorgehen werden.“ „Einverstanden. Und vielen Dank. Schlafen Sie gut!“ Das hatte ich auch vor, sobald ich das Telefonat mit meinem Mann beendet hätte. Doch dann hörte ich ein Geräusch vor der Tür. Kapitel 4: Nachtschicht ----------------------- Das einzige Licht fiel von den Straßenlaternen durch die Fenster hinein. Ich glaubte, es war Tatsuomis Silhouette, die den Gang entlang huschte, und die ich eben noch um die nächste Ecke biegen sah. Mein Zimmer lag auf derselben Etage wie die Wohnräume der Nanjos, nur etwas abseits. In der Richtung, in der er verschwunden war, lag die Treppe für die Dienstboten, wenn ich mich recht erinnerte. So wie ich war, barfuß und im Nachthemd, beschloss ich, ihm zu folgen. Durch den Vorsprung, den er hatte, bemerkte er mich nicht, und ich sah ihn gerade noch die Treppe hinab verschwinden. Vorsichtig tastete ich mich treppabwärts, und stand dann etwas unschlüssig in dem nächsten dunklen Flur, bis ich wieder ein Geräusch hörte. Ich ging in diese Richtung und hoffte nur, auch wieder zurück zu finden in diesem palastartigen Haus. Einen kurzen Moment stellte ich die ganze Aktion in Frage, was machte ich hier eigentlich? Im Hemdchen nachts durch das Haus meiner Klienten zu schleichen, war sonst wirklich nicht meine Art. Ich stellte mir das mit dem Kamerateam von RTL vor, und wie ich von dem gestrengen Hausherrn erwischt wurde, und wäre fast wieder umgedreht. Doch dann sah ich einen Lichtstrahl durch einen Türspalt auf den Gang fallen. Ich schlich mich möglichst lautlos heran und linste in den Raum. Es sah aus wie eine Küche, aber ich konnte niemanden sehen. Vorsichtig schob ich die Tür weiter auf. Zum Glück stand da tatsächlich nur Tatsuomi, vor einem riesigen Kühlschrank, der sein Licht auf ihn warf, und stopfte eine weiße, klebrige Masse in sich hinein. Er bemerkte mich und fuhr erschrocken herum, bereit, das Schälchen mit Reis in seiner Hand auf mich zu schleudern. Ich hob beruhigend die Hände, aber mein Herz schlug bis zum Hals, wie er da in Angriffshaltung vor mir stand. Sein Gesicht war tränennass, er hatte offensichtlich geweint. „Tatsuomi, ich bin es nur. Katia.“ Ich sprach extra langsam und deutlich und ging erst näher, als ich sah, wie er sich wieder entspannte. „Was ist denn los?“ fragte ich vorsichtig. Seine Antwort zu verstehen war eine Herausforderung, denn er schniefte und schluchzte, und sein Mund war voller Reis und sein Englisch voller Japanisch. Aber ich meinte etwas wie „Ich will nicht essen, aber ich habe Hunger“ heraus zu hören. Es war ein rührender Anblick wie er da so verzweifelt vor dem vollen Kühlschrank stand. Seine Haare waren vom Schlaf zerzaust. Ich hockte mich vor ihn hin, damit wir auf gleicher Augenhöhe waren, und versuchte, ob ich ihm eine Hand auf die Schulter legen durfte. Er ließ es geschehen. Sein Körper bebte. „Das ist doch nicht schlimm“, sagte ich. Offensichtlich verstand ich das Problem nicht. „Warum willst du denn nicht essen?“ „Weil es so weh tut.“ Das Schluchzen wurde heftiger, und der Reis tropfte aus seinem Mund. „Was tut dir weh?“ fragte ich erschrocken. Er schüttelte den Kopf. „Hast du Schmerzen beim Essen?“ Kopfschütteln. So kam ich nicht weiter. „Wenn dir was weh tut, müssen wir deinen Eltern Bescheid sagen“, sagte ich. „Nein!“ Das Kopfschütteln wurde verzweifelter, und er griff in mein Nachthemd, um mich am Aufstehen zu hindern. „Okay“, sagte ich und setzte mich jetzt richtig auf den Boden. „Ich sag ihnen nichts, wenn du das nicht möchtest. Versprochen.“ Das beruhigte ihn ein bisschen. „Aber mir kannst du das ruhig sagen. Weißt du, ich bin nämlich hier, um dir zu helfen. Deswegen hat deine Mutter mich her gebracht. Und das möchte ich auch gerne, dir helfen.“ Ich dachte an meinen ersten Vortrag in Tokyo, als Midorikawa mich angesprochen hatte, und ich noch dachte, es ginge um ihren eigenen Sohn. „Weißt du, eigentlich hat Mrs. Midorikawa mich zu dir gebracht.“ Anscheinend war das genau das Richtige, denn jetzt wurde er deutlich ruhiger. „Mi-san“, sagte er mit leuchtenden Augen. „Du hast sie gern, nicht wahr? Ich auch.“ Und ich freute mich, nicht die einzige zu sein, die ihren Nachnamen zu lang fand. „Aber sie macht sich Sorgen um dich. Wir wollen nämlich, dass es dir gut geht, verstehst du? Vielleicht kannst du ihr sagen, wo es dir weh tut?“ Seine Augen verdunkelten sich wieder, und er schüttelte erneut den Kopf. „Ich darf nicht reden“, antwortete er leise. „Wer sagt denn das?“ „Mein Vater.“ „Aha…“ Ich verstand einen Moment gar nichts mehr. „Da hast du bestimmt was falsch verstanden.“ „Nein!“ sagte er eindringlich. „Bitte! Nicht ihm sagen! Ich darf nicht reden!“ „Das verspreche ich dir. Nichts gegen deinen Willen, das sind die Regeln“, beruhigte ich ihn und ließ mir nicht anmerken, dass ich wütend wurde. Was immer auch hier los war – ich war mir jetzt sicher, dass wahrscheinlich ein Großteil von Tatsuomis Not damit zu tun hatte, über irgendetwas nicht reden zu dürfen. Etwas, womit er als Achtjähriger aber alleine nicht fertig wurde. Und es hatte irgendwie mit seinem Vater zu tun. Und vielleicht irgendwie mit dessen Vater. Vielleicht hatte Akihito also doch gar nicht so Unrecht gehabt. „Sie nehmen Ihre Aufgabe aber sehr ernst“, sagte eine freundliche Stimme. Desorientiert schlug ich die Augen auf, und sah Kaoruko neben mir stehen. Was machte denn Frau Nanjo in meinem Hotelzimmer, fragte ich mich verschlafen. Doch dann fiebte neben meinem Ohr eine Kinderstimme: „Ohayo gozai-mazu, okâ-sama!“ Da fiel mir die vergangene Nacht wieder ein. Tatsuomi hatte in der Küche noch ein wenig gegessen, nachdem er sich beruhigt hatte, und dann hatte ich ihn zurück gebracht in sein Zimmer. Dort hatte er mir gleich mit ernsthaftem Eifer seine gesammelten Werke irgendeiner Comic-Reihe gezeigt, Hefte, DVDs und dazugehörige Hartgummi-Figuren. Ich hatte ihn eine Weile gewähren lassen, obwohl es schon nach Mitternacht gewesen sein musste, denn so ruhig und entspannt hatte ich ihn bisher noch nicht erlebt. Ich war sehr erleichtert, dass er nur eine vermeintliche Seitenwand verschieben musste, um sein leeres Zimmer im Handumdrehen in ein ganz normales Kinderzimmer zu verwandeln. Dahinter befand sich nämlich ein riesiger begehbarer Wandschrank mit Computer, Spielzeug und all dem Kram, den Achtjährige eben horteten. Er war so süß, ich konnte gar nicht anders, als ihn in dieser Nacht in mein Herz zu schließen. Ich hatte ihm versprechen müssen, zu bleiben bis er eingeschlafen war, und während seine kleinen Finger meine Hand umklammert hielten, und ich beobachtete, wie er daumenlutschend einschlief, schwor ich mir, dieses Land erst zu verlassen, wenn ich sicher sein konnte, dass es ihm besser gehen würde! Darüber musste ich wohl eingeschlafen sein. Ich fand es etwas peinlich, von meiner Gast- und Auftraggeberin im Bett ihres Sohnes vorgefunden zu werden, auch wenn der Sohn erst acht war. Aber Tatsuomi beendete diesen Moment der Verlegenheit sofort, indem er munter drauflos plapperte. „Ich hatte letzte Nacht wieder Angst“, erklärte er seiner Mutter. „Aber Katia-san war da, und ich hab ihr meine Samurai-Figuren gezeigt“, wie man unschwer sehen konnte, denn sie lagen noch überall verstreut herum, „und dann sind wir eingeschlafen, und ich hab gar nicht schlecht geträumt“, verkündete er stolz. „Frühstückt Vater mit uns?“ Kaoruko warf mir einen Blick zu, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. Der Junge schien wie ausgewechselt zu gestern. Ich erinnerte mich jedoch nur zu gut an unser Gespräch in der nächtlichen Küche und nahm mir vor, von nun an ganz besonders auf mögliche Anzeichen von Schmerzen zu achten. Kaoruko nickte ihm zu. „Er ist in seinem Arbeitszimmer. Wenn du dich schnell anziehst, kannst du ihn abholen.“ „Ja, das will ich!“ Begeistert sprang er unter der Decke hervor. „Danke, dass sie sich um ihn gekümmert haben“, sagte Kaoruko zu mir, und dann beeilte ich mich auch, mich anzuziehen. Kapitel 5: Die Arbeit beginnt ----------------------------- Die gute Stimmung kippte leider genau in dem Moment, als das Essen vor ihm auf dem Tisch stand. Er zeigte wieder die gleiche finstere Miene, die ich vom Vortag kannte. Diesmal war die Familie vollzählig, und mir wurde Kaorukos Schwägerin Nadeshiko vorgestellt. Sie saß neben mir am Kopfende des Tisches, Hirose gegenüber. Ich schätzte sie auf höchstens sechzehn oder siebzehn Jahre. Ihr langes Haar trug sie offen, und ihr Gesicht war von makelloser Schönheit, die allen Nanjos zu eigen zu sein schien. Die familiäre Ähnlichkeit mit ihren zwei Brüdern war unverkennbar. Genau wie Kaoruko trug sie traditionelle Kleidung, einen Kimono mit Kranichmuster, der ein Vermögen gekostet haben musste. Auch Hirose war heute in einen Kimono gekleidet, der jedoch schlicht weiß war. Akihito hatte einen Anzug im westlichen Stil an, in schlichtem Blau. „Du kommst heute nicht mit in die Firma?“ fragte er seinen Bruder wenig begeistert. Hirose schüttelte den Kopf. „Du wirst mich bei den Terminen vertreten. Ich arbeite von zu Hause aus. Wenn du Fragen hast, kannst du mich anrufen.“ „Iß wenigstens ein bisschen“, bat Kaoruko währenddessen ihren Sohn leise. „Nein, ich will nicht!“ sagte Tatsuomi entschlossen. „Doch, du wirst das essen!“ sagte Hirose, und man merkte deutlich, dass er mit den Nerven schon ziemlich am Ende war. „Wenn Ihr heute hier seid, trainiert Ihr dann nachher mit mir, Hirose-onii-sama?“ fragte Nadeshiko. Ich war mir nicht sicher, ob sie damit ihrem Neffen helfen wollte, indem sie ihren Bruder ablenkte, oder ob sie nur diese Essensdiskussionen leid war. Hirose nickte. „Natürlich. Ich sage dir dann Bescheid.“ „Super!“ „Trainiert Ihr mit mir auch?“ bat Tatsuomi. „Nein“, kam ohne Zögern die Antwort. „Solange du nicht vernünftig bist, trainierst du auch nicht.“ „Bitte, otô-sama“, flehte der Junge. „Wenn ich nein sage, heißt das nein. Und jetzt iss endlich!“ „Wenn ich nein sage, heißt das auch nein“, sagte Tatsuomi trotzig und schob das Essschälchen von sich. Dabei stieß er die Teetasse um, und der Inhalt ergoss sich über den Tisch. „Das reicht mir jetzt“, sagte Hirose wütend. Tatsuomi sah erschrocken aus, das war eindeutig keine Absicht gewesen, doch bevor er noch etwas sagen oder tun konnte, packte ihn sein Vater grob am Arm und zerrte ihn nach draußen. Rasch stand ich auf und ging den beiden hinterher. Hirose schimpfte auf Japanisch, und Tatsuomi schrie, und ich sah schon wieder Panik in seinen Augen. „Jetzt lassen Sie ihn erstmal los“, sagte ich laut und mit Nachdruck. „Gehen Sie weiter frühstücken“, fuhr Hirose jetzt mich an. „Ich komme allein zurecht.“ „Das sehe ich aber anders. Er hört Ihnen doch überhaupt nicht zu!“ Hirose ließ ihn tatsächlich los, und sofort hörte er auf zu schreien und steckte den Daumen in den Mund. Hirose zog ihn wieder heraus. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du damit aufhören sollst! Du benimmst dich wie ein Kleinkind! Reiß dich gefälligst zusammen!“ Tatsuomis Unterlippe zitterte, doch er unterdrückte erfolgreich die Tränen. „Ja, otô-sama.“ „Und jetzt gehst du da rein und isst etwas!“ „Ich will aber nicht essen!“ „Tatsuomi“, sagte Hirose drohend. „Meine Geduld mit dir ist wirklich langsam aufgebraucht! Wenn du so weiter machst, darfst du nie wieder trainieren, nur dass dir das klar ist!“ Jetzt kullerten doch die Tränen. Ich schaltete mich ein: „Wieso drohen Sie ihm denn jetzt? Sehen Sie nicht, dass er verzweifelt ist?“ „Ich will doch nur, dass er vernünftig isst!“ „Da haben Sie ja Recht. Aber ich glaube nicht, dass Sie das auf diese Art erreichen. Warum sind Sie so wütend? Das verstehe ich nicht.“ „Weil er nicht macht, was ich sage!“ „Das liegt vielleicht an der Art, wie Sie es ihm sagen. Sie schimpfen die ganze Zeit. Wissen Sie denn, warum er nichts essen will?“ Das war für Tatsuomi ein sensibles Thema, und ich legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Unter meiner Hand spürte ich, wie sehr er unter Spannung stand. Ich hatte nicht vor, seinem Vater zu erzählen, was ich von ihm in der Nacht am Kühlschrank gehört hatte. Das wollte ich schon von Hirose selbst hören. „Natürlich habe ich das, was denken Sie! Es gibt keinen Grund. Er soll sich nicht so anstellen.“ „Darüber würde ich mich gern später noch mit Ihnen unterhalten. Im Moment geht es um die jetzige Situation. Sie erreichen überhaupt nichts, wenn Sie nur in Befehlen und Verboten sprechen. Reden Sie mit ihrem Sohn, erklären Sie ihm, warum Ihnen das Thema Essen so wichtig ist, und warum er nicht trainieren soll. Dafür haben Sie doch einen Grund, oder?“ „Ja, den habe ich. Das Training ist harte Arbeit, das ist Kampfsport. Dazu muss er voll leistungsfähig sein, sonst ist das Verletzungsrisiko viel zu groß.“ Ich nickte. „Wenn Sie sich Sorgen machen, dann sagen Sie ihm das auch so. Es ist schwierig, wenn nur Verbote im Raum stehen, die er nicht nachvollziehen kann.“ Ich brachte ihn ein bisschen aus dem Konzept, und er schaute mich an, als würde er mich am liebsten aus seinem Haus werfen. Ich ließ ihm die Zeit, die er brauchte, um sich anders zu besinnen, und glücklicherweise wandte er sich schließlich ohne weiteren Kommentar seinem Sohn zu. „Ich möchte, dass du mehr isst, Tatsuomi, damit du nicht krank wirst. Wer nicht isst, wird schwach und unkonzentriert und kann keinen Sport mehr machen. Ich möchte nicht, dass du dich verletzt beim Training.“ Das klang zwar vom Tonfall her nicht sonderlich besorgt, aber ich fand es für den Anfang gar nicht so schlecht. Tatsuomi hörte wenigstens aufmerksam zu und hatte aufgehört zu weinen. „Aber ich will nicht essen“, sagte er leise, aber jetzt klang er nicht mehr trotzig, sondern eher verzweifelt. Hirose schüttelte entnervt den Kopf und warf mir einen Blick zu, der sagte: „Und, was hat das jetzt gebracht?“ „Vielleicht finden wir ja einen Kompromiss“, half ich. „Weißt du, was Kompromiss auf Japanisch heißt, Tatsuomi?“ „Nein.“ „Manchmal wollen zwei Menschen etwas völlig Unterschiedliches. So wie ihr gerade. Und dann finden sie eine Lösung, die beide Seiten zufrieden macht. Das ist ein Kompromiss. Wie könnte denn ein Kompromiss für euch beide aussehen?“ „Tatsuomi darf beim Training zusehen. Dafür isst er vorher etwas“, sagte Hirose sofort und überraschte mich ein wenig. Er verstand schnell, worum es mir ging. Nur an der Umsetzung sollte er noch etwas arbeiten. „Was meinst du, Tatsuomi?“ fragte ich den Kleinen. „Ist das für dich in Ordnung?“ Er nickte zögernd. „Gut, dann trefft ihr jetzt eure Vereinbarung.“ Ich drückte noch einmal kurz aufmunternd die Kinderschulter, dann trat ich einige Schritte zurück und stellte mich abwartend hin. Hirose schob seine Brille zurecht und Tatsuomi blickte unsicher zu Boden. „Du isst ein bisschen bei den Mahlzeiten“, sagte Hirose. „Dafür…“ „Gehen Sie ruhig auf Augenhöhe mit ihm“, unterbrach ich ihn. Damit würde Tatsuomi sich nicht noch kleiner fühlen, als er sowieso schon neben seinem Vater war. Ich machte Hirose vor, was ich meinte, indem ich in die Hocke ging. „Dann reden Sie nicht so von oben herab.“ Nach anfänglichem Zaudern nahm er den Vorschlag an. „Dafür darfst du nachher dabei sein, wenn ich mit Nadeshiko im Dôjô bin. Einverstanden?“ „Hai.“ „Darauf könnt ihr euch die Hand geben“, schlug ich vor. „Oder wie besiegelt man in Japan eine Abmachung?“ Die beiden verneigten sich feierlich voreinander. Gemeinsam gingen wir zurück, und Tatsuomi nahm die Stäbchen in die Hand, sobald er saß. Dann nahm er ein wenig Reis und ein Stückchen Gemüse, kaute langsam und legte die Stäbchen wieder weg. Ich sah Hiroses Gesichtsausdruck. „Das ist völlig in Ordnung für den Anfang“, beeilte ich mich, seiner Bemerkung zuvor zu kommen. Es war immerhin seit Wochen das erste Mal, dass Tatsuomi überhaupt bei Tisch die Stäbchen in die Hand genommen hatte. Außerdem dachte ich daran, wie sehr er in der Nacht geweint hatte, weil er vor lauter Hunger essen musste, ohne es zu wollen. Und er wollte aus Angst nicht. Womöglich war diese Angst gerechtfertigt, und dann war es vielleicht ganz gut, wenn er nicht zu viel aß. Ich hatte ja noch immer keine Ahnung, was ihm wohl weh tat (oder wer). Hirose wusste etwas, aber Kaoruko hatte mir gesagt, dass sie sich nicht erklären könnte, warum sich ihr Sohn weigerte, Nahrung aufzunehmen. Ich glaubte ihr. Hirose aber wusste, warum. Er hatte gesagt, Tatsuomi solle sich nicht so anstellen. „Loben Sie ihn jetzt dafür, dass er sich an seine Zusage hält“, ermunterte ich Hirose, der jedoch nicht vorhatte, das zu tun. Er hatte eindeutig mehr erwartet und war nicht bereit, den Fortschritt zu sehen. Stattdessen reagierte jedoch Kaoruko sofort. „Das freut mich sehr, Tatsuomi“, sagte sie. „Das machst du gut so. Iß einfach so viel wie du magst.“ Sie freute sich wirklich, das war deutlich zu hören. Das weitere Frühstück verlief ohne besondere Vorkommnisse. „Wie sieht denn jetzt der Tagesablauf aus?“ fragte ich. „Ich muss in die Schule. Leider“, sagte Nadeshiko mit einem Lächeln auf den Lippen und einem Blick zu ihrem Bruder Hirose. Dann sah sie auf die Uhr. „Und ich muss genau jetzt sofort los! Ihr entschuldigt mich!“ Bei den letzten Worten war sie schon im Hinausgehen. „Akihito fährt gleich in die Firma“, sagte Hirose. „Und ich muss noch ein paar Telefonate erledigen. Das dauert ungefähr eine Stunde. Danach können wir uns unterhalten, Mrs. Saalfrank.“ Er stand auf. „Akihito, kommst du? Wir sollten noch deine Geschäftsgespräche durchgehen.“ Die beiden verließen den Raum. „Das ist doch ganz gut gelaufen, Tatsuomi, findest du nicht auch?“ fragte ich und erntete ein verlegenes Nicken. „Und? Was hast du jetzt vor?“ „Ich gehe zum Unterricht.“ „Ja? Ich dachte, du gehst gerade nicht zur Schule.“ „Wir haben einen Privatlehrer eingestellt“, erklärte Kaoruko. „Damit er nicht den Anschluss verliert, solange er nicht in die Schule geht. Sie haben gestern gesagt, wir sollen alles wie immer machen, also habe ich ihn nicht abbestellt für heute.“ „Ja, das war auch richtig“, versicherte ich. „Wie lange geht der Unterricht?“ „Bis zwölf. Danach gibt es Mittagessen, und dann hätten Sie Zeit, mit Tatsuomi allein zu sein.“ Also würde ich zuerst mit Hirose sprechen. Gut. Dann wusste ich hoffentlich schon mehr, wenn ich mich mit Tatsuomi traf. Kapitel 6: Ein hilfreiches Gespräch ----------------------------------- 6. Kapitel - Ein hilfreiches Gespräch Kaoruko führte mich zu einem kleinen Zen-Garten, der sich an der rückwärtigen Seite des Hauptgebäudes befand. Der Himmel war strahlendblau, und obwohl es noch so früh am Tag war, spürte ich schon die schwüle Hitze, die uns bevor stand. Ich hatte den Wunsch geäußert, bis zu dem Gespräch mit Hirose für mich zu sein. Ich wollte einmal meine Gedanken ordnen. „Hier kann man gut nachdenken“, sagte sie und ließ mich allein mit dem Felsen, der auf der geharkten Kiesfläche inmitten des Nichts stand. So ähnlich wie der Felsen fühlte ich mich hier auch: Man hatte mich hier her gesetzt, in diese Familie, und obwohl alles überschaubar wirkte, kam ich in Lösung des Problems kein Stück näher. Was war mit dem Jungen los? Wovor hatte er Angst? Warum verbot ihm sein Vater darüber zu sprechen? Was wollte er verbergen? Und wie sollte ich ihn dazu bringen, darüber ausgerechnet mit mir zu reden? Als ich mich nach einer Sitzgelegenheit umsah, bemerkte ich Midorikawa-san, die eines der Nebengebäude verließ und dann Richtung Einfahrt verschwand. Ich warf noch einen kurzen Blick auf den einsamen Felsen, dann folgte ich ihr. Durch ihre Initiative war ich hier. Vielleicht war ich doch nicht so allein. Ich sah, wie sie einen der zwei Wachmänner am Tor ansprach und ihm einen schwarzen Gegenstand entgegenstreckte. Die Wachposten trugen dunkle, vornehme Anzüge, sogar mit Krawatte. Nami trug ihren schwarzen Hosenanzug, in derselben sportlichen Eleganz wie am Tag vorher. Sie begannen eine lebhafte Diskussion. „Guten Morgen“, sagte ich, als sie mich bemerkten und verstummten. „Kann ich kurz mit Ihnen sprechen?“ Mi-san nickte und sagte noch etwas zu dem Mann, der ihr daraufhin das schwarze Ding wieder zurückgab. Jetzt war ich nah genug, um zu erkennen, dass es sich um eine Pistole handelte. Ich war einer solchen Waffe noch nie so nah gewesen, und sah Mi-san überrascht dabei zu, wie sie mit flinker Hand die Pistole in ein unter ihrer Jacke verstecktem Schulterholster verschwinden ließ. Zurück bei der friedlichen Unbewegbarkeit des Steingartens, war meine erste Frage mit Blick auf die leichte Vorwölbung an ihrer linken Seite: „Entschuldigen Sie, aber was arbeiten Sie hier eigentlich wirklich? Ich rätsel seit gestern darüber nach.“ Ich lächelte bei dem Gedanken an mein fröhliches Berufe-Raten am Vortag. Selbst meine letzte Vermutung am Abend, sie sei das Kindermädchen, erschien mir mit Schusswaffe doch reichlich unpassend. „Verzeihung“, sagte sie. „Ich hätte mich korrekt vorstellen sollen. Ich arbeite beim Sicherheitsdienst der Nanjos. Im Bereich Personenschutz. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ „Das haben Sie nicht, ich war nur überrascht“, sagte ich. „Eigentlich wollte ich mit Ihnen über Tatsuomi sprechen.“ Sie nickte. „Deshalb sind Sie ja hier.“ „Er mag Sie sehr gerne“, stellte ich fest. „Ja. Ich ihn auch. Er ist so ein reizender kleiner Junge, man muss ihn einfach gern haben.“ „Das finde ich auch“, stimmte ich ihr zu. „Und es scheint ihm zur Zeit wirklich nicht gut zu gehen. Ich denke, es war richtig von Ihnen, professionelle Unterstützung ins Haus zu holen.“ Ich fand es sogar außerordentlich mutig von ihr, dachte ich respektvoll. Sie nahm ihre Arbeit sehr ernst, wenn für sie zum Personenschutz auch der Schutz der Seele gehörte. „Es tut mir leid, dass ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung nicht sehr hilfreich war“, sagte ich und dachte daran, wie penetrant nervig sie mir vorgekommen war. „Ich habe Sie ja auch ganz schön mit Fragen bombardiert“, lachte sie, als könne sie Gedanken lesen. „Es tut mir leid, dass ich nicht aufrichtig zu Ihnen sein konnte, Saalfrank-san.“ „Ach, wissen Sie, wollen Sie nicht Katia zu mir sagen?“ Ich wollte wenigstens ein bisschen Normalität für mich, und Kaoruko und Hirose konnte ich das garantiert nicht anbieten ohne sie oder mich in Verlegenheit zu bringen. „Gerne“, antwortete sie zu meiner Erleichterung. „Ich habe mir einige ihrer Fernsehsendungen im Internet angesehen. Sie sprechen sich alle mit Vornamen an. Sagen Sie Nami zu mir.“ Sie verneigte sich leicht im Sitzen, und ich machte es ihr nach und streckte ihr dann noch in deutscher Sitte die Hand hin. Sie ergriff sie ohne Zögern. Ihre Hand war kühl und trocken, und ihr Griff war fest, doch ohne unangenehm zu sein. Länger als angemessen hielten wir unsere Hand, und ich war mir nicht sicher, ob es nur war, weil es eine ungewohnte Geste für sie war. Ich hatte schon festgestellt, dass ihre Landsleute sich nicht leicht taten mit dieser deutschen Sitte: Sie hielten die Hand zu fest, zu locker, zu lang oder schüttelten zu stark – ähnlich wie mir die Nuancen ihrer Verbeugungen ein Rätsel blieben. Sie sah mir dabei so tief in die Augen, dass sie bis in mein Innerstes zu blicken schien. Ihre Augen waren von einem dunklen Braun, wie nasser Torf in der Sonne. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, hier fand noch mehr statt als nur Händeschütteln mit Blickkontakt. Es war eher wie eine intensive Kontaktaufnahme. Aber es war kein ungutes Gefühl. „Wie kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie und ließ mich und meine Hand wieder los. „Ich tue alles für Tatsuomi-sama.“ Sie sagte das in so großem Ernst, dass ich es ihr ohne weiteres glaubte. „Ich habe Tatsuomi gestern Nacht in der Küche getroffen, wo er heimlich und unter Tränen ein wenig Reis gegessen hat. Ich habe mich mit ihm unterhalten, und er machte einen ganz verzweifelten Eindruck. Ich verstehe noch nicht, warum. Hat er Ihnen gegenüber denn mal geäußert, warum er nicht essen will? Er scheint zu Ihnen ganz besonders Vertrauen zu haben.“ „Leider nein. Er sagt partout nicht, was los ist. Kaoruko und ich haben alles Mögliche schon versucht, aber er schweigt einfach.“ „Hat er Ihnen gegenüber jemals geäußert, ob ihm etwas weh tut? Oder haben Sie irgendetwas beobachtet, das darauf hin deutet?“ Nami überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete. „Da ist mir nichts aufgefallen, und gesagt hat er auch nichts. Er weint manchmal ohne besonderen Anlass, und dann dieses Daumenlutschen… Aber sonst? Nein. Allerdings heißt das nichts. Er wurde von frühester Kindheit an darauf gedrillt, hart zu sein und keinen Schmerz zu zeigen. Das ist in diesem Haus Tradition, und das wird ihm ja auch so vorgelebt.“ „Hm. Seit wann arbeiten Sie denn schon bei der Familie?“ „Seit vier Jahren. Allerdings kenne ich Akihito-sama schon wesentlich länger. Er hatte denselben Aikido-Lehrer wie ich.“ „Wie alt waren Sie da?“ „Fünf oder sechs.“ Sie lachte verlegen. „Und ich fand ihn einfach toll! Er war natürlich einer der besten. Allerdings wirkte er immer so traurig, zumindest habe ich ihn so gesehen. Nach außen zeigte er sich zornig und arrogant. Aber ich konnte hinter diese Maske sehen. Ich habe richtig für ihn geschwärmt. Wie junge Mädchen das eben tun.“ „Wie nah kamen Sie sich denn?“ „Ach, gar nicht!“ lachte sie. „Er hat mich natürlich überhaupt nicht beachtet. Viele Mädchen himmelten ihn an, und ich stand ja gesellschaftlich weit unter seiner Würde. Er hat nur einmal mit mir gesprochen damals.“ Jetzt wurde sie sehr ernst und machte eine Pause. „Da hat er sich vor einem Wettkampf hinter einem Baum übergeben müssen. Ich bekam das mit, weil ich ihn ständig heimlich beobachtete, und ich ging zu ihm. Er fuhr mich unfreundlich an und wollte mich gleich wieder weg schicken. Aber ich blieb. ‚Hast du geweint?’ fragte ich ihn. ‚Nein’, sagte er, und dann brach er plötzlich in Tränen aus. Seine Mutter hatte sich getrennt und war einfach gegangen, erzählte er. Die Kinder hatte sie ohne Abschied zurück gelassen. Da waren wir zehn, das weiß ich noch genau, weil das einen Tag vor meinem Geburtstag war. Auch was er noch sagte, weiß ich noch genau: Sein Vater würde ihn schlagen, wenn er den Wettkampf verlieren sollte. Er sagte, er hasse das Training. Dann rannte er fort. Danach hat er mich natürlich erst recht ignoriert. Ich verstehe das. Das muss sehr peinlich für ihn gewesen sein, vor einem fremden Mädchen zu weinen… Ich weiß nicht einmal, ob er mich wieder erkannt hat, seit ich hier arbeite. Ich glaube nicht.