F.E.A.R. - Frightening Ends, Angels Rise von abgemeldet (Was, wenn Bella überhaupt nicht so fasziniert von Edward ist? Was, wenn er ihrer Meinung nach das Böse schlechthin ist?) ================================================================================ Kapitel 1: Allein ----------------- Geschrieben von dubdug Betagelesen von feane - Vielen Dank! =) -------------------- Allein Gedankenverloren sah ich den Regentropfen zu, beobachtete, wie sie auf die Fensterscheibe des Klassenzimmers trafen, langsam mit denen, die bereits daran hafteten, verschmolzen und zu dünnen Rinnsalen wurden, die auf der glatten Oberfläche hinunter glitten. Manche zweigten sich, bildeten durchsichtige, kleine Verästelungen, schlugen immer wieder neue Richtungen ein, so als wollten sie unbedingt verhindern, jemals das Ende des Fensters zu erreichen, während andere wiederum haltlos in die Tiefe stürzten. Eigentlich ein sehr schönes Schauspiel, wenn ich darüber nachdachte, deswegen fragte ich mich, weshalb es mich dennoch jedes Mal melancholisch stimmte. Vielleicht weil die Tropfen wie viele kleine Tränen wirkten und einen an jene erinnerte, die man selbst vergossen hatte. Vielleicht weil einem der ewige Kreislauf bewusst wurde, der immer noch stattfinden würde, auch wenn man selbst schon lange unter der Erde lag. Wasser lebt ewig. Fällt von den Wolken, versickert in der Erde, nährt Bäume, Pflanzen, Lebewesen und verdunstet wieder, steigt empor in den Himmel, wo alles von vorne beginnt. Vielleicht hatte der Regen aber auch gar nichts Trauriges an sich und es kam einem einfach nur so vor, weil man ihn nie beobachtete, wenn man glücklich war. Vielleicht ließ er mich aber auch nur, durch die Kälte die er mit sich brachte, die warme Sonne in Phoenix vermissen. Denn an den Regen, an die tägliche kalte Nässe, hatte ich mich noch immer nicht gewöhnt, und würde es auch wahrscheinlich nie tun. Auch die Kleinstadt Forks, in der ich mittlerweile seit fünf Monaten lebte, war mir immer noch fremd. Wirkte nicht wie mein Zuhause auf mich, sondern eher wie ein seltsamer Urlaubsort, in dem man es schwer hatte, sich zurechtzufinden, wenn man nicht schon von Geburt an dort lebte und es niemals anders kannte. Aber war der Unterschied zu Phoenix eigentlich tatsächlich so groß? Nein, denn sah man von den Temperaturen und der Einwohnerzahl mal ab, war er, wenn ich ehrlich war, sogar erschreckend gering. Mein neues Leben glich dem in Phoenix mehr, als mir lieb gewesen wäre. Jetzt im Nachhinein, wo ich die Enttäuschung darüber spürte, bemerkte ich, mir anfangs doch so etwas wie Hoffnungen gemacht zu haben. Hoffnungen, es könnte hier besser werden. Nahezu lächerlich kam mir dieser Wunsch nun vor, denn weshalb hätte es besser werden sollen? Komische Menschen konnte man nicht ändern, sie bleiben seltsam, egal, wo sie hinzogen, und waren dazu verdammt, ein Leben als Außenseiter zu führen. Als Mike, Eric, Jessica und Konsorten bemerkt hatten, wie langweilig der vermeintlich spannende Neuzugang, Isabella Marie Swan, doch in Wirklichkeit war, verschwand ihr Interesse schneller als es aufgekommen war. Doch in diesem Fall fand ich das nicht einmal schlimm, denn ich hatte mich in ihrer Gegenwart ohnehin nie wohl gefühlt. Nicht nur, weil ich es nicht gewohnt war, ständig Menschen um mich herum zu haben, die mir meinen sicheren Freiraum nahmen, sondern auch, weil sie anders waren. Anders als ich. Teenager mit oberflächlichen Interessen, die immer darauf bedacht waren, mit dem Strom zu schwimmen, in der Hoffnung, eines Tages bei jedem beliebt zu sein und sich nur dadurch abzuheben, in dem man cooler war als der Rest. Nein, dazu wollte ich niemals gehören. Da würde ich lieber auf ewig alleine bleiben ... Ohne zu wissen, warum, schweifte mein Blick auf den leeren Stuhl rechts neben mir. Nicht gemocht oder anerkannt zu werden war die eine Sache, jedoch ignoriert und verabscheut zu werden eine andere. Edward Cullen. Dieser Name verfolgte mich, auch wenn er das eigentlich nicht sollte. Noch nie zuvor war ich einem Menschen begegnet, der so wunderschön und angsteinflößend zu gleich war. Seine schwarzen Augen, die dunklen Schatten darunter, seine blasse Haut, seine geschmeidigen Bewegungen, sein bronzefarbenes Haar ... Alles wirkte so perfekt, so anziehend ... doch gleichzeitig haftete etwas Düsteres, etwas Unheimliches, nahezu Gefährliches an ihm, das ich nicht in Worte fassen konnte. So sehr er mich faszinierte, so sehr machte er mir auch Angst. Womöglich lag das aber überhaupt nicht an seinem Aussehen, und ich bildete mir das nur ein, weil mich sein Verhalten so sehr verunsicherte. Denn wie ich inzwischen herausgefunden hatte, benahm er sich nur mir gegenüber so merkwürdig. Anfangs, als ich erst wenige Wochen hier lebte, hatte ich bei Angela vorsichtig angefühlt, und sie beschrieb ihn als sehr still, nachdenklich, zurückgezogen, ein bisschen sonderbar aber freundlich, wenn man ihn ansprach. Diese Aussage hatte meine böse Vermutung, er hätte ein persönliches Problem mit mir, bestätigt, denn „freundlich“ wäre sicher keines der Wörter gewesen, mit denen ich ihn beschrieben hätte. Gab es so etwas wie Hass auf den ersten Blick? Wenn ja, dann musste bei Edward Cullen wohl so eine Art Blitz eingeschlagen haben, als ich von meinem Lehrer, Mr. Banner, vor fünf Monaten in meiner ersten Biologiestunde aufgefordert wurde, mich auf den freien Stuhl neben ihn zu setzen. Edwards Blick war schon alles andere als erfreut, als ich langsam auf ihn zulief, doch sein Verhalten, das mich erwartete, nachdem ich saß, hatte mich regelrecht erschaudern lassen. Keines Blickes hatte er mich gewürdigt, seinen Stuhl prompt so weit wie möglich an das andere Ende des Tisches gerutscht und seine Augen starr nach vorne gerichtet. Völlig verschüchtert wegen dieser Reaktion, hatte ich daraufhin meine Haare als Vorhang nach vorne fallen