Die Nacht trug deinen Namen von Jadis ================================================================================ Kapitel 4: V I E R ------------------ Hyperventilierend saß ich auf dem Fußboden vor meinem Sofa, hatte die Knie an meinen Körper gepresst und hielt mit meinen Armen meinen Oberkörper fest umschlungen. Neben mir lag ein Küchenmesser und mein Blick war seit mehreren Stunden auf meine Wohnungstür geheftet. Ich hatte befürchtet, dass sie jeden Moment würde eingetreten werden, aber es hatte sich nichts getan. Es herrschte Stille im ganzen Haus. Die Stille wurde nur durch stoßweise Atemgeräusche und das Ticken meines Weckers gestört. Es dauerte weitere zehn Minuten bis ich meine Atmung wieder unter Kontrolle hatte und beruhigt aufatmete. Ich war sicher. Dem Taxifahrer war ich neun Dollar achtzig schuldig gewesen. Als er merkte, dass ich nicht zahlungsfähig war wurde er sauer und ich musste ihm meine Ohrringe überlassen. Okay, damit hatte ich leben können. War sowieso kein echtes Silber gewesen. Ich zwang mich aufzustehen und zur Tür zu gehen um den Lichtschalter zu betätigen. Ich hatte die ganze Zeit im Dunkeln gesessen und gehofft, dass ich den Sonnenaufgang noch erleben würde. Da er nun kurz bevor stand, fühlte ich mich mutig genug um meine tägliche Routine zu beginnen. Mit einem kläglichen Summen sprang die kahle Glühlampe in der Mitte meines Wohnbereiches an, als ich den Lichtschalter umlegte und vorsichtshalber noch einmal alle Türverriegelungen überprüfte. Plötzlich kam es mir albern vor und ich stellte den Stuhl, den ich mit der Lehne unter den Türknauf geschoben hatte, zurück auf seinen alten Platz. Ich ging zu meiner geliebten Fensterreihe, öffnete ein Fenster davon, und die angenehm kühle Nachtluft die herein wehte und über meine Haut fuhr belebte meine Lebensgeister. Ich tat einen tiefen Atemzug und blies die Luft langsam wieder aus. Ich liebte es hier zu stehen und die Aussicht zu genießen. Die Fenster waren der einzige Grund weshalb ich mich für diese Wohnung entschieden hatte. Sie nahmen die ganze Breite des Raumes ein und verliefen vom Fußboden bis knapp unter die Zimmerdecke. Hatte ich bereits erwähnt, dass ich sie liebte? Ich liebte diese Fenster! Ein brusthohes Geländer war ebenfalls angebracht worden und hinderte mich daran, mich versehentlich in den Tod zu stürzen. Nicht, dass ich jemals darüber nachgedacht hätte, es absichtlich zu tun. Ich trat zurück, ging barfüßig in die Küche und ließ mir ein Glas Leitungswasser ein. Mit einer Hand stützte ich mich auf der Spüle ab, während ich meinen Kopf in den Nacken warf und es in einem Zug leer trank. Anschließend ließ ich mir ein neues Glas ein und wollte damit zurück in den Wohnbereich gehen. Auf halben Weg nahm ich einen stärkeren Luftzug wahr und hob meinen Blick. Das Glas entglitt meinen plötzlich zitternden Händen und zerbrach auf den hölzernen Dielen in tausend Stücke. Das konnte man garantiert nicht mehr kleben. Wasser und kleine Glasscherben verteilten sich auf meinen nackten Füßen, als ich mich taumelnd zurückfallen ließ und irgendwann unsanft gegen einen Küchenschrank stieß. Meine Hände verkrampften sich unangenehm um die Kante meiner Arbeitsplatte, während ich ungläubig den schwarz gekleideten Mann in meinem Wohnzimmer fixierte. Mein Geist war augenblicklich frei von Gedanken. Ich konnte nur Starren und beobachten wie er, mit den Händen in den Taschen seiner halblangen Lederjacke, auf meinem Couchvorleger stand und mir direkt in die Augen sah. Er sagte nichts, stand einfach nur da, als würde er dies bereits sein ganzes Leben lang tun, und schien darauf zu warten, dass ich eine Reaktion zeigte. Doch ich blickte mich nur panisch um und überlegte fieberhaft was ich jetzt tun sollte. Schreien? In Ohnmacht fallen? Aus dem Fenster springen? Ich entschied mich für Konversation. „Was wollen Sie hier?