“ Wir schwiegen eine Weile und blickten in die perfektionierte Ruhe des Steingartens. „Akihito hat eine entsprechende Bemerkung über seinen Vater gemacht“, sagte ich schließlich. Langsam verstand ich Akihitos Wut, die sich am Vorabend so deutlich gezeigt hatte. Er hatte allen Grund, auf seinen Vater wütend zu sein, und es war eine sehr alte Wut. „Ich habe eigentlich nicht mitbekommen, dass er seine Kinder schlug, seit ich hier im Hause bin“, erzählte Nami weiter. „Bis auf einmal. Da hat er den jüngsten Sohn, Koji-sama, regelrecht verprügelt. Er war so wütend und hat so laut gebrüllt, dass es im ganzen Haus zu hören war. Es ging um eine Mädchengeschichte. Es gab ständig Ärger mit Koji. Hirose-sama ist dazwischen gegangen, und Koji-sama ist weggelaufen. Das war kurz bevor sein Vater ihn schließlich hinaus warf. Da war er sechzehn, glaube ich. Aber er wäre wohl sowieso nicht zurückgekommen. Er hasst dieses Haus. Nach Nanjo-samas Tod kam er für eine Weile zurück. Er erbte auch den Titel des Familienoberhaupts und die Leitung des Dôjô. Das hat alle überrascht. Inzwischen hat er auf sein Erbe verzichtet und ist wieder verschwunden. Er ist jetzt Sänger.“ „Was war so überraschend an dem Testament?“ „Naja, der Vater hatte ja vorher noch lautstark verkündet, Koji wäre enterbt und eine Schande für die Familie. Und dazu kommt, dass der Titel eigentlich an den Erstgeborenen gehen müsste. Aber Hirose bekam nur die Firma.“ „Ah.“ Das war ja interessant. Das hatte Akihito also gemeint, als er gesagt hatte, hier laufe in letzter Zeit einiges drunter und drüber. „Dann konnte Hirose aber doch noch sein Erbe antreten? Weil Koji verzichtet hat?“ Nami schüttelte lächelnd den Kopf. „Man merkt, dass Sie Hirose-sama nicht gut kennen. Er hält sich strikt an den letzten Willen seines Vaters. Und der besagt, er soll die Firma leiten. Akihito ist zweiter Geschäftsführer, kommt also auch nicht in Frage. Tatsuomi ist noch zu jung. Keine Ahnung, was Hirose-sama jetzt vorhat. Aber irgendetwas muss ihm einfallen, denn im schlimmsten Fall geht das Dôjô an einen anderen Zweig der Familie, und das käme einer Katastrophe gleich. Die Schule ist seit vielen Generationen in gerader Linie weitervererbt worden, immer an die besten Schwertkämpfer der Familie.“ „Und ausgerechnet jetzt macht Tatsuomi Schwierigkeiten.“ Kein Wunder, dass Hirose keine Geduld hatte. „Ich weiß nicht, ob sein Großvater ihn geschlagen hat“, nahm Nami den Faden wieder auf. „Aber das Training mit ihm ist schon ganz schön hart gewesen, das war nicht zu übersehen. Der Junge hatte öfters riesige blaue Flecken, manchmal auch kleinere Platzwunden. Aber er war eher stolz auf diese Blessuren. Beklagt hat er sich nie. Und das hat ja jetzt auch aufgehört, seit der Großvater tot ist.“ „Hm“, machte ich. „Und seit wann ist der Junge so verändert? Kaoruko sagte etwas von einem Krankenhausaufenthalt als sie im Ausland war, und danach sei er plötzlich so merkwürdig gewesen. Wie haben Sie das wahrgenommen? Hat er Ihnen vielleicht etwas über das Krankenhaus erzählt? Und ob da etwas vorgefallen ist?“ „Nein. Aber es stimmt. Ich hatte Kaoruko-sama nach Boston begleitet. In dieser Zeit war der Unfall. Bevor wir in die Staaten geflogen sind, war alles soweit in Ordnung. Tatsuomi-sama war wirklich anders. Er war immer ein fröhliches, freundliches Kind. Sehr ehrgeizig, ganz der Vater.“ Sie lächelte, um gleich wieder ernst zu werden. „Und eigentlich ist er sehr selbstbewusst und war nie so aufbrausend und hat nicht so viel geweint wie jetzt. So benimmt er sich erst, seit wir wieder zurück sind. Kaoruko-sama macht sich Vorwürfe, weil sie nicht sofort zurückgekommen ist. Aber Hirose-sama hatte ihr gesagt, sie solle den Besuch nicht abbrechen, Tatsuomi-sama wäre schon zu Hause, bevor sie hier sein könnte. Es sei nichts Schlimmes geschehen, nur ein kleiner Unfall beim Aikido.“ Das hatte Kaoruko mir auch erzählt. Der Junge hatte sich den Rücken geprellt und war zur Beobachtung oder weitere Untersuchungen zwei Tage im Krankenhaus geblieben. Das könnte vielleicht ein Trauma auslösen in dem Alter. Dann allerdings würden pädagogische Ratschläge nicht ausreichend sein. „Aber es ist merkwürdig.“ Nami senkte die Stimme und neigte den Kopf zu mir, damit ich sie trotzdem hören konnte. „Tatsuomi-sama macht seit seinem dritten Lebensjahr Bushido, Kampfsport. Und das war nicht seine erste Verletzung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn das so verändert hat. Und die Probleme gingen ja auch erst richtig los, als er wieder in die Schule sollte, aber nicht wollte. Und dann musste. Das war ein Drama! Hirose-sama war natürlich unerbittlich. Und seitdem wird es nur immer schlimmer. Dabei geht er jetzt doch nicht mehr in die Schule, und dafür können sie überhaupt nicht mehr normal miteinander umgehen.“ „Wie war denn das Verhältnis vorher zwischen den beiden?“ fragte ich. Sie überlegte sich die Antwort einen Moment. „Naja, viel Zeit hatte Hirose-sama natürlich nicht für ihn. Aber er war immer freundlich zu dem Jungen. Er kann eigentlich ganz gut mit Kindern, das war mir schon damals aufgefallen, wie er sich um Akihito gekümmert hat. Hirose-sama ist ja deutlich älter, sieben Jahre. Und Tatsuomi-sama war immer eifrig bemüht, seinem Vater zu gefallen und alles richtig zu machen.“ „Akihito meinte, Hirose hätte sich verändert seit dem Tod ihres Vater“, warf ich ein. „Ja, das stimmt auch“, sagte Nami ohne Zögern, sprach jetzt aber noch leiser. „Das Testament muss ein Schock für ihn gewesen sein. Er ist tagelang wie versteinert gewesen. Nicht so sehr, weil er nicht den Titel bekommen hat, denke ich. Sondern wegen der Bedeutung, die dahinter steht: Die Zurückweisung. Ich kann natürlich nur so sagen, wie ich das sehe. Er hat sein rechtmäßiges Erbe abgetreten an den jüngsten Bruder und sich völlig zurückgezogen. Sicherlich ist für ihn auch viel zu tun in der Firma, jetzt wo er der Direktor ist. Meinen Sie, Tatsuomi benutzt den Unfall und sein Verhalten, um wieder mehr Aufmerksamkeit zu bekommen?“ „Ich weiß es nicht“, sagte ich ehrlich. „Ich glaube nicht. Aber ich muss erst noch mit Hirose sprechen und dann mit Tatsuomi. Danach weiß ich hoffentlich mehr.“ Das Gespräch mit Nami tat mir gut. Ich traute ihr durchaus eine gute Beobachtungsgabe zu, und auch, dass sie die richtigen Schlüsse daraus zog. Sie hatte eine angenehm offene Art, auf meine Fragen zu antworten, die mir in diesem Haus zum ersten Mal begegnete. Selbst Kaoruko hatte mir nur einen oberflächlichen Einblick gewährt bisher. Dank Nami bekam ich endlich ein tieferes Bild von der Familienstruktur. Es war mir immer wichtig, auch die Eltern zu verstehen. Und der Großvater mochte gestorben sein, sein Einfluss in diesem Haus war es noch lange nicht. Kapitel 7: Erste Schwierigkeiten -------------------------------- Hirose empfing mich in seinem Arbeitszimmer. Kurauchi-san, sein persönlicher Leibwächter, Namis Kollege und Vorgesetzter, holte mich am Steingarten ab. Nami raunte mir die Information zu, als sie ihn auf uns zu kommen sah. Die Zeit mit ihr war rasend schnell vergangen. Sie hatte auch mir einige Fragen gestellt, und als ich ihr von meinen eigenen vier Söhnen in Berlin erzählt hatte, erwies sie sich als aufmerksame Zuhörerin. Zwischendurch hatten wir auch minutenlang miteinander geschwiegen und auf den Stein gestarrt, ohne dass diese Pausen unangenehm geworden wären. So kam ich sogar zu meiner dringend benötigten Zeit, meine Gedanken zu sortieren. Kurauchi war der gleiche Mann, der Tatsuomi gestern beim Waschen so eisern festgehalten hatte. Irgendetwas hatte er an sich, das mir unheimlich war, obwohl er mich sehr höflich ansprach und durch das Labyrinth der Gänge und Zimmer geleitete. Er hatte markante harte Gesichtszüge, noch betont durch seine kurzen Haare und den fast eckigen Schnitt seines Anzugs. Passend dazu trug eine ernste, fast finstere, und undurchdringliche Miene zur Schau. Also, was mich betraf, mir würde allein sein Anblick reichen, um von einem Überfall auf Hirose abzusehen. Zum Glück hatte ich ja nichts dergleichen vor. Und er ließ uns auch sofort allein, als ich das Arbeitszimmer betrat. Der Raum war erstaunlicherweise in westlichem Stil eingerichtet. Hirose saß hinter einem riesigen Mahagoni-Schreibtisch und hatte gleich mehrere Computermonitore vor sich. Er stand auf und führte mich zu einer kleinen Sitzgruppe mit modernen, aber trotzdem gemütlichen Sesseln. Von hier wurde der Blick in den kleinen Garten im Innenhof des Wohnkomplexes gelenkt und ließ die Firmengeschäfte vergessen. Ein Teil der Außenwand war dazu geöffnet worden. Er ließ mich Platz nehmen und setzte sich mir gegenüber. Auf dem kleinen Tisch zwischen uns dampfte frisch eingeschenkter grüner Tee, der hier anscheinend bei keiner Gelegenheit fehlen durfte. Er bot mir eine Zigarette an, die ich natürlich ablehnte, und zündete sich selbst eine an. „Was möchten Sie nun von mir wissen?“ fragte er, nachdem er einen tiefen Zug genommen hatte. „Was kann ich beantworten, das Sie nicht mit meiner Frau besprechen könnten? Sie ist eine gute Mutter.“ „Das ist auf jeden Fall richtig“, sagte ich und war etwas überrascht, dass er meinte, sie vor mir in Schutz nehmen zu müssen. Ich ließ mich von seinem unterschwellig angriffslustigen Ton jedoch nicht beeindrucken. Ich wollte gleich zum Thema kommen: „Sie hat mir von Tatsuomis Aikido-Unfall erzählt. Könnte sein jetziges Verhalten denn damit zu tun haben, was meinen Sie?“ „Nein. Er hat sich den Rücken geprellt, aber es war nichts gebrochen. Keine große Sache.“ „Wie war das denn im Krankenhaus? Hatte er Angst? Waren da vielleicht schmerzhafte Untersuchungen?“ „Nein. Alle waren ganz vorsichtig und nett zu ihm. Außerdem war ich die meiste Zeit dabei.“ „Das ist gut“, sagte ich. „Also ist Ihnen dort nichts Besonderes aufgefallen?“ „Nein.“ „Hm. Und könnte es vielleicht sein, dass er noch Schmerzen hat? Auch das wäre eine mögliche Erklärung.“ „Nein. Er ist mehrmals untersucht worden. Es ist alles gut verheilt, alles in Ordnung.“ „Naja, körperlich“, wandte ich ein. „Ansonsten ist nicht viel in Ordnung, finde ich. Haben Sie ihn auch psychologisch untersuchen lassen?“ „Mein Sohn braucht keinen Psychiater! Machen Sie hier Ihre Arbeit, und lassen Sie den Rest ruhig meine Sorge sein.“ „Ich mache meine Arbeit. Aber dazu brauche ich Ihre Mithilfe“, sagte ich freundlich. Ich hatte nicht erwartet, dass das Gespräch mit ihm einfach werden würde. „Auf mich macht Ihr Sohn einen sehr verzweifelten und, ja, verstörten Eindruck. Und ich kann mir nicht recht erklären, warum das so ist. Haben Sie eine Erklärung?“ „Nein. Ich dachte, Sie könnten uns sein Verhalten erklären.“ Ich ignorierte seinen Sarkasmus. „Ich kann Ihnen nur sagen, was ich sehe. Und ich sehe einen achtjährigen Jungen, der in großer Not ist. Er ist unglücklich und verzweifelt, und er hat Angst. Wovor hat er Angst, Mr. Nanjo?“ „Er steigert sich da doch nur in etwas hinein! Er hat keinen Grund, Angst zu haben. Er soll sich nicht so anstellen!“ „Es tut mir leid, Mr. Nanjo, aber ich muss Sie das jetzt fragen. Schlagen Sie Tatsuomi? Oder haben Sie ihn geschlagen?“ „Wie bitte? Wie kommen Sie darauf!“ „Akihito machte eine Bemerkung in dieser Richtung über Ihren Vater.“ „Und was hat das jetzt mit mir zu tun?“ „Ich möchte nur nichts übersehen. Wie ist denn Ihr Vater mit Ihnen und Ihren Geschwistern umgegangen?“ „Das tut hier überhaupt nichts zur Sache. Ich werde nicht schlecht über meinen Vater reden!“ „Das verstehe ich. Und ich möchte klarstellen, dass es mir nicht darum geht, irgendwelche Schuldzuweisungen zu machen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob Sie sich bewusst sind, wie Ihr Verhalten auf Ihren Sohn wirkt. Sie reden sehr laut und sehr unfreundlich mit ihm, und das gerade in Situationen, die sehr schwierig für ihn sind. Ihre Vorgehensweise beim Waschen gestern zum Beispiel empfand ich als sehr Angst auslösend. Und in so einem Moment, wenn Tatsuomi sowieso Angst hat, ist das überhaupt nicht angebracht. Ich frage mich, ob das vielleicht die einzige Art ist, mit schwierigen Situationen umzugehen, die Sie kennen. Wenn das so ist, sollten Sie sich fragen, woher Sie das kennen, und wie sie sich dabei gefühlt haben. Und dann für sich noch mal überprüfen, ob Sie das wirklich genau so möchten.“ Er schwieg und sah mich an. Dann nahm einen letzen Zug und drückte die Zigarette aus. „Ich möchte nicht die gleichen Fehler machen wie mein Vater“, sagte er, und die Aggressivität war jetzt aus seiner Stimme verschwunden. „Ich sehe ja, was mit meinen Brüdern passiert ist. Sie hassten ihn, und das Joto-Dôjô bedeutet Ihnen nichts. Ich möchte nicht, dass dasselbe mit Tatsuomi geschieht. Er ist der einzige Erbe unserer Schwertlinie und wird zusätzlich später den Konzern leiten.“ „Ich kann mir vorstellen, dass das ganz schön viel Druck ist, der auf ihm lastet.“ „Als ich in seinem Alter war, ging es mir zumindest so. Ich wurde hart auf meine Aufgabe hin gedrillt. Aber ich war zufrieden. Das war meine Mission. Es war ein ungeheurer Druck, ja. Aber es war auch ein unglaubliches Gefühl von Stolz und Überlegenheit. Mein einziges Lebensziel war, den Erwartungen gerecht zu werden.“ * „Ich denke, Tatsuomi geht es da ganz ähnlich. Und im Moment sollten Sie versuchen, ihn zu unterstützen. Und nicht noch mehr Druck machen.“ Ich war mit dem Verlauf des Gesprächs ganz zufrieden. Hirose hatte zwar anfänglich ein wenig geblockt, aber es war auch für ihn gerade nicht leicht. Dank Nami wusste ich ja, dass er emotional sehr belastet war, und durch seine Äußerungen über seine Brüder wurde mir auch noch deutlicher, wie sehr ihn das Testament seines Vaters gekränkt haben musste. Er war der einzige, dem an der Schwertschule lag, der sein Herzblut hinein gab, und ausgerechnet er bekam sie nicht. Und obwohl ich ihn als sehr verschlossenen Mann erlebte, hatte er sich doch ein klein wenig geöffnet und mir einen kurzen Blick hinter die Fassade erlaubt. Er gab selbst zu, dass er in Bezug auf seinen Sohn in eine Sackgasse geraten war, wo es nicht weiter ging. Er war bereit, sich meine Vorschläge anzuhören und es anders zu versuchen. Das war ein guter Anfang. Viel mehr konnte ich von ihm momentan wohl nicht erwarten. Das Mittagessen verlief schon etwas entspannter als die vorigen Mahlzeiten. Diesmal waren außer mir nur die Eltern und Tatsuomi anwesend. Tatsuomi und ich beteiligten uns jetzt beim „Itadaki-masu“, und Tatsuomi aß wieder seine zwei Pflichthappen. Sorgsam legte er dann die Stäbchen wieder auf den Tisch und sah zu seinem Vater. So ganz traute er dem Frieden anscheinend nicht. Aber Hirose nickte anerkennend und fragte, wie der Unterricht am Vormittag gewesen sei. Ich war froh, dass er meine Vorschläge gleich umsetzte und versuchte, wieder ein wenig Normalität herzustellen. Er war also tatsächlich willens, mitzuarbeiten, auch wenn er viele meiner Fragen nicht beantwortet hatte. Tatsuomi war erst sichtlich verunsichert und sah vor seinen Antworten immer wieder zu seiner Mutter oder zu mir. Er redete ganz leise und konnte Hirose dabei fast nicht ansehen. Manchmal fehlte ihm eine englische Vokabel, aber ich fand es dennoch erstaunlich, wie gut er schon die fremde Sprache beherrschte. Anscheinend war der Unterricht nicht so gut verlaufen. Er hatte sich die Schriftzeichen nicht merken können. Der Lehrer war unzufrieden mit ihm gewesen. Ich fand es mutig von Tatsuomi, dass er es trotzdem erzählte und sagte das auch. „Loben Sie ihn, sooft sie können“, fügte ich noch hinzu. „Das stärkt das Selbstvertrauen.“ Es war schön zu beobachten, wie Tatsuomi zusehends auftaute und sich ein ganz normales Familiengespräch daraus entwickelte. Kinder reagieren meist sehr schnell schon auf leiseste Veränderungen, und Tatsuomi war da keine Ausnahme. Es war auch gut für die Motivation der Eltern, wenn sich die ersten Erfolgserlebnisse einstellten. Aber ich hatte noch immer keine Ahnung, was genau mit dem Jungen los war. Dennoch hatte ich vor, ihm im Rahmen meiner Möglichkeiten so gut es ging zu helfen. Dazu war es jetzt auch wichtig, mit ihm allein zu sprechen. Was seine Eltern von ihm erwarteten, war mir inzwischen hinreichend bekannt. Aber was konnte ich für Tatsuomi tun? Kapitel 8: Tatsuomi ------------------- Nach dem Essen gingen wir gemeinsam in sein Zimmer. Der Futon war verschwunden, und es lagen große Sitzkissen auf dem Boden. Er bot mir einen Platz an und setzte sich mir gegenüber, schon jetzt der perfekte Gastgeber. Ich hatte gebeten, ob Nami sich in unserer Nähe aufhalten könne, falls Tatsuomi und ich ernsthafte Sprachprobleme bekommen sollten. Mir war wichtig, dass das Gespräch wirklich ohne Eltern stattfand. Nami wartete im Gang vor dem Zimmer, falls wir sie brauchen würden. „Jetzt habe ich euch alle schon ein bisschen kennen gelernt“, begann ich. „Ich stelle mir das für dich hier ganz schön schwierig vor. Deine Eltern möchten ja, dass du später die Firma und die Schwertschule übernehmen sollst. Wie geht es denn dir so damit?“ „Ich will das auch“, sagte Tatsuomi ernst. „Darum…“ Er suchte nach den richtigen Worten. „Darum mache ich richtiges Training! Ich will ein guter…“ Das nächste Wort verstand ich nicht, entweder war es japanisch oder zumindest so japanisch ausgesprochen, dass es für meine europäischen Ohren absolut unverständlich war. „… werden. Wie mein Vater! Ich bin der einzige…“ Wieder japanisch. So funktionierte das nicht. Ich konnte mir zwar zusammenreimen, was er sagte, aber mir war die Gefahr von Missverständnissen zu groß. „Tatsuomi, hast du etwas dagegen, wenn ich jetzt schon Mi-san herein hole, damit sie uns helfen kann beim Übersetzen? Leider ist mein Japanisch nicht so gut wie dein Englisch.“ Ich holte sie herein. Bevor sie sich setzte, verneigte sie sich vor dem Jungen. Und er nickte huldvoll. Ich dachte an die Worte seines Vaters, an dieses Gefühl von Stolz und Überlegenheit. Er hatte es anscheinend geschafft, das eins zu eins auf seinen Sohn zu übertragen. Tatsuomi bewunderte seinen Vater, vergötterte ihn geradezu. Daneben verblasste seine Mutter beinahe, obwohl sie sich so liebevoll um ihn kümmerte. Wahrscheinlich schien sie ihm genauso machtlos gegenüber seinem tonangebenden Vater wie er, oder weswegen konnte er sich mit seinen Ängsten ihr nicht anvertrauen? Weil er genau spürte, dass sie ihm keine Hilfe wäre? Das Gespräch verlief jetzt wesentlich besser, Nami konnte ihm immer augenblicklich die fehlenden Vokabeln liefern, und meine Worte übersetzte sie ihm vorsichtshalber komplett. Ich fragte ihn, was er sich denn wünschen würde, und über seine Antwort musste ich schmunzeln. „Da möchtest du ja genau das gleiche wie deine Eltern. Dann schaffen wir das ja auf jeden Fall.“ Er hatte tatsächlich nur so Sachen gesagt wie „nicht mehr so viel weinen“, „wieder trainieren“, „wieder in die Schule gehen“ und „gehorsamer sein“. Ich wurde jedoch sofort wieder ernst. „Ich sehe ja, dass du dir viel Mühe gibst. Aber im Moment geht es dir nicht so gut, oder?“ Er starrte zu Boden und nickte. „Was können wir denn tun, damit es dir etwas besser geht? Hast du eine Idee?“ Er zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. „Hättest du vielleicht gern mehr Zeit zu spielen?“ schlug ich vor. „Deine Mutter hat mir erzählt, dass du ganz viele verschiedene Sportarten machst, dann der Englisch-Unterricht und Kalligraphie… also, ich fände das ganz schön anstrengend an deiner Stelle, glaube ich. Wie ist das denn für dich?“ „Ich möchte mich anstrengen. Manchmal spiele ich, das ist genug.“ Ein wenig mehr von dieser Einstellung wünschte ich mir gelegentlich für meine Jungs zu Hause. Aber ich fand es traurig, dass Tatsuomi es gar nicht anders kannte. In dieser Familie mussten irgendwie alle perfekt sein: Kaoruko die perfekte Frau und Mutter, Hirose der perfekte Geschäftsmann und Familienvater, Tatsuomi der perfekte Sohn und Erbe, und alle gaben sich jede Mühe, die hohen Erwartungen zu erfüllen. „Komm schon“, sagte ich scherzhaft. „Es muss doch etwas geben, das du dir wünschst?“ Er überlegte angestrengt, doch es dauerte eine Weile, bis ihm etwas einfiel. Er sah erst zu Nami und wartete auf ihr zustimmendes Nicken, bevor er mir antwortete. Und dann sagte er, was sich alle Kinder wünschten, deren Väter kaum zu Hause waren: „Es wäre schön, wenn Papa mehr Zeit hätte.“ Er sah mich an, als hätte er etwas Ungeheuerliches geäußert. Ich lächelte ihn an. „Ja, das kann ich gut verstehen. Und was würdet ihr dann machen?“ „Trainieren!“ kam es wie aus der Pistole geschossen. Ich musste lachen. „Du bist wirklich unglaublich, Tatsuomi. Dein Vater kann richtig stolz auf dich sein. Aber was würdest du denn sonst gern machen? Vielleicht etwas, das ihr noch nie…“ Ich unterbrach mich, denn Tatsuomi verzog auf einmal schmerzhaft das Gesicht. „Was ist los?“ „Nichts“, sagte er. „Entschuldigung, ich muss mal.“ Er stand auf und verließ rasch das Zimmer. Ich wechselte mit Nami einen alarmierten Blick, dann ging ich ihm hinterher. Ich wusste, dass die Toilette am Ende des Ganges war, und sah auch tatsächlich den Jungen gerade noch hineingehen. Ich war mir noch gar nicht klar, was ich eigentlich vorhatte, nur, dass ich endlich wissen wollte, was mit ihm los war, aber da stellte sich mir Nami plötzlich in den Weg. „Katia-san, Sie können unmöglich dem jungen Herrn dorthin folgen!“ Ich blieb stehen, auch weil mir gerade klar wurde, dass sie sich im Dienst befand, und mich fragte, ob sie auch während des Gesprächs auf dem Gang gestanden hätte, wenn ich sie nicht als Dolmetscherin erbeten hätte. „Ich möchte mich nur vergewissern, dass alles in Ordnung ist“, erklärte ich. „Ja“, sagte sie. „Ich mache das.“ Als sie sicher war, dass ich mich nicht vom Fleck rührte, ließ sie mich stehen und klopfte leise an die geschlossene Tür. Obwohl Tatsuomi sie nicht sehen konnte, verneigte sie sich und fragte etwas auf Japanisch. Dann kam sie wieder zu mir. „Er sagt, alles ist in Ordnung. Wir sollen im Zimmer auf ihn warten. Mehr können wir nicht machen“, fügte sie entschuldigend hinzu. „Ich kann höchstens seine Eltern benachrichtigen.“ „Nein“, sagte ich schnell und ging wieder zurück in das Kinderzimmer. Ich hatte keine Ruhe, mich zu setzen. Nami ging es wohl ähnlich, denn sie blieb in der Tür stehen und ließ die Toilette nicht aus den Augen. „Sollten wir nicht doch Bescheid sagen?“ fragte sie leise. „Wenn er Schmerzen hat…“ „Hirose weiß es“, sagte ich. Überrascht ruckte ihr Kopf zu mir herum, und obwohl ich ihr ansah, dass sie hundert Fragen hatte, schwieg sie. Ich hatte sowieso keine Antworten, leider. Zwischen ihren Augen erschien eine kleine, steile Falte, dann sah sie wieder den Gang hinunter. Wir schwiegen. Ich betrachtete sie. Alles an ihr war so zart und filigran: die harmonisch geschwungene Linie ihrer Augenbrauen, die schlanken Finger, der weiche Mund. Und doch strahlte sie Kraft und Selbstbewusstsein aus durch ihre aufrechte Haltung und ihre entschlossenen Bewegungen. Ich fand diese Kombination sehr ungewöhnlich, aber sehr anziehend. „Das dauert aber lange“, sagte ich schließlich mit Blick auf die Uhr. Nami drehte in einer hilflosen Geste die Handflächen nach oben. „Ich habe klare Anweisungen. Soll ich noch einmal hingehen?“ „Naja, geben wir ihm noch fünf Minuten“, sagte ich. „Wenn er dann noch immer nicht…“ „Er kommt.“ Sie sah ihm entgegen, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich fast unmerklich, wirkte jetzt irgendwie starr, als hätte sie eine Maske aufgesetzt. Wieder verneigte sie sich und schloss hinter ihm die Tür. Tatsuomi sah blass aus, und seine Wimpern waren nass. „Hast du geweint?“ fragte ich besorgt. Er schüttelte den Kopf, und ich war sicher, dass er log. „Komm mal her“, sagte ich sanft, setzte ihn auf eines der Kissen und mich daneben. Ich legte meine Hand auf seine. „Ich sehe doch, wie unglücklich du bist. Und ich möchte dir so gerne helfen. Aber das kann ich nur, wenn du mir sagst, was dich bedrückt. Heute Nacht hast du gesagt, dass dir etwas weh tut. Ich sage auch wirklich nichts deinem Vater, solange du nicht willst, und Mi-san sagt bestimmt auch nichts.“ Ich sah zu ihr, die sich neben der Tür hingekniet hatte. „Ich werde nichts gegen Euren Willen tun, Tatsuomi-sama“, sagte sie sehr ernsthaft. Sie legte die Hände auf den Boden und verneigte sich tief. „Ich schwöre bei meinem Leben.“ „Ich kann nicht“, sagte Tatsuomi sehr leise, und jetzt tropften dicke Tränen auf die Tatami-Matten. „Ach, du…“ Ich strich tröstend über seine Hand. „Ich würde dich jetzt gern mal in den Arm nehmen, wäre das für dich okay? Oder soll Mi-san dich in den Arm nehmen?“ fügte ich hinzu, als er nicht sofort reagierte. Er nickte, und Nami rutschte näher, damit er sich an sie schmiegen konnte. Ich war jetzt wirklich sehr erleichtert, dass Nami dabei war und mit ihr eine Person, die ihm viel vertrauter war als ich. „Warum weinst du? Warum bist du so traurig? Kannst du uns das denn sagen?“ fragte ich vorsichtig weiter, während Nami ihm mit langsamen Bewegungen über das Haar strich. „Ich will gar nicht weinen. Ich will wieder sein wie früher. Wieder normal sein. Wieder trainieren und zur Schule gehen und lernen und… ich hasse mich!“ „Nein, das sollst du nicht“, tröstete ich ihn. „Seit wann ist das denn? Früher war das nicht so, sagst du. Was meinst du mit früher? Meinst du seit diesem Unfall beim Aikido?“ Er nickte zögerlich. „Und seitdem hast du auch Schmerzen? Seit dem Unfall?“ Er nickte wieder. „Du hast dir den Rücken wehgetan, habe ich gehört. Wo denn genau?“ „Weiß nicht genau.“ „Das weißt du nicht?“ wunderte ich mich. „Du warst doch sogar deswegen im Krankenhaus und wurdest untersucht. Kannst du dich gar nicht erinnern?“ „Weiß nicht…“ wiederholte er. Dann griff er sich mit einer Hand hinten ans Becken. „Hier?“ Es klang eher wie eine Frage als eine Antwort. Ich fand das sehr merkwürdig. „Was ist denn da eigentlich genau passiert? Wie ist es zu dem Unfall gekommen?“ „Ich habe nicht aufgepasst“, sagte er flüsternd, und während er weiter sprach, wurde sein Blick unstet, und er schien uns nicht mehr wahrzunehmen. Seine Nasenflügel bebten, während seine Atemzüge kurz und holperig wurden. „Das war hinter mir… und dann war es dunkel… und dann… und dann…“ Ich sah, wie er uns entglitt und griff nach seinem Arm, aber da begann er auch schon zu schreien und um sich zu schlagen. Wir brauchten lange, den Jungen wieder zu beruhigen. „Tatsuomi, was ist los? Sieh mal bitte zu mir!