lassen und mich am liebsten in Luft aufgelöst, so unwohl fühlte ich mich. Jedes Mal, wenn ich vorsichtig und unauffällig in seine Richtung geschielt hatte, erschreckte ich mich aufs Neue. Seine Miene spiegelte den reinsten Hass wider, seine Gesichtszüge waren hart und angespannt und seine Lippen waren so fest aufeinander gepresst, dass ich Angst hatte, sein Kiefer würde jede Sekunde zerbersten. Sein Körper war wie eine Statue, verkrampft und steif bis in die Zehen; nicht mal einen Millimeter hatte er sich während der ganzen Schulstunde bewegt. Nur seine geballte Faust, die er unter dem Tisch auf seinem Bein liegen hatte, schien ihren Griff immer stärker werden zu lassen, denn nicht nur seine Knöchel waren von der durchtrennten Blutzufuhr weiß, sondern seine gesamte Hand. Ich hätte sogar schwören können, ihn kein einziges Mal atmen gehört zu haben, und wäre das nicht unmöglich gewesen, weil das seinen sicheren Tod bedeutet hätte, wäre ich auch heute noch dieser Überzeugung. Ich hatte mir schon sehr viel herbeigesehnt in meinem Leben, doch wie sehr ich mir damals das Ende der Unterrichtsstunde ersehnt hatte, übertraf alles. Doch ich schien nicht die Einzige gewesen zu sein, die diesen Wunsch hegte, denn obwohl ich regelrecht aufgesprungen war, als es klingelte, war Edward Cullen schon verschwunden, noch ehe ich überhaupt nach meinem Rucksack greifen konnte. Am darauf folgenden Tag, an dem ich selbst schon überlegt hatte, zuhause zu bleiben, erschien er nicht und auch weitere zwei Wochen blieb er der Schule fern. Und selbst als er wieder auftauchte, blieb der Stuhl neben mir leer. Von Angela erfuhr ich später, dass er den Kurs gewechselt und nun einen Einzeltisch zwei Reihen hinter ihr bezogen hätte. Wäre es Verfolgungswahn, diesen Wechsel mit mir in Verbindung zu bringen oder wäre es naiv, es nicht zu tun? Eigentlich war es kaum vorstellbar, denn wir hatten niemals auch nur ein einziges Wort miteinander gesprochen, dennoch war ich mir sicher, von ihm verabscheut zu werden und der Grund für all das zu sein. Aber warum? Wie konnte meine bloße Anwesenheit so eine starke Abneigung in ihm auslösen? Fand er mich so hässlich? Stank ich? Diese Fragen stellte ich mir seit diesem Vorfall täglich, denn an seinem Verhalten mir gegenüber hatte sich nichts geändert. Wenn ich ihn irgendwo in der Schule erspähte, allein oder mit seinen gleichermaßen atemberaubend schönen aber furchterregenden Adoptivgeschwistern, ignorierte er mich entweder komplett, oder sah mit einem undefinierbaren Blick in meine Richtung. Dieser Mensch war mir absolut unheimlich. Und doch erwischte ich meine Augen hin und wieder dabei, wie sie unauffällig die Cafeteria oder den Parkplatz nach ihm absuchten. Fanden sie ihn, war ich zu nichts anderem in der Lage, als meinen Blick schnell wieder zu senken. Es klang absurd, aber manchmal hatte ich den Eindruck, er schmiedete einen heimlichen Plan, mich umzubringen. Aber das konnte ich natürlich niemandem erzählen, da mich sonst jeder für verrückt gehalten hätte - einschließlich ich selbst. Da gefiel mir die Alternative, von niemandem bemerkt zu werden und quasi wie ein Geist durch die Schule zu laufen, wesentlich besser. Wenn man nicht auffiel, konnte man auch keine Angriffsfläche bieten. Es war schon furchtbar genug, durch meine Dusseligkeit ab und an die Aufmerksamkeit der anderen auf mich zu lenken und Spott zu ernten. Selbst Angela, welche noch die Einzige war, die sich trotz meiner langweiligen Art mit mir abgegeben hatte, schaffte ich durch meine fadenscheinigen Ausreden, wenn sie mich nach einem Treffen außerhalb der Schule gefragt hatte, weitestgehend zu vergraulen. Warum ich das tat, wusste ich nicht einmal selbst, jedoch konnte ich ihr nicht verübeln, dass auch sie nun meistens einen Bogen um mich machte. Die Schulglocke ertönte, holte mich aus meinen Gedanken und ließ schlagartig ein lautes Gemurmel in der Klasse aufkommen, während der Lehrer auf dem Pult seine Unterlagen ordnete. „Denken Sie an die Klausur übermorgen“, erinnerte er uns noch, als schon die Ersten, denen es nicht schnell genug gehen konnte, aus dem Klassenzimmer stürmten. Unter dem Geraune meiner Mitschüler, die über die Erinnerung von Mr. Banner nicht gerade erfreut waren, packte nun auch ich meine Sachen zusammen; verstaute meine wenigen Utensilien in meiner Umhängetasche und verließ als Letzte den Unterrichtsraum. Wie jeden Tag herrschte nach Schulschluss ein dichtes Gedränge in den Fluren und da ich mich nicht wohl fühlte, wenn ich dazwischen geriet, ließ ich mich nach hinten fallen und steuerte nur langsam den Ausgang an. Ich hatte keinen Grund zur Hektik, denn weder hatte ich es eilig, raus in den Regen zu kommen, noch wollte ich besonders schnell nach Hause. Warum auch? Schließlich erwartete mich dort nichts. Auf dem Fußboden war immer noch dieser hässliche, hellblaue Linoleum verlegt, der uralt wirkte, weil er so abgenutzt und verkratzt war. Ob mein Vater früher, als er in meinem Alter war und noch hier zur Schule ging, wohl auch schon über diesen Belag gelaufen war? Es wäre durchaus vorzustellen gewesen. Bald waren meine Schritte die einzigen, die auf dem gummiartigen Untergrund zu hören waren; ich hatte wie immer das Schlusslicht gebildet. Gerade eben hatte hier noch lautes Treiben geherrscht und von einer Sekunde auf die andere waren die Gänge wie ausgestorben. Eine Schule ohne Schüler hatte zweifelsohne etwas Gruseliges an sich. Deswegen war ich froh, als ich kurz darauf die große Eingangstür erreichte und mich anschließend nach draußen in den Nieselregen begab. Der Parkplatz leerte sich zusehends, weswegen mein verrosteter roter Truck, den ich glücklicherweise nur ein paar Meter und direkt gegenüber vom Eingang geparkt hatte, noch mehr herausstach. Ein ganzes Stück dahinter stand ... der silberne Volvo und direkt daneben wartete ein