“ fragte ich so laut wie möglich und hasste mich dafür, dass meine Stimme so sehr zitterte. „Wie sind Sie überhaupt rein gekommen?“ Er legte den Kopf leicht schief und überging meine erste Frage. „Durch das Fenster“, antwortete er mir und sagte es in einem Tonfall, als sei es das Normalste auf der Welt, dass er eine Wohnung im vierten Stock durch das Fenster betrat obwohl es keine Feuerleiter gab und dass es jeder falsch machte, der die Tür benutzte. Wer war er? Spiderman? Er kam einen Schritt näher und ich zuckte augenblicklich so sehr zusammen, dass ich mit dem Kopf gegen den Hängeschrank hinter mir stieß und Blitze vor meinen Augen zuckten. Ein Aufschrei blieb in meiner Kehle stecken und eine Entschuldigung lag in seinem Blick, während ich mir den Kopf massierte und er die Bewegung noch langsamer zu Ende brachte. Er blieb stehen und sein Blick fiel auf mein am Boden liegendes Küchenmesser. Ich nutze die Gelegenheit seiner Unaufmerksamkeit und kramte in dem Schieber neben mir nach einem anderen Messer um es ihm unter seine wohlgeformte Nase zu halten. Ich erschrak beinahe zu Tode, als er übergangslos nur noch einen Schritt von mir entfernt stand, das aufgehobene Messer in seinen schlanken Händen hielt und mich ausdruckslos ansah. „Das ist Hausfriedensbruch“, informierte ich ihn und meine Stimme war nur noch ein Flüstern. „Ich will, dass Sie auf der Stelle verschwinden und mich nie wieder belästigen.“ Wollte ich das wirklich? Gott, er war so… unwirklich, irreal, wie eine Illusion, ein Trugbild, eine optische Täuschung. Er war so… schön. Es gab einfach kein anderes Wort dafür. Nur schön. Er bedachte mich mit einem belustigten Lächeln und beugte sich vorsichtig an mir vorbei um das Messer auf die Anrichte zu legen. Dabei ließ er mich keine Sekunde lang aus den Augen. Ich befeuchtete meine Lippen, als er ganz langsam nach dem Messer in meinen zitternden Händen griff und ich es zuließ, dass er es mir abnahm um es neben das andere zu legen. Ich Trottel! Vielleicht sollte ich mich bei Gelegenheit gleich von selbst in den nächst besten, spitzen Gegenstand stürzen. Das würde mir vielleicht die eine oder andere Schmach ersparen. Er war mir jetzt so nah, dass ich ganz deutlich seinen markanten Geruch wahrnahm. Das machte mich fast wahnsinnig. „Messer, oder sogar Pfeffersprays bringen ohnehin nichts“, riss er mich erklärend aus meinen Gedanken und ich fühlte mich unangenehm an meine Begegnung mit dem Rocker erinnert. „Wenn man es wirklich ernst meint, dann hilft nur ein Pfahl aus Rotholz direkt durchs Herz.“ Ich schluckte und bemerkte, dass die ersten goldenen Strahlen der aufgehenden Sonne das Zimmer fluteten. „Und was ist mit Sonne?“ fragte ich gedankenlos. Ich hatte eindeutig zu viel Horror-Romane gelesen. Ein amüsiertes Lächeln umspielte erneut seine Lippen und er überbrückte die letzten Zentimeter zwischen uns mit einem Schritt. „Unangenehm, aber nicht tödlich.“ Ein Wimmern entwich meiner Kehle, als er mich packte, mit Leichtigkeit herumwirbelte und gegen die Wand drückte. Das war mir doch schon einmal passiert. Wo war wohl sein geisteskranker Freund abgeblieben? Doch ich kam nicht darum herum zu bemerken, dass er in seiner Art anders war als der Rocker. Er war… sanfter? Sein Knie zwang meine Beine auseinander, sodass er seins ungehindert zwischen meine stellen konnte, während seine Lippen meinen Hals streiften und pulsierende Schauer durch mich hindurch jagten. Ich wollte weinen. Weinen, weil ich es so sehr genoss und gleichzeitig so sehr hasste, was er gerade mit mir anstellte. „Ich will, dass du jetzt gehst“, stieß ich zwischen zwei Atemzügen hervor und wusste nicht, ob ich es tatsächlich auch so meinte. Er kicherte in mein Haar hinein und strich mit seiner rechten Hand langsam meinen linken Arm hinab. „Du duzt mich. Das Gefällt mir.