“ sagte ich laut, um die Panik zu durchdringen und rüttelte seine Schulter. Er schlug mit seinem Bein meine Hand weg, zu schnell und überraschend, als dass ich hätte reagieren können. Mit einem kleinen Schmerzschrei zog ich meinen Arm zurück. Nami löste ihre Umarmung, und er Junge sank wimmernd auf dem Boden zusammen. Ich war sofort bei ihm, mein Arm war mir im Moment unwichtig. „Tatsuomi, ich bin es, Katia! Mach jetzt bitte die Augen auf und schau mich an! Es ist alles in Ordnung, du bist zu Hause, in deinem Zimmer, und Nami ist bei dir…“ Ich fasste wieder an seine Schulter, aber jetzt reagierte er überhaupt nicht auf mich. Dann war Nami neben mir und ergriff meine Hand. Sie führte meine Finger an seinen Hinterkopf wo die Wirbelsäule beginnt. „Fassen Sie hier an.“ Sie demonstrierte mir mit ihren Händen, was sie meinte, und griff selber nach seinem rechten Fuß, um auch dort bestimmte Stellen zu drücken. „Das sind Energieschlösser“, erklärte sie leise auf meinen fragenden Blick. Ich verstand nicht, was sie damit meinte, folgte jedoch ihren Anweisungen. Sie schien zu wissen, was sie da tat. Gleichzeitig redete ich weiter beruhigend auf Tatsuomi ein, und langsam wurde er tatsächlich ruhiger. Er nahm seinen Daumen in den Mund, zog die Beine an den Körper und hörte allmählich auf zu weinen. Nami ging dazu über, ihre Hände hinten auf seinen Rücken zu legen, und ich legte meine Hand auf seine Stirn und strich mit den Fingern über seine kaltschweißige Haut. Nachdem sich seine Atmung wieder völlig normalisiert hatte, er auf meine Ansprache reagierte und mich auch ansah, sagte Nami: „Holen Sie ihm bitte ein Glas Wasser.“ Keinen Augenblick nahm sie ihre Hände von ihm, wechselte aber zwischendurch die Position. Ich nickte und kümmerte mich darum. Als ich zurückkehrte, saß Tatsuomi schon wieder und trank auf unser Bitten in kleinen Schlucken das Wasser. Die ganze Szene war schon sehr erschreckend gewesen, und ich war jetzt hundertprozentig sicher, dass hier mehr als ein Erziehungsproblem vorlag. Auf mich wirkte der Achtjährige hochgradig traumatisiert, oder etwas an diesem Sportunfall hatte eine psychotische Störung verursacht. Jedenfalls musste ich dringend mit seinen Eltern darüber sprechen, dass er von Fachärzten untersucht werden sollte. Ich hoffte nur, dass ich Hirose davon würde überzeugen können. Meine Hauptaufgabe sah ich jetzt darin, den Jungen so gut es ging zu stabilisieren und ihm den alltäglichen Stress, unter dem er offensichtlich zusätzlich zu leiden hatte, erträglicher zu gestalten. Um den Jungen wieder ein wenig aufzumuntern und von den schwierigen Gefühlen abzulenken, fragte ich, ob er mir sein Dôjô zeigen wolle. Ich war froh, dass er sich darauf einlassen konnte und sich seine seelische Verfassung wieder zunehmend stabilisierte, während er mich durch das Herzstück der Familie Nanjo führte. Ich zeigte mich ehrlich beeindruckt von den vielen Schwertern, die die ganze Wand eines Raumes einnahmen und den historischen Ausführungen Tatsuomis. Hier seien die besten Samurai des Kaiserhauses ausgebildet worden, erklärte er. Der Gründer dieser Schwertschule, ich habe seinen Namen wieder vergessen, habe in irgendeiner Schlacht wohl nahezu im Alleingang eine ganze Armee von Feinden besiegt. Sein berühmtes Schwert, das Schwert der Götter, befand sich noch immer in Besitz der Familie, genauer in Hiroses Händen, und irgendwann sei es Tatsuomis Aufgabe, es in Ehren zu halten. „Ein Nationalschatz!“ sagte er stolz. Und dann zeigte er mir mit einem der hölzernen Übungsschwerter, wie man ein Katana richtig zu halten hatte. Ich ließ ihn machen, und es entwickelte sich ein kleines Schülerin-Lehrer-Spiel, das in einer abenteuerlichen Schlacht gegen feindliche Samurai, dargeboten von Nami, mündete. Die Kampfhandlungen wurden jedoch abrupt unterbrochen, als Hirose-sama den Trainingsraum betrat und Nami und Tatsuomi augenblicklich in der Bewegung erstarren ließ. „Freund oder Feind?“ fragte ich scherzend, hielt mein Schwert erhoben und zwinkerte Tatsuomi verschwörerisch zu. „Freund“, sagte Hirose ernst, aber nicht unfreundlich, und kam jetzt näher, nachdem er, sichtlich überrascht über unser ausgelassenes Spiel, am Eingang stehen geblieben war. „Sie sollten an Ihrer Grundstellung arbeiten“, sagte er und korrigierte meine Haltung. „Was ist mit Ihrem Arm?“ Ich ließ das Schwert sinken und wunderte mich, dass er etwas wahrnahm, von dem ich selbst kaum noch Kenntnis genommen hatte. Aber der Arm, gegen den Tatsuomi getreten hatte, schmerzte tatsächlich noch immer. „Ach, das… Das ist nicht so schlimm“, sagte ich leichthin. „Lassen Sie mich mal sehen, bitte.“ Sorgfältig betrachtete er meinen Arm, nachdem ich den Ärmel meines Pullis hochgeschoben hatte. Über den riesigen blauen Fleck an meinem Unterarm war ich selber verdutzt. „Besser, Sie lassen das behandeln“, sagte er und hob nur die Hand, woraufhin sogleich sein gruseliger Bodyguard wie aus dem Nichts auftauchte. Und seinen Sohn fragte er streng: „Wie ist das passiert?“ Bevor Tatsuomi reagieren konnte, mischte sich Nami ein. „Verzeihung!“ sagte sie in einer zackigen Verbeugung. „Mein Fehler, das war ich - ich war unaufmerksam! Ich werde Mrs. Saalfrank sofort zum Arzt bringen!“ Zum ersten Mal sah ich eine Regung in Kurauchis Miene, denn für einen kurzen Moment sah er Nami entgeistert an. Sie bemerkte das anscheinend ebenfalls und fügte mit zwei deutlich weniger zackigen Verbeugungen in meine und Hiroses Richtung hinzu: „… wenn Sie und Saalfrank-san einverstanden sind...“ In dem Augenblick betrat auch Nadeshiko das Dôjô und begrüßte Hirose und mich. Tatsuomi wuschelte sie liebevoll durch das Haar. „Du kannst hier vorne sitzen“, dirigierte sie ihn an den Rand. „Hier kannst du alles gut sehen.“ Hirose nickte mir zu. „Midorikawa-san wird sich um Sie kümmern.“ Ich fand zwar, dass ein blauer Fleck eine ärztliche Untersuchung nicht rechtfertigte und hätte mir wirklich gerne das Training angesehen. Aber Nami schien es wichtig zu sein, mit mir zu gehen, also folgte ich ihr. Tatsuomi kam hinter uns her gelaufen und holte uns vor dem Ausgang ein. „Saalfrank-san! Mir ist noch etwas eingefallen!“ Ich beugte mich zu ihm hinunter, und er flüsterte in mein Ohr: „Ich hab doch noch einen Wunsch! Ich möchte wieder mit Hotsuma spielen. Geht das?“ „Wer ist denn Hotsuma?“ fragte ich. „Mein Freund.“ „Ich dachte, Ihr wolltet nicht mehr mit ihm spielen?“ fragte Nami erstaunt. Tatsuomi schüttelte den Kopf und sagte noch leiser: „Er darf nicht. Sagt sein Vater… Ich muss jetzt zurück!“ Er sauste wieder an seinen zugewiesenen Platz. Wenigstens war er jetzt wieder fröhlicher. Dafür stand zwischen Namis Augenbrauen wieder diese kleine, steile, fragende Falte. Kapitel 9: Unkonventionelle Methoden ------------------------------------ „Was ist mit Hotsuma?“ fragte ich, als wir in Namis Wagen saßen. „Kennt er ihn aus der Schule?“ „Nein“, sagte sie, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. Wir saßen in ihrem Privatwagen, einem schwarzen, sportlichen Mazda. „Sie sind quasi zusammen aufgewachsen. Hotsuma ist Kurauchis Sohn. Er ist dreizehn.“ „Ah“, machte ich. „Warum verbietet er den beiden, zu spielen?“ „Ich habe keine Ahnung“, sagte Nami mit Nachdruck und kaute an ihrer Unterlippe. „Aber ich werde es in Erfahrung bringen.“ Sie malträtierte die Kupplung und haute die Gänge rein, als könnten die ihr Auskunft geben. Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Ich schaute hinaus in den Tokyoter Straßenverkehr und auf die fremdartigen Beschriftungen. So musste man sich als Analphabetin fühlen. Der Hausarzt, Dr. Emoto, entpuppte sich als alter Herr, der uns äußerst freundlich in Empfang nahm. Er wirkt, als betreue er die Familie Nanjo bereits seit Gründung des Dôjô, aber ich hätte unmöglich schätzen könne, wie alt er wohl wirklich sein mochte. Nami raunte mir zu, dass Hirose unser Kommen bereits angekündigt habe und machte keinerlei Anstalten, mir und dem Doktor in das Behandlungszimmer zu folgen. Nachdem er die Tür sorgfältig hinter uns geschlossen hatte, überraschte er mich, indem er durchaus passables Deutsch sprach, was er mit einem mehrjährigen Medizinstudium an der Heidelberger Universität erklärte. Ich versuchte behutsam, von ihm Informationen über Tatsuomis Aikidoverletzung zu erlangen, während er mir Akupunkturnadeln ins Ohr stach und einen streng nach Kampfer riechenden Salbenverband gewissenhaft um den Unterarm legte. Doch er lächelte nur liebenswürdig und redete sich geschickt am Thema vorbei. Meine Vermutung, dass die Fahrt hierher genau den Grund hatte, den Arzt über Tatsuomi auszuhorchen, bestätigte sich, als wir wieder im Wagen saßen. „Konnten Sie etwas über Tatsuomi-sama erfahren?“ fragte Nami, kaum dass die Türen geschlossen waren. „Leider nein“, sagte ich bedauernd. Sie nickte und fuhr los. „Der Alte ist ein harter Brocken.“ Sie wirkte keineswegs enttäuscht. „Ich habe in der Zwischenzeit mit Tatsuomis Aikidotrainer telefoniert. Er weiß nichts von einem Vorfall beim Training. Im Gegenteil: Er empörte sich über die Vorstellung, einer seiner Schüler hätte sich ernsthaft verletzt, und er hätte davon nichts mitbekommen. Er versicherte mir, wenn ein Schüler nach dem Training ins Krankenhaus gekommen wäre, würde er davon wissen. Er erinnerte sich noch sehr genau an Tatsuomis letztes Training, weil sie da ein kleines Turnier mit Schülern aus Kanagawa veranstalteten.“ „Aber warum reden dann alle von einem Unfall beim Training, wenn das nicht stimmt?“ fragte ich. Ein kleines triumphierendes Lächeln umspielte Namis Lippen. „Vielleicht finden wir hier die Antwort.“ Sie öffnete mit einer Hand ihre Jacke und zog ein Bündel Papiere heraus. „Das hab ich aus Tatsuomis Krankenakte.“ „Sie sind an die Arztunterlagen gegangen?“ Ich starrte fassungslos ihr Profil an, während ich mechanisch die Papiere entgegennahm. Sie ließ einen kleinen Moment den Straßenverkehr aus den Augen, um mir einen Blick zuzuwerfen. „Unkonventionelle Probleme verlangen unkonventionelle Lösungen“, sagte sie, als würde sie jemanden zitieren, und ich fragte mich, an wen sie wohl gerade dachte. Ihr Finger trommelte auf den schwarzen Kunstlederbezug des Lenkrads. Egal, wie abgebrüht sie tat, sie war eindeutig nervös. „Nun“, sagte ich unbehaglich und wog die Papiere in meiner Hand. „Wo wir sie schon einmal haben… Aber ich werde mich auf keinerlei Lügengeschichten oder Ähnliches einlassen! Wenn das heraus kommt…“ „So etwas habe ich nicht vor“, unterbrach sie mich mit sanfter Stimme und umfasste das Lenkrad fester. „Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Sie parkte den Wagen vor einem riesigen Supermarktkomplex, schnallte sich ab und holte einmal tief Luft. Ich gab ihr die Unterlagen und beobachtete mit Spannung, wie sie die Notizen des Arztes überflog. „Hier steht das mit dem Sportunfall“, kommentierte sie, was sie las. „Aber Dr. Emoto hat ihn nicht deswegen behandelt…“ Sie schwieg kurz und blätterte eine Seite vor und zurück. „Das Krankenhaus hat auf seine Anfragen nach den Befunden ablehnend reagiert. Kaoruko-sama hat ihn um Rat gefragt wegen der Schlafstörungen… Er schreibt, welche Medikamente Tatsuomi-sama bekommt, und…“ Sie sah überrascht zu mir. „Und rät nachdrücklich von der Verabreichung ab.“ Sie ließ die Unterlagen sinken, und ihre Finger knüllten unbewusst das Papier. „Hirose-sama gibt ihm Beruhigungsmittel? Wussten Sie das?“ „Nein.“ Ich fasste an ihren Arm, um sie zu beruhigen. „Hirose versucht ihm nur zu helfen, auf seine Art. Er hat mir gesagt, dass er Tatsuomi nach diesem Unfall – oder was auch immer – nochmals hat untersuchen lassen. Also geht er zu einem anderen Arzt mit ihm. Manchmal ist es durchaus sinnvoll, für begrenzte Zeit auch mal solche Medikamente einzusetzen…“ Ich glaube, ich wollte auch mich selbst beruhigen. Ich wusste nicht einmal, was ich speziell in diesem Fall davon hielt. Und vor allem, warum hatten die Eltern das verschwiegen? So langsam kam mir das hier eher wie ein Kriminalfall vor und weniger wie eine Beratungsarbeit. Jede Information musste hart erarbeitet werden. "Hirose ist auch besorgt um seinen Sohn, er will ihm nicht schaden", sagte ich laut, um mich noch einmal zu versichern. Aber der Satz fühlte sich richtig an. Wenigstens darin war ich mir sicher. Nami glättete die Papiere. Jetzt hatte sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle und neigte ihren Kopf in meine Richtung. "Sie haben Recht." Sie sah mich an und lächelte. „Wenn Sie erlauben, würde ich gern die Unterlagen sofort zurück bringen. Sie warten im Auto. Dr. Emoto wird nichts bemerken.“ „Einverstanden.“ Nami startete den Wagen und legte den Rückwärtsgang ein. Sie drehte sich im Sitz um und setzte den Wagen zurück, dann stoppte sie plötzlich. „Sehen Sie, wer die ganze Zeit hinter uns war!“ Sie deutete auf eine riesige Plakatwand, die quer zu den parkenden Autos aufgestellt war. „Das ist Nanjo Koji-sama. Der jüngste der Brüder.“ Ich sah mir den jungen Mann auf dem Plakat genauer an. Er sah aus wie ein Model. Ich erinnerte mich, dass er Popsänger war, und konnte mir gut vorstellen, wie junge Mädchen auf diesen Typ flogen, auf diese makellose Schönheit, auf die coolen Klamotten und auf diesen herablassenden Blick. Und er sah aus wie eine jüngere, ausgeflippte Version seines ältesten Bruders. Die Ähnlichkeit zu Hirose war verblüffend, sah man einmal ab von Kojis längeren und gestylten Haaren und von den kajalverdunkelten Augen. Und Koji trug keine Brille. Seine Augen beeindruckten mich am meisten. Er blickte aus dem Bild heraus direkt auf den Betrachter, und sein Blick war mir unbehaglich. Er war kalt und voller Verachtung. „Was halten Sie von ihm?“ fragte mich Nami neugierig nach einer Weile des Schweigens und fuhr weiter. „Von Koji?“ Ich suchte nach einer wertfreien Formulierung. „Mir fallen seine Augen auf. Er wirkt so… leblos. Zumindest auf diesem Bild.“ Nami lachte leise. „Diesen Blick hat er schon als Kind gehabt. Eiskalt.“ „Wie alt ist er jetzt?“ „Achtzehn.“ „Wie ist sein Verhältnis zu Tatsuomi?“ „Da gibt es kein Verhältnis. Er hat den Kleinen nie beachtet. Die Familie scheint ihm völlig gleichgültig zu sein.“ „Aber nach dem Tod des Vaters ist er zurück gekehrt.“ „Ja, Hirose-sama hat ihn heim geholt. Er blieb ein paar Wochen, trainierte hart, sprach kein Wort, und dann war er wieder verschwunden. Ehrlich gesagt waren wohl alle erleichtert, dass er wieder weg war. Außer vielleicht Nadeshiko-sama. Sie ist die einzige, die ihn mag – und umgekehrt, glaube ich.“ Das schwarze Schaf der Familie, dachte ich. Und warum war er so geworden? Ich war überzeugt, dass niemand mit einem solchen Blick in den Augen auf die Welt kam. Eine Kindheit im Hause Nanjo zu verleben, schien eine schwierige Aufgabe zu sein. Eine Aufgabe, an der man leicht zerbrechen konnte. „Warum hat Koji das Erbe ausgeschlagen?“ fragte ich. „Es hat ihm nie etwas bedeutet. Darum ist er ja damals fortgelaufen. Irgendetwas ist auch mit seinem Arm… Er trägt jetzt eine Prothese. Kendo ist für ihn gestorben.“ „Er hat seinen Arm verloren? Wann denn? Wie ist das passiert?“ „Keine Ahnung. In der Presse steht nichts dazu. Das muss passiert sein, kurz nachdem er zum zweiten Mal gegangen ist. Man munkelt im Haus, Hirose-sama hätte damit zu tun. Aber das glaube ich nicht“, fügte sie hastig hinzu. „Er hätte das Testament auf andere Weise anfechten können. Und er hält sich auch jetzt noch an den Willen seines Vaters.“ Inzwischen waren wir wieder bei Dr. Emotos Haus angekommen. Nami schaffte es, die Unterlagen unbemerkt zurück zu bringen, während ich im Auto wartete. „War ganz leicht“, antwortete sie auf meinen fragenden Blick als sie zurückkam. „Ich habe so getan, als würden Sie Ihre Uhr vermissen. Als er in den Behandlungsraum ging, um nachzusehen, habe ich die Papiere zurückgelegt.“ „Lernt man so etwas beim Personenschutz?“ fragte ich beeindruckt. „Nein“, sagte sie lächelnd. „Auf der Polizeischule.“ „Ah.“ Mein Leben kam mir sehr durchschnittlich vor. „Warum sind Sie eigentlich so sicher, dass der Aikidolehrer die Wahrheit sagt?“ „Weil das besser zu Tatsuomi-samas Äußerungen passt.“ Damit sagte sie, dass Hirose log. Aber ich konnte ihr nicht widersprechen. Kapitel 10: Mutlosigkeit ------------------------ Kaoruko empfing uns aufgeregt. „Wie geht es Ihrem Arm?“ fragte sie mich besorgt. „Och…“ Den hatte ich schon wieder fast vergessen und spürte, wie meine Ohren heiß wurden bei dem Gedanken an den eigentlichen Grund, weswegen Nami und ich zu dem Arzt gefahren waren. Wie gut, dass meine Haare so lang waren! „Mir geht es gut“, beeilte ich mich zu versichern. „Wie konnte das passieren?“ fragte sie jetzt Nami, und in ihrer Stimme schwang unüberhörbar ein leichter Vorwurf. „Verzeihung.“ Nami verneigte sich tief. „Ich habe Hirose-sama gesagt, ich sei das gewesen. Ich wollte nicht, dass Tatsuomi-sama unnötig Ärger bekommt.“ „Tatsuomi hat…?“ Kaoruko hob entsetzt ihre Hand vor den Mund. „Saalfrank-san, das tut mir außerordentlich leid, bitte entschuldigen Sie sein ungehöriges Verhalten.“ Jetzt war sie es, die sich vor mir verneigte. „Das ist nicht nötig. Er hat es nicht mit Absicht getan“, sagte ich. „Darüber wollte ich sowieso mit Ihnen noch sprechen.“ „Ja. Natürlich.“ Sie wandte sich an Nami. „Vielen Dank, dass Sie Saalfrank-san begleitet haben.“ „Es war mir ein Vergnügen. Ich hätte gern den Rest des Tages frei.“ Kaoruko nickte. „Ich denke, wir brauchen Sie heute nicht mehr.“ Obwohl ich von Nami einen nichtssagenden Blick auffing, ertappte ich mich dabei, mich zu fragen, was sie wohl nun schon wieder vorhatte. Ich bezweifelte, dass sie tatsächlich nur frei haben wollte. Kaoruko führte mich in ein kleines Zimmer, dessen einziger Wandschmuck ein riesiger uralter Holzschnitt war, auf dem eine Gruppe Samurai mit gezückten Schwertern abgebildet war. Für mich war nicht ersichtlich, ob es sich um die Darstellung eines Kampfes oder das Abbild einer Schwertübung handelte. Aber zu meiner Erleichterung befand sich auch eine Sitzgruppe im typisch westlichen Stil in diesem ansonsten leer gehaltenen Raum. Von dem vielen ungewohnten Sitzen auf dem Fußboden taten mir schon die Knie weh. Kaoruko hörte mit sichtlicher Betroffenheit meinen Bericht an. „Was sollen wir nur mit ihm machen?“ fragte sie hilflos, nachdem ich geendet hatte. „Er muss doch irgendwann wieder damit aufhören.“ „Das kann er nicht, Kaoruko-san“, sagte ich sanft. „Er möchte ja selbst nichts lieber, als wieder so sein wie früher. Er verhält sich nicht aus Trotz so, oder um Sie zu ärgern. Er kann nicht anders. Und, ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass Sie ihm allein mit erzieherischen Maßnahmen helfen können.“ So. Jetzt war es ausgesprochen. „Wie meinen Sie das?“ fragte Kaoruko beunruhigt. „Er wollte sich erinnern und ist dabei total in Panik geraten. Wir durften ihn nicht mal anfassen in diesem Moment. Sie haben erzählt, dass er in der Schule Mitschüler und eine Lehrerin verletzt hat? Ich nehme an, dass waren auch solche Angst auslösenden Situationen. Jemand hält ihn fest, oder nähert sich ihm von hinten… das erschreckt ihn, und er rutscht in Gefühle hinein, die mit der Situation gar nichts zu tun haben. Das Gleiche geschieht wohl auch beim Waschen. Er kann das nicht kontrollieren. Und da hilft auch kein noch so großes Verständnis und keine noch so große Strenge, da braucht er richtige therapeutische Hilfe.“ Ich sah, wie Kaoruko sich bei meinen Worten versteifte und mit versteinerter Mine, aus der jede Emotion verschwunden war, meinen Worten folgte. Da sie keine Anstalten machte, mir etwas zu erwidern, sprach ich erstmal weiter: „Ich kann Sie dabei unterstützen, mit der Situation umzugehen und es ihm leichter zu machen. Aber um ihm ursächlich zu helfen, rate ich Ihnen wirklich dringend, ihn fachärztlich behandeln oder zumindest untersuchen zu lassen. Ich denke, Ihr Sohn hat ein ernstzunehmendes Problem. Er hat irgendetwas erlebt, womit er nicht fertig wird. Oder etwas, das er erlebt hat, hat etwas ausgelöst, mit dem er nicht fertig wird.“ Ich wählte meine Worte mit Bedacht, da ich noch immer nicht wusste, was eigentlich los war. Trauma oder hirnorganische Psychose – obwohl mir diese zwei Alternativen durch den Kopf gingen, mochte ich sie nicht aussprechen. Für die endgültige Diagnose war ein Facharzt zuständig. „Sie haben sich doch so etwas sicherlich schon gedacht. Sie haben mir doch gleich am Anfang erzählt, dass er sich so plötzlich verändert hat. Nach diesem Unfall…“ Oder was da auch immer gewesen sein mag, fügte ich in Gedanken hinzu. „Durch das, was ich bisher erfahren habe, glaube ich eigentlich nicht, dass ein Sportunfall ihm so stark zusetzen könnte. Es muss etwas anderes sein. Im Krankenhaus könnte er vielleicht etwas Traumatisches erlebt haben, das ist gar nicht so selten. Sind Sie denn wirklich nicht auf die Idee gekommen, einen Kinderpsychologen hinzuzuziehen?“ Ich hielt meine Stimme frei von Vorwurf, denn darum ging es mir nicht. Allmählich sorgte ich mich auch um Kaoruko, weil sie so gar nicht auf meine Worte reagierte. Ihr Mund war so fest verschlossen, dass die Lippen richtig weiß waren. Diese Elterngespräche waren immer schwierig, aber ich konnte es Kaoruko auch nicht ersparen. Sicherlich hatte sie genau das befürchtet, und es musste sich für sie wie ein Alptraum anfühlen, dass ich ihre Befürchtungen jetzt in Worte fasste. Bisher hatte sie sich an der Hoffnung festhalten können, dass Tatsuomis Zustand nur eine vorübergehende Phase war, die sich mit ein wenig Hilfestellung von selbst wieder normalisieren würde. „Ich glaube, Hirose weiß genau, was geschehen ist. Und er hat Tatsuomi anscheinend verboten, darüber zu reden. Das geht aber so nicht. Tatsuomi braucht die Möglichkeit, das Erlebte zu verarbeiten“, sagte ich möglichst einfühlsam. „Was soll ich denn tun?“ fragte Kaoruko tonlos. „Fragen Sie Hirose. Verlangen Sie eine Antwort.“ Langsam rollten zwei Tränen über das erstarrte Gesicht. Für mich ein gutes Zeichen, dass ihre Gefühle zurückkehrten. „Er spricht ja nicht mit mir“, sagte sie ganz leise. „Lieben Sie ihn?“ fragte ich nach einer stillen Pause. „Ja“, sagte sie ohne Zögern. „Hirose ist ein guter Mann… ich habe sehr viel Glück.“ Sehr glücklich sah sie allerdings im Moment nicht dabei aus. „Wie haben Sie sich denn kennen gelernt?“ fragte ich, da mir gerade auffiel, von Kaoruko noch so gut wie gar nichts zu wissen. Außerdem war es gut für sie, zu sprechen, erstmal egal über was. „Wir trafen uns bei einem o-miai, einem Hochzeitstreffen. Unsere Eltern hatten das verabredet. Ich war damals noch ein Kind und sehr erleichtert, dass mir der Mann, mit dem ich verlobt werden sollte, von Anfang an so sympathisch war. Aber auch sonst hätte ich nie gewagt, meinen Eltern zu widersprechen. Ich war so erzogen, zu gehorchen. Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass ich in eine wohlhabende und einflussreiche Familie einheiraten sollte. Hirose entsprach genau ihren Vorstellungen. Zu mir war er sehr nett, er zeigte gute Manieren und sah obendrein so gut aus, dass alle meine Freundinnen richtig neidisch waren.“ „Er sieht immer noch gut aus“, warf ich ein. „Ja, das stimmt“, sagte sie, und ich meinte, Wehmut in ihrer Stimme zu hören. „Ist Ihre Ehe denn glücklich?“ fragte ich. „Ja. Sicher“, antwortete sie ohne große Überzeugungskraft. „Warum fragen Sie?“ Ich hoffte, mich jetzt nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen, denn wir befanden uns an sich schon sehr weit in ihrer Intimsphäre. Trotzdem sagte ich, was mir durch den Kopf ging: „Nun, ich wunder mich, dass Sie nur einen Sohn haben, wo doch in dieser Familie die Erbfolge eine solch große Rolle spielt…“ Erst dachte ich, sie würde mir darauf keine Antwort geben, so lange schwieg sie und blickte zu Boden. Doch dann sah sie mich mit tränenglänzenden Augen an. „Es liegt an ihm“, hauchte sie und senkte wieder den Blick. „Nein, was rede ich da. An mir. Er… er findet mich nicht mehr anziehend… Wir haben getrennte Schlafzimmer, seit ich mit Tatsuomi schwanger war, und er… Ich habe das Gefühl, er verrichtet nur seine Pflicht, wenn wir… wenn wir beieinander liegen… Es ist so selten, und ich werde einfach nicht schwanger…“ Ihre Stimme gewann wieder an Festigkeit. „Aber jetzt geht es um den Sohn, den ich habe. Wie kann ich Hirose dazu bringen, mit mir zu sprechen? Er trifft alle Entscheidungen allein. Ich habe zwar gedroht, mich scheiden zu lassen, doch damit habe ich nur deutlich gemacht, wie ernst es mir ist. Ich könnte auch gegen ihn nie einen Sorgerechtsstreit gewinnen, ich hätte keine Chance gegen ihn, ich kann das nicht, und er weiß das…“ „Ich denke, Sie könnten das“, sagte ich bestimmt und fing ihren Blick wieder ein. „Und es lohnt sich zu kämpfen, glauben Sie mir. Für Ihren Sohn. Und für sich. Und für Ihre Ehe.“ Kapitel 11: Zähe Fortschritte ----------------------------- Leider war es ungleich einfacher, aufmunternde Worte zu hören, als sie umzusetzen. Sobald Hirose vor ihr saß, frisch geduscht oder gebadet, mit noch geröteter Haut und einen angenehmen Duft nach Seife verbreitend, war sie wieder leise und verunsichert und überließ es hauptsächlich mir, mit ihm zu reden. Und ich bekam eine Ahnung davon, was sie gemeint hatte: Er war wirklich schwer zu überzeugen. Er beharrte stur auf seinem Standpunkt, den er mir schon am Vormittag darlegt hatte. Keine psychotherapeutische Unterstützung für Tatsuomi, sein Sohn sei geistig normal und hätte kein Problem, das nicht innerhalb der Familie zu bewältigen wäre, er müsse sich nur endlich zusammenreißen, und ich solle mich auf mein Fachgebiet, die Pädagogik, beschränken. Nur in diesem Bereich sei er bereit, meinen Ratschlägen zu folgen; diesen Standpunkt machte er mehr als deutlich. Hirose hatte sich allem Anschein nach über mich erkundigt, denn er erwähnte auch meine musiktherapeutische Ausbildung. Allerdings ließ er keinen Zweifel daran, was er davon hielt - nämlich gar nichts. Seine Worte verletzten mich, was ich mir jedoch natürlich nicht anmerken ließ. Dafür verlor ich aber langsam die Geduld und konfrontierte ihn damit, dass ich von den Beruhigungsmitteln wusste, die sein Sohn bekommen hatte. Selbstverständlich ohne zu erwähnen, woher ich das wusste. Ich konnte mir die ironische Frage nicht verkneifen, ob er das unter Problembewältigung verstand. Und warum hatten sie es nicht für nötig gehalten, mich davon in Kenntnis zu setzen? Weil mich das nichts angehe, war seine prompte Antwort, aber ich spürte, ich hatte ihm etwas den Wind aus den Segeln genommen. „Er bekommt sie nur ab und zu gegen seine Alpträume, damit er schlafen kann“, schaltete sich jetzt Kaoruko entschuldigend ein. „Dr. Kajiura hat sie ihm verordnet.“ „Warum wird Tatsuomi nicht von Ihrem Hausarzt, Dr. Emoto, behandelt?