zierliches, schwarzhaariges Mädchen. Alice Cullen, Edwards Schwester, wie ich am Rande mal mitbekommen hatte, und die Bezeichnung „Mädchen“ traf es eigentlich auch nicht richtig, denn sie wirkte trotz ihrer geringen Körpergröße eher wie eine junge Frau. Jeder der Cullens wirkte so. Alle strahlten sie eine gewisse Reife, fast schon Erwachsenheit aus und hoben sich deutlich von den üblichen Teenagern - mich eingeschlossen - ab. Auch ihre elegante Kleidung, die Art, wie sie sich gaben, ihre schöne aber gespenstische Erscheinung, die grazile Weise, wie sie sich bewegten ... sie waren einfach anders. Was mich jedoch, zumindest in diesem Moment, am meisten irritierte, war, dass Alice freundlich in meine Richtung lächelte. Galt das tatsächlich mir? Da hier außer mir niemand mehr herumlief, tat es das anscheinend. Aber warum? Noch ehe ich mir einen Reim darauf bilden konnte, veränderte sich ihre Mimik wieder und nahm einen fast schon genervten Ausdruck an. Schlicht und einfach hatte sie mich verwechselt, erklärte ich mir das. Ich kam mir mit einem Mal regelrecht blöd vor, weil ich sie so dumm angestarrt hatte und wandte meinen Blick schnell auf meinen Truck, den ich beinahe erreicht hatte. Doch was ich dort in der Reflexion meiner Heckscheibe sah, versetzte mich augenblicklich in einen Schockzustand. Es war jemand hinter mir. Dicht hinter mir. Und nicht irgendjemand, sondern Edward Cullen. Seinen Blick auf meinen Hinterkopf gerichtet, war er nur wenige Zentimeter von mir entfernt und folgte mir wie mein Schatten. Angst kam in mir auf und mein Herz schlug schnell gegen meine Brust, als meine Füße wie von selbst ihre Geschwindigkeit erhöhten. Wo kam er auf einmal her? Und wie konnte ich ihn nicht gehört haben? So, als hätte er meine aufkommende Unruhe bemerkt, sah er plötzlich auf. Und für den Bruchteil einer Sekunde fanden sich unsere Augen in der Spiegelung der Glasscheibe. Sein Blick war durchdringend, jedoch unergründlich, während sich in seinem Gesicht keinerlei Regung abzeichnete. Seine Augen waren schwarz. Genauso dunkel, wie damals bei unserer ersten Begegnung; seitdem war ich ihm nie wieder so nahe gewesen. So schnell dieser unheimliche Moment aufkam, so schnell verschwand er auch wieder. Meine fahrige Hand erreichte meinen rettenden Truck, öffnete hastig die Tür und von Edward war nur noch ein kleiner, kalter Windhauch zu spüren. Wortlos war er um mein Auto herumgelaufen und befand sich auf den Weg zu seinem eigenen Auto. Komplett durcheinander stieg ich in meinen Wagen und fühlte mich sofort viel sicherer, wenn ich auch gleichzeitig tausend Fragen in meinem Kopf hatte. War er mir gefolgt? Er musste mir gefolgt sein, warum sollte er sonst so dicht bis zu meinem Auto gelaufen sein? Aber weshalb sollte er mir hinterherlaufen? Wollte er mir etwas antun? Hier, inmitten von Forks, wo es hunderte Augenzeugen gegeben hätte? Ich schüttelte meinen Kopf und rief mich wieder zur Besinnung. Er mochte mich nicht, das war offensichtlich, aber warum sollte er mir deswegen gleich etwas antun wollen? Nein, das ergäbe keinen Sinn und ich befürchtete, langsam paranoid zu werden. Trotzdem verstand ich weiterhin nicht, wie ich ihn nicht bemerken konnte. Was auch immer das gewesen sein sollte, ich war unendlich froh, es hinter mir zu haben und hoffte inständig, es würde nie wieder passieren. Um Fassung bemüht, atmete ich noch mal tief durch und hatte es auf einmal doch ziemlich eilig, von hier wegzukommen. Ich startete meinen Wagen, vermied es, als ich über den Parkplatz fuhr, zu dem silbernen Volvo zu sehen und fuhr schneller als gewöhnlich nach Hause. Als ich in dem kleinen Häuschen, wo ich alleine mit meinem Vater Charlie wohnte, ankam, hatte ich mich wieder weitestgehend beruhigt. Ich wusste selbst nicht, was in Bezug auf Edward Cullen jedes Mal mit mir los war. Er ... mich umbringen ... Blödsinn. Langsam zweifelte ich an meinem Verstand. Früher, als ich noch ein Kind war und meinen Vater immer nur in den Sommerferien besucht hatte, empfand ich Charlie stets als sehr seltsam. Als ich meine Mutter vor längerem mal darauf angesprochen hatte, meinte sie, dass dies im Laufe der Jahre eben mit einem Menschen, der fast sein ganzes Leben lang alleine in einem kleinen Haus nahe am Waldrand lebte, passierte. Mittlerweile wusste ich, es hatte weder etwas mit dem kleinen Haus noch mit der Nähe des Waldes zu tun. Es lag an seiner Einsamkeit. Mein Vater war allein. Und genau das machte ihn komisch. Nun musste ich machtlos zusehen, wie ich ihm immer ähnlicher wurde. Wie meine Umwelt sich über mich wunderte, weil ich mich in ihren Augen eigenartig verhielt, und ich mich deswegen nur noch mehr von ihr zurückzog. Ein Teufelskreis. Denn umso einsamer man wurde, desto seltsamer wurde man auch. Ohne es jemals gewollt zu haben, war ich in seine Fußstapfen getreten und teilte mit ihm das gleiche Los. Vielleicht stimmte ja etwas mit unseren Genen nicht? Ich vermutete dies stark, legte meinen Rucksack neben der Tür ab und machte mich an den Abwasch, für den ich gestern Abend zu müde gewesen war. Mich um den Haushalt zu kümmern, so dachte ich, war das Mindeste, was ich für meinen Vater tun konnte, wenn er schon auf einmal nach all den Jahren täglich mit seiner Tochter konfrontiert wurde und auch noch sein Haus mit ihr teilen musste. Denn nur weil zwei Menschen aus dem gleichen Holz geschnitzt waren, bedeutete das noch lange nicht, dass ihnen der Umgang miteinander leichter fiel. Ganz im Gegenteil. Es war erstaunlich, wie sehr man sich auf fünfundsechzig Quadratmetern aus dem Weg gehen konnte. Wir stritten nicht miteinander oder dergleichen, wir wussten nur einfach beide nicht, was wir mit dem jeweils anderen reden sollten. Nachdem wir uns täglich die obligatorische Frage, wie der Tag gewesen sei, gestellt hatten und sie gegenseitig mit einem standardgemäßen und nicht unbedingt