“ Ich schluckte und wagte es kaum zu atmen, als sein Atem meine Haut streifte. Mit dem Daumen fuhr er die Konturen meiner Lippen nach und zeigte dabei einen sehnsüchtigen Blick. Schließlich legte er seine Wange an meine und nahm einen tiefen Atemzug durch die Nase. „Du riechst so gut“, ließ er mich mit seiner tragischen Stimme wissen und ich verlor meinen Verstand. Nimm mich, wollte ich schreien, hier und jetzt! Doch bevor ich auch nur einen Piep von mir geben konnte, klingelte mein alter Wecker in einer Lautstärke die sogar Tote wieder aufgeweckt hätte. Also schluckte ich nur und der Fremde hielt in seiner Bewegung inne. „Du kommst zu spät zur Arbeit“, stellte er ruhig fest und trat zwei Schritte zurück. Zeigten seine Gesichtszüge bedauern, oder bildete ich es mir nur ein? Die Wärme seines Körpers war eine Erinnerung auf meiner Haut die mich enttäuschend aufseufzen ließ. Wie zur Verabschiedung neigte er leicht den Kopf und war daraufhin jäh verschwunden. Nur die Gardinen am offenen Fenster wurden von einem leichten Lufthauch gestreichelt. Er war übergangslos einfach… weg. Ich rutschte langsam an der Wand hinab bis ich in eine sitzende Position kam und darauf wartete, dass das Adrenalin in meinem Körper langsam wieder abgebaut wurde. Dann kroch ich Richtung Sofa und machte mich daran die Scherben des Wasserglases aufzuräumen. Zu allem Überfluss schnitt ich mir dabei in den Finger. ~ Ich war noch immer so durch den Wind, dass ich den Weg zu Tom’s Diner ganz ohne Rollschuhe zurücklegte. Als ich in den Laden trat, trug ich sie immer noch in meiner rechten Hand und Mary warf mir seltsame Blicke zu. Wahrscheinlich schluckte sie gerade einen bissigen Kommentar herunter, denn sie konnte mir dieses eine Mal nichts anhaben. Heute war ich sogar eine halbe Stunde vor Beginn meiner Schicht hier. Ich ging in die Küche um bei den Vorbereitungen zu helfen und versuchte nicht mehr an geheimnisvolle Fremde und unausgesprochene, verheißungsvolle Berührungen zu denken. Es gelang mir mehr schlecht als recht. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht rollte ich in Mr. Sanders Ecke, als die Zeit herangerückt war und ich den kleinen Mann auf seinem Stammplatz sitzen sah. Erst lächelte auch er, doch als ich nah genug heran war, weiteten sich seine Augen vor unausgesprochenem Entsetzen und er murmelte fremd klingende Sätze in einer Sprache die ich nicht verstand. War das Latein? Ich versuchte ihn zu beruhigen, doch er wollte sich nicht von mir berühren lassen und schlug sogar mit seinem Gehstock nach mir. Erschrocken über seine Reaktion fuhr ich zurück und ließ ihn übereilt das Diner verlassen. Er drehte sich nicht einmal mehr um, als er seinen Gehstock verlor. Wovor hatte er plötzlich solche Angst? Wie ein begossener Pudel stand ich mit einem Donut und den Toastscheiben mit Setzei vor seinem Tisch und tat nichts anderes, als die Häuserwand anzustarren hinter der er auf der anderen Straßenseite verschwunden war. Betty erschien neben mir und blickte ebenfalls in diese Richtung. „Was hast du dem denn erzählt?“ wollte sie wissen und lehnte sich plötzlich schnuppernd zu mir herüber. „Und seit wann rauchst du?“ Ich blinzelte, weil ihre Worte endlich zu mir durchdrangen. „Ich? Rauchen?“ „Geht mich nichts an“, sagte sie nur mit abwehrender Haltung und verschwand wieder. Ich schnüffelte unauffällig an meiner Kleidung und roch rein gar nichts. Vielleicht hatte Betty heute Morgen auch einfach nur Frostschutzmittel in ihrem Kaffee gehabt. Ich hängte Mr. Sanders Gehstock an die Garderobe und fuhr zurück in die Küche. Auf halben Weg blieb ich abrupt stehen und heftete meinen Blick erneut auf die besagte Häuserwand. Ich realisierte plötzlich, dass ich ein Wort welches er gemurmelt hatte, ganz genau verstanden hatte: „Diabolus“. ~ Ende des 4. Kapitels ~ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)