“ fragte ich und versuchte, meine Neugier als Überraschung zu tarnen. Unter Hiroses durchdringendem Blick war das gar nicht so einfach. Aber ich hatte schon ganz andere Ehemänner erlebt, und Hirose würde es nicht schaffen, mich zu verunsichern. „Weil Dr. Kajiura ihn schon ihm Krankenhaus behandelt hat“, antwortete er, bevor seine Frau etwas dazu sagen konnte. Ich spürte deutlich, dass das Thema damit beendet war, und bohrte erstmal nicht weiter. „Ich bin vor allem hier, um Tatsuomis Interessen zu vertreten“, sagte ich stattdessen. Dagegen konnte er schlecht etwas einwenden. „Darum habe ich ihn auch gefragt, was er eigentlich möchte. Aber Sie haben Glück“, ich gab meinem Ton einen leicht scherzenden Klang, um die Situation wieder etwas zu entschärfen. „Ihr Sohn hat die gleichen Ziele wie Sie. Er möchte wieder zur Schule gehen, wieder normal essen können, wieder trainieren… Kurz gesagt, er möchte nichts sehnlicher, als Ihren Erwartungen wieder gerecht zu werden. Aber er ist natürlich völlig damit überfordert, wie er das erreichen soll. Da müssen Sie ihm helfen.“ Ich warf Hirose einen Blick zu, der ihm sagen sollte, dass das Thema Therapie für mich noch lange nicht vom Tisch war. „Es war gar nicht so einfach, Ihrem Sohn etwas zu entlocken, das seinen eigenen Bedürfnissen entspricht. Aber es gibt etwas. Er möchte mehr Zeit mit Ihnen, Hirose, verbringen. Wann haben Sie denn das letzte Mal etwas mit ihm unternommen? Und ich meine etwas, das Spaß macht, keine Arztbesuche oder so was.“ „Keine Ahnung“, sagte Hirose langsam. „Wann habe ich ihn das letzte Mal trainiert? Vor zwei Monaten ungefähr. Ich habe im Moment wenig Zeit.“ „Sie sollten sich die Zeit nehmen“, sagte ich behutsam. „Er braucht Sie. Gerade jetzt im Moment ist das wichtig. Wie oft unternehmen Sie überhaupt etwas gemeinsam als Familie? Sie nehmen die Mahlzeiten zusammen ein, das ist super. Aber was gibt es noch? Gibt es gemeinsame Aktivitäten außer dem Sport?“ Kaoruko sah aufmerksam ihrem Mann zu, wie er die Antwort überlegte. Ich hatte den Eindruck, ihr gefiel die Wendung des Gesprächs. „Da gibt es nichts“, kam sie ihm denn auch zuvor. „Außer zu den Turnieren oder bei Familientreffen machen wir gar nichts zu dritt.“ „Das ist aber sehr schade“, sagte ich. „Das würde er sich so sehr wünschen. Und er braucht so dringend positive Erlebnisse. Ich finde das jetzt ganz wichtig, damit er auch mal wieder Freude empfinden kann. Ich habe selten ein so unglückliches Kind gesehen wie Ihres. Heute Nachmittag im Dôjô, als wir gespielt haben, habe ich ihn zum ersten Mal fröhlich erlebt. Er ist die meiste Zeit so traurig und verzweifelt, da müssen Sie ihn so oft wie möglich herausholen!“ Hirose saß jetzt ähnlich steif da wie Kaoruko vorhin. Wahrscheinlich konnte er sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte. Ich sprach eindringlich weiter: „Sie haben mir gesagt, Sie wollen ihm helfen. Dann bitte ich Sie, seine Wünsche und Bedürfnisse ernst zu nehmen. Unternehmen Sie am Wochenende etwas gemeinsam. Bringen Sie ihn abends ins Bett, wenn Sie zu Hause sind, und lesen Sie ihm die Gute-Nacht-Geschichte vor. Wann haben Sie das zum letzten Mal gemacht?“ „Das ist Kaorukos Aufgabe“, sagte er. „Noch nie?“ fragte ich verblüfft. „Dann wird es aber Zeit! Da können Sie heute gleich mit anfangen. Und ich möchte auch, dass das Waschen von heute an anders abläuft.“ Ich erläuterte, wie ich mir das vorstellte. Immerhin hielt Hirose sein Wort und erklärte sich bereit, meine Einweisungen auszuprobieren. Mir war ein Rätsel, warum er sich so gegen eine psychologische oder psychiatrische Untersuchung sperrte. Dann wurde es noch einmal schwierig, als ich Tatsuomis Unterricht ansprach. Ich fand, dass Tatsuomi unter enormem Druck stand, und wollte ihn so weit es ging entlasten. Hirose wollte jedoch auf keinen Fall, dass sein Sohn im Lernstoff zurückblieb und womöglich die zweite Klasse wiederholen musste. Das kam für ihn überhaupt nicht in Frage. „Das kommt in den besten Familien vor“, versuchte ich ihn zu beruhigen. Hirose erläuterte mir ausführlich und unnachgiebig, dass es in Japan absolut unüblich sei, dass ein Kind sitzen blieb. Alles wurde daran gesetzt, dass Klassenziel gemeinsam zu erreichen. Sein Kind solle da keine Ausnahme machen. Unerwarteter Weise kam mir Kaoruko zu Hilfe. Jetzt zeigte sie endlich wieder ihre Entschlossenheit vom Vortag, die ich heute bisher so vermisst hatte. „So, wie das im Moment läuft, schafft er den Lernstoff ohnehin nicht. Ich werde morgen mit dem Hauslehrer sprechen. Er soll den Unterricht weniger leistungsorientiert gestalten.“ „Das ist eine gute Idee“, sagte ich erleichtert. Und zu Hirose gewandt fügte ich hinzu: „Er wird von alleine lernen, sobald er dazu in der Lage ist. Er ist selbst total unzufrieden mit sich, so wie es gerade ist. Mit Druck erreichen Sie hier nur das Gegenteil.“ Hirose gab nach. Juchhu. Dann war da aber noch Tatsuomis zweiter Wunsch. „Was ist eigentlich mit Hatsumo?“ fragte ich. „Können die beiden Jungs nicht wieder miteinander spielen? Wissen Sie, was zwischen ihnen vorgefallen ist?“ „Hotsuma“, verbesserte mich Kaoruko. „Mir hat Tatsuomi nicht gesagt, warum er Hotsuma nicht mehr sehen möchte.“ „Ich werde mit Hotsuma sprechen“, sagte Hirose. „Das lässt sich regeln.“ Ich sah von ihr zu ihm. Es schien schon wieder jeder etwas anderes zu sagen. „Also, Sie wissen, was mit den beiden los ist?“ fragte ich, um Klarheit zu gewinnen. Er machte eine abwertende Handbewegung. „Das ist Kinderkram. Ich kläre das mit Hotsuma, wenn Tatsuomi es so möchte. Ich soll mich doch schließlich um ihn kümmern, haben Sie gerade gesagt.“ „Tatsuomi meinte, Hotsumas Vater hätte es ihm verboten“, bemerkte ich. „Hat er das?“ sagte Hirose bloß. Er stand auf und erklärte das Gespräch damit für beendet. Kapitel 12: Missglücktes Abendessen ----------------------------------- Als wir in das Speisezimmer kamen, waren Tatsuomi und seine Tante schon da. Die Stimmung schien gut zu sein, und mir gefiel der liebevoll scherzende Tonfall, in dem sie zu ihm sprach. Wir aßen ohne Akihito, der den Abend in der Innenstadt verbrachte. Vielleicht hatte er keine Lust auf pädagogische Familienarbeit. Vielleicht hatte Hirose auch keine Lust, seinen kleinen Bruder dabei zu haben. Er schien hier wirklich alle Fäden in der Hand zu halten. Das Essen fing ganz gut an, Tatsuomi aß sogar drei oder vier Happen mehr als sonst, aber dann legte er die Stäbchen plötzlich zur Seite und fing laut an zu weinen. „Tatsuomi“, sagte Hirose streng und ließ noch einige Worte im selben Ton folgen, als hätte nie ein Gespräch mit mir stattgefunden. Kaoruko legte beschützend den Arm um ihren Sohn. „Fragen Sie ihn, was mit ihm los ist“, sagte ich. „Ich weiß, was los ist“, sagte Hirose und legte nun seinerseits genervt die Essstäbchen auf den Tisch. „Es ist immer das Gleiche!“ „Deswegen wollen wir das ja jetzt anders machen. Fragen Sie ihn, was los ist, warum er auf einmal weint“, wiederholte ich. „Tatsuomi. Warum weinst du?“ Er schien die Frage auf Japanisch zu wiederholen, und Tatsuomi antwortete auf Japanisch. „Was hat er gesagt?“ raunte ich Nadeshiko zu, die mir am nächsten saß. „Weil er Hunger hat“, antwortete sie mir leise und verfolgte gleichzeitig aufmerksam den kleinen Dialog. „Dann iss doch“, sagte Hirose schlauerweise. Er war ganz eindeutig mit seinem Latein am Ende. „Nein!“ schluchzte Tatsuomi. Ich versuchte, die Situation zu retten: „Wir hatten doch gerade besprochen, Tatsuomis Probleme ernst zu nehmen.“ Leider missglückte mein Versuch. Kaoruko sprang zwar helfend ein, indem sie verständnisvoll fragte, warum er denn nicht essen wolle, wenn er doch Hunger habe. Tatsuomi sagte, was ich schon wusste: Er habe Angst. Die ganze Unterhaltung lief auf Japanisch ab, was mich natürlich stark in meiner Arbeit behinderte, da ich die gesprochenen Sätze nur zeitverzögert verstand. Nadeshiko übersetzte mir monoton wie eine Nachrichtensprecherin, sichtlich fasziniert von der Szene. „Aber wovor hast du denn Angst?“ fragte die Mutter ratlos. „Dass es weh tut“, sagte Tatsuomi kaum hörbar. „Was tut weh?“ fragte seine Mutter, jetzt besorgt. Hirose schlug mit der Hand auf den Tisch, dass die Schälchen wackelten und alle zusammenzuckten. Er sagte ein paar Sätze in wütendem Tonfall, die mir Nadeshiko leider nicht übersetzte. Sie starrte ihren Bruder entgeistert an. Kaoruko sah zunächst genauso aus, doch dann trat ein entschlossener Ausdruck in ihre Miene. Steif erhob sie sich und ebenso steif richteten sich ihre Worte gegen ihren Mann. Dann verließ sie den Raum mit ihrem Sohn, der wacker versuchte, sein Schluchzen zu unterdrücken. Es herrschte kurze Stille. Ich wunderte mich sehr über Hirose. Wo war nur das geblieben, was wir eben noch besprochen hatten? „Also, ich muss sagen, ich bin wirklich sprachlos“, sagte ich schließlich. „Ich dachte, es wäre klar, worauf es ankommt.“ Er stand auf und verneigte sich förmlich. „Verzeihung, ich bin unhöflich. Aber ich habe noch zu arbeiten.“ „Das Waschen nachher wird aber anders verlaufen“, konnte ich mir nicht verkneifen, seinem Rücken hinterher zu rufen. So langsam ärgerte mich seine Art, unsere Gespräche nach seinem Belieben einfach zu beenden. Was war nur mit ihm los? „Was ist denn mit dem los?“ sprach Nadeshiko meine Gedanken aus. „So kenne ich ihn gar nicht. Entschuldigen Sie.“ Ich winkte ab. Schon gut. „Was hat er denn gesagt?“ fragte ich. „Er hat ihm verboten, darüber zu sprechen“, sagte sie, und ich hörte ihre Fassungslosigkeit darüber. Ich hatte das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Die Arbeit mit Hirose war noch schwieriger als ich erwartet hatte. Kapitel 13: Monsterjagd im Badezimmer ------------------------------------- Kurauchi holte den Jungen ab, als es Zeit für das abendliche Waschen war. Es wirkte, als würde er einen Gefangenen zur Hinrichtung abführen. Ich fand, Tatsuomi war wirklich sehr tapfer, wie er möglichst würdevoll neben dem großen Mann her tappte. Kaoruko warf ich einen zuversichtlichen Blick zu, bevor ich den beiden folgte. Wir hatten überlegt, ob sie mitkommen sollte oder nicht und uns schließlich dagegen entschieden, damit in dieser schwierigen Situation nicht auch noch die Spannungen zwischen den Eheleuten im Raum stand. Ich wappnete mich innerlich gegen einen erneuten Kampf mit Hirose. Er erwartete uns im Bad. Ich hatte den unbestimmten Eindruck, dass irgendetwas mit ihm ganz und gar nicht in Ordnung war, aber jetzt war nicht die Zeit, mich darum zu kümmern. Tatsuomis Zähne klapperten leise, so sehr zitterte er, als er vor seinem Vater stehen blieb. Ich betete, dass Hirose nicht mit irgendeinem barschen Stell-dich-nicht-so-an-Satz reagieren würde. Doch er überraschte mich. Anscheinend erinnerte er sich jetzt wieder an die besprochene Vorgehensweise. Freundlich sprach er seinen Sohn an und ging dabei sogar hinunter auf Augenhöhe zu ihm. Ich verstand zwar nicht, was er sagte, aber ich ging einfach mal davon aus, dass er jetzt meine Anweisungen wieder umsetzte. Ich hatte genau gesagt, worauf es ankam: Das oberste Ziel war, Tatsuomi zu beruhigen in dieser Situation, die ja sehr angstbesetzt für ihn war. Ich wandte mich an Kurauchi: „Heute werden wir Sie nicht brauchen. Hirose hat sicher mit Ihnen darüber gesprochen.“ Er nickte, aber holte sich dennoch erst ein bestätigendes Zeichen von Hirose, bevor er den Raum verließ. Obwohl er die Tür leise hinter sich zu schob, zuckte Tatsuomi zusammen, als hätten wir neben seinem Ohr einen Knaller gezündet. Damit war dann auch seine Selbstbeherrschung dahin, und er fing an zu weinen. Hirose sah zu mir. „Ganz viel reden“, ermunterte ich ihn. „Versuchen Sie, ihn ein bisschen zu beruhigen. Und sagen Sie ihm, was als nächstes kommt. Nichts tun ohne Vorankündigung.“ Hirose gab sein Bestes, aber als es ans Ausziehen ging, steigerte sich das Weinen zu einem panischen Gekreische. „Okay, abbrechen und beruhigen.“ Ich riskierte, Hirose erstmal alleine machen zu lassen. Ich würde ja nicht so lange hier bleiben, und wenn ich wieder fort sein würde, musste Hirose auch mit dem Jungen klar kommen. Aber er schaffte es tatsächlich, das Angstgeschrei zu unterbrechen. Wenn er nur wollte, konnte er richtig gut mit Tatsuomi umgehen! „Ja, gut so. Sie dürfen ihn ruhig auch mal in den Arm nehmen und trösten!“ Hirose stockte einen kleinen Moment, dann folgte er meinem Rat. Tatsuomi schrie einmal kurz auf, als sein Vater ihn zu sich zog, aber dann schmiegte er sich schutzsuchend an ihn. Hirose strich ihm über den Rücken und blickte an sich hinunter. Jetzt sah ich auch die kleine Pfütze, die sich unter Tatsuomis Füßen ausbreitete. Der Junge hatte sich vor lauter Angst in die Hose gemacht. „Ist nicht schlimm“, sagte ich zu niemand bestimmten. Hiroses Gesichtsausdruck nach hatte er ein bisschen Zuspruch auch nötig. „Das ist ja auch eine total stressige Situation. Ne, Tatsuomi? Du bist auch froh, wenn das hier vorbei ist. Wovor hast du nur solche Angst?“ Ich hatte eigentlich gar keine Antwort darauf erwartet, aber er drückte sich noch mehr an seinen Vater und brachte ein paar Worte heraus. Ich sah fragend zu Hirose. „Er sagt, wenn er sich auszieht kommt ein Monster und macht das Licht aus. Oder so.“ „Aber da können wir doch aufpassen, dafür sind doch wir Erwachsenen da. Hier sind auch gar keine Monster, wirklich nicht, hier kommen auch keine rein. Wollen wir mal zusammen nachsehen?“ Der Kleine nickte zögernd. Also begaben wir uns gemeinsam auf Monsterjagd im Badezimmer. Er ließ uns überall suchen, sogar hinter den Handtüchern, die an der Wand hingen. Es hätte ein nettes Spiel sein können, wenn Tatsuomis Angst nicht so real und so präsent gewesen wäre. Er war erst überzeugt, als wir auch noch vor der Tür auf dem Gang nachgesehen hatten und Kurauchi, der draußen stand und wartete, Anweisung bekommen hatte, den Eingang zu bewachen und kein Monster durchzulassen. „Wie sieht das Monster denn aus?“ fragte ich. „Man kann es nicht sehen“, flüsterte er. „Es kommt von hinten.“ „Das ist wirklich unheimlich“, sagte ich mitfühlend. „Aber dein Vater und ich werden ganz aufmerksam sein, und dann kann dir gar nichts passieren, versprochen. Möchtest du dich alleine ausziehen und waschen? Wir bleiben in deiner Nähe, dann bist du ganz sicher. Okay?“ Seine Augen wanderten unsicher zu seinem Vater, aber er nickte. „Versuchen Sie ihn jetzt ganz viel abzulenken“, sagte ich leise zu Hirose. Er nickte auch. Es ging langsam voran, das Ausziehen und auch das Waschen, und trotz unserer Versicherungen und guter Worte nur unter Tränen und zitternd und mit ganz vielen furchtsamen Blicken über die Schulter. Aber es ging ohne Gewalt und ohne Panik und Geschrei. Schließlich hatte er auch das Zähneputzen überstanden und stand in seinem Schlafanzug vor uns. „Und? War das jetzt so schlimm?“ fragte Hirose. „Ja, es war schlimm. Für ihn war es schlimm“ *, sagte ich schnell, um Tatsuomi keine Gelegenheit zu geben, sich von der Frage beschämen zu lassen. „Jetzt könnten Sie ihn noch mal in den Arm nehmen“, wisperte ich Hirose ins Ohr. „Und loben! Das hat er doch ganz toll gemacht!“ Das in den Arm nehmen fiel Hirose noch ein wenig schwer, aber sein Lob zeigte sofort Erfolg und zauberte ein kleines Lächeln auf das Kindergesicht. Dann weiteten sich seine Augen bei Hiroses nächsten Worten: „Katia-san bringt dich jetzt in dein Zimmer, und ich komme gleich nach und sage dir gute Nacht, und wenn du willst, lese ich dir noch eine Geschichte vor.“ „Wirklich?“ fragte Tatsuomi ungläubig. „Wirklich“, sagte Hirose und lächelte ein wenig gezwungen. Zu mir sagte er: „Ich möchte mich nur schnell umziehen.“ Er deutete auf den feuchten Fleck auf seinem Kimono, wo Tatsuomi sein tränen- und schnodderverschmiertes Gesicht an ihn gedrückt hatte. Außerdem hatte er mit den Füßen in der Pfütze gestanden. Die nassen Socken hatte er schon vorhin nebenbei ausgezogen und auf Tatsuomis verschmutzte, am Boden liegenden Sachen geworfen, als wären sie mit Cholera verseucht. „Na komm, Tatsuomi“, sagte ich und nahm ihn an der Hand. „Auch Helden müssen schlafen gehen.“ „Ich bin gar kein Held“, sagte er verlegen. „Doch, ich finde du warst gerade ganz doll mutig. Fast so mutig wie dein Urururgroßvater, dieser Samurai, weißt du, von dem du mir erzählt hast. Der ganz allein eine Armee besiegt hat?“ Das war genau das richtige Thema, um ihn von den vorangegangenen Ängsten wieder auf andere Gedanken zu bringen. Als wir sein Zimmer erreichten, plapperte er schon wieder munter neben mir her. Kaoruko erwartete uns, und er stürzte in ihre Arme. „Mama, heute bringt mich otô-sama ins Bett!“ Hirose ließ sich für meinen Geschmack zu viel Zeit. Ich befürchtete schon, er würde gar nicht mehr kommen. Tatsuomi war so müde, dass ihm ständig die Augen zufielen. Dieser Tag war anstrengend für ihn gewesen. Aber er wollte auf keinen Fall die Gutenachtgeschichte von seinem Vater verpassen! Als Hirose dann endlich kam, sah ich, warum das so lange gedauert hatte: Seine Haare waren nass und seine Haut noch ganz gerötet – er hatte anscheinend schon wieder geduscht oder gebadet. Offenbar hatte er ein sehr großes Hygienebedürfnis. Oder vielleicht war das auch normal, Japaner waren ja dafür bekannt, viel zu baden. Kaoruko und ich ließen die „Männer“ allein und zogen uns zurück. Ich war erschöpft und freute mich auf das Telefonat mit meiner Familie! Ich rechnete die acht Stunden Zeitunterschied von der Uhrzeit ab und stellte enttäuscht fest, dass meine Kinder noch in der Schule waren. Also rief ich nur kurz meinen Mann auf der Arbeit an, um ihm zu sagen, dass es mir gut ging, und dass er mir fehlte (und um dasselbe von ihm zu hören). Wir verabredeten uns für später, und während ich noch überlegte, wie ich bloß bis dahin wach bleiben sollte, klopfte es leise an meiner Tür. Kapitel 14: Neue Antworten und neue Fragen ------------------------------------------ „Herein?“ Es war Nami. „Entschuldigen Sie“, sagte sie verlegen. „Ich möchte nicht stören.“ „Sie stören nicht“, sagte ich und ließ sie ein. Sie wirkte ein wenig durcheinander. Sofern ich das bei ihrer Selbstbeherrschung einschätzen konnte. „Was ist passiert?“ fragte ich und bot ihr von dem allgegenwärtigen Tee an, der auf dem kleinen Tisch für mich bereit gestanden hatte. Der herbe Geruch des grünen Getränks entstieg in kleinen hellen Wölkchen unseren Tassen. „Ich habe mit Hotsuma-kun gesprochen“, begann sie. Und ich habe gewusst, dass du dir frei nimmst, um irgendetwas zu unternehmen, dachte ich. „Es ist schrecklich. Die Protokolle sind gefälscht. Und Shota-san sagt kein Wort. Was sollen wir jetzt machen?“ sprudelte sie hervor. Ich verstand kein Wort. „Eins nach dem anderen, bitte“, sagte ich. „Wer ist Shota-san?“ „Ein ehemaliger Kollege von mir. Er hat gekündigt, als ich mit Kaoruko-sama in Amerika war. Er war meist zuständig, Tatsuomi-sama zur Schule und zum Training zu fahren. Jetzt verkauft er Tofu in Kumamoto. Ich habe ihn heute angerufen, nach dem Gespräch mit Hotsuma-kun. Weil ich wissen wollte, was nun eigentlich passiert ist. Aber er hat einfach aufgelegt! Danach war ich am PC im Büro, aber von diesem Tag existiert auch gar kein Bericht! Normalerweise protokollieren wir jeden Arbeitseinsatz. Jemand muss ihn gelöscht haben.“ „Sie meinen den Tag, an dem Tatsuomi den Sportunfall hatte?“ „Genau. Es war kein Sportunfall, aber es war jede Menge los an dem Tag. Ich verstehe das nicht. Selbst an Tagen, wenn gar nichts ist, müssen wir Eintragungen machen.“ „Was hat Hotsuma denn gesagt?“ „Das war schwer, überhaupt was aus ihm heraus zu bekommen! Der Junge ist völlig verstört. Ich begreife nicht, warum mir das bisher nicht aufgefallen ist.“ „Wahrscheinlich waren Sie in Gedanken zu sehr mit Tatsuomi beschäftigt“, versuchte ich, ihre Selbstvorwürfe zu entkräften. Sie nickte mir dankbar zu. „Wahrscheinlich. Hotsuma-kun möchte Tatsuomi-sama nicht sehen. Er schiebt seinen Vater nur als Grund vor. Er sagt, er kann Tatsuomi-sama nicht gegenüber treten. Er gibt sich die Schuld an dem, was passiert ist. Er sagte sogar, er würde am liebsten Seppuku begehen. Das ist rituelle Selbsttötung. Zum Glück hat Hirose-sama ihm das verboten.“ „Du meine Güte“, sagte ich. Zu mehr war ich nicht in der Lage. Kurz schoss mir durch den Kopf, ob ihr letzter Satz bedeutete, dass sein Vater es ihm erlaubt hätte? Zutrauen würde ich es ihm durchaus, so düster, wie er aussah. Aber Nami sprach schon weiter: „Also, folgendes hat er mir schließlich erzählt: Er sollte an diesem Dienstag ganz normal mit Tatsuomi-sama nach dem Aikido nach Hause fahren. Er wartete wie immer bei Shota-san am Wagen. Aber Tatsuomi-sama kam nicht. Hotsuma-kun ging in die Sporthalle, um nach ihm zu sehen. In der Umkleidekabine lagen Tatsuomis Sachen, und sein Spind stand offen. Es war noch ein anderer Junge da, der meinte Tatsuomi sei im Waschraum noch nicht fertig. Hotsuma hörte das Wasser laufen und wollte nicht stören. Er ging wieder zurück zum Wagen. Sie warteten wieder. Tatsuomi-sama kam nicht. Dafür kam schließlich der Aikidolehrer und verschloss hinter sich die Eingangstür. Shota lief zu ihm und sagte, dass noch ein Schüler drin sei. Der Lehrer aber schüttelte den Kopf und versicherte, er sei der letzte, der das Gebäude verließ. Shota bestand darauf, sich selbst zu überzeugen, aber tatsächlich fanden sie Sporthalle, Umkleide und Waschraum leer vor. Von Tatsuomi-sama keine Spur. Sie suchten überall, am Kellerausgang und in der Umgebung – nichts. Shota musste bei Hirose-sama anrufen, und Hotsuma-kun fuhr allein nach Hause. Alle waren natürlich in heller Aufregung, sogar die Polizei wurde eingeschaltet. Mit Hotsuma sprach an dem Tag niemand mehr. Trotzdem bekam er noch mit, dass am Abend ein Anruf kam, woraufhin sein Vater mit Hirose-sama sofort losfuhr, um Tatsuomi zu holen. Aber Tatsuomi kam erst zwei Tage später nach Hause, und da ging es ihm noch sehr schlecht. Mehr weiß Hotsuma nicht, niemand hat ihm erklärt, was eigentlich passiert ist. Er macht sich schreckliche Vorwürfe, weil er nicht in den Waschraum gesehen oder im Umkleideraum gewartet hat. Sein Vater hat ihm gesagt, er soll auf Tatsuomi-sama aufpassen. Er denkt, versagt zu haben, und fühlt sich schuldig an Tatsuomis Zustand.“ Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Armer Hotsuma, der in so jungen Jahren schon solch große Verantwortung trug. Und der jetzt in seinem Kummer scheinbar so allein war. Und dann Tatsuomi… was war in den Stunden mit ihm geschehen, als er verschwunden war? Auf der einen Seite spürte ich fast etwas wie Erleichterung und merkte daran, dass ich schon die Befürchtung gehabt hatte, Hirose könnte seinem Sohn selbst etwas angetan haben. Das hätte immerhin seine absolute Abwehrhaltung und Heimlichtuerei diesbezüglich erklärt. Gut, dass der Vater anscheinend nichts mit Tatsuomis Ängsten zu tun hatte! Andererseits konnte ich wohl auch meine These vergessen, dass im Krankenhaus etwas Traumatisches vorgefallen war. Leider. Mir wäre das noch am liebsten gewesen, weil das dann wenigstens nicht sinnlos gewesen wäre. Das würde er irgendwann verstehen. Aber was war es dann? Wo war Tatsuomi gewesen? Was hatte er erlebt, dass er immer noch Angst hatte, wenn jemand hinter ihm stand? Und weshalb hatte Hirose so eine Abneigung, darüber zu sprechen? Ich fuhr mir in einer erschöpften Geste über die Augen. „Was machen wir jetzt?“ fragte Nami. Sie wirkte ratlos, und mir wurde plötzlich bewusst, dass sie es ja war, die Unterstützung von mir wollte und nicht umgekehrt. Das konnte man leicht vergessen in ihrer Gegenwart. „Haben Sie schon mit Kaoruko gesprochen?“ fragte ich. „Nein. Ich habe Angst, dass Hotsuma-kun Ärger bekommt, falls sie Hirose-sama davon erzählt. Hotsuma kann ja nichts dafür… Ich habe ihn sehr unter Druck gesetzt, damit er redet. Irgendwer hat ihm anscheinend verboten, darüber zu sprechen.“ „Und nicht nur ihm“, seufzte ich. „Wir sollten auf jeden Fall Kaoruko informieren. Ich denke nicht, dass sie ihn verrät. Es ist heute schon sehr deutlich geworden, dass Hirose mehr weiß als er sagt. Er hat ganz offen beim Abendessen Tatsuomi verboten, zu sagen, was ihm Schmerzen macht. Und ich habe ihr schon vorher geraten, von Hirose Antworten zu verlangen. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Erklärung. Vielleicht ist Tatsuomi weggelaufen. Und hatte einen Unfall oder so.“ Nami schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Das erklärt nicht, warum Hirose so ein Geheimnis daraus macht. Ich denke eher, Tatsuomi ist entführt worden. Vielleicht wird Hirose erpresst?“ „Mutmaßungen bringen uns nicht weiter“, sagte ich. „Sprechen wir mit Kaoruko. Hat Hotsuma eigentlich etwas dazu gesagt, dass Tatsuomi ihn vermisst? Haben Sie darüber auch gesprochen?“ „Ja. Er überlegt es sich. Ich habe ihm gesagt, dass man Freundschaft nicht einfach hinschmeißt, nur weil es gerade schwierig ist. Dass Freunde gerade dann wichtig sind, wenn es einem schlecht geht. Und ich habe gesagt, dass Tatsuomi ihn jetzt braucht. Ich hoffe, er hört auf mich. Die beiden können sich im Moment gut gegenseitig unterstützen.“ „Das stimmt. Und ich hoffe, Hirose macht die Wirkung Ihrer Worte nicht wieder zunichte. Er hat nämlich auch vor, mit Hotsuma zu sprechen. Und er hat so eine charmante Art manchmal…“ Wir grinsten uns kurz an, auch wenn unsere Augen ernst blieben dabei. Kapitel 15: Der Alptraum ------------------------ Wir fanden Kaoruko völlig aufgelöst vor. Sie bat uns dennoch, einzutreten, was Nami veranlasste, in Erstaunen eine Augenbraue anzuheben. Naja, es war mehr ein Zucken ihrer Augenbraue. Ich bekam langsam Übung darin, Gefühle in ihrem Gesicht zu lesen. Wenn mir das auch noch bei Kurauchi gelang, wäre ich richtig gut darin geworden! Allerdings war mir nicht ganz klar, ob sie erstaunt darüber war, dass Kaoruko weinte, oder dass sie uns trotz des Weinens herein ließ. Kaoruko entschuldigte sich mehrfach, schnäuzte sich sehr dezent und tupfte die Augen trocken. „Was ist denn los?“ fragte ich besorgt. Sie hob abwehrend die Hand und schüttelte den Kopf. „Was führt Sie zu mir?“ fragte sie nun ihrerseits, offenbar froh über die Ablenkung. Wir waren in einem Raum, den ich noch nicht kannte. Vielleicht ihr eigenes Zimmer oder das Familienwohnzimmer. Es war so karg eingerichtet wie alle Räume in diesem Haus, die ich bisher kennen gelernt hatte. Ich hörte das Plätschern von Wasser, sah jedoch keinen Zimmerspringbrunnen oder ähnliches. Kaoruko hörte sich schweigend Namis Bericht an, und außer dass sich eine tiefe Falte zwischen ihren Brauen eingrub und sie die Lippen zusammenpresste, hatte ich das Gefühl, dass sie sogar eher ihre Fassung zurück gewann. „Ich möchte jetzt endlich Antworten“, sagte sie, nachdem Nami geendet hatte. „In diesem Haus erhalte ich sie nicht. Ich werde sie selbst suchen. Ich möchte wissen, was mit meinem Sohn geschehen ist! Vielen Dank, dass Sie sich solche Mühe geben. Midorikawa-san, bitte halten Sie sich morgen früh für mich bereit.