wahrheitsgetreuen „Gut“ beantworteten, wurde es schon schwierig. Anfangs hatten wir uns noch bemüht, mehr miteinander zu sprechen. Doch da selbst diese Unterhaltungen, die meist über völlig belanglose Themen waren, nie ihre Gezwungenheit verloren, gaben wir es irgendwann wieder auf. Das Ritual, gemeinsam zu Abend zu essen, hatten wir jedoch beibehalten, auch wenn sich danach unsere Wege ziemlich schnell wieder trennten. Für gewöhnlich ging ich nach oben in mein Zimmer, während sich mein Dad dem Fernsehprogramm widmete. Nachdem das Geschirr abgespült und abgetrocknet war, machte ich mich an die Dreckwäsche, schaltete eine Maschine ein und ging anschließend wieder zurück in die Küche, um schon mal die Lasagne vorzubereiten, damit ich sie später, wenn Charlie von der Arbeit kam, nur noch mal kurz aufwärmen musste. Die Zeit, die sowohl die Waschmaschine als auch der Ofen brauchte, nutzte ich, um meine Hausaufgaben am Küchentisch zu machen. Diese waren zwar, weil ich wenig aufhatte, schnell erledigt, doch erleichtert fühlte ich mich deswegen trotzdem nicht. Denn das größere Übel, das ich schon seit Tagen vor mich herschob, wartete noch immer auf mich und saß mir böse im Nacken: Die Biologieklausur in zwei Tagen. Ich war schon in Phoenix nur ein mittelmäßiger Schüler gewesen, doch hier in Forks waren meine Zensuren noch ein bisschen tiefer in den Keller geklettert. Dennoch kein Grund zur Besorgnis, so dachte ich zumindest - der Direktor hingegen, der mich vor zwei Wochen persönlich darauf angesprochen hatte, sah das offenbar anders. Ich konnte nicht sagen, wie unangenehm mir dieses kurze Gespräch unter vier Augen war. Spätestens als er sich erkundigte, ob ich mich womöglich nicht wohlfühlen würde in der neuen Umgebung, oder eventuell private Probleme hätte, die für meinen Leistungsabfall verantwortlich sein könnten, wäre ich am liebsten im Erdboden versunken. Er hatte mir sogar angeboten, einen Termin beim Schulpsychologen für mich auszumachen, wenn dem so wäre ... Gott, ging es noch erbärmlicher? Was dachte er, was ich war? Geisteskrank? Anscheinend ... Denn es war nicht nur was er sagte, sondern auch wie er es sagte. Er hatte mit mir gesprochen, als wäre ich ein rohes Ei, das gerade mal den durchschnittlichen IQ eines Viertklässlers hatte. So weit war es schon gekommen und ich mochte mir überhaupt nicht vorstellen, was der Rest der Leute über mich dachte. Ich hasste es, hier in dem Paar-Tausend-Seelen-Dorf nicht die gleiche Anonymität genießen zu können, wie in Phoenix. Jeder kannte jeden, jeder wusste, dass ich die Tochter des sonderlichen Polizeichefs war und dass es in unserer Familie schon immer Probleme gab. Und genauso sahen mich die Leute auch an. Zu so einer peinlichen Unterredung durfte es jedenfalls nie wieder kommen, genauso wenig, wie mein Vater darüber unterrichtet werden sollte. An die Möglichkeit, das Jahr eventuell wiederholen zu müssen, wollte ich überhaupt nicht denken. Um all das zu verhindern, musste ich in der Biologieklausur unbedingt gut abschneiden. Doch leichter gesagt als getan ... Ich hatte schon immer Probleme damit, mich zu konzentrieren. Sei es im Unterricht, in meinem Privatleben oder beim Lernen; nie blieb meine Aufmerksamkeit da, wo sie eigentlich sein sollte. Ständig drifteten meine Gedanken ab und landeten bei komplett anderen Themen. Manchmal war ich allein schon so sehr damit beschäftigt, nicht unangenehm aufzufallen, dass ich kaum noch etwas anderes mitbekam. Wenn ich es dann doch mal schaffte, mein Augenmerk auf das Wesentliche zu richten, dann machte mir dafür des Öfteren mein Kurzzeitgedächtnis einen Strich durch die Rechnung. Sachen, die mich nicht zu hundert Prozent interessierten, wollten partout nicht in meinem Schädel bleiben und ich musste sie regelrecht hineinpressen, damit sie zumindest für einen gewissen Zeitraum darin verweilten. Diese Schwierigkeiten, die ich im Laufe der Jahre zumindest einigermaßen in den Griff bekommen hatte, besaß ich schon von klein auf. Doch seitdem ich in Forks war, funktionierten auf einmal alle Techniken, die ich mir mühselig für die Bewältigung dieses Problems angeeignet hatte, nicht mehr. So viel Mühe ich mir auch gab, jede Anstrengung schien im Vornherein zum Scheitern verurteilt zu sein. Zelluläre Transportvorgänge und Zellmembran, las ich in Gedanken zum tausendsten Mal das Thema durch, genauso wie ich mir vergeblich den Unterschied zwischen Diffusion und Osmose einbläuen wollte. Doch es blieb einfach nicht haften; kaum schlug ich meine Unterlagen zu, war alles wie weggeblasen. Von Minute zu Minute wurde ich zusehends unruhiger und frustrierter. Es machte mich rasend, mich nicht konzentrieren zu können - und dabei musste ich das doch! Nach und nach fiel mir immer mehr die Decke auf den Kopf; selbst das Surren des Kühlschranks und das leise Röhren des Ofens begannen, mich wahnsinnig zu machen. Es wirkte wie ein aussichtsloser Kampf und je mehr ich mich selbst unter Druck setzte, umso weniger funktionierte es. Alles schien sich gegen mich verschworen zu haben und ich spürte, wie Wut in mir aufkam. Wut auf dieses elende alte Haus, das immer noch mit Möbeln aus den Achtzigern eingerichtet war. Wut auf dieses verdammte Kaff, in dem alles noch viel schlimmer wurde, als es ohnehin schon war. Wut auf meine Mutter, die lieber Zeit mit ihrem Freund verbrachte, als mit ihrer Tochter. Wut auf diesen verfluchten Regen, der mich täglich darin hinderte, zumindest einmal aus diesen vergilbten vier Wänden auszubrechen. Wut auf mich selbst, weil ich zu dumm war, diese fünf Seiten zu lernen und nicht einmal das auf die Reihe bekam! Wut ... einfach nur Wut! Ich bekam das Gefühl, hier raus zu müssen. In Phoenix hatte es mir geholfen, an die frische Luft, in die Natur zu gehen, um meine Blockaden zu lösen. Draußen konnte ich viel besser lernen. Aber wie sollte ich das hier machen? Wegen