“ „Natürlich.“ Nami verneigte sich und nahm es als Zeichen, sich zu entfernen. „Ich habe versucht, mit meinem Mann zu reden“, sagte Kaoruko, als wir allein waren. „Es ist sinnlos.“ „Das ist es nie“, antwortete ich. „Hirose ist auch nicht so kalt, wie er wirkt. Er ist auch verunsichert, sonst würde er nicht verschweigen, was passiert ist. Zu wahrer Stärke gehört Authentizität und Ehrlichkeit. Und er ist beides nicht im Moment. Geben Sie jetzt nicht auf! Es ist auch für Tatsuomi wichtig, dass Vater und Mutter zusammen arbeiten und an einem Strang ziehen.“ „Mein Mann nimmt mich ja gar nicht ernst“, sagte sie mutlos. „Naja. Es ist wahrscheinlich auch das erste Mal, dass Sie ihn nicht unterstützen, in dem was er tut, oder? Wahrscheinlich ist er einfach nicht gewohnt, dass von Ihrer Seite Widerworte kommen… Da muss er sich erst dran gewöhnen.“ Ich begleitete die Worte mit einem aufmunternden Lächeln. Sie seufzte leise. „Ja. Und ich mich auch.“ Plötzlich gellten mehrere spitze Schreie durch das Haus. Wir springen auf. „Das ist Tatsuomi!“ Kaoruko rannte auf den Gang hinaus. Ich lief hinterher. Tatsuomis Zimmer lag im Dunkeln, Kaoruko musste das Licht anmachen. Der Junge lag auf dem Tatami, die Decke hatte er von sich gestrampelt, und er schrie und schlug um sich als würde es um sein Leben gehen. Kaoruko kniete sich nieder und versuchte vergeblich, ihn aufzuwecken. Oder war er schon wach? Ich dachte daran, wie schwer es Nami und mir am Nachmittag gefallen war, ihn wieder zu beruhigen. Schade, dass sie jetzt nicht hier war. Stattdessen kam Hirose ins Zimmer gefegt, seinen dunklen Schatten, Kurauchi, im Gefolge. Der Bodyguard sah uns und blieb in der Tür stehen. Hirose packte den Jungen fest und schüttelte ihn. Gott sei Dank hörte er auf zu schreien. Dafür schluchzte er jetzt, laut und verzweifelt. Kaoruko zog ihn von Hirose fort und zu sich und wiegte ihn sanft. So waren also die Alpträume, von denen sie mir erzählt hatte. Heftig. Kein Wunder, dass der Arzt Beruhigungsmittel verordnet hatte. Hirose legte eine Hand auf den bebenden Rücken des Jungen und sagte etwas. Ich bekam nicht mit, ob er zu Tatsuomi oder zu seiner Frau sprach. Eigentlich war das jetzt eine gute Gelegenheit für die beiden Eheleute, sich in der gemeinsamen Fürsorge zu ihrem Sohn wieder einander anzunähern. Bedauerlicherweise zischte Kaoruko ihrem Mann wütend etwas zu und schlug sogar seine Hand von dem Kind weg. Nein, dachte ich, doch nicht jetzt, das ist der denkbar ungünstigste Zeitpunkt zum Streiten! Ich konnte Kaoruko jedoch auch gut verstehen, sie war einfach am Ende ihrer Belastbarkeit, und daran war Hirose nicht unbeteiligt. Ich sah, dass auch sie jetzt weinte. Ich hoffte nur, dass Tatsuomi davon nicht allzu viel mitbekam. Der Ärmste hatte gerade wirklich genug Probleme, auch ohne zankende Eltern. Hirose trug es mit Fassung. Er machte ein fast unmerkliches Zeichen Richtung Tür, und der dunkle Schatten verschwand augenblicklich. Die beiden mussten sich wirklich gut kennen, wenn sie sich so problemlos mit kleinen Gesten verständigen konnten. „Kurauchi holt die Medikamente für Tatsuomi“, sagte Hirose. Ob er sich wohl auch ein Beruhigungsmittel für seine Frau wünscht, kam es mir sarkastisch in den Sinn. Aber so sehr, wie Tatsuomi schluchzte, war die Idee mit den Medikamenten vielleicht gar nicht so schlecht. Er schien sich überhaupt nicht beruhigen zu können. „Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“ fragte Kaoruko und umschlang ihr Kind schützend. „Nun, Nami… ich meine, Midorikawa-san hat heute Nachmittag etwas mit irgendwelchen Energieschlössern gemacht, das hat ganz gut geholfen“, erinnerte ich mich. Das Wort hatte ich mir gemerkt, weil ich es so ungewöhnlich fand. „Sie soll her kommen“, sagte Kaoruko in Befehlston. Hirose sah seine Frau an und atmete einmal tief ein. Dann stand er auf und verließ den Raum. Ich nahm seinen Platz neben Kaoruko ein und legte ihr unterstützend meine Hand auf die Schulter. Sie vergrub ihr Gesicht in Tatsuomis Haar und wiegte ihn weiter hin und her. „Manchmal geht das die ganze Nacht so“, murmelte Kaoruko. „Oh je“, machte ich. „Das ist wirklich schlimm. Kommt er denn zu Ihnen ins Bett, wenn er so schlecht träumt? Ich kenne das von meinen Söhnen…“ „Dafür ist er schon zu alt“, ließ sich Hiroses tiefe Stimme hinter mir vernehmen. Er war schon wieder zurück. Anscheinend hatte er nur telefoniert oder so. Der feine Herr holte seine Bedienstete natürlich nicht persönlich ab. „Dafür kann man gar nicht zu alt sein“, sagte ich. „Außerdem ist er doch erst acht.“ Langsam wunderte ich mich nicht mehr darüber, was von Kindern in diesem Haus erwartet wurde. Kurauchi kam mit einem kleinen Fläschchen und gab es Hirose, der es wiederum neben Kaoruko auf den Boden stellte. Er sagte etwas auf Japanisch, und sie nickte nur stumm. Tatsuomi weinte mit unverminderter Heftigkeit weiter. Endlich kam Nami ins Zimmer gehuscht und verneigte sich kurz. „Mi-san, danke, dass sie da sind“, sagte Kaoruko erleichtert. „Saalfrank-san meinte, Sie könnten uns helfen.“ „Ich werde es versuchen“, antwortete Nami bescheiden und hockte sich auf die andere Seite neben Kaoruko. Sofort waren ihre Finger an Tatsuomis Hinterkopf, an den Punkten, die sie vorhin mir gezeigt hatte. „Kommen Sie“, sagte Hirose leise zu mir, und ich bemerkte, dass sein Atem leicht nach Alkohol roch. „Wir werden hier nicht mehr gebraucht. Und Sie haben jetzt Feierabend!“ Ich zögerte einen kurzen Moment, und witzigerweise war es Nami, die mir mit einem Nicken zu verstehen gab, dass es in Ordnung war, noch bevor Kaoruko sagte: „Mein Mann hat Recht. Ruhen Sie sich aus. Wir sehen uns morgen.“ Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Jungen zu und lauschte auf Namis gemurmelte Anweisungen. Kapitel 16: Die entspannende Wirkung von Alkohol ------------------------------------------------ Ich erhob mich und folgte Hirose, der mich den Flur entlang und um eine Ecke führte in einen Raum, der einen wunderschönen Blick in den halbdunklen Garten eröffnete. Dafür ließ er auch die kühle Abendluft herein. Kurauchi war anscheinend schon vor uns angekommen, ich hatte gar nicht bemerkt, dass er uns vorausgegangen war. Er nahm einen kleinen Gegenstand von dem niedrigen Tisch, der an der Seite vor einem Rollbild mit Vogelmotiv stand, gerade als wir den Raum betraten, und ließ ihn in seine Tasche gleiten. Vor dem Tisch lagen drei große dunkle Sitzkissen, und auf dem Tisch standen zwei Gläser und eine Flasche, die aussah als würde sie Whisky enthalten. Daneben lag eine angebrochene Schachtel Zigaretten, Streichhölzer und ein Aschenbecher. Hirose saß hier mit seinem Bodyguard und trank Whisky, während seine Frau nebenan vor Kummer weinte? Ich legte fröstelnd meine Arme um mich. „Setzen Sie sich“, lud Hirose mich ein. „Trinken Sie einen Sake mit mir. Das wärmt von innen.“ Ich setzte mich, aber schüttelte den Kopf. „Haben Sie vielleicht einen Tee für mich?“ „Natürlich“, entgegnete er. „Aber haben Sie denn unseren Sake schon gekostet?“ „Nein. Ich trinke eigentlich keinen Alkohol.“ Zumindest nicht während der Arbeit, dachte ich, und wusste sofort, dass die Wörtchen vielleicht und eigentlich ein Fehler gewesen waren. „Sie können Japan nicht verlassen, ohne wenigstens einmal Sake getrunken zu haben“, ließ er denn auch nicht locker und gab Kurauchi eines ihrer unauffälligen Handzeichen. Kurauchi verneigte sich, nahm die Gläser mit der Flasche vom Tisch und entfernte sich. In Hiroses Privatgemächern schien sich der Leibwächter in eine Art Butler zu verwandeln. Oder in einen Freund? Ich gab nach. Hilfe für Tatsuomi führte an Hirose vorbei, und der schien in einer gelösten Stimmung zu sein, die ich so von ihm noch nicht kannte. Das wollte ich mir nicht entgehen lassen. „Sind Sie denn als Kind nie zu Ihren Eltern ins Bett gekrochen, wenn sie sich nachts gefürchtet haben?“ nahm ich gleich das Gespräch in Angriff. Er schüttelte den Kopf und lächelte. „Sie geben wohl nie auf“, sagte er. Ich erwiderte das Lächeln. „Ich habe ja nur begrenzte Zeit hier. Und ich kann immer noch nicht verstehen, warum Sie sich so dagegen sperren, Tatsuomi zu einem Spezialisten zu schicken.“ „Und warum drängen Sie so darauf?“ „Mr. Nanjo, meine Einschätzung ist ganz klar, dass hier traumatische Dinge passiert sind“, behauptete ich einfach mal mutig und sehr ernst. „Da brauchen Sie gezielte Unterstützung.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und ließ mich nicht aus den Augen, aber sprach in diesem gelassenen Tonfall weiter, den er heute Abend drauf hatte. Wie viel mochte er wohl schon getrunken haben? „Ich hatte keine Alpträume als Kind.“ Aha. Da sprach er dann doch lieber über sich als über seinen Sohn. Das war mir nur Recht. Mir war es immer wichtig, so viel wie möglich auch über die Vergangenheit der Eltern zu erfahren, denn nur so konnte ich ihre Verhaltensweisen wirklich verstehen und Ansätze für meine Arbeit mit ihnen finden. „Und wenn ich welche gehabt hätte, wäre niemand da gewesen, zu dem ich hätte kriechen können. Meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben. Mein Vater hätte so ein Verhalten nicht geduldet. Und Vaters neue Frau, die Mutter von Akihito und Nadeshiko, hat sich schon um ihre eigenen Kinder kaum gekümmert. Ich habe auch keinen Wert darauf gelegt. Als sie ging, ließ sie die beiden einfach zurück. Akihito hat tagelang geheult, Nadeshiko war damals noch zu klein, um zu begreifen.“ Hirose hatte wirklich großes Talent, geschickt vom Thema abzulenken, und konnte nun unbeschwert von Akihitos Schwierigkeiten in der Kindheit erzählen. Nami hatte mir ja auch schon davon erzählt, aber jetzt wurde noch mal deutlich, wie sehr Hirose sich um seinen jüngeren Bruder gekümmert hatte. Akihito musste sehr an ihm hängen, denn Hirose schien seine wichtigste Bezugsperson gewesen zu sein, und dann war auch verständlich, weswegen er so genervt auf Tatsuomi reagierte. Ich nahm an, er war eifersüchtig, einfach weil Tatsuomi Hiroses Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Koji erwähnte er mit keinem Wort, als existiere der jüngste Bruder gar nicht. Eine ältere Frau brachte den Reiswein und rutschte auf Knien durch das Zimmer. Ich kannte das aus Filmen, und es brachte mir wieder ins Bewusstsein, wie viel Wert hier in diesem Haus auf Traditionen gelegt wurde. Sie stellte eine zierliche Porzellankaraffe mit einer schlichten Blütenzweigbemalung zwischen uns auf den Tisch und dazu zwei winzige Becher, die mich an die Eierbecher von zu Hause erinnerten. Dann verschwand sie so wortlos, wie sie erschienen war. Hirose schenkte uns ein und nickte mir zu: „Kampai.“ „Zum Wohl“, antwortete ich auf Deutsch und kostete den Reiswein. Zu meiner Überraschung wurde er warm serviert. Da Hirose keine Anstalten machte, das Fenster zu schließen, kam mir das sehr entgegen. Nachdem wir uns eine Weile über Wein im Allgemeinen und deutsche und japanische Weinanbaugebiete im Speziellen unterhalten hatten und Hirose uns schon zweimal nachgeschenkt hatte, nahm ich den Faden noch einmal auf. „Tatsuomi hat mir von den festen moralischen Grundsätzen der Samurai erzählt. Unerschrockenheit, Ehre, Pflichtgefühl. Nie lügen, nie Schmerz äußern. Sind das die Werte, die Sie an Ihren Sohn weitergeben wollen? Ist es das, was Ihnen Ihr Vater vermittelt hat?“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ fragte er misstrauisch und nahm sich eine Zigarette. Ohne sie anzuzünden drehte er sie zwischen den Fingern. „Was ich von Ihrer Kindheit erfahren habe, hört sich nicht gerade sehr unbeschwert an. Heute Vormittag sagten Sie, Sie wurden hart gedrillt. Es war ein ungeheurer Druck. Akihito wurde buchstäblich zum Kendo geprügelt. Sie haben quasi für ihn die Elternfunktion übernommen, waren für ihn da, wenn er weinte. Wer war für Sie da? Wer hat Sie unterstützt, wenn Sie Kummer hatten?“ Er zündete sich seine Zigarette an. Dabei rutschte der weite Ärmel seines Kimono zum Ellenbogen hinab. Auf seinem Unterarm bemerkte ich rote Striemen und an seinem Hals auch, jetzt wo ich darauf achtete. Natürlich, dachte ich. Dass ich da nicht gleich drauf gekommen bin! „Weiter“, forderte er mich auf und sog an der Zigarette. „Nur weil Sie als Kind einsam waren und keine Unterstützung erfahren haben, muss sich das für Ihren Sohn nicht wiederholen. Sie leben nicht mehr in einem Feudalstaat, Sie sind keine Samurai, soweit ich das beurteilen kann, und Tatsuomi ist kein Krieger! Er ist ein kleiner achtjähriger Junge, der völlig überfordert ist mit seinen Ängsten, seinen Schmerzen und den Erwartungen, die Sie in ihn setzen, und die er im Augenblick unmöglich erfüllen kann.“ „Ich weiß sehr gut, was er durchmacht. Besser als jeder andere, und darum weiß ich auch, dass er damit fertig werden wird. Ich habe es schließlich auch geschafft. Mit der Zeit verblasst die Erinnerung daran…“ Doch die Zigarette in seiner Hand zitterte leicht während dieser Worte. „Ist das so? Dann sagen Sie mir, wenn Sie es wirklich geschafft haben, was versuchen Sie dann so krampfhaft, von sich abzuwaschen? So sehr, dass Ihre Haut davon wund wird?“ Er lächelte mild. „Sie haben eine gute Beobachtungsgabe. Aber darüber möchte ich wirklich nicht mit Ihnen sprechen.“ „Das müssen Sie auch nicht. Ich bitte Sie nur, sich das mit der therapeutischen Hilfe noch einmal zu überlegen. Es könnte gut sein, dass Tatsuomi sich von dieser seelischen Verletzung nicht alleine erholen wird. Und dann wird ihn das den Rest seines Lebens beeinträchtigen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie sich das für ihn wünschen.“ „Ich werde es mir überlegen.“ Gut, dass ich da noch nicht wusste, dass das in Japan meist kein Versprechen, sondern eine diplomatische Absage war. So gab ich mich erstmal damit zufrieden. Es war wirklich nicht leicht, an Hiroses Emotionen heran zu kommen. Aber so, wie ich ihn diesen Abend erlebt hatte, begann ich mir nun auch Sorgen um ihn zu machen. Er wirkte irgendwie resigniert. Er schien einige unverarbeitete Erlebnisse mit sich herum zu tragen, doch er war unfähig, seine Gefühle auszudrücken und betäubte sie stattdessen mit Alkohol und versuchte, die unangenehmen Erinnerungen von sich abzuwaschen. Er hatte mir erzählt, sein Lebensziel sei es gewesen, seinem Vater gerecht zu werden. Und der hatte ihn zurück gewiesen und den jüngsten Sohn als Erben eingesetzt. Was war jetzt sein Lebensziel? Hatte er noch eins? Eltern dieser Welt, warum könnt ihr nicht achtsamer mit euren Kindern umgehen? Ohne Liebe und Zuwendung werden eure eigenen unerfüllten Sehnsüchte von Generation zu Generation weiter gegeben… Mit diesen Gedanken ging ich auf mein Zimmer und war froh, jetzt noch mit meiner eigenen Familie telefonieren zu können. Wie sehr ich sie vermisste! Kapitel 17: Im Krankenhaus -------------------------- Am nächsten Morgen war Hirose schon vor dem gemeinsamen Frühstück zur Arbeit aufgebrochen. Ob er so dringend in die Firma musste, oder ob ihm der gestrige Abend doch näher gegangen war, als er sich hatte anmerken lassen, und er mir aus dem Weg gehen wollte, würde ich wohl nie erfahren. Kaoruko sah müde und abgespannt aus, Tatsuomi auch. Die Stimmung war gedrückt. Nur Nadeshiko wirkte so unbeschwert wie immer. Sie kam mir vor wie ein Sonnenstrahl, der durch graue Wolken bricht. Bestimmt hatte sie das als Kind gelernt, in dem Bedürfnis, Harmonie zwischen ihre Brüder zu sähen. Oder den Vater zu besänftigen. Doch selbst sie schaffte es nicht, Tatsuomi an diesem Morgen ein Lächeln zu entlocken. Nachdem sie sich verabschiedet hatte und Kaoruko dem Hauslehrer entgegen ging, war ich mit Tatsuomi allein. „Ich habe gestern meine Aufgaben nicht gemacht. Der Sensei wird schimpfen“, sagte er und sah mich an mit seinen dunklen, umschatteten Augen. „Das wird er nicht“, versicherte ich. „Der Unterricht wird dir heute bestimmt Spaß machen.“ Ich hoffte, der Lehrer war ein guter Pädagoge, damit ihm so spontan ein paar schöne Lernspiele einfielen. Tatsuomis Gesichtsausdruck nach schien er da ernsthafte Zweifel zu haben. „Findest du ihn sehr streng?“ fragte ich in mitfühlendem Ton. „Warum sind Sie eigentlich hier?“ fragte er müde statt einer Antwort. Schon genauso gut wie sein Vater, dachte ich, wenn es darum ging, einer Frage auszuweichen. „Das ist mein Beruf. Ich gehe zu Familien und helfe Kindern, wenn ihre Eltern Probleme machen.“ Ich lächelte ihm zu, aber er blieb ernst und schaute verlegen nach unten. „Können Sie auch machen, dass meine Träume aufhören?“ Ich stand auf, um mich neben ihn zu hocken. „Weißt du, in Träumen verarbeiten wir ja, was wir am Tag erlebt haben. Und wenn es tagsüber für dich weniger schwierig ist, kannst du nachts vielleicht besser schlafen. Das kann ich dir nicht versprechen, aber ich kann dir versprechen, dass wir versuchen werden, das zu verändern. Hm?“ * Er nickte langsam und sagte etwas, das ich leider wieder einmal nicht verstand. Als Kaoruko kam und ihn zum Unterricht schickte, flüsterte ich ihr ins Ohr: „Er hat Sorge, weil er die Hausaufgaben nicht gemacht hat. Beruhigen Sie ihn ruhig noch mal, dass das in Ordnung geht.“ Sie nickte und nahm ihn fest in den Arm, bevor er sich auf den Weg machten musste. Er straffte sichtlich die Schultern beim Hinausgehen. „Ich fahre jetzt in die Klinik“, sagte sie dann zu mir. „Die müssen wissen, was mit meinem Sohn passiert ist. Begleiten Sie mich?“ Natürlich begleitete ich sie. Ich war froh, als ich feststellte, dass Nami uns fahren würde. In der schwarzen Limousine ging es zum St. Luke’s International Hospital, einem sehr prestigereichen Krankenhaus mit allen Fachrichtungen und Notfallklinik, wie mir Kaoruko während der Fahrt erläuterte. Dort angekommen fragte sie sich nach der Station von Dr. Kajiura durch, wo sie im Schwesternzimmer nach der Krankenakte ihres Sohnes fragte. Nami, die sich immer in Frau Nanjos Nähe hielt, wartete mit mir auf dem Gang, konnten jedoch durch die offene Tür und die große Glasscheibe das Gespräch verfolgen. Nami ließ den Gang zu beiden Seiten nicht aus den Augen, und übersetzte mir leise stichwortartig. Es ging wohl ein wenig hin und her, es sei unüblich den Patienten Akteneinsicht zu gewähren. Kaoruko blieb hartnäckig, sie habe ein Recht darauf, und die Pflegerin verschwand schließlich den Korridor entlang in irgendeiner Tür. Allerdings kam sie nicht in Begleitung einer Akte, sondern eines weißbekittelten Mannes zurück, der Anfang vierzig sein mochte, mit schon leicht angegrautem Haar. Er entpuppte sich als Dr. Kajiura, und er führte Kaoruko in sein Zimmer, lächelnd und sich verneigend. Ich traute seiner Freundlichkeit nicht. Nami und ich warteten wieder draußen, rechts und links des Türrahmens. Nur konnten wir diesmal das Gespräch leider nicht mit anhören. Nami warf mir einen kurzen Blick zu und unterdrückte ein kleines Kichern. „Wir sehen aus, als seien Sie meine Kollegin“, sagte sie und wurde gleich wieder ernst. „Das wird doch nichts mit dem“, flüsterte sie und deutete Richtung Tür. Sie hatte es also auch gemerkt. Das Gespräch dauerte nicht lange, und war nicht gut gelaufen, wie ich sofort an Kaorukos Gesichtsausdruck ablesen konnte. Enttäuscht, wütend und verzweifelt fegte sie an uns vorbei aus dem Zimmer und verlangsamte ihren Schritt erst wieder, als wir in der großen Halle im Eingangsbereich angelangt waren. „Er hat nur wieder die gleiche alte Geschichte wiederholt. Ich glaube ihm kein Wort“, sagte sie. „Ich wäre dankbar für irgendwelche Vorschläge.“ Ratlose Stille herrschte daraufhin, und ich dachte an Namis beherzten Aktenzugriff bei Dr. Emoto. Aber das dürfte hier ungleich schwieriger sein. Außerdem wagte ich auch nicht, eine entsprechende Anregung zu machen. Nami sprach das Thema ebenfalls nicht an. Vielleicht mussten wir doch noch einmal Hirose gut zureden. „Ich habe eine Idee“, sagte Nami schließlich. „Wenn wir Glück haben…“ Nami führte uns zur Notaufnahme. Sie kannte einige Rettungsärzte von früher durch ihre Arbeit bei der Polizei. Und wir hatten Glück. Einer davon arbeitete wirklich in diesem Krankenhaus und erklärte sich bereit, herauszufinden, wer an dem besagten Abend von Tatsuomis Unfall Dienst gehabt hatte. Und tatsächlich kehrte er kurz darauf mit dem Namen einer Ärztin zurück. Merkwürdigerweise arbeitete sie gar nicht im St. Luke’s International Hospital. Wir fuhren sofort zu dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete, und warteten dort über eine Stunde, bis sie zu uns in den Wartebereich kam. Sie hatte ein freundliches, rundes Gesicht, auch wenn sie im Moment sehr verschlossen aussah, und das Lächeln wirkte gezwungen. Sie war ungefähr in meinem Alter und einen Kopf kleiner als ich. Ihre Haare waren zu einer Frisur mit Dutt zusammengebunden, in der sich schon einige graue Strähnen zeigten. Sie trug ihren weißen Arztkittel offen, und aus seinen Taschen lugten Kugelschreiberenden und Notizzettel mit Eselsohren heraus. Mit vielen Verbeugungen stellten wir einander vor. Auch die Ärztin wollte zunächst nicht recht rausrücken mit der Sprache. Kaoruko brauchte all ihre Überredungskunst und legte sehr überzeugend dar, wie schlecht es ihrem Sohn ging, und wie verzweifelt sie darüber war, bis sie das Herz dieser Frau erweichen konnte. Schließlich gab sie nach und führte uns in ein kleines Zimmer mit einem Schreibtisch und mehreren Sesseln, in die wir uns setzten. Nami blieb draußen vor der Tür zurück, aber ich konnte ihr ansehen, dass sie viel lieber mit hinein gekommen wäre, auch wenn sie pflichtbewusst den Blick von Ende zu Ende des langen Flurs entlang gleiten ließ. Das Gespräch lief einige Kurven, bis das Thema auf den Punkt kam und die Ärztin sagte: „Ich habe selbst Kinder. Ich hoffe wirklich sehr, dass es Ihrem Sohn bald wieder gut geht. So etwas Furchtbares habe ich in den ganzen Jahren noch nicht gesehen…“ Ich hielt die Luft an und warf einen besorgten Blick zu Kaoruko. Sie saß stocksteif und war eine Nuance blasser geworden, doch sie hatte sich gut im Griff. „Würden Sie mir bitte noch einmal persönlich erzählen, was Sie an diesem Abend gesehen haben“, sagte sie und brachte sogar ein freundliches Lächeln zustande. „Ich möchte es genau wissen.“ Sie schützte ihren Mann und ließ nichts von ihren Konflikten miteinander durchblicken, indem sie verschwieg, dass sie überhaupt nichts wusste. Die Ärztin (deren Namen ich zwar verstanden, jedoch nicht behalten hatte) kam ihrer Bitte nach und schilderte genau. Fast zu genau, wie sich herausstellen sollte. Der Notruf ging am späten Abend ein. Die Polizei forderte einen Rettungswagen zu einer der renommiertesten Privatschule an. Sie wunderte sich noch über die Uhrzeit. Hirose war auch schon vor Ort, aber zunächst hatte sie natürlich nur Augen für den Jungen. Und was dann folgte, war wirklich schrecklich, und es fiel der Frau sichtlich schwer, uns davon zu berichten. Tatsuomi lag in der Sporthalle, im Geräteraum, unter dem Barren. Es war ihm offensichtlich Gewalt angetan worden, die Stricke, mit denen er am Barren festgebunden worden war, lagen noch um ihn herum. Jemand hatte seine Jacke über ihn gebreitet, eine Polizeijacke, darunter war er nackt. Er lag zusammengekrümmt, mit aufgerissenen Augen und stand natürlich noch unter Schock, reagierte auf keinerlie Ansprache und wimmerte nur leise, die ganze Zeit. Die Gymnastikmatte unter ihm war mit Blut und Urin beschmutzt… Ich war selbst so betroffen, dass ich gar nicht darauf geachtet hatte, wie es Kaoruko bei dieser Schilderung erging. Die Ärztin stockte, als Kaoruko ein kleines Stöhnen von sich gab. Sie presste eine Hand auf den Mund und war totenbleich. Das waren mehr Details als sie verkraften konnte. Ich konnte sie gut verstehen und legte ihr meine Hand auf den Ellenbogen. Ihr Arm fühlte sich an wie warmer Granit, so angespannt war sie. „Verzeihen Sie vielmals“, sagte die Ärztin mitfühlend. „Ich höre besser auf.“ Kaoruko protestierte mit einer Bewegung ihrer freien Hand, war aber unfähig, zu sprechen. „Warum hat er geblutet? Bitte, reden Sie weiter“, sagte ich, und meine Stimme klang rau. Es entstand eine lange Pause, in der unsere Atemzüge überdeutlich in der Stille zu hören waren. Draußen, vor dem Fenster und vor der Tür ging das Leben weiter, und die Alltagsgeräusche drangen gedämpft zu uns herein. Aber hier drin in diesem Raum schien die Zeit still zu stehen. Als ich schon dachte, sie würde nicht antworten, sprach sie bedacht weiter, und wir erfuhren die ganze schreckliche Wahrheit. Tatsuomi war vergewaltigt worden. Das Gerät, das verwendet worden war, steckte sogar noch in ihm, denn jeder Versuch, es herauszuziehen, bereitete dem Jungen große Schmerzen. Die Ärztin legte eine Infusion, und sie hoben ihn, so wie er war, auf die Trage, um das Problem im Krankenhaus zu lösen. Sie wollte direkt zum Kinderkrankenhaus fahren, aber Hirose bestand darauf, dass sein Sohn in das St. Luke’s International Hospital gebracht wurde. Das war ungewöhnlich, aber sie hatte nicht gewagt, zu widersprechen. Wieder schwiegen wir. Schließlich räusperte sich die Ärztin, und ihr Sessel schabte schrill über das Linoleum, als sie sich anschickte, aufzustehen. „Entschuldigen Sie, ich muss wieder an die Arbeit…“ Kaoruko nickte, rührte sich ihrerseits aber keinen Millimeter. „Aber warum? Wer macht so etwas?“ fragte sie mit dünner Stimme, aus der pure Fassungslosigkeit sprach. „Das war doch dieser andere Junge. Er war sogar noch da. Ich habe ihn bei den Polizisten gesehen an dem Abend.“ „Wissen Sie, wie er heißt?“ fragte ich. Sie schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe nie wieder etwas darüber gehört… Aber vergessen… vergessen werde ich das nie.“ Sie wandte sich an Kaoruko. „Es tut mir wirklich sehr leid für Sie. Ich wünsche Ihnen und Ihrem Jungen alles Gute. Hoffentlich erholt er sich bald vollständig davon.“ Sie stand jetzt auf. „Entschuldigen Sie mich. Sie können gerne noch eine Weile hier sitzen bleiben.“ „Danke“, sagte ich. Das konnten wir gut gebrauchen. Ich benötigte eine ganze Weile, bis ich mich wieder gefasst hatte. Kaoruko neben mir machte keine Anstalten, sich aus ihrer Starre zu lösen. Was dachte sich Hirose nur dabei, zu sagen, der Junge solle sich nicht so anstellen, und er bräuchte keine Hilfe! Und was hatte Hirose gemeint, er wüsste genau, was passiert war, und er wäre auch darüber hinweg gekommen? Ich erinnerte mich, wie seine Hände gezittert hatten dabei. „Das ist…“ Ich musste mich erst räuspern, bevor ich weiter sprechen konnte. „Das ist ja wirklich furchtbar. Der Ärmste! Aber jetzt wissen wir wenigstens, was mit ihm los ist, und dann können wir jetzt auch mit der Situation ganz anders umgehen.“ „Ich möchte jetzt nach Hause.“ Nur Kaorukos Lippen bewegten sich, und die Worte waren ohne Betonung. „Ich möchte zu meinem Sohn.“ „Ja, das verstehe ich.“ Besorgt musterte ich sie. Meine Sorge um sie half mir selbst, meine eigene Bestürzung zu überwinden. Ich setzte gerade zu einer Frage an, da stand sie abrupt auf und unterbrach mich. „Ich möchte jetzt allein sein.“ Ich wollte sie gerne trotzdem noch fragen, außerdem war ich mir nicht sicher, ob es wirklich gut für sie war, wenn sie jetzt ohne Begleitung und Beistand wäre. Vielleicht entsprach dieser Wunsch nur einer Art Schockreaktion, und sie lief draußen irgendwo vor ein Auto oder etwas ähnliches. Also wollte ich hinter ihr her, aber Nami stellte sich mir in den Weg. „Bitte! Sie hat gesagt, sie geht allein.“ „Aber…“ „Ich muss mich an ihre Anweisungen halten.“ „Aber ich nicht!“ Ich wollte an ihr vorbei, aber es klappte nicht. Stattdessen umfassten ihre Finger unerbittlich wie ein Schraubstock meinen Arm. Ich blieb stehen und blickte an meinem Arm hinab, und sofort lockerte sie den Druck, ohne jedoch loszulassen. „Was ist denn los?“ fragte sie. „Ich mache mir Sorgen! Ihr geht es nicht gut, und…“ „Verstanden.“ Nami lief los und hatte schon ein paar Worte mit Kaoruko gewechselt, als ich die beiden erreichte. Gemeinsam konnten wir sie überreden, sich von Nami nach Hause fahren zu lassen. „Sie müssen auch nicht reden während der Fahrt, wenn Sie nicht möchten“, sagte ich. Aber ich ließ mir nicht nehmen, im Wagen nach ihrer Hand zu greifen, und das ließ sie auch geschehen, ohne jedoch den Blick vom Fenster zu nehmen. Sie drückte sogar kurz meine Hand, bevor sie ausstieg, als Nami vor dem großen Tor ihres Grundstücks anhielt. „Sie haben heute den Rest des Tages frei“, sagte sie zu uns beiden. „Entschuldigen Sie mich.“ Ich verstand, dass sie es war, die den Rest des Tages frei haben wollte, und hakte nicht weiter nach. Ich wusste nicht, wie ich mich an ihrer Stelle verhalten würde. Wahrscheinlich ähnlich. Nami drehte sich zu mir herum. „Erzählen Sie mir, was die Ärztin gesagt hat?“ Ich stand auf, ging um den Wagen herum und setzte mich auf den Beifahrersitz neben sie. Sie machte den Motor aus und gab den zwei Wachen ein Zeichen, dass sie die beiden Torhälften, die sie schon für uns aufgeschoben hatten, wieder schließen konnten. Und dann machte es Nami so ähnlich wie ich und benutzte ihr berufliches Rollenverhalten, um mit der grausamen Information umzugehen. Ich hatte gar nicht vorgehabt, ihr alle Details zu erzählen, aber sie stellte geschickt mehrere gezielte Fragen und war dann doch voll im Bilde. Ich konnte sie mir ohne Probleme als gute Polizistin vorstellen. Ich nahm an, sie hatte hervorragende Zeugnisse, sonst hätte sie gewiss im Hause Nanjo keine Anstellung bekommen. Warum sie wohl den Job gewechselt hatte? Doch jetzt war keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Nami hieb kurz mit der Hand auf das Lenkrad und sagte etwas Unfreundliches auf Japanisch. Nach einem kurzen Innehalten drehte sie den Zündschlüssel und ließ den Motor aufheulen. „Ich möchte wissen, wer das getan hat“, sagte sie, und ihre Stimme war geschliffener Stahl. Sie sah starr über die Mauer hinweg auf das Anwesen der Familie. „Und Kaoruko-sama wird das auch wissen wollen, sobald sie sich erholt hat. Kommen Sie mit? Wir haben frei.“ Sie wartete mein Ja kaum ab, da wurde ich auch schon durch ihrem rasanten Start in den Sitz gedrückt. Zum Glück wirkte sich ihre innere Verfassung nicht auf die weitere Fahrt aus, im Gegenteil. Bis auf ihr schwungvolles Anfahren, fuhr sie äußerst vorsichtig. „Was haben Sie vor?“ fragte ich. „Wenn Polizisten vor Ort waren, müsste ich es leicht herausfinden. Ich habe noch gute Kontakte. Zu einem solchen Fall muss es Protokolle geben, Untersuchungsergebnisse, Verhöre, vielleicht sogar Fotos...“ Mir war es Recht, wenn Tatsuomi für den Moment zu einem Fall wurde. Das linderte die Betroffenheit. Ob ich Fotos sehen wollte, bezweifelte ich. Kapitel 18: Detektivarbeit -------------------------- Noch während der Fahrt telefonierte sie mit einem ehemaligen Kollegen und verabredete sich mit ihm in seiner Dienststelle. Ich wartete draußen im Auto. Als sie zurückkehrte, verhieß ihr Gesichtsausdruck nichts Gutes. Sie setzte sich hinter das Steuer und schloss die Augen. Dann legte sie die Spitzen von Daumen und Zeigefingern zusammen und sagte: „Ich brauche einen Moment Ruhe.“ Ich nickte, obwohl sie das nicht sehen konnte, und wartete und lauschte ihren unruhigen Atemzügen, die sich gar nicht beruhigen wollten. „Ich brauche wohl eher Bewegung“, gab sie schließlich auf und stieg wieder aus. „Gehen wir ein paar Schritte?“ Sie schlug ein flottes Tempo ein, und ich gab ihr ein paar Minuten, bevor ich das Schweigen brach: „Ich nehme an, es gibt keine Berichte?“ Sie gab ein kleines zorniges Schnaufen von sich. „Alles gelöscht. Anweisung von ganz oben. Der Polizeipräsident persönlich. Hirose muss alle ihm möglichen Hebel in Bewegung versetzt haben.“ Sie vergaß sogar das obligatorische -sama. „Ich verstehe ja, dass er nicht möchte, dass es bekannt wird. Aber ich finde, er übertreibt. Und ich begreife einfach nicht, wie er so streng mit seinem Sohn sein kann, wenn er genau weiß, was ihm geschehen ist! Er hat ihn doch sogar gesehen, wie er da lag…“ Mit dem Zorn kehrten auch die anderen Gefühle zurück, und sie brach hilflos ab. „Sicher hat er seine Gründe“, sagte ich etwas lahm, weil ich genau darüber auch schon nachdachte. „Ich hoffe für ihn, seine Gründe sind nicht, dass er selbst irgendwas mit Tatsuomi anstellt.“ „Wie meinen Sie das?“ „Vielleicht will er nicht, dass Tatsuomi darüber redet, weil dann heraus kommen könnte, dass er selbst mit ihm…“ Sie konnte es nicht aussprechen. Ich dachte wieder an Hiroses Worte, die er im whiskytrunkenen Zustand gesagt hatte, er wüsste sehr gut, was Tatsuomi durchmachte. Und genauso wüsste er, dass Tatsuomi damit fertig werden würde. Erneut fragte ich mich, was er so sehr von sich abschruppen wollte, dass es an Waschzwang grenzte, oder sogar schon einer war. Das deutete eigentlich darauf hin, dass Hirose selbst einmal Opfer von Gewalt gewesen sein könnte. Doch ich wusste natürlich, dass aus Opfern oft Täter wurden. War Missbrauch ein Thema in dieser Familie? Dafür hatte ich eigentlich keine konkreten Hinweise. Ich schüttelte den Kopf. „Möglich. Aber ich denke eher, dass Hirose das Problem auf die einzige Art angeht, die er gelernt hat: Den Schmerz ignorieren und weiter machen.“ Nami dachte darüber nach und nickte erleichtert: „Und auf keinen Fall Schande über die Familie bringen. Ich hoffe sehr, Sie haben Recht.“ „Oder könnte Hotsuma damit zu tun haben? Er war schließlich auch an dem Nachmittag in der Sporthalle…“ Diese Möglichkeit zur Erklärung dieser perfekten Vertuschung fiel mir noch ein. Hotsuma, der sogar hatte Selbstmord begehen wollen. Vielleicht wollte Hirose ihn schützen? Nami überlegte immerhin einen Augenblick, bevor sie entschieden verneinte. „Auf keinen Fall. Aber Hotsuma! Natürlich!“ Ihre Miene erhellte sich. „Das ist die Lösung! Hotsuma hat doch den Täter gesehen! Den anderen Jungen, den letzten, der außer Tatsuomi noch in der Umkleide gewesen war! Kommen Sie! Wir holen Hotsuma und dann fahren wir nach Kanagawa. Der Junge kommt doch aus Kanagawa!“ „Aha. Und woher wissen wir das?“ fragte ich ratlos. „Na, das hatte doch der Aikidolehrer erzählt. Ein Turnier mit Schülern aus Kanagawa! Und wäre es einer aus Tatsuomis Gruppe gewesen, hätte Hotsuma ihn ja gekannt.“ Nun, wo sie erneut in Aktion treten konnte, wo sie erneut einen Fall daraus machen konnte, ging es ihr gleich wieder besser. Zurück zum Auto rannten wir fast. Ich war allerdings weniger enthusiastisch. Mein Hauptproblem sah ich inzwischen darin, wie ich Hirose dazu bringen sollte, endlich einzulenken und einen Kinderpsychologen hinzuzuziehen. Und ich sah nicht, wie mir die Suche nach dem Übeltäter dabei helfen sollte. Ich war trotz der ganzen unschönen Umstände sehr neugierig auf den Sohn von Hiroses Leibwächter, diesem Mann mit der unheimlichen Ausstrahlung. Wir ließen den Wagen auf dem Parkplatz vor dem Schulkomplex stehen, ein grauer Betonklotz, und gingen an dem das Gelände umgebenden Zaun entlang bis zum eisernen Eingangstor. Ein kleines Pförtnerhäuschen war an der Seite, und Nami zeigte ihren Ausweis und trug ihr Anliegen vor. Der Torhüter, ein älterer Herr, nickte und nahm den Telefonhörer. „Hotsuma kommt hoffentlich gleich“, sagte Nami halblaut zu mir. „Der Pförtner kennt mich zum Glück, ich habe Hotsuma oft genug abgeholt.“ „Werden hier alle Schulen so bewacht?“ fragte ich. „Nein. Dies ist eine sehr teure Privatschule. Kurauchi ist eine gute Ausbildung sehr wichtig. Der richtige Abschluß entscheidet schon über die späteren Aufstiegschancen. Außerdem wird Tatsuomi-sama auch auf diese Schule kommen, und Hotsuma soll dann bestimmt ein Auge auf ihn haben.“ Noch so ein Junge, dessen Zukunft schon vorherbestimmt zu sein schien. Hotsuma machte auf mich einen etwas schüchternen, aber sehr sympathischen ersten Eindruck, obwohl die äußerliche Ähnlichkeit zu seinem Vater unübersehbar war. Das wurde noch verstärkt durch die dunkle Schuluniform, die er trug. Seine Stimme war angenehm leise, und er antwortete ohne Probleme und in ausgezeichneter Aussprache auf Englisch. „Du sprichst aber schon gut Englisch“, sagte ich beeindruckt. „Ich gebe mir Mühe.“ Verlegen wich er meinem Blick aus. „Später werde ich Tatsuomi-sama nach Amerika begleiten, wenn er nach Harvard geht, und da muss ich ja gut sprechen können. Ist etwas mit Tatsuomi-sama?“ „Nein, nein“, versicherte Nami schnell. „Aber du kannst uns helfen. An dem Tag, als Tatsuomi-sama überfallen worden ist – ja, wir wissen das inzwischen, und du weißt es doch auch, dass das kein Sportunfall war, nicht wahr? Erinnerst du dich an diesen Jungen, den du in der Umkleidekabine gesehen hast? Kannst du ihn wieder erkennen? Wir glauben, dass er es gewesen ist.“ Hotsuma ließ sich Zeit mit der Antwort und sagte dann mit Entschlossenheit: „Ja. Ich würde ihn erkennen.“ „Dann komm, dann suchen wir ihn jetzt. Ich befreie dich vom Unterricht.“ Nami lief zum Pförtnerhäuschen zurück und tischte dem alten Herrn eine Geschichte von einem dringenden Arztbesuch auf. „Ich hab gesagt, du hast Zahnschmerzen, okay?“ erklärte sie, als wir zum Auto zurückgingen. Hotsuma lieferte während der Fahrt nach und nach eine ziemlich gute Personenbeschreibung ab, und da der andere Junge etwa in seinem Alter gewesen war, begannen wir die Suche an der Mittelschule in Kanagawa. Wir wussten, dass wir hier richtig waren, denn Hotsuma erkannte sofort die Schuluniform wieder. Wir hatten auf die nächste Pause gewartet, und meine Aufregung wuchs von Minute zu Minute. Was würde uns hier nun wieder erwarten? Hotsuma hibbelte von einem Fuß auf den anderen, und nur Nami sah aus, als wäre sie völlig unbeteiligt. Ich konnte mir allerdings denken, dass es in ihrem Inneren ganz anders aussah. Diese Vermutung würde sich auch später bestätigen. Erstmal jedoch blieb Hotsumas Suche erfolglos; er konnte den Jungen nirgends entdecken, obwohl er die ganze halbe Stunde, die die Pause dauerte, jeden einzelnen Schüler auf dem Schulhof gründlich in Augenschein nahm. Auch Nami und ich beobachteten die Kinder, die zumeist in Grüppchen zusammen standen, sich kichernd unterhielten, in Bücher schauten oder spielend über den Hof rannten. Bis auf die Schuluniform war es ein Anblick, wie ich ihn von jedem beliebigen Schulhof kannte, und der mit seiner fröhlichen Alltäglichkeit dem Grund unseres Hierseins auf groteske Weise widersprach. Enttäuscht sahen wir uns an, als sich nach dem Läuten zur nächsten Unterrichtsstunde der Platz rasch leerte. „Wir warten einfach bis Schulschluss. Wenn er hier ist, muss er ja irgendwann heraus kommen“, sagte Nami, nicht gewillt, so schnell aufzugeben. Ich hatte keine bessere Idee und hoffte nur, dass Hotsuma sich nicht geirrt hatte, und wir nicht umsonst warten würden. Ich hatte Hunger, selbst mein Magen knurrte schon unruhig in die durch die Abwesenheit der lärmenden Schüler eingetretene Ruhe hinein. „Wir können in der Zeit genauso gut etwas essen gehen“, sagte Nami mit Blick auf die Uhr, und ich war dankbar für ihre Umsicht. Das Frühstück lag immerhin schon einige Stunden zurück, und seitdem waren wir unterwegs. Und Schulschluss war erst um siebzehn Uhr, wenn der Junge nicht noch an Zusatzunterricht teilnehmen würde. Wir gingen in ein nahe gelegenes winziges Nudelsuppenrestaurant. Es war nur ein langer L-förmiger Gang, eigentlich nur eine schmale Arbeitszeile, wo gekocht wurde, und davor eine Reihe Stühle und ein kleiner Absatz zum Abstellen der Schälchen für die Gäste. Hinten in der Ecke war ein Fernseher an der Wand angebracht, wo ein Baseballspiel übertragen wurde. Wir aßen Gemüsesuppe mit Tofu und Buchweizennudeln, es schmeckte hervorragend. Hotsuma und ich hatten Gelegenheit, uns ein wenig kennen zu lernen, und er taute rasch auf und stellte mir Fragen zu meiner Arbeit. Nur essen wollte er erst nichts, aber Nami konnte ihm mit dem Hinweis überreden, dass man im „Dienst“ auch dafür Sorge zu tragen hatte, dass man „dienstfähig“ blieb. „Sonst fehlt dir die Kraft, wenn es darauf ankommt“, sagte sie ernst, und Hotsuma nickte, ebenso ernst. Ich wusste, dass so etwas auch für geistige Kraft galt, und gab dem Gespräch einen möglichst scherzhaften Beiklang, um ein wenig der Anspannung zu nehmen. Aber obwohl mein Magen vor Hunger geknurrt hatte, war ich schon nach ein paar Bissen satt. Hotsuma und Nami aßen auch nicht auf, und der Koch war wenig überzeugt von unseren Beteuerungen, dass das Essen trotzdem ganz vorzüglich gewesen war. Ich konnte nicht sagen, wie lange wir danach noch am Treppenabsatz zum Schuleingang gewartet hatten. Aber dann kam endlich ein lang anhaltender Strom von Schülerinnen und Schülern schwatzend an uns vorbei gezogen. „Da ist er“, sagte Hotsuma und deutete unauffällig mit einer kleinen Kinnbewegung in die Richtung, die er meinte. „Hinter den beiden älteren Jungen, neben der mit dem Zopf.“ Der Junge, den er meinte, war vielleicht einen halben Kopf kleiner als Hotsuma, aber konnte trotzdem gut im selben Alter sein, Hotsumas Vater war schließlich auch ziemlich groß. Neben seinem Schulranzen hatte er eine Sporttasche mit Nike-Aufdruck geschultert. Das glatte Haar war nach vorne gekämmt, und er dichte Pony hing ihm fast bis in die Augen. Er sah abgespannt aus, das fiel mir gleich auf. Und er schien dem Mädchen, das neben ihm herging, nicht wirklich zuzuhören, während sie lebhaft auf ihn einschwatzte. Außer, dass er nicht so ausgelassen wirkte wie die anderen Schüler um ihn herum, sah er aus wie ein ganz normaler, zwölf oder dreizehnjähriger japanischer Junge. Ich hatte auch nichts anderes erwartet. „Was haben Sie jetzt vor?“ fragte ich Nami. „Ich will mit ihm reden“, sagte Nami, und ihr Blick, den sie nicht eine Sekunde von dem Gesuchten fort nahm, erinnerte mich an einen Greifvogel, der seine Beute im Visier hat und nur noch auf den rechten Moment zum Zupacken wartete. „Wir folgen ihm erstmal, bis die Gelegenheit günstiger ist.“ „Mit ihm reden können wir doch auch hier“, warf ich ein. „Nein. Ich möchte dazu Ruhe haben.“ Ihr Tonfall duldete keine Widerworte. „Hotusuma-kun, bist du dir wirklich sicher?“ „Ja.“ Sie nickte grimmig. Plötzlich war ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob es richtig war, ohne das Wissen seiner Eltern hier zu sein. Er war doch noch ein Kind. Trotz allem. Und Namis Ausdruck in den Augen verursachte mir Unbehagen. Aber jetzt gab es kein Zurück mehr, das las ich auch in ihren Augen, und ich würde jetzt wenigstens dabei bleiben, damit das Gespräch möglichst fair ablaufen konnte. Kapitel 19: Die ganze Wahrheit ------------------------------ Wir mussten nicht lange auf eine „günstigere“ Gelegenheit warten. Er schien froh zu sein, seine Begleitung an der nächsten Straßenbahnhaltestelle los zu werden. Viele der Schüler bogen dort ab, und nur drei Kreuzungen weiter war die Straße schon relativ leer. Wir waren ihm in einigem Abstand gefolgt, und plötzlich lief Nami los, und bevor ich überhaupt reagieren konnte, hatte sie ihn schon eingeholt und in einen Hofeingang gestoßen. Ich rannte sofort hinterher, aber als ich sie erreichte, hatte sie ihn schon am Kragen gepackt und drückte ihn unsanft gegen die Hauswand. Mit erschrocken aufgerissenen Augen starrte er sie an, während ihre aggressiven Worte auf ihn einprasselten. Das war natürlich nicht in Ordnung so. „Nami“, sagte ich mit Nachdruck. „Lassen Sie ihn los!“ Meine Anwesenheit schien ihn aus seiner Erstarrung zu lösen, und er versuchte sich unter wütendem Schimpfen zu befreien. Nami packte seine Hände, noch immer vom Zorn geleitet, und presste ihn noch fester nach hinten. Mit einem schmerzhaften Keuchen verstummte er, als sein Rücken gegen den Schulranzen durchgebogen wurde. Ängstlich sah er von Nami zu mir, und dann bemerkte er Hotsuma, der inzwischen hinter mir aufgetaucht war. Augenblicklich verschwand die Furcht aus seinen Zügen und stattdessen blickte er herausfordernd Nami direkt ins Gesicht. Er sagte ein paar hämische Worte, von denen ich immerhin Nanjo Hirose verstand, und Nami zischte eine zornige Antwort. Ich fasste sie am Arm. „So können Sie nicht mit ihm reden. Beruhigen Sie sich!“ Ohne den harten Griff zu vermindern, schloss sie für einen tiefen Atemzug die Augen, doch dann kam sie endlich wieder zur Vernunft und trat einen Schritt zurück. Leise ächzend brachte sich der Junge wieder in eine normale Haltung zurück und rieb sich das Handgelenk. Er machte keinerlei Anstalten, fort zu laufen, dennoch sah Nami so aus, als wollte sie sich bei kleinster Gelegenheit wieder auf ihn stürzen. Der Junge spuckte auf den Boden vor ihr und sagte etwas in abfälligem Ton. „Was hat er gesagt?“ fragte ich und fasste Nami am Arm, bevor sie erneut explodieren konnte. Jedenfalls funkelten ihre Augen schon wieder gefährlich. „Er denkt, Nanjo-sama schickt uns“, brachte Hotsuma gepresst hervor und stellte sich neben mich. Seine Anspannung war für mich fast körperlich spürbar. „Und fragt, ob er zu feige ist, selbst zu kommen.“ „Lassen Sie mich mit ihm reden. Hotsuma, kannst du mir übersetzen?“ Ich wandte mich betont freundlich an den fremden Jungen: „Niemand schickt uns. Ist alles in Ordnung mit dir?“ „Ich übersetze“, sagte Nami eisig. Der Junge presste trotzig die Lippen aufeinander und musterte mich misstrauisch. Er nickte kurz in Hotsumas Richtung und ignorierte meine besorgte Nachfrage. Ich konnte es ihm auch nicht verdenken, so wie Nami ihn angegangen war. „Ich weiß doch, dass der da zu den Nanjo gehört.“ „Ja, das stimmt auch“, sagte ich und ließ mir keine Regung in seinem Gesicht entgehen. „Das ist Nanjo Tatsuomis Freund. Und wegen Tatsuomi sind wir auch hier, aber sein Vater weiß davon nichts. Mein Name ist Saalfrank Katia, und ich möchte Tatsuomi helfen. Ihm geht es nämlich nicht gut.“ Ich machte eine Pause und wartete Namis Übersetzung ab. Während sie sprach beruhigte sich ihr Ton merklich, und sie verwandelte sich in eine emotionslose Dolmetscherin. Der Junge blieb bei seiner trotzigen Haltung, aber ich meinte, ein wenig Genugtuung oder so etwas Ähnliches in seinem Gesicht zu erkennen. „Ja, und? Was wollen Sie jetzt von mir?“ „Es wäre schön, wenn du mir nur erstmal ein Paar Fragen beantworten würdest. Wie heißt du überhaupt?“ „Das weiß Hirose doch! Horiuchi Yugo, der Sohn von dem Horiuchi, den der feine Nanjo Hirose-sama ruiniert hat!“ Jetzt flackerte Wut in seinen Augen. „Wie hat er ihn denn ruiniert, was meinst du damit?“ „Wegen ihm musste Vaters Firma Konkurs machen. Und wir mussten das Haus verkaufen.“ Er spie mir die Worte voller Hass entgegen. „Und deswegen rächst du dich an seinem Sohn?“ „Quatsch! Ich habe mich nicht an seinem Sohn gerächt.“ „Hör mal zu“, sagte ich jetzt sehr nachdrücklich. „Wir haben erfahren, was Tatsuomi passiert ist. Und du warst der letzte, der noch bei ihm in der Sporthalle war. Und du hast mit der Polizei gesprochen, am gleichen Abend. Du warst doch dabei!“ „Ja, genau! Und dieser dämliche Affe da“, er meinte wieder Hotsuma, „wäre mir noch fast dazwischen gekommen, aber war ja so blöd und hat mich mit dem kleinen… „ Hier sagte Nami, das übersetze sie nicht. „…wieder allein gelassen. Darum konnte ich ihn mir ganz leicht schnappen.“ Er lachte schadenfroh auf. Ich sah zu Hotsuma, der ganz weiß im Gesicht geworden war, und in hilfloser Wut die Fäuste ballte. Ich wünschte, er wäre jetzt nicht hier dabei. Ich konnte ihn gut verstehen, denn die Unverfrorenheit, mit der dieser Yugo die Tat zugab und sich regelrecht damit zu rühmen schien, schockierte auch mich. Dass das Gespräch so verlaufen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. „Hotsuma-kun“, sagte Nami leise. „Es ist besser, wenn du jetzt nach Hause fährst. Deine Mutter wird auf dich warten.“ Ich war froh, dass sie anscheinend ähnliche Gedankengänge hatte wie ich, und Hotsuma das weitere Gespräch ersparen wollte. Er gehorchte widerwillig. Ich wartete, bis er um die Ecke gegangen war, dann sagte ich: „Yugo, du hast Tatsuomi böse überfallen und sehr wehgetan. Und das macht man doch nicht einfach nur so.“ „Ich wollte ihm wehtun! Das ist alles.“ „Nein, das ist nicht alles. Du weißt, wie lange das jetzt schon her ist. Aber weißt du auch, dass Tatsuomi seitdem nicht mehr schlafen kann? Er geht nicht mehr zur Schule, und er kann nicht mal mehr richtig essen. Es geht ihm immer noch richtig schlecht deswegen.“ „Das ist gut! Dann wird er jeden Tag daran erinnert, was er getan hat. Genau das wollte ich.“ Er sprach mit beißender Genugtuung. „Redest du von Tatsuomi?“ fragte ich, denn ich konnte mir nicht vorstellen, was Tatsuomi so Schlimmes angestellt haben sollte. „Nein! Ich rede von seinem Vater! Das geschieht ihm ganz recht!“ „Ich verstehe das noch nicht. Aber ich merke, dass du sehr wütend auf Hirose bist. Und es geht nicht um die Firma deines Vaters? Worum geht es denn dann?“ „Es geht um das, was er mit meinem Bruder gemacht hat!“ Seine Stimme bebte jetzt vor ohnmächtigem Zorn. „Ich habe es genau gemacht wie er! Ich habe nur getan, was er auch getan hat… Und mein Bruder kann auch nicht schlafen! Er muss Schlaftabletten nehmen!“ Mir wurde flau im Magen, und ich wollte nicht glauben, was seine Worte zu bedeuten hatten. „Was genau meinst du damit? Das ist eine ernste Anschuldigung.“ Er nickte, um die Ernsthaftigkeit zu unterstreichen. „Ich weiß, dass er meinen Bruder vergewaltigt hat. Ich habe genau gehört, wie sich mein Bruder mit Koji darüber unterhalten hat. Ich habe in der Nacht bei Takuto übernachtet, und dann bin ich aufgewacht, weil er so geschrieen hat, und ich bin aufgestanden, und dann hab ich gehört, was sie geredet haben, und Koji hat gesagt, dieser Mistkerl Hirose hätte das getan, um ihm eins auszuwischen, an Koji wagt er sich wohl nicht heran, also nimmt er meinen Bruder. Und darum nehme ich seinen Sohn! Ich habe gar nicht gewusst, was das ist, eine Vergewaltigung, und wie das geht, aber ich habe im Internet gelesen, und ich wollte es genau so machen wie Hirose… Damit er mal weiß, wie das ist.“ Er wartete nach jedem Satz, ließ Nami Zeit zu übersetzen, und sie wiederholte seine hasserfüllten Worte mit leiser, toter Stimme. „Ein Schüler aus der Oberstufe hat mir geholfen, so ein Gummidings zu besorgen, und als dann dieses Turnier war, habe ich den kleinen Angeber mit Fragen so lange aufgehalten, bis alle anderen weg waren, und als er dann allein auf dem Waschschemel saß, konnte ich ihm einfach von hinten sein Handtuch über den Kopf werfen, und dann war es ganz leicht, ihn zu fesseln. Ich hab ihm seine Socken in den Mund gesteckt und zu den Geräten geschleppt, und dann hab ich ihn am Barren festgebunden und die Turnmatten über ihn gelegt, damit ihn keiner hört und sieht, wenn sie ihn suchen. Hat ihn auch keiner gefunden, und mich auch nicht. Also konnte ich in Ruhe weiter machen. Ich hab ihm das Gummi in den Hintern geschoben, so macht man das ja bei einer Vergewaltigung, und er hat auch sehr laut gebrüllt und ganz doll gezappelt. Ich hab das dann drin gelassen, weil das so schwer rein gegangen ist, undich habe ihn damit liegen lassen, weil das bei Takuto auch so lange gedauert hat. Ich hab ja gehört, wie er Koji davon erzählt hat, und wie er geweint hat! Und als Hirose dann kam, und das gesehen hat, wie sein Sohn da so liegt, da wusste ich, dass es geklappt hat, so wie er geguckt hat. Und ich hab ihm auch gesagt, wer ich bin, und warum ich das gemacht habe! Es freut mich, dass es Tatsuomi immer noch schlecht geht, denn dann geht es seinem Vater auch schlecht!“ Er schwieg, verschränkte die Arme vor der Brust und schob eigensinnig das Kinn vor. Ich musste mich erstmal räuspern, bevor ich etwas sagen konnte. Ich warf einen schnellen Blick zu Nami, doch ihr Gesicht war jetzt so ausdruckslos wie ihre Stimme. Sie überließ komplett mir die Gesprächsführung. „Also, Yugo, ich muss sagen, was ich da eben von dir gehört habe, erschreckt mich sehr. Ich bin richtig sprachlos.“ „Aber das wollten Sie doch hören, oder? Nanjo Hirose spricht da ja wohl nicht drüber, oder? Denn dann müsste er ja auch sagen, was er selbst getan hat!“ Der Kleine konnte mit seinen zwölf Jahren Hirose schon ganz schön gut einschätzen, fand ich. Nur die Konsequenzen seiner eigenen Handlungen waren ihm anscheinend noch nicht so ganz klar. Ich schüttelte den Kopf. „Das meine ich gar nicht. Was passiert ist, wussten wir ja schon. Aber das Wie, wie du es erzählt hast, das erschreckt mich. Tat dir Tatsuomi gar nicht leid, als er so geschrieen hat und sich gewehrt hat? Bestimmt hat er auch geweint, oder? Tut dir nicht leid, was du getan hast, sag mal?“ „Nein, tut mir nicht leid!“ Jetzt war der Trotz wieder da. Aber seine Lippe hatte kurz gezuckt, und er war meinem Blick kurz ausgewichen. „Und Tatsuomi war mir egal und ist mir egal! Ich habe nur daran gedacht, wie es meinem Bruder geht, und dass Hirose ihn vergewaltigt hat!