diesem gottverdammten Regen wären meine Zettel innerhalb von einer Minute vollkommen durchnässt gewesen. Trotzdem, ich musste hier raus – und wenn es nur für einen kurzen Spaziergang wäre, alles wäre besser, als noch eine Sekunde in diesem Haus, in dieser niederdrückenden Einöde zu verbringen. Mit einer Mischung aus Entschlossenheit und Verzweiflung stand ich schließlich auf und nahm die Lasagne, die mittlerweile fertig war, aus dem Ofen und stellte sie auf die Küchenablage. Weil mir ein kurzer Blick auf die Uhr verriet, es würde noch ein paar Stunden dauern, bis mein Dad von der Arbeit kam, hinterließ ich ihm keine Notiz. Bis er Zuhause sein würde, wäre ich längst wieder hier. Um die Wäsche - da die Waschmaschine noch schleuderte - würde ich mich kümmern, wenn ich zurück war. Jetzt musste ich einfach raus! Kurz räumte ich noch meine Schulsachen vom Tisch, bevor ich in meine Regenjacke schlüpfte und das Haus verließ. Schon nach wenigen Metern erreichte ich den großen Wald, der sich direkt hinter unserem kleinen Garten erstreckte. Schon jetzt, nach nur ein paar Schritten, kam es mir so vor, als könnte ich bereits wesentlich besser durchatmen. Die Luft war viel angenehmer als in diesem stickigen, alten Haus, das ich in diesem Moment einfach nur so weit wie möglich hinter mir lassen wollte. Da ich mich hier nicht auskannte, folgte ich einem kleinen, vertrauenserweckenden Trampelpfad, der mich schon nach kurzer Zeit in den tiefsten Wald beförderte. Quasi genau dorthin, wo ich hinwollte. Weg von allem. Leichter Regen tröpfelte auf meine Haare, der zwar nicht so stark war, wie ich ihn erwartet hatte, mich aber dennoch früher oder später durchnässen würde. Aber das spielte gerade keine Rolle, denn viel mehr war ich mit der Natur beschäftigt. Im Dorf war mir überhaupt nicht aufgefallen, wie weit der Frühling schon vorangeschritten war. Die Bäume, die Sträucher, alles strahlte in einem wunderschönen Hellgrün; nichts erinnerte mehr an die braune Tristigkeit, die mich erwartet hatte, als ich im vergangen Herbst hier hergezogen war. Selbst die ersten Frühjahrsblumen sprossen bereits aus dem Boden, verdeckten mit ihrer kleinen Blütenpracht das Moos, das hier sonst die Vorherrschaft hatte. Gelbe Sumpfdotterblumen hatten sich an einem kleinen Bach angesiedelt und umwucherten ihn; weiße Buschwindröschen verteilten sich überall auf dem Waldboden. Das Gezwitscher der kleinen Vögel, die ihre Nester bauten, umgab mich von allen Seiten. Je weiter ich lief, je mehr Sachen entdeckte ich. Selbst die ersten, grünen Spitzen der Krokusse lugten schon aus der Erde. All das zu sehen, war schon schön genug, doch der Geruch übertraf alles. Es roch nach nassem Waldboden, nach Gras, Nadelbäumen, Laubbäumen, nach Blättern, Blüten, ... Es roch nach Frühling – und ich liebte es. Mein Kopf war so frei wie schon lange nicht mehr und spürte förmlich die Ruhe, die nach und nach in mich kehrte. Ich lief tiefer in den Wald hinein, stolperte über einige Wurzeln, die ich zu spät gesehen hatte, stürzte aber glücklicherweise nie. Meine Schuhe, meine Haare und meine Klamotten waren mit Wasser durchtränkt, doch zum ersten Mal störte mich das nicht und ich gab meinem inneren Drang nach, immer weiter zu laufen. Zu schön war das Gefühl, das dieser Ausflug in mir auslöste. Alles schien für den Moment in den Hintergrund gerückt zu sein, machte Platz für die neuen, viel angenehmeren Eindrücke. Noch früh genug würden die erdrückenden Gedanken, wenn ich wieder allein in meinem Zimmer war, auf mich einprasseln, und ich war noch nicht bereit, mich ihnen auszuliefern. Hier wirkte alles so unberührt, so als hätte niemals ein Mensch vor mir diese Landschaft betreten. Ein kleiner Fleck heile Welt, der einer der wenigen war, die noch nicht von Menschenhand zerstört wurden. Ob es jedoch so bleiben würde, bezweifelte ich stark, und es war nicht das erste Mal, dass ich mich für meine Rasse schämte. Nach einer Stunde etwa wurde das Unterholz dichter; den Trampelpfad hatte ich schon längst verlassen und war stattdessen querfeldein gelaufen. Weil mein Orientierungssinn nicht gerade der Beste war, war ich natürlich tunlichst darauf bedacht, immer nur geradeaus zu wandern. Meinen Berechnungen zufolge müsste ich mich einfach nur umdrehen und in die entgegen gesetzte Richtung laufen, um mein Zuhause wieder zu erreichen. Eigentlich wollte ich noch nicht zurück, aber so langsam hatte die Nässe des Regens sogar schon meine Unterwäsche erreicht und ich begann zu frieren. Ich befürchtete ohnehin schon, krank deswegen zu werden und wollte es nicht noch mehr als nötig herausfordern. Außerdem hatte ich Angst, ich würde mich verlaufen, wenn ich mich noch weiter durch den Wald kämpfen würde. Zuzutrauen wäre mir das nämlich definitiv gewesen! Und ich hoffte inständig, dass dies am Ende nicht längst schon passiert war ... Etwas verunsichert über diesen Gedankengang blieb ich stehen und sah mich vorsichtig um. Es gab nichts als hohe Bäume und Wald um mich herum. Plötzlich fiel mir auch auf, wie still es geworden war. Keine Vögel zwitscherten mehr und außer den kleinen Tropfen, die leise von den Bäumen fielen, war nichts zu hören. Der Regen hatte offenbar aufgehört. Mein Blick schweifte weiterhin unschuldig in alle Richtungen, bis meine Augen auf einmal wie erstarrt zwischen zwei Bäumen hängen blieben. Den Anblick, der sich mir bot, würde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Etwa zwanzig Meter von mir entfernt spielte sich etwas ab, was mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Vor Schock unfähig mich auch nur einen Millimeter zu bewegen, konnte ich nichts anderes tun, als den Mann anzustarren, der auf dem feuchten Untergrund kniete und seine Zähne in den Hals eines Rehs gerammt hatte. Seine Arme waren um das zierliche, im Sterben liegende Geschöpf geschlungen, hielten es beinah zärtlich, während seine Lippen auf der Hauptschlagader ruhten. Was ging hier vor sich? Was tat dieser Mann? Trank er dessen Blut? Fraß er das arme Wesen bei lebendigem Leibe? Meine Augen weiteten sich vor Bestürzung und ich konnte nicht glauben, was ich dort sah. Ich kam mir vor, als wäre ich in einem schlechten Film und spürte, wie sich meine Kehle langsam zuschnürte. Die Haare des Mannes ... sie waren ... bronze ... Nein ... nein ... nein ..., schüttelte ich gedanklich immer wieder meinen Kopf. Blankes Entsetzen, Verzweiflung, Angst - all diese Gefühle lähmten mich und ließen meine Füße so schwer werden, als wären sie mit dem Boden verwachsen. Nicht er ... nicht hier ... nicht ich alleine im Wald ... Sekundenlang konnte ich meinen Blick nicht von dem Geschehen abwenden, nicht von ihm abwenden, sondern sah zu, wie das hilflose Tier in seinen Armen immer schwächer wurde. Irgendetwas in mir begann zu rebellieren, wollte mich wachrütteln und ließ mich meiner Situation bewusst werden. Er hatte mich nicht bemerkt. Und ich musste weg von hier, bevor er das tun würde - so viel wurde mir plötzlich klar. Er durfte nie erfahren, dass ich ihn bei ... was auch immer er da tat ... gesehen hatte. Ich musste flüchten und all das, was ich gesehen hatte, vergessen. Sonst würde es mir genauso wie dem Reh ergehen. Ich hatte immer gewusst, es würde irgendetwas mit ihm nicht stimmen, jetzt wusste ich es: Edward Cullen war krank. Geisteskrank. Psychisch gestört. Ein Psychopath. Meine Augen konnten sich nicht von ihm lösen, fixierten dieses Monster, als meine Beine einen Impuls bekamen und rückwärts losstolperten. Und dann passierte es. Knacks. Ein dummer Ast. Ein dummer, dummer Ast, der unter meinem Gewicht nachgegeben hatte. Die Hoffnung, er könnte es nicht gehört haben, löste sich innerhalb eines Sekundenbruchteils in Luft auf, als sein Kopf schlagartig in die Höhe schnellte um nach dem Auslöser des Geräusches zu suchen. Er wurde fündig. Landete direkt in meinen vor Panik geweiteten Augen. Alles schien verloren. Und ich wusste, gleich würde ich erfahren, was es bedeutete, um sein Leben zu rennen. Flüchte! Flüchte endlich! Renn weg, verdammt noch mal! Schrie meine innere Stimme mich an und meine Füße hörten auf sie, indem sie anfingen, nach hinten zu taumeln. Ich drehte mich weg von ihm, fühlte das Adrenalin, das in meinem Körper freigesetzt wurde und begann unter einem markerschütternden, gefährlichen Knurren, das hinter mir ertönte und auf das ich mir weder einen Reim bilden konnte noch wollte, zu rennen. Drei, vielleicht vier Schritte. Drei, vier Schritte, in denen ich vergeblich an so etwas wie eine Chance geglaubt hatte. Drei, vier Schritte, nachdem ich gepackt und brutal auf den feuchten Boden geschleudert wurde. Ich spürte den Schmerz nicht, der durch den harten Aufprall eigentlich entstanden sein hätte müssen, sondern fühlte mich stattdessen wie betäubt. Es war, als hätte ich meinen Körper verlassen und beobachtete die Situation - für die mein menschliches Gehirn viel zu einfach strukturiert war, um sie begreifen zu können - nun von der Seite aus, als wäre ich nicht involviert. Edward ließ mich den Gedanken, mich wieder aufzurappeln, nicht zu Ende denken. Nicht mal eine Sekunde war vergangen, als ich sein Gewicht plötzlich auf mir spürte. Er packte meine Handgelenke, drückte sie links und rechts neben meinem Kopf in die Erde. Sein Griff war eisern und von so unbändiger Kraft, dass die Blutzufuhr sofort unterbrochen wurde. Ich wollte schreien, doch genau wie in einem Albtraum kam kein Ton über meine Lippen. Alles, was ich sah, war ein Paar rabenschwarzer Augen, die direkt in meine blickten und nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt waren. Sie sahen mich an wie eine Raubkatze seine Beute. Aus. Alles war aus. Mein Körper zitterte, bibberte förmlich unter seinem Gewicht. Meine Atmung ging schnappend, so als kämpfte meine Lunge bereits um ihr Leben. Der Versuch, mich zu wehren, ihn wegzustoßen, war vergebens. Er war viel stärker als ich. Es war, als würde ich gegen Stahl ankämpfen. Ich hatte keine Chance gegen ihn. Wehrlos lag ich unter ihm und konnte mich nicht einmal regen. Alles in mir war erfüllt mit blanker Angst. Todesangst. Ich würde sterben. In seinen kalten, pechschwarzen Augen konnte ich es sehen: Ich würde sterben. Ich hatte mal gelesen, dass einem in der Sekunde des Todes alles bewusst werden würde, dass - wegen der sämtlichen Stoffe die in dieser Extremsituation vom Körper gleichzeitig freigesetzt werden - alle Gehirnzellen ineinander verschmelzen und so ein neues, absolutes Denken hervorrufen würden. Man würde alles klar sehen. Auf alle Fragen, die man sich sein Leben lang vergeblich gestellt hatte, würde man eine Antwort finden. Schon seit klein auf hatte ich wahnsinnige Angst vorm Sterben, doch diesen Moment, diese Sekunde der Erleuchtung, hatte ich mir immer herbeigesehnt. Doch nichts passierte. Meine Fragen blieben unbeantwortet. Auch, wie man es immer wieder hörte, zog mein Leben nicht vor meinem geistigen Auge an mir vorbei. Es waren nur ein paar verblasste Kindheitserinnerungen, die mir ins Gedächtnis kamen. Schöne Erinnerungen. Schöne Erinnerungen aus glücklichen Zeiten. Als ich mit meiner Mutter noch allein in Phoenix lebte, vielleicht sieben Jahre alt war und sie nach der Trennung von meinem Vater jede freie Minute mit mir zusammen verbrachte. Wir standen barfuß im Garten hinter unserem Haus, die Sonne schien warm auf uns herab und ich trug nur ein dünnes, weißes Sommerkleidchen, als ein großer Schmetterling auf den braunen Haaren meiner Mom landete. Seine blau-, gelb- und lilafarbenen Flügel hatten ein wunderschönes Muster – seitdem hatte ich nie wieder so einen Schmetterling gesehen. Wir kicherten beide darüber, und als er wieder wegflog drückte mich Renée ganz fest an sich. Noch mehr solcher Augenblicke, die ich mit