“ Ich dachte an Hiroses müden Blick, die zitternden Hände, die rote, wunde Haut, das Whiskyglas. Schon möglich, dass er versuchte, die Schuld von sich abzuwaschen und im Alkohol zu ertränken. Aber wie sollte ein Zwölfjähriger mit so einer Schuld umgehen? Kein Wunder also, dass er sie sich gar nicht erst eingestand. „Ja, das glaube ich dir. Aber du redest immer von Hirose, und ich rede aber jetzt von Tatsuomi. Wie alt ist dein Bruder?“ „Achtzehn.“ „Und Tatsuomi ist erst acht, Yugo. Das ist ein bisschen was anderes. Tatsuomi kann doch gar nicht richtig verstehen, was da passiert ist. Natürlich ist das auch schlimm, dass dein Bruder vergewaltigt wurde. Das war nicht richtig von Hirose, so etwas darf man nicht tun, auch nicht als Erwachsener. Aber Tatsuomi hat doch nichts gemacht! Und du hast vor allem Tatsuomi wehgetan, nicht seinem Vater. Da hast du eine ganz falsche Vorstellung. Klar, ist es nicht leicht für Hirose, dass es seinem Sohn so schlecht geht. Aber der, der leidet, ist Tatsuomi. Tatsuomi hat die Angst und die Alpträume. Und Tatsuomi hat die Schmerzen, immer noch, durch deine Verletzungen. Ich glaube nicht, dass das wirklich das ist, was du wolltest. Oder?“ Yugo sah mich mit verschlossener Miene an und sagte nichts dazu. „Warum hast du denn eigentlich Hilfe geholt an dem Abend? Du hast doch die Polizei angerufen, oder wer war das sonst?“ „Ja, das war ich“, sagte er langsam. Er klang jetzt nicht mehr so aggressiv, eher genervt, weil ich nicht locker ließ. „Aber warum?“ „Ich wollte ihn ja gehen lassen! Aber ich hab dieses Ding nicht mehr aus ihm raus gekriegt… er hat jedes Mal so schrecklich laut aufgeschrieen, wenn ich das nur angefasst habe… ich habe ihn dann los gemacht, aber er ist einfach nicht aufgestanden…“ Seine Stimme war jetzt völlig verändert, während er sich erinnerte, da war keine Wut mehr. Er starrte auf den Boden. „Ich wusste nicht, was ich machen sollte, ich konnte ihn ja nicht die ganze Nacht da liegen lassen. Also habe ich sein Handy genommen und seinen Vater angerufen.“ „Das hast du sehr gut gemacht, Yugo. Du hättest auch einfach weglaufen können.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich wollte ihn nicht allein lassen, er hat so klein und elend ausgesehen…“ Er sah jetzt selber zunehmend klein und elend aus. „Yugo, wenn ich dich jetzt noch einmal frage, ob dir leid tut, was du getan hast, was antwortest du jetzt?“ „Natürlich hat er mir da leid getan! Ich wollte doch nicht, dass es so schlimm für ihn wird, das wusste ich doch nicht!“ Er sah mich wieder an, und in seinen Augen glitzerten Tränen. „Manchmal kann ich auch nachts nicht schlafen, dann muss ich immer daran denken, was ich getan habe… ich höre noch genau diese furchtbaren Schreie von ihm, ganz schrill, gar nicht wie ein Mensch klang das… Geht es ihm denn wirklich immer noch so schlecht?“ Er schniefte unglücklich. „Leider ja. Aber wir tun alles, damit es ihm bald auch wieder besser geht. Und du? Mit wem hast du darüber gesprochen? Wissen deine Eltern Bescheid?“ „Nein, natürlich nicht! Das kann ich doch nicht sagen, dass ich so was… so was Schreckliches getan habe. Bitte, Sie dürfen das meinen Eltern nicht sagen“, flehte er. „Hirose hat ihnen auch nichts gesagt und die Polizei auch nicht. Bitte!“ „Was meinst du denn, was sie tun werden, wenn sie es erfahren?“ „Dann schicken sie mich zurück ins Heim“, flüsterte er mit vor Entsetzen zitternder Stimme. „Ich bin doch nur adoptiert.“ „Naja, begeistert werden sie bestimmt nicht sein. Aber so schnell schicken sie dich auch nicht weg“, versuchte ich ihn zu beruhigen. „Und erfahren werden sie es in jedem Fall, denn wenn du es ihnen nicht erzählst, werden wir es machen. Du kannst nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen.“ Und du musst nicht alle Fehler von Hirose wiederholen, fügte ich in Gedanken hinzu, einer reicht vollkommen. „Aber damals hat doch auch niemand mit meinen Eltern gesprochen“, versuchte er es noch einmal. „Du hast ja schon gemerkt, dass Erwachsene auch nicht immer alles richtig machen“, sagte ich freundlich. „Komm, wir gehen gemeinsam, und ich helfe dir dabei, deinen Eltern alles zu erzählen, okay? Ist denn jetzt jemand zu Hause bei dir?“ „Ja. Meine Mutter ist da, und mein Vater arbeitet Nachtschichten, um die Schulden abzahlen zu können.“ Zögerlich ließ er sich nach Hause begleiten, und ich hatte das Gefühl, dass Nami ähnlich unwohl zumute war wie ihm. Sie sagte jedoch nichts. Vielleicht glaubte sie ihm die Geschichte von der Vergewaltigung seines Bruders nicht. Ich jedenfalls war mir sicher, dass Yugo die Wahrheit sagte. Aber ich hoffte, dass er vielleicht bei seinem erlauschten Gespräch etwas falsch verstanden hatte. Vielleicht war das alles nur ein furchtbares Missverständnis. Kapitel 20: Beichte ------------------- Yugos Familie wohnte ganz in der Nähe in einem dieser mehrstöckigen, unpersönlichen Wohnblocks, die in jeder großen Stadt reichlich vorhanden waren. Obwohl ich wusste, dass in Japan Wohnraum sehr knapp und teuer war, war ich doch erstaunt, wie beengt die Menschen hier lebten. Die Wohnung war für europäische Maßstäbe winzig, das Haus der Nanjos dagegen wirklich ein Palast, aber trotz der Enge war es sehr ordentlich und sauber. Yugos Eltern waren erstmal total perplex, als wir mit ihrem Sohn vor der Tür standen. Nachdem wir uns vorgestellt und kurz erklärt hatten, dass wir wegen ihres Sohnes mit ihnen sprechen wollten, und dass es dringend war, baten sie uns höflich herein. Wir wurden in ein Wohnzimmer geführt, das vielleicht zwölf Quadratmeter groß und völlig ausgefüllt war mit einer Schrankwand, in der neben vielen Büchern ein Fernseher stand, und einem niedrigen Tisch mit den obligatorischen Sitzkissen. Ich war sehr froh, dass Nami dabei war und die Formalitäten für mich übernahm, denn am Anfang wurden erstmal nur ausführliche Entschuldigungen wechselseitig ausgetauscht. Wir, weil wir unangemeldet unhöflicherweise hereinplatzten und sie, weil sie uns nur ihre bescheidene Behausung ohne große Annehmlichkeiten bieten konnten, oder so. Danach beschränkte sich Nami wieder auf ihre Dolmetscherinnenrolle, aber ich hatte auch hier noch das Gefühl, dass sie irgendwie nervös war unter ihrer kühlen Fassade. Yugo berichtete kleinlaut von seiner Tat, nicht so ausführlich wie uns und jetzt auch ohne jede Schadenfreude. Er war wie ausgewechselt, aber seine Beschämung wirkte echt. Und obwohl er zu seinen Eltern sprach, ließ er Nami genügend Zeit, um mir zu übersetzen. Seine Eltern reagierten völlig normal und waren erstmal total fassungslos. Ich war erleichtert, als sich herausstellte, dass der Junge offenbar vorher noch nie in solch einer Richtung auffällig geworden war. „Wieso hast du das nur getan?“ fragte seine Mutter erschüttert. Yugo erzählte, wie es dazu gekommen war. Sein Vater hieb mit der Faust auf den Tisch und knurrte ein paar unfreundliche Worte, die mir Nami vorenthielt, glaube ich. „Damit ist er zu weit gegangen“, sagte er und schon auf, noch während Nami mir übersetzte. „Den zeige ich jetzt bei der Polizei an!“ Er griff nach dem Telefon. „Er meint Hirose“, fügte Nami, ein wenig hektisch, hinzu. „Nein, lassen Sie das bitte!“ sagte ich schnell. „Sie sollten jetzt nichts überstürzen! Bevor Sie Schritte einleiten, sollten Sie auf jeden Fall vorher mit Takuto sprechen. Bitte, setzen Sie sich erstmal wieder, und lassen Sie uns reden.“ Die Hand hielt unschlüssig den Telefonhörer. „In einem solchen Fall hat der Opferschutz immer absolute Priorität“, erklärte ich. „Ich kann verstehen, dass Sie aufgebracht sind und etwas unternehmen wollen, aber Sie müssen unbedingt dabei bedenken, was für Ihren Sohn das Beste ist. Wenn Sie Mr. Nanjo anzeigen, bedeutet das für Takuto peinliche Verhöre bei der Polizei, er muss vielleicht öffentlich vor Gericht seine Aussagen wiederholen, wird womöglich von einem skrupellosen Anwalt ins Kreuzverhör genommen… das alles kann den Schaden durchaus noch vergrößern. Bitte, unternehmen Sie nichts, was Sie nicht mit Takuto abgesprochen haben!“ Er setzte sich mit düsterer Miene wieder zu uns an den Tisch. „Es ist ja auch noch nicht sicher, was wirklich geschehen ist. Vielleicht hat Yugo auch etwas missverstanden…“, sagte ich. „Nein, ich bin aber ganz sicher“, protestierte er sofort. „Das glaube ich dir ja auch. Trotzdem kann es sein.“ Ich wandte mich wieder an die Eltern. „Bitte, klären Sie das mit Ihren Söhnen. Ich werde heute noch mit Mr. Nanjo sprechen. Und im Moment geht es auch erstmal um Yugo. Er hat große Angst, dass Sie ihn jetzt nicht mehr bei sich haben wollen, und er wieder ins Kinderheim muss.“ Die Mutter schüttelte sofort entschieden den Kopf und strich ihm liebevoll über das Haar. Sie sagte ein paar Worte, und ich brauchte keine Übersetzung, um zu hören, dass Yugos Sorge unbegründet gewesen war. „Was raten Sie uns, sollen wir jetzt tun? Wie bestraft man so etwas?“ fragte mich der Vater. „Mit Strafe erreichen Sie nicht viel“, sagte ich. „Wichtiger ist, dass er Verantwortung für seine Tat übernimmt, dass er einsieht, welchen Schaden er verursacht hat. Da ist er schon auf einem guten Weg, denke ich. Trotzdem empfehle ich Ihnen dringend, sich Hilfe zu holen, es gibt gute Konzepte für die Arbeit mit Tätern. Er muss auch lernen, mit der Schuld umzugehen. Unterschätzen Sie dieses Problem nicht. Es gibt hier sicherlich wie in Deutschland Beratungsstellen, an die sie sich wenden können, und die Ihnen gerne weiter helfen.“ Nami nickte bestätigend, und im weiteren Gespräch hatte ich das Gefühl, dass in dieser Familie die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden würden. Beim Abschied fragte Yugo mich etwas verlegen: „Kann ich mich denn bei Tatsuomi entschuldigen? Ich könnte ihm doch sagen, dass es mir leid tut, und dass er keine Angst mehr zu haben braucht.“ „Das ist eine gute Idee, das finde ich toll, dass du das sagst. Vielleicht kannst du das irgendwann tun, aber Tatsuomi muss das auch wollen, verstehst du?“ Er nickte ernst. „Ein echtes Schuldeingeständnis kann Opfern von Gewalt total gut tun“, sagte ich zu seinen Eltern. „Aber das muss in jedem Fall individuell entschieden werden. Solch ein Treffen sollte nicht unbedacht arrangiert werden, und muss mit allen Beteiligten gut abgesprochen werden. Das Wohl des Geschädigten, also Tatsuomis Wohl, sollte dabei immer im Mittelpunkt stehen. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen alles Gute, und melden Sie sich ruhig, falls Sie noch Fragen haben sollten. Sie haben einen sehr einsichtigen Sohn. Ich glaube, er wird so etwas nicht noch einmal tun.“ Kapitel 21: Emotionen --------------------- Als wir wieder auf der Straße waren, sagte Nami nach ein paar schweigsamen Schritten: „Das haben Sie wirklich toll gemacht, wie Sie mit ihm gesprochen haben…“ Sie stockte und plötzlich brach sie in Tränen aus. Wir blieben stehen. „Was ist denn los?“ fragte ich besorgt. „Nichts, schon gut.“ Sie versuchte vergeblich, die Tränen fortzuwischen, denn es kamen noch immer neue hinterher. Trotzdem lächelte sie. „Das sind nur die Nerven… die ganze Anspannung… ich weiß auch nicht, aber es geht gleich wieder, verzeihen Sie.“ „Das macht doch nichts“, sagte ich und fühlte mich hilflos, weil ich nicht wusste, wie ich sie trösten sollte. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen, aber ich wollte nichts falsch machen, war unsicher, was sie jetzt brauchte. Ich spürte einmal mehr, wie fremd mir diese Kultur mit ihren Menschen eigentlich war. „Doch, das macht was“, widersprach sie mir heftig. „Ich habe mich falsch verhalten, das ist unentschuldbar, und ich schäme mich so, dass ich so wütend war. Wenn Sie nicht dabei gewesen wären, Katia-san…“ Sie drehte sich von mir weg, und ich sah am Beben ihrer Schultern, dass sie jetzt erst richtig zu schluchzen anfing. Ach, fremde Kultur hin oder her, Mensch ist Mensch, dachte ich, und kurz entschlossen trat ich einfach einen Schritt auf sie zu und schloss sie in meine Arme. Sie versteifte sich kurz, doch dann gab sie nach, drehte sich zu mir und lehnte ihren Kopf an meine Schulter, überließ sich der tröstenden Umarmung. Wie dünn und zierlich sie doch war, und dennoch merkte ich eine Spannkraft in ihrem Körper, die von hartem Training herrühren musste. Ihr Haar kitzelte mich an der Wange und war im Gegensatz dazu so weich wie ein Rosenblütenblatt. Ihr Duft erinnerte mich an den Wind der See. Schweigend ließ ich ihr die Zeit, die sie brauchte, um sich wieder zu fassen. Ich hatte sie die ganze Zeit nicht so emotional erlebt wie in den letzten Stunden, bisher hatte sie ganz gut ihre Gefühle kontrollieren können, auf bewundernswerte Art und Weise. Dennoch mochte ich sie durch ihre momentane Emotionalität nur umso lieber. Menschen sind keine Maschinen. Es dauerte nicht lange, und sie löste sich von mir. Verlegen wandte sie mir den Rücken zu, um sich die Nase zu schnäuzen und die Tränenspuren fortzuwischen. „Es ist unerträglich, diese Geschichten zu hören und nichts tun zu können“, sagte sie. „Es macht mich wahnsinnig, dass Tatsuomi-sama ganz alleine war, und niemand hat ihm geholfen…“ In ihren Augen war schon wieder ein verdächtiges Glitzern. Sie knüllte das Taschentuch als könnte es ihr Halt geben. „Ich verstehe, was Sie meinen“, sagte ich. „Aber es stimmt nicht, dass wir nichts tun können. Wir sind doch schon dabei. Wir können ihm jetzt helfen.“ „Ach, können wir das? Nichts können wir! Es war ganz umsonst, Sie um Hilfe zu bitten! Ich dachte, Sie könnten Kaoruko-sama raten, was sie tun kann, damit Tatsuomi wieder glücklicher wird. Ich habe ja nicht geahnt, dass so etwas dahinter steckt! Hirose-sama wird Sie noch heute hinaus werfen, und wissen Sie auch, warum? Nicht nur, weil Sie eine Fremde sind, die hinter ein Familiengeheimnis gekommen ist, sondern einfach weil Sie eine Frau sind, und sich ein Mann wie Hirose von einer Frau nicht sagen lässt, was er zu tun hat! Und darum wird er auch genauso wenig auf seine Ehefrau hören! Es ist alles umsonst!“ Sie ließ ihre Frustration an einem Kieselstein aus, der auf dem Gehweg lag, indem sie mit Wucht gegen ihn trat. Mit einem hellen metallenen Klang prallte er von einem der Autos ab, die am Straßenrand parkten. „Oh“, machte sie erschrocken. „Lassen Sie uns weiter gehen, bitte…“ Langsam gingen wir weiter. Ein unauffälliger Seitenblick ließ keinen großen Blechschaden an dem Wagen erkennen. Höchstens eine kleine Beule. „Nichts war umsonst“, widersprach ich ihr freundlich. „Es ist gut, dass Sie und Kaoruko jetzt wissen, was die Ursache für Tatsuomis Verhalten ist. Das ist schon viel wert. Und Hirose… nun, erstmal abwarten, wie er reagiert.“ Ich weigerte mich, mich von Namis plötzlichem Pessimismus anstecken zu lassen, das war nicht sehr hilfreich als Gesprächsvorbereitung. So kannte ich sie auch gar nicht. Ich lächelte ihr aufmunternd zu. „Selbst wenn er mich rausschmeißen sollte – und das wollte er, glaube ich, schon öfter, aber er hat es nicht getan – aber selbst, wenn doch, dann habe ich Sie bisher immer so erlebt, dass Sie aus irgendeinem Ärmel plötzlich noch ein Ass zaubern konnten.“ „Dieses Mal nicht“, murmelte sie finster. „Was werden Sie zu Hirose-sama sagen?“ Ich seufzte innerlich bei dem Gedanken an das mir bevorstehende Gespräch mit Hirose. „Erstmal werde ich ihn fragen müssen, ob es stimmt, was Hotsuma uns erzählt hat.“ „Das kann er nicht zugeben, selbst wenn es stimmt.“ „Ich gehe erstmal davon aus, dass es stimmt. Keine Sorge, er wird mir zuhören. Er ist nicht dumm, und er liebt seinen Sohn. Selbst wenn er mich fortschickt, Tatsuomis Probleme wird er nicht so leicht los, und das müsste ihm auch klar sein.“ Zumindest hoffte ich das. Leider war ich nicht halb so zuversichtlich wie ich tat, auch wenn ich mir Mühe gab, es zu sein. Ich verstand jetzt besser, warum Hirose sich so sträubte, einen Psychologen in die Familie zu lassen. Ob mir das helfen würde, ihn doch noch zu überzeugen, war die entscheidende Frage. Und Namis Zweifel waren bedauerlicherweise durchaus berechtigt. „Nur für den Fall, dass Sie recht behalten“, sagte ich, als wir im Auto saßen und zurück fuhren. „Ich bin sicher, dass Tatsuomi therapeutische Hilfe braucht. Er hat eine posttraumatische Störung, und die vergeht nicht wieder von alleine. Wenn das jetzt nicht richtig verarbeitet wird, hat er den Rest seines Lebens daran zu knabbern. Sollte Hirose wirklich nicht einlenken heute Abend, müssen Sie weiter daran arbeiten, dass Tatsuomi die nötige Unterstützung zukommt.“ Nami schnaufte leise durch die Nase. „Wie stellen Sie sich das vor? Ich bin nur ein Teil des Personals. Ich habe gar nichts zu sagen.“ „Aber Kaoruko hört auf Sie! Bestärken Sie sie!“ „Wir sind hier nicht in Europa“, sagte Nami bitter. „Kaoruko ist nur seine Frau. Sie hat keinen Einfluss.“ „Das sehe ich ein wenig anders. Hirose hat ihr durchaus schon nachgegeben, als sie mit Scheidung gedroht hat.“ Nami schüttelte den Kopf. „Nur, weil ihm dadurch klar wurde, dass es ihr tatsächlich ernst ist, und er selbst keine bessere Möglichkeit sah. Er hat niemals wirklich geglaubt, dass sie das durchzieht.“ „Das wird sie aber“, beharrte ich. „Hm“, machte Nami nur zweifelnd. Leider kannte sie die Nanjos viel besser als ich. „Es muss doch jemanden geben, auf den Hirose hört. Jemand, dessen Meinung ihm wichtig ist…“, überlegte ich laut. „Kurauchi vielleicht“, sagte Nami nachdenklich, dann hieb sie plötzlich mit der Faust auf das Lenkrad. „Natürlich, Kurauchi! Er ist der einzige Mensch auf diesem Planeten, von dem er sich vielleicht etwas sagen lässt. Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin, wie blöd! Ich werde mit ihm sprechen, bestimmt kann ich ihn überzeugen, wie dringend Tatsuomi Unterstützung braucht…“ Geht doch, dachte ich zufrieden. Ich hatte gewusst, dass ihr etwas einfallen würde. „Aber erst möchte ich mit Hirose sprechen. Wenn das schief geht, können wir zusammen zu Kurauchi gehen, einverstanden?“ Sie nickte, und endlich sah sie wieder zuversichtlicher aus. Auch mir war jetzt deutlich wohler zumute mit einem Plan B in der Tasche. Ich wollte ungern abreisen, ohne sicher zu sein, dass Tatsuomi gut versorgt sein würde. Die Idee von Nami war gut, wie alle ihre Ideen bisher. So vertraut, wie Hiroses mit seinem Leibwächter umging, konnte ich mir gut vorstellen, dass er einen Rat von ihm würde annehmen können. Und sollte wirklich der schlimmste Fall eintreten, und ich würde nichts erreichen, hätte Hirose die Möglichkeit, das Gesicht zu wahren und nach meiner Abreise eine reine Männerentscheidung daraus zu machen. Hauptsache, er würde nachgeben. Warum und durch wen und ob ich dann noch dabei war, war mir egal. Noch nie war ich vor einem Elterngespräch so nervös gewesen. „Vielleicht sollten Sie nach Hotsuma sehen“, schlug ich vor, als wir das Anwesen der Nanjos erreicht hatten. „Das war für ihn sicherlich auch nicht leicht vorhin, das alles mit anzuhören.“ „Das stimmt“, sagte Nami, und wir gingen getrennte Wege. Kaum hatte ich das Haus betreten, kam Tatsuomi schon auf mich zugelaufen, mit einem weißen Gebilde in den Händen. Kaoruko folgte ihm. Sie sah noch immer etwas blass aus, hatte sich jedoch schon wieder gut gefasst und begrüßte mich lächelnd. „Ich habe ein Geschenk für Sie gemacht“, verkündete Tatsuomi und streckte mir stolz das Gebilde entgegen. Es war ein schlanker, aus Papier gefalteter Vogel. Ich nahm ihn vorsichtig und betrachtete das filigrane Geschöpf. Es war sorgfältig und gleichmäßig gefaltet worden. „Das ist aber schön“, sagte ich, ehrlich erfreut. „Vielen Dank.“ „Das ist Origami“, erklärte er eifrig und sah dann Hilfe suchend zu seiner Mutter. „Ein…“ „Das ist ein Kranich“, sagte sie. „Er ist in Japan ein Symbol für ein langes, glückliches Leben.“ „Das ist lieb von dir, Tatsuomi. Da freue ich mich sehr.“ Er strahlte mich glücklich an, weil mir das Geschenk so offensichtlich gut gefiel. Er schien einen schönen entspannten Nachmittag mit seiner Mutter verbracht zu haben. Dann allerdings erlosch das Strahlen schnell wieder, als Kaoruko weiter sprach. „Es ist schon spät. Zeit, schlafen zu gehen.“ Sie sah mich an. „Mein Mann ist noch nicht da, und wir waren noch nicht im Bad…“ „Ich kann Ihnen gerne helfen“, bot ich an, obwohl ich hundemüde war. Aber meine Zeit hier wollte ich auch so effektiv nutzen wie möglich. Also ließ ich mir nichts anmerken. „Ne, Tatsuomi, wir machen das so wie gestern.“ Er sah ängstlich aus, aber nickte tapfer. „Ich danke Ihnen.“ Kaoruko war erleichtert. „Aber Sie müssen hungrig sein. Ihr Abendessen steht für Sie bereit.“ „Ich kann auch hinterher essen“, beruhigte ich sie. Ich hatte sowieso keinen Hunger. „Hat Ihr Mann gesagt, wann er kommt? Ich möchte noch mit ihm sprechen.“ „Er hat nur gesagt, dass er in der Firma zu tun hat. Zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr kann das werden. Wo waren Sie den ganzen Nachmittag?“ „Wir haben einiges herausgefunden. Ich erzähle Ihnen später davon.“ Wir brachten die anstrengende Wasch- und Einschlafprozedur hinter uns. Kaoruko machte das sehr gut. Trotzdem ging es natürlich noch nicht ohne Tränen vonstatten, dazu saßen die Ängste zu tief. Aber durch unser neu erworbenes Hintergrundwissen fiel es Kaoruko deutlich leichter, geduldig und einfühlsam mit Tatsuomi umzugehen. Sie hatte die Raumaufteilung verändert. Das war sehr praktisch an dieser alten japanischen Architektur: Man konnte die Innenwände nach Belieben verschieben oder entfernen. Sie hatte sich neben Tatsuomis Zimmer eingerichtet und ließ die Trennwand einen großen Spalt weit offen. „Es ist vielleicht albern“, sagte sie mit gedämpfter Stimme. „Aber ich möchte ihn jetzt keinen Augenblick allein lassen.“ „Das ist überhaupt nicht albern“, fand ich. Ich berichtete ihr von Yugo und seinen Eltern. Dass der Junge noch nicht strafmündig war, ich aber den Eindruck hatte, die Eltern würden sich Tat und Schuld angemessen verhalten. Ich erwähnte auch, dass es Yugo inzwischen sehr leid tat, was er getan hatte. „Alles weitere“, wehrte ich ihre Fragen ab, „wird Ihnen Ihr Mann selbst erklären.“ Hoffte ich. Kapitel 22: Ein letzter Versuch ------------------------------- Ich erwartete Hiroses Ankunft im Garten. Der vordere Bereich des Grundstücks am Haupteingang war nicht so idyllisch landschaftsgärtnerisch gestaltet, sondern eher karg gehalten. Lediglich einige niedrige Büsche säumten den Weg aus Steinplatten. Ich verließ den inneren Bereich des Wohnkomplexes, der durch eine zusätzliche Mauer innerhalb des Geländes umschlossen war, und setzte mich auf einen großen Findling etwas abseits des Weges, von wo aus ich das Tor gut im Auge behalten konnte. Eigentlich hatte ich mir jetzt in Ruhe meine Worte überlegen wollen und wie ich die Konfrontation am besten eröffnen sollte. Die Art meiner Gesprächsführung war von entscheidender Bedeutung. Mehr denn je fehlten mir gerade jetzt meine beiden Psychologen, die mir sonst bei meiner Arbeit mit dem Fernsehteam beratend zur Seite standen. Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was sie mir je vor schwierigen Gesprächen erzählt hatten. Stattdessen war mein Kopf plötzlich wie leer gefegt. Und obwohl der Garten hier so scheinbar weniger kunstvoll gestaltet war, überkam mich eine große Ruhe. Vielleicht war es aber auch nur meine Müdigkeit. Oder die Abendstimmung, die sich über die Stadt senkte. Auf dem Dach eines der vielen Häuser der Nanjos sang ein Vogel eine wundervolle Melodie. So kam es, dass ich überhaupt keinen Plan hatte, als Hirose endlich durch das Tor schritt. Es war schon fast dunkel, und die Laternen an der Gartenmauer brannten bereits und tauchten das Gelände in ein grautöniges Dämmerlicht. Kurauchi hatte ihm die Tür geöffnet (musste er nicht den Wagen parken?), und als ich mich aus dem Schatten löste, fuhr seine Hand unter das Jackett. Zum Glück erkannte er mich noch, bevor er mich erschießen konnte, und entspannte sich wieder. „Saalfrank-san. Guten Abend. Haben Sie mich erwartet?“ fragte Hirose und klang genauso erschöpft wie ich mich fühlte. Anscheinend hatte er einen langen, anstrengenden Tag in der Firma hinter sich. Ich gab mich einen Moment der Versuchung hin, unser Gespräch auf den nächsten Tag zu verschieben. Hirose hielt einen merkwürdigen, unförmigen, dunklen Gegenstand in der Hand. „Guten Abend. Ja, ich habe auf Sie gewartet. Ich möchte heute noch mit Ihnen sprechen, wenn das möglich ist“, hörte ich mich sagen. Es war zu dringend, und ich hatte zu wenig Zeit, um es aufzuschieben. „Natürlich“, entgegnete er höflich. „Bleiben wir ruhig im Garten und genießen die Nachtluft.“ Es war wirklich eine schöne, milde Nacht, und er führte mich in den hinteren Bereich des Anwesens, den ich noch nicht kannte, und wo sogar ein kleiner Bachlauf angelegt war. Niedrige, steinerne Laternen zeigten uns den geschwungenen Verlauf des Weges, und Hirose blieb auf einer anmutig gewölbten Holzbrücke stehen, die über das schmale Bachbett führte. Zum Glück hatten wir fast Vollmond. Die goldene Kugel schien durch die schwarzen Zweige einer Kiefer und erhellte Hirose gerade soweit, dass ich seine Gesichtszüge erkennen konnte. Und noch etwas anderes konnte ich jetzt erkennen. Er hatte den Gegenstand, den er in der Hand gehalten hatte, auf das Brückengeländer gesetzt, und während er sich eine Zigarette anzündete, erkannte ich, was es war: ein kleiner Stoffaffe, dessen Arme weit ausgebreitet zu einer Umarmung einluden. „Der ist ja süß“, sagte ich überrascht. „Da wird sich Tatsuomi bestimmt freuen.“ „Ich hoffe es“, sagte Hirose und klang merkwürdig unbeteiligt. „Er soll helfen, die Monster fernzuhalten.“ Ich war gerührt über diese Geste. „Aber das wird leider nicht ausreichen“, sagte ich bedauernd. „Ich habe inzwischen erfahren, was mit Tatsuomi geschehen ist. Warum er sich so verhält. Und ich weiß auch, warum ihm das passiert ist. Ich habe mit Yugo Horiuchi gesprochen. Und übrigens auch mit seinen Eltern.“ Ich beobachtete Hiroses Gesicht, das jedoch völlig ausdruckslos blieb. Er nahm lediglich einen tiefen Zug aus seiner Zigarette. „So“, sagte er. „Dann wissen Sie es jetzt also.“ Er blickte auf das vom Mondlicht besprenkelte, dunkle Wasser. „Das ändert aber nichts an meiner Einstellung dazu.“ „Das ist Ihre Entscheidung. Es ist nicht meine Aufgabe, Sie zu verurteilen. Ich möchte Sie nur verstehen. Immerhin kann ich jetzt besser nachvollziehen, warum Sie nicht möchten, dass über diese ganze Angelegenheit gesprochen wird. Allerdings werden Yugos Eltern sicherlich mit seinem Bruder sprechen. Vielleicht kommt da doch noch eine Anzeige auf Sie zu.“ Hirose hob nur lässig die Hand und blies eine graue Rauchwolke in die Nacht. „Ich habe gute Anwälte. Aus dieser Richtung habe ich nichts zu befürchten.