meiner Mutter zu dieser Zeit erlebt hatte, kamen in mir hoch. Wie sie mich von der Schule abholte und ich in ihre Arme rannte, stolz vor meinen Mitschülern, so eine tolle Mama zu haben. Wie wir ständig irgendwelche Ausflüge machten ... sei es in den Park, in den Zoo, auf Spielplätze, ins Kino oder in die Innenstadt zum Eis essen. Oder wie wir einfach nur zusammen in der Hängematte lagen, in den Himmel sahen und versuchten, anhand der Wolkenformen verschiedene Tiere darin zu entdecken ... Es waren nur wenige Erinnerungen und sie waren alt, teilweise kaum erkennbar, als hätte sich im Laufe der Jahre ein trüber Schleier darüber gelegt. Und auf einmal begriff ich, warum nur diese Bilder in meinem Kopf waren und nicht etwa mein Leben an mir vorbeizog ... Ich hatte kein Leben. Es gab nichts, woran ich mich erinnern hätte können, weil ich nie etwas erlebt hatte. Ich hatte existiert, ja, mein Organismus hatte ein Dasein geführt – aber gelebt hatte ich niemals. Ich wusste nicht, was es bedeutete, Freunde zu haben, mit ihnen Spaß zu haben. ... Kannte es nicht, jemandem vertrauen zu können ... Ich hatte nie erfahren, wie es sein würde, jemanden zu lieben ... und von jemandem geliebt zu werden .... Hatte nie herausgefunden, ob ein Kuss wirklich so schön war, wie er in Büchern beschrieben wurde ... Ich wusste nur, wie es war, allein zu sein. Niemanden auf der ganzen Welt zu haben und übrig geblieben zu sein. Ich hatte allein gelebt und würde alleine sterben. Gleich. Durch Edward Cullen, der immer noch in meine Augen starrte. Sein brutaler Griff um meine Handgelenke schmerzte. Der Druck, den er darauf ausübte, veränderte sich, wurde leichter, nur um im nächsten Moment wieder doppelt so fest zu werden. Ob man meine Leiche jemals fand? Würde Edward Cullen womöglich meinen leblosen Körper irgendwo im Wald verschachern und den letzten Beweis, dass ich jemals auf dieser Erde gelebt hatte, einfach auslöschen? Auslöschen wie ein Streichholz, das man auspustet? Mein Herz raste in meinem Brustkorb, und doch schienen Stunden zwischen den einzelnen Schlägen zu liegen. Doch nicht nur mein Herz – alles, jede Sekunde, die verging, spielte sich wie im Zeitraffer ab, als hätte jemand den Ablauf der Welt pausiert. Einfach die Zeit angehalten. Würde es überhaupt jemandem auffallen, wenn ich fehlte? Oder würde sich unser Planet einfach weiterdrehen, so als hätte Isabella Swan niemals existiert? Eine heiße Flüssigkeit rann seitlich über meine Wange. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich weinte, und konnte auch nicht sagen, wann ich damit angefangen hatte. Auch wenn es wehtat, in diese hasserfüllten Augen zu sehen, so konnte ich meinen Blick dennoch nicht von ihnen abwenden. Das Zittern meines Körpers wurde immer schlimmer; regelrechte Krämpfe durchfuhren mich. Doch ich spürte noch ein anderes Zittern, eines, das nicht von mir kam. Ängstlich schweiften meine Augen über Edwards Gesicht, bemerkten, wie angespannt jeder einzelne seiner Muskeln darin war. Seine Lippen waren hart aufeinander gepresst, bildeten durch den enormen Druck keine rote, sondern nur mehr eine weiße Linie. Große Adern traten auf seiner Stirn hervor, zeigten, wie erheblich seine Kraftanstrengung sein musste. Er schien keinen einzigen Luftzug zu nehmen, das jämmerliche, stockende Geräusch, das zu hören war, kam ausschließlich von meiner Lunge. Doch was ich auch an seinem Kiefer, an seinen Lippen, selbst an seinen Haarspitzen sehen konnte, war, dass er tatsächlich zitterte. Edward Cullen, der im Begriff war, mich umzubringen, zitterte. Genauso sehr wie ich. Tat er das aus Erregung? Es war egal, warum er das tat, denn ich konnte nicht mehr. Er sollte sein sadistisches Spiel endlich hinter sich bringen, aufhören, mich noch weitere Sekunden zu quälen und beenden, was er angefangen hatte. Er sollte mich erlösen von meinen grauenhaften Gedanken. Erlösen von der Erkenntnis, für niemanden von Bedeutung zu sein. Er sollte mich befreien von meinem sinnlosen Dasein, das selbst, auch wenn es noch viele Jahre angedauert hätte, wahrscheinlich niemals einen Sinn gefunden hätte. Sollte ich Edward Cullen womöglich sogar dankbar sein? Weil er mir ersparte, eines Tages allein in einem Haus am Waldrand zu leben? Weil er mich davon erlöste, weiterhin in einer Welt leben zu müssen, in die ich überhaupt nicht passte? Ich wollte etwas sagen, doch kein Laut war zu hören. Es war, als würden mich meine unausgesprochenen Wörter ersticken. Rabenschwarz blickten seine Augen in meine, genauso, wie sie es schon die ganze Zeit taten, doch irgendetwas schien sich zu verändern. Für Bruchteile von Sekunden, so kurz, dass ich nicht wusste, ob es nur Sinnenstäuschungen waren, blitzte etwas anderes als Hass in ihnen hervor. Dann, leise und kaum vernehmbar, war ein leises Wispern zu hören. Ein Wispern, das aus meinem Mund kam. „Bitte, ....... Edward .....“ Meine Stimme war so dünn ... nur ein Hauch. Nicht mehr als ein aussichtsloses, tränenersticktes Flehen, mich von meinen Qualen zu erlösen. Der Konflikt in seinen Augen schien regelrecht aufzulodern. Sein Zittern verstärkte sich, übertraf meins nun um Längen. Machte mir aufs Neue Angst, weil ich wusste, gleich würde alles vorbei sein. Gleich würde ich sterben. Selbst seine Hände, die meine Handgelenke umschlossen, bebten. Veränderten im Sekundentakt die Kraft, mit der sie zudrückten. Sein Körper geriet immer mehr in Aufruhr; er zitterte am ganzen Leib und sein Gewicht, mit dem er mich in den Boden presste, wurde mal stärker mal schwächer. Ich schloss meine Lider, versuchte ein letztes Mal an etwas Schönes zu denken, und hoffte, es würde schnell gehen. Doch dann auf einmal ein starker Ruck und ein schmerzverzehrter Aufschrei, der mich zusammenzucken ließ, weil er nicht von mir kam. Ich spürte immer noch die nasse Erde unter mir, doch auf mir lastete plötzlich kein Gewicht mehr. Verstört blinzelte ich, wusste nicht, ob ich bereits tot war. Doch alles, was ich sah, war Edward Cullen, der langsam rückwärts taumelte und sich immer weiter von mir entfernte. Sein Blick war hilflos, während er immer wieder verzweifelt seinen Kopf schüttelte. Seine Lippen bewegten sich, formten stumme, lautlose Wörter, die mich nicht erreichten. In seinen Augen spiegelte sich Schock und Fassungslosigkeit wieder, als sie auf mich herab starrten, so als könnte er nicht glauben, was er getan hatte. Ein ewiger Moment der Stille umgab uns, bis er sich umdrehte und blitzartig im Wald verschwand. Er war weg. Von der einen Sekunde auf die andere war er weg. Einfach verschwunden. Ließ mich im Dreck liegen und hatte unerwartet die Flucht ergriffen. Vollkommen aufgelöst und am ganzen Körper zitternd starrte ich ihm nach, starrte auf die Stelle, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Spürte nach wie vor die Todesangst in meinen Knochen und spürte mein Herz, das mir bis zum Hals schlug. War es tatsächlich vorbei? Hatte er mir mein Leben gelassen? Oder würde er jeden Moment wieder hier auftauchen, um mich doch noch zu töten? Panik war es, die meine gelähmten Glieder plötzlich in Bewegung setzte und die mich dazu veranlasste, mich hektisch aufzurappeln, nur um gleich wieder zu stürzen. Ich hatte nicht einberechnet, wie weich meine Knie waren und wie sehr meine Muskeln unter Strom standen, die mein Gewicht kaum halten konnten. Aber ich wollte nicht aufgeben, wollte nicht warten, bis er zurückkommen würde, stützte mich ein weiteres Mal im Schlamm ab und stolperte einfach los. Ich rannte durch den Wald, so, als ginge es um mein Leben, und genau das tat es auch: Ich rannte um mein Leben. Man sagte das immer so daher, aber zu wissen, was es bedeutete, war schrecklich. Ich sah die großen Bäume nur so an mir vorbeiziehen, achtete nicht auf die Schmerzen, wenn ich hinfiel, und stand stattdessen einfach wieder auf. Drehte mich kein einziges Mal um und hatte immer das Gefühl, von ihm verfolgt zu werden, gleich von ihm gepackt und dieses Mal endgültig getötet zu werden. Zweige, die ich zu spät gesehen hatte, peitschten in mein Gesicht, doch auch sie konnten mich nicht aufhalten. Wenn meine Hose an Dornenbüschen hängen blieb, riss ich mich einfach weiter. Meine Gedanken überschlugen sich und doch ergaben sie keinen Sinn. Aber meine Beine rannten und rannten, so wie sie es noch niemals zuvor getan hatten. Meine Lunge keuchte, gab nur noch japsende Geräusche von sich, als nach langer, endlos scheinender Zeit - obwohl ich bereits nicht mehr daran geglaubt hätte - Charlies Haus vor mir auftauchte. Ich kam nicht auf den gleichen Trampelpfad heraus, den ich beim Losgehen eingeschlagen hatte, aber das war egal. Ich hatte es erreicht, das war alles, was zählte. Eine leichte Woge der Erleichterung überkam mich, da Charlies Streifenwagen noch nicht in der Auffahrt stand. Wahrscheinlich hätte er mich sofort in eine Klinik oder sonst wohin gebracht, wenn er mich so gesehen hätte. Ich stürmte zur Haustür, die ich erst nach fünf Versuchen öffnen konnte, weil mir immer wieder der Schlüssel hinuntergefallen war. Bibbernd schleppte ich mich die Treppen nach oben, stolperte in mein Zimmer und warf die Tür hinter mir zu. Völlig erschöpft, fix und fertig, nass bis auf die Haut und psychisch am Ende ließ ich mich an der Innenseite meiner Tür hinunter gleiten. Ich zog meine Beine an, schlang meine Arme darum und suchte vergeblich nach einem Halt. Ich fühlte mich nicht besser, nur weil ich Zuhause war, ich hatte immer noch bei jedem Atemzug Angst. Angst, er würde plötzlich neben mir stehen und da weitermachen, wo er aufgehört hatte. Unaufhaltsam liefen Tränen über meine Wange, wärmten meine eiskalte Haut und tropften von meinem Kinn auf meine Knie. Geschüttelt von Weinkrämpfen wippte ich immer wieder vor und zurück, konnte nicht begreifen, was geschehen war. Nach und nach fing ich an, die Schmerzen zu spüren, die mir Edward und meine anschließende Flucht zugefügt hatten. Meine Rücken, meine Handgelenke, meine Knie – alles schien zu brennen, wurde viel heißer als der Rest meines Körpers und pulsierte stark. Dennoch, nichts war so schlimm, wie die Angst, die mich beherrschte. Was sollte ich nur tun? Wenn ich meinem Dad davon erzählte, würde er mich entweder in die Psychiatrie einweisen lassen oder einen riesigen Rummel daraus machen. Wobei Ersteres viel wahrscheinlicher war. Jeder mochte die Cullens, sie waren gute, wohlerzogene Schüler und ihr Vater ein angesehener Arzt. Wer würde mir verrufenen und absonderlichen Menschen schon diese utopische Geschichte, die sich im Wald zugetragen hatte, glauben? Wie würden die Leute reagieren, wenn ich sagen würde, ich hätte Edward Cullen dabei erwischt, wie er Blut von einem Reh trank, und dass er mich anschließend umbringen wollte? Niemand würde mir glauben. Sie würden mich alle für verrückt erklären. Außerdem, was würde Edward tun, wenn ich ihn verraten würde? Wieder schlichen sich seine schwarzen Augen in mein Gedächtnis, die mich sofort noch mehr erzittern ließen. Nie wieder wollte ich ihn sehen! Nie wieder wollte ich ihm begegnen müssen! Warum hatte er mich überhaupt verschont? Warum war er auf einmal zurückgewichen und hatte mich so entsetzt angestarrt? Weshalb hatte er es sich plötzlich anders überlegt? Hatte er eine gespaltene Persönlichkeit? Immer hatte mich etwas von ihm gewarnt, immer wusste ich, es gab etwas Gefährliches an ihm. Doch meine Vermutungen, die ich bisher angestellt hatte, waren alle viel zu harmlos. Ich hatte mich immer gefragt, wie er war. Das war die falsche Frage, denn die richtige wäre gewesen: was er war. Und jetzt wusste ich es, kannte die Antwort mehr, als ich mir in meinen schlimmsten Albräumen vorgestellt hatte: Edward Cullen war der Teufel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)