“ Bedeutete das, aus einer anderen Richtung befürchtete er etwas? „Wie konnten Sie überhaupt so etwas tun? Das passt gar nicht zu dem Eindruck, den ich von Ihnen habe. Wie passt das zu den festen moralischen Grundsätzen Ihrer Schwertkunst? Ehre, Pflichtgefühl…“ Er lachte trocken, humorlos. „Schon gut. Ich weiß selbst, dass das ein Fehler war. Und es tut mir leid, dass Tatsuomi darunter zu leiden hat.“ „Wenn Ihnen das wirklich leid tut, dann geben Sie ihm die Hilfen, die er braucht.“ „Er bekommt ausreichend Hilfe. Wir werden Ihre Ratschläge umsetzen, dann geht es ihm bald besser. Sie machen hervorragende Arbeit, ich bin sehr zufrieden mit Ihnen.“ Himmelherrgottnochmal! Er sprach so ausdruckslos, als würden wir über das Wetter reden. Wo waren seine Gefühle dazu? An die musste ich irgendwie heran kommen… Stattdessen spürte ich nur mein eigenes Gefühl sehr deutlich, und zwar, dass ich mal wieder wütend wurde auf ihn, vielleicht, weil er mich für etwas lobte, wobei ich selbst das Gefühl des Versagens hatte. Ich bemühte mich um einen neutralen Ton: „Ich bin Pädagogin. Eine traumatische Störung, wie Ihr Sohn sie hat, übersteigt meine Kompetenzen, wie Sie ganz genau wissen.“ Ich ließ das Thema erstmal wieder fallen; ich spürte, dass es keinen Zweck hatte, noch weiter auf diesem Punkt herum zu reiten. „Aber jetzt wollte ich auch eigentlich über Sie sprechen und weniger über Tatsuomi. Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet. Warum haben Sie Takuto vergewaltigt?“ „Das geht Sie nichts an. Das hat mit Ihrer Arbeit nichts zu tun.“ „Das sehe ich anders“, sagte ich, nicht willens, locker zu lassen. Aber ich änderte die Richtung. „Yugo hat gesagt, er schläft schlecht seit jenem Tag. Er wacht nachts auf und hört Tatsuomi schreien… Wie geht es Ihnen mit Ihrer Tat? Ist es das, was Sie von sich abwaschen wollen – Ihre Schuld?“ „Das ist Unsinn. Ich will nichts von mir abwaschen. Und diese Sache ist völlig unwichtig.“ Die Zigarette glimmte unbeachtet zwischen seinen Fingern. „Unwichtig?“ entfuhr es mir. „Das ist jetzt doch wohl nicht Ihr Ernst, oder? Das ist ein Verbrechen, wenn ich Sie daran erinnern darf.“ „Ich sagte doch schon, dass es ein Fehler war. Wenn ich könnte, würde ich es rückgängig machen. Es hat auch gar nichts gebracht.“ „Was sollte es denn bringen?“ „Das verstehen Sie nicht.“ „Dann erklären Sie es mir!“ Er schwieg. Er holte einen kleinen Taschenaschenbecher aus seiner Manteltasche und entsorgte den Zigarettenstummel, nur um sich gleich eine neue Zigarette anzuzünden. „Es geht um Koji, Ihren jüngsten Bruder, nicht wahr?“ bohrte ich weiter. „Ihn wollten Sie damit treffen. Aber warum ausgerechnet auf diese Art?“ „Sie verstehen das nicht“, wiederholte er. „Versuchen Sie es doch“, sagte ich ruhig. Wieder schwieg er, doch dieses Mal wartete ich ab. Und tatsächlich. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit, begann er endlich, mit mir zu reden. Kapitel 23: Abgrund der Seele ----------------------------- „Er hat sich alles genommen“, sagte er mit leiser Stimme und sprach noch immer so, als würde ihn das alles nichts angehen. Er starrte vor sich in die Dunkelheit. „Von Anfang an hat er sich genommen, was uns am Herzen lag. Er hat es genommen, und es war ihm völlig gleichgültig, und er hat es zerstört. Schon als Kind war er so. Er nimmt und wirft weg. Nimmt und wirft weg. Ich habe versucht, ihn nicht zu hassen. Ich habe mir nichts anmerken lassen, als Vater all seine Aufmerksamkeit ihm zuwandte, aber Neid und Eifersucht haben mich innerlich zerfressen. Ich war Vaters Wunschkind, das geboren wurde, um die Familie weiterzuführen. Ich habe mein ganzes Leben geschuftet, um dem Vertrauen gerecht zu werden, das er in mich gesetzt hat. Jeder sonst erkennt meine Fähigkeiten an. Doch ich wusste von Vaters Unzufriedenheit seit Akihitos Geburt. Seit er ein Verhältnis nach dem nächsten hatte – und in Wahrheit versuchte, einen Sohn zu zeugen. Er wollte das perfekte Kind, das sein Blut in sich trug. Schon damals wusste ich, dass er mit meinem Können nicht zufrieden war. Damals jedoch schürte es meinen Kampfgeist. Daraus zog ich meine Kraft… * Doch dann kam Koji, und mein Leben wurde ein Alptraum. Es war nicht so, dass ich Koji seines Talents wegen beneidete oder hasste. Ich stand über solcherlei vulgären Empfindungen. Kojis Dasein war nicht das Problem. Das Problem war der Wert meines Daseins. * Es raubte mir beinahe den Verstand… ich überlegte, wie ich Koji umbringen könnte, malte mir aus, wie ich ihn aufschlitzen und zerstückeln würde… Wie dumm von mir… zu denken, dass sein Verschwinden mir meinen Wunsch erfüllen würde… Es wäre nichts als ein Fleck auf meiner Ehre. Eine ekelhafte Untat. Was ich wollte, konnte ich mir nicht mit Gewalt nehmen… nur durch noch mehr Training… noch mehr Anstrengung. * Ich habe trainiert bis tief in die Nacht, bis ich das Schwert nicht mehr halten konnte. Ich habe jedes Turnier gewonnen. Ich habe meinen Schulabschluss und mein Studium mit Auszeichnung bestanden, doch es genügte nicht. Ich tat alles, was von mir erwartet wurde. Es war nie genug. Ich dachte es, aber es war nicht so. Als Koji sich entschied, Künstler zu werden, enterbte Vater seinen dritten Sohn. Zu dieser Zeit verschwendete ich schon lange keinen Gedanken mehr an ihn. * Bis dieser Tag kam… die Testamentseröffnung… und Koji doch noch bekam, wofür ich gelebt habe… Nur, um es wieder von sich zu werfen…“ Die Zigarette fiel zu Boden, und Hirose nahm die Brille ab und fuhr sich mit der anderen Hand über die Augen. Ich hätte gerne etwas Tröstendes gesagt oder getan, aber ich befürchtete, dadurch diesen Moment zu zerstören, und ich hatte das Gefühl, er war noch nicht fertig. Ich hatte auch das Gefühl, ich wurde gerade Zeuge, wie Hirose hier wirklich Großes leistete, nämlich emotional sich zu öffnen. Ich war mir sicher, dass er noch nie zuvor mit jemandem darüber geredet hatte. Schon vorher hatte ich natürlich mitbekommen, dass in diesem Haus in der Vergangenheit ganz viele Dinge passiert sind, dass viel Schmerz und viel Trauer da waren, und es war ganz wichtig, dass das auch mal ausgesprochen wurde. Wiederum wurde mein Schweigen belohnt. „Ich habe gewusst, wie demütigend sich das anfühlt“, fuhr er schließlich fort, den Blick jetzt gesenkt. „Dass es einen für immer verändert. Und ich wollte, dass er sich verändert. Damit Koji ihn nicht mehr liebt, weil er nicht mehr seinen Vorstellungen entspricht. Damit er nicht immer alles bekommt… er nimmt es nur, um es zu haben, sobald er es besitzt, wird es uninteressant. Normalerweise. Nichts bedeutete ihm etwas. Und endlich hat er jemanden, der ihm wichtig ist, für den er alles tun würde… Darum habe ich Izumi Takuto vergewaltigt. Damit Koji auch einmal fühlen kann, wie schmerzhaft es ist, jemand zu verlieren.“ Er lachte gequält auf. „Was für ein dummer, dummer Irrglaube! Ich muss damals wirklich den Verstand verloren haben! Und es hatte nicht einmal den gewünschten Effekt. Ich habe Izumi gesehen. Sein Blick ist ungebrochen. Das einzige, was ich bewirkt habe…“ Er unterbrach sich und fuhr mit den Händen über seine Oberarme, als sei ihm kalt geworden. Das leichte Zittern, das ich schon bei unserem letzten Gespräch wahrgenommen hatte, war zurückgekehrt, und ich sah, wie er die Kiefer aufeinander biss. Plötzlich wurde mir einiges klar. „Was hat es denn bewirkt?“ fragte ich behutsam nach. Er schüttelte den Kopf. „Das hat damit nichts zu tun.“ Ich hörte an seinem Tonfall, wie er sich wieder verschloss. Wahrscheinlich tat ihm jetzt schon leid, überhaupt soviel preisgegeben zu haben. Ich hatte nichts zu verlieren, also wagte ich, meine Vermutung zu äußern, bevor er seine emotionale Mauer wieder hochgezogen hatte. „Sie sind selber Opfer eines Missbrauchs geworden, nicht wahr?“ Sein Kopf ruckte überrascht zu mir herum. Ohne die Brille sah er jünger aus und weniger streng. Es war nur ein Moment, dann blickte er wieder zu Boden. Eine Strähne seines Haares fiel ihm in die Stirn. „Ist das so offensichtlich?“ „Wer hat das getan?“ „Ach“, machte er. „Das waren ein paar Junkies, damals während meines Studiums in den Staaten.“ Er umklammerte seine Arme, und seine verkrampften Finger straften seinen beiläufigen Tonfall Lügen. „Das ist ja heftig“, sagte ich. „Darum wissen Sie so genau, wie sich das anfühlt… Wie sind Sie denn damit umgegangen? Hatten Sie Unterstützung?“ „Ich… Kurauchi war da. Ich habe einfach weiter gemacht. Was hätte ich sonst tun sollen?“ Ich war erleichtert zu hören, dass er nicht allein damit gewesen ist. Das erklärte auch die innige Vertrautheit, mit der die beiden Männer miteinander umgingen, und die weit über ein Angestelltenverhältnis hinausging. „Aber das muss sehr schlimm gewesen sein. Und dann haben Sie noch das Studium mit Auszeichnung bestanden? Das ist eine beeindruckende Leistung bei all dem Druck, unter dem Sie standen.“ „Ich habe nur getan, was von mir erwartet wurde.“ „Naja, trotzdem! Sie haben ja auch nichts anderes gelernt. Oder hat es Ihren Vater jemals interessiert, wie es Ihnen geht?“ Er antwortete nicht. Brauchte er auch nicht. „Aber mich interessiert es. Wie ging es Ihnen damals?“ Er verzog schmerzlich das Gesicht. Dann schluckte er ein paar Mal. „Ich möchte nicht“, brachte er schließlich heraus und drehte sein Gesicht von mir weg. „Hören Sie auf damit.“ „Ja“, sagte ich nach einem kleinen Moment. „Das kann ich tun. Aber Ihre Erinnerungen werden nicht so einfach aufhören, und auch nicht das, was sie mit Ihnen machen. Verstehen Sie, was hier passiert? Sie haben nie die Unterstützung und die Zuwendung bekommen, die Sie gebraucht hätten. Darum gehen Sie davon aus, dass Ihr Sohn das Erlebte ebenso allein bewältigen wird. Ist es nicht so? Dabei haben Sie selbst Ihre Vergangenheit nicht bewältigen können – und wie alt waren Sie bei dem Missbrauch, Anfang zwanzig? Tatsuomi ist erst acht! Verstehen Sie mich nicht falsch, dass ist in jedem Alter schlimm, aber das ist ein Unterschied. Und schauen Sie sich doch nur an, was es mit ihm gemacht hat. Sowohl Sie als auch Ihre Frau sind damit völlig überfordert, sonst wäre ich ja wohl nicht hier. Ich bitte Sie, geben Sie ihm die Chance, zu einem selbstbewussten, jungen Menschen heranzuwachsen. Kümmern Sie sich darum, dass sich seine Ängste nicht noch mehr festsetzen und bleibende Schäden verursachen. Er braucht Sie jetzt!“ Hirose rieb sich über die Augen und sah mich wieder an. Ich zog meine Hand zurück und sprach weiter: „Es ist für mich schon sehr deutlich geworden, dass Sie versuchen, Tatsuomi ein besserer Vater zu sein, als es Ihr Vater für Sie war. Ich kann Sie darin nur weiter bestärken, da sind Sie genau auf dem richtigen Weg. Auch dass Sie sich jetzt mir gerade so geöffnet haben, finde ich ganz großartig von Ihnen, das ist sehr mutig. Nicht, dass ich gutheißen kann, was Sie getan haben, aber ich kann Ihre Handlungen jetzt wenigstens verstehen. Gehen Sie diesen Weg weiter! Es ist nicht feige, Gefühle zu zeigen, und auch kein Zeichen von Schwäche, sich Hilfe zu holen, wenn man nicht weiter kommt. Im Gegenteil, es ist Ausdruck von Mut und Verantwortungsbewusstsein. Scheuen Sie sich nicht, diese Verantwortung zu übernehmen.“ „Davor habe ich mich nie gescheut“, sagte Hirose und klang jetzt schon wieder sehr gefasst. „Dann fangen Sie jetzt nicht damit an“, sagte ich, und hatte den Eindruck, endlich zu ihm vorgedrungen zu sein. „Hm“, machte er. Aber das war schon besser als die bisherigen Weigerungen. „Können Sie mir jetzt die Hand darauf geben, dass Sie Tatsuomi von einem Kinderpsychologen behandeln lassen werden?“ fragte ich. „Meinetwegen fahren Sie mit ihm dazu ans andere Ende der Welt, wenn Sie das müssen. Aber ganz nebenbei – jeder Therapeut unterliegt der Schweigepflicht, sicherlich auch hier in Tokyo.“ Wir blickten uns in die Augen und fochten unser Gespräch nonverbal weiter. Schließlich ergriff er meine ausgestreckte Hand. „Also gut. Ich werde dafür Sorge tragen.“ Ein Gefühl ungeheurer Erleichterung strömte warm durch meinen Körper. Ich wusste, ich konnte mich auf ihn verlassen. „Schön!“ sagte ich, ohne meine Freude zu verbergen. „Sie werden es bestimmt nicht bereuen. Und noch etwas: Nehmen Sie Tatsuomis Schmerzen bitte unbedingt ernst. Es ist wichtig, dass er keine Angst mehr davor hat, etwas zu essen. Sie sagten, Sie haben ihn nochmals untersuchen lassen?“ Er nickte. „Es ist alles gut verheilt.“ „Ja, körperlich. Aber Narben können auch schmerzen. Oder vielleicht sind die Schmerzen psychosomatisch. Vielleicht kann Ihnen da Ihr Hausarzt, Dr. Emoto, weiterhelfen?“ „Möglich. Wie geht es eigentlich Ihrem Arm?“ „Das ist nur ein blauer Fleck, nicht der Rede wert. Jetzt gehen Sie lieber und kümmern Sie sich um Ihre Frau – sie wird auch noch einige Fragen an Sie haben.“ „Sie…“ „Sie weiß nur das, was wir im Krankenhaus erfahren haben. Von dem Gespräch mit Yugo habe ich ihr nicht viel erzählt, auch nichts von Ihrer Rolle in dem Ganzen. Ich wollte Ihnen die Möglichkeit geben, das selbst zu tun. Und ich rate Ihnen: Seien Sie zu Ihrer Frau genauso aufrichtig wie zu mir, damit sie Sie verstehen kann.“ „Hm.“ Er setzte seine Brille wieder auf. „Danke.“ Ob er Kaoruko wirklich alles sagen würde, wagte ich zu bezweifeln, aber das war nicht meine Aufgabe, mich da einzumischen. Bevor wir allerdings auseinander gingen, fragte ich noch etwas anderes: „Haben Sie sich eigentlich überlegt, was Sie mit Ihrer Familie unternehmen könnten? Tatsuomi hatte sich doch gewünscht, dass Sie mehr Zeit miteinander verbringen.“ „Ich war den ganzen Tag mit anderen Dingen beschäftigt.“ „Wenn Ihnen nichts einfällt, überlege ich mir etwas“, sagte ich in scherzhaft drohendem Ton. Mir war es wichtig, meine Arbeit mit einem positiven Erlebnis für alle zu beenden. „Gut“, sagte er. „Ich nehme mir morgen Nachmittag frei. Überlegen Sie sich etwas.“ Damit war das Thema für ihn vom Tisch. Toll, dachte ich, als er mir den Rücken zuwandte. Was sollte ich denn hier in der Fremde organisieren? Anscheinend brauchte ich noch einmal Namis Hilfe. Kapitel 24: Der letzte Morgen ----------------------------- „Katia-san. Katia-san.“ Namis Stimme drang aus weiter Ferne in mein Bewusstsein. Ich öffnete die Augen. Ich lag auf einem Futon auf dem Boden, und Nami kniete vor mir und berührte mich an der Schulter. Es musste schon Morgen sein, denn es fiel Tageslicht in das Zimmer, und draußen zwitscherten schon die Vögel. Was machte Nami hier? War etwas passiert? Sie lächelte sanft. „Es ist bald Zeit fürs Frühstück. Besser, wenn Sie jetzt gehen.“ Oh je. Jetzt fiel mir alles wieder ein. Ich hatte Nami spät am Abend ja noch aufgesucht, nach dem Gespräch mit Hirose. Einer der Wachleute war so freundlich gewesen, mir den Weg zu ihrem Zimmer zu weisen. Sie hatte sehr überrascht ausgesehen, als ich vor ihrer Tür stand, aber hatte mich nach diesem ersten Moment des Zögerns freundlich herein gebeten. Wir hatten Tee getrunken und uns noch sehr lange unterhalten… Natürlich nannte ich ihr keine Einzelheiten, was zählte, war schließlich das Ergebnis, dass Hirose endlich doch noch nachgegeben hatte. Vor lauter Erschöpfung und Erleichterung war diesmal ich diejenige, die die Tränen nicht zurück halten konnte, und dieses Mal war sie es gewesen, die mir Trost zusprach… Dann musste ich irgendwann einfach eingeschlafen sein. Nami musste mir meine Gedankengänge im Gesicht ablesen, denn ihr Lächeln vertiefte sich, und sie sagte: „Sie waren so müde, ich habe es einfach nicht fertig gebracht, Sie fortzuschicken.“ „Entschuldigung“, murmelte ich verlegen. „Das macht gar nichts“, entgegnete sie munter. „Sie sind jederzeit ein willkommener Gast in meinem bescheidenen Heim.“ „Danke.“ Ich war beruhigt, da es ihr anscheinend überhaupt nicht unangenehm war, dass ich die Nacht in ihrem Futon gelegen hatte. Und wo hatte Nami eigentlich geschlafen? Wir wechselten noch ein paar Worte, die Nachmittagsplanung betreffend, dann schlich ich mich möglichst unauffällig in mein eigenes Zimmer zurück, um mich vor dem Frühstück noch ein wenig frisch zu machen. Ich fühlte mich ein wenig in alte Jugendherbergszeiten zurück versetzt. Das war nun schon die zweite Nacht, die ich nicht auf meinem eigenen Futon verbracht hatte. Das war schon etwas peinlich. Glücklicherweise schien niemand mein Fortbleiben bemerkt zu haben. Hirose ließ sich wieder entschuldigen, er war schon sehr früh am Morgen in die Firma gefahren. Aber er ließ mir ausrichten, er sei zum Mittagessen zurück. Das Frühstück verlief ohne besondere Vorkommnisse. Nadeshiko bestritt gut gelaunt den Großteil der Konversation, während ihr Bruder Akihito wie üblich Missstimmung zu verbreiten suchte. Anscheinend passte es ihm nicht, dass Hirose ihm ein weiteres Mal einen Großteil seiner Termine aufgebürdet hatte. Und seinen Blicken nach zu urteilen, gab er mir die Schuld dafür. Er schien allgemein wenig Freude an seinen Aufgaben in der Familie zu haben. Ich erinnerte mich, dass er auch das Schwerttraining in seiner Kindheit als Tortur empfunden hatte. Warum blieb er, warum baute er sich nicht ein eigenes Leben auf wie sein jüngerer Bruder Koji? Und was würde er wohl machen; was entsprach seinem wahren Talent, wenn es hinaus dürfte? Leider hatte ich keine Gelegenheit, Akihito diese Fragen zu stellen. Ich hatte irgendwie ein ungutes Gefühl, was ihn anging, konnte es jedoch nicht genau fassen, was es war. Irgendetwas brodelte hier unter der Oberfläche, und es schien auf unbestimmte Art auch Hirose zu betreffen. Aber während ich bei Akihito das Gefühl hatte, er könnte jeden Augenblick explodieren und irgendeine Dummheit tun, war es bei Hirose eher der Eindruck von Resignation. Die mir jedoch genau so viel Unbehagen bereitete. Und was mochte diese Kombination in der Zukunft bringen? Wenigstens würde Hirose noch einige Denkanstöße erhalten, wenn er seinen Sohn durch die Therapie begleiten würde. Ich wünschte sehr, dass er die Chance für sich nutzen können würde. Obwohl Kaoruko sehr schweigsam war und sehr müde aussah, wirkte sie auf mich entspannter als am Vortag. Hoffentlich war das auf eine heilsam hilfreiche Aussprache mit ihrem Mann zurück zu führen. Tatsuomi aß seine vereinbarten Pflichthappen und verkündete, dass er heute überhaupt keinen Unterricht haben würde, obwohl keine Ferien waren. „Hast du es gut“, meinte Nadeshiko. „Ich muss jetzt los.“ „Ich nehme dich mit“, bot Akihito an, und die beiden brachen gemeinsam auf. „Ich fahre mit Tatsuomi zu Dr. Emoto“, wandte sich Kaoruko an mich. „Haben Sie Lust, uns zu begleiten?“ „Gern“, nickte ich und freute mich, die Auswirkungen von Hiroses Umdenken zu erleben. „Und heute Nachmittag unternehmen wir alle zusammen etwas“, sagte sie und sah mich fragend an. „Was denn?“ fragte auch Tatsuomi neugierig. Ich erzählte den beiden, was Nami und ich überlegt hatten. „Und Papa kommt auch mit?“ vergewisserte er sich ungläubig. „Die ganze Familie“, bestätigte ich. Er sah zu seiner Mutter. „Wirklich?“ „Ja, wirklich.“ „Toll!“ Er hüpfte aufgeregt herum. „Darf ich Coco auch mitnehmen?“ Seine Mutter nickte. „Zu Dr. Emoto auch?“ „Natürlich.“ Er rannte los. Nami fuhr uns und musste auf der Fahrt raten, was für den Nachmittag geplant war. Sie tat völlig ahnungslos, und Tatsuomi hatte große Freude, auf alles, was sie aufzählte, mit Nein zu antworten. Die gute Stimmung war im Wartezimmer leider schon wieder verflogen, und Tatsuomi wartete nervös mit mir und Nami während Kaoruko zunächst allein mit dem Arzt sprach. „Muss ich mich gleich ausziehen?“ fragte Tatsuomi mit der alten Angst in den Augen. „Ich glaube nicht“, versuchte Nami ihn zu beruhigen. „Ist das hier Coco?“ fragte ich, um ihn abzulenken, und meinte den kleinen Stoffaffen, den er an sich gepresst hielt. Er nickte. „Der ist von meinem Papa“, berichtete er stolz. „Der kommt auch aus Deutschland.“ Er zeigte mir das Schildchen im Ohr des Tieres, das ihn als echtes Steiftier auswies. „Wenn er bei mir ist, kann mir nichts passieren, sagt Papa. Er passt auf mich auf.“ „Dann bin ich ja arbeitslos“, scherzte Nami. „Nein“, sagte Tatsuomi in großem Ernst. „Coco kann ja nicht Auto fahren.“ „Dann ist ja gut“, sagte Nami. „Herzlich willkommen, Herr Kollege Coco-san.“ Nami verbeugte sich förmlich vor dem Affen, und so ging das Spielchen weiter, bis Kaoruko mit dem Arzt kam. Es war so schön, Tatsuomi so entspannt zu erleben. Ich fand, dass Nami ein echter Glücksfall für diese Familie war, insbesondere natürlich für Tatsuomi. Die Untersuchung und Behandlung erwies sich als weniger schlimm wie befürchtet, und nachdem auch mein Arm noch einmal kurz inspiziert worden war, fuhren wir zurück. Kapitel 25: Endlich Spaß! ------------------------- Die Zeit bis zum Mittagessen verbrachten wir mit Pinsel und Tusche. Kaoruko hatte die Idee gehabt, meinen Kindern Namenstafeln auf Japanisch zu malen. Tatsuomi fragte mich dabei Löcher in den Bauch über meine Söhne, und ich bekam regelrechtes Heimweh. Aber so sehr ich mich auf zu Hause freute, der Abschied würde mir auch sehr schwer fallen. Kaoruko hatte meinen Rückflug schon für den nächsten Morgen gebucht. Aber zunächst stand uns ja noch der Nachmittag bevor! Wir brachen sofort nach dem Mittagessen auf. Hirose hatte Wort gehalten und war pünktlich aus der Firma zurück. Obwohl wir die Limousine nahmen, in der die ganze Familie inklusive meiner Person Platz fand, brauchten wir zwei Wagen. In dem schwarzen Mercedes, der hinter uns her fuhr, saß das Aufgebot an Kollegen, die Kurauchi als Unterstützung für nötig befand. Für mich war das eine ungewohnte Situation, und ich war froh, dass wir von den vier Männern gar nicht viel mitbekamen. Sie hielten sich diskret im Hintergrund. Nur Nami und Kurauchi blieben in nächster Nähe, und nur die kleinen Funkgeräte, über die sie den Kontakt zu ihren Kollegen hielten, erinnerten daran, dass wir gut beschützt wurden. Der Freizeitpark, den Nami und ich für den Besuch ausgesucht hatten, erwies sich als voller Erfolg. Mir war wichtig gewesen, dass neben dem Vergnügen, das natürlich im Vordergrund stand, der Familienzusammenhalt gestärkt werden konnte. Besonders Hirose sollte seine Frau als gleichberechtigte Partnerin erleben. Das gelang hervorragend bei der Kanufahrt, wo das Ehepaar gut zusammenarbeiten musste, um den schon recht anspruchsvollen Parcours mit Stromschnellen und riesigen Gesteinsbrocken zu bewältigen, ohne zu kentern. Tatsuomi lebte förmlich auf und bekam gar nicht genug davon, seine Eltern in diverse Fahrgeschäfte zu ziehen. Es gab ein wenig Aufregung in einer Geisterbahn, wo ein als Vampir verkleideter Angestellter die Aufgabe hatte, die Besucher zu erschrecken, und der dann selber den Schreck seines Lebens erfuhr, als er von Kurauchi als potentieller Attentäter gestellt wurde. Das Missverständnis klärte sich jedoch schnell und wurde unter vielen Verbeugungen und Gelächter behoben. Es war ein wunderbarer Nachmittag. Wir aßen noch in dem Park an einem Imbiss zu Abend, und Tatsuomi vergaß sogar, dass er nur einen kleinen Bissen essen wollte. Dann war er allerdings urplötzlich so erschöpft, dass Kurauchi ihn zum Auto tragen musste. Auf der Rückfahrt schlief er tief und fest in den Armen seiner Mutter. Kapitel 26: Abschied -------------------- Am Abend saß ich noch einmal mit Kaoruko und Hirose zusammen. Wir besprachen ein letztes Mal, wie jetzt der weitere Weg auszusehen hatte. Ich versicherte mich, dass Tatsuomi seine Therapie bekommen würde. Ich riet Hirose eindringlich, selbst auch einen Therapeuten aufzusuchen, was er natürlich vehement von sich wies. Ich sah zu Kaoruko, die zu Boden blickte. Aber sie hörte zu, und vielleicht würde sie mit der Zeit mehr Erfolg damit haben als ich. Zu gern wüsste ich, wie viel sie wusste, aber das sollte ich nicht mehr erfahren. Den Rest des Abends verbrachte ich mit Packen und telefonierte mit meinem Mann, um ihm mitzuteilen, wann ich in Berlin ankommen würde. Ich freute mich riesig auf ihn und meine Kinder, und gleichzeitig war ich traurig. Vor allem Tatsuomi und Nami waren mir ans Herz gewachsen, und Japan war so verdammt weit weg von Deutschland. Es fühlte sich an wie ein Abschied für immer und tat entsprechend weh. Am nächsten Morgen verabschiedete ich mich mit einem festen Händedruck von Hirose. Wir sahen uns ebenso fest an, und ich wusste, er würde sein Wort halten. Kaoruko und Tatsuomi überreichten mir noch so viele Geschenke für meine Familie, dass ich eine extra Reisetasche dafür benötigte. Kaoruko bedankte sich überschwänglich für meine Hilfe, und Tatsuomi hing an ihrem Kimono und sah ganz traurig aus. Ich streichelte ihm über den Kopf zum Abschied, und eine dicke Träne kullerte über seine Wange. Wir versprachen uns zu schreiben. Nami fuhr mich zum Flughafen. Ich war noch ganz berührt und entsprechend schweigsam während der Fahrt. Auch sie gab sich einsilbig. Dennoch spürte ich die Nähe zwischen uns, die sich in den vergangenen Tagen aufgebaut hatte. Eine Nähe, die nicht viele Worte brauchte. Sie bestand darauf, meine Koffer zu tragen, und kümmerte sich auch um die Formalitäten. Dann war der Augenblick gekommen, Lebewohl zu sagen. Wir standen uns ein wenig unbeholfen gegenüber, inmitten des Flughafengetümmels um uns herum, und fanden noch immer keine Worte. Schließlich ergriff ich die Initiative und nahm sie einfach ganz unjapanisch in den Arm. Sie drückte mich an sich und so verharrten wir eine Weile. Aber die Zeit rückte voran, und ich musste los. Wir lösten uns voneinander, aber hielten uns weiter an den Händen. Jetzt redeten wir gleichzeitig los. Und verstummten wieder. „Kommen Sie gut nach Hause“, sagte Nami leise. „Vielen Dank, dass Sie uns geholfen haben. Wer weiß, was ohne Sie aus Tatsuomi-sama geworden wäre.“ „Ihnen wäre sicherlich noch etwas eingefallen“, sagte ich lächelnd. „Aber ich habe gern geholfen. Danke, dass ich Sie kennen lernen durfte… und danke für Ihre Unterstützung! Ohne Sie hätte ich gar nicht so viel ausrichten können.“ Sie lächelte zurück. Es war ein warmes Lächeln. „Passen Sie gut auf Tatsuomi auf!“ sagte ich. „Das werde ich. Und jetzt müssen Sie los, sonst verpassen Sie Ihren Flug.“ „Ja…“ Wir ließen uns los. „Auf Wiedersehen“, sagte ich auf Deutsch. „Sayonara.“ Sie verneigte sich ein letztes Mal vor mir. Ich nahm meine Tasche und ging. Bevor ich außer Sicht kam, drehte ich mich noch einmal zu ihr um. Da stand sie, unbewegt, wie ich sie verlassen hatte, und sah mir nach. Sie hob die Hand, und ich winkte zurück. Dann wandte ich mich endgültig ab. Deutschland wartete auf mich. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)