The dark side of altruism von Arle ================================================================================ Kapitel 1: ----------- Als er erwachte herrschte draußen noch tiefschwarze Nacht. Er saß kerzengerade in seinem Bett und zitterte, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Es war die einzige Bewegung, zu der sein von grässlicher Angst gepeinigter Körper fähig schien. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und Tränen verschleierten ihm die Sicht. Es brauchte lange, quälende Sekunden, bis er begriff, dass der Grund seiner Panik albtraumhafter, nicht realer Natur war. Der Mann neben ihm öffnete die Augen. Einen Moment lang schien es, als wolle er eine Bemerkung machen, doch dann begriff er offensichtlich und richtete sich auf. „Hey“, sagte er leise. „Hey Soji.“ Der Schwarzhaarige fühlte die große, kraftspendende Hand seines Liebsten auf seinem Rücken und ganz allmählich kehrte die Ruhe in seinen Körper zurück. „Was hast du denn, Liebling?“ Er nannte ihn nur ganz selten so. In der Öffentlichkeit mochte er es nicht, eigentlich mochte er es überhaupt nicht und für gewöhnlich hielt sich der Andere an das unausgesprochene Verbot. Doch jetzt war er aufgeregt, besorgt, und in solchen Momenten vergaß er es manchmal. „Sie...sie sind wieder da. Sie sind überall!“ Clover sah ihn einen Moment lang von der Seite an, dann seufzte er leise und schloss ihn in die Arme. Er wiegte ihn sanft, hielt die Hand des Verängstigten in der seinen. „Überall“, keuchte er atemlos. „Überall. Diese schrecklichen, diese furchtbaren alten Menschen.“ Der Druck der Arme wurde ein wenig fester und ließ allmählich das Gefühl der Sicherheit in seinen Körper und mehr noch, wenn auch langsamer, in sein Herz zurückkehren. Der Mann, der sich Clover nannte, der Mann, den er seinen Liebsten nannte, küsste ihn zärtlich auf Haar und Nacken. Er lehnte sich ein wenig an und zog den Schwarzhaarigen mit sich. „Du solltest damit aufhör’n Soji“, sagte er mit leiser, aber fester Stimme und lehnte seine Stirn gegen die Schulter des Jüngeren. „Du hast es versucht. So lange versucht. Du hast dein Soll erfüllt. Lass es gut sein Soji, bitte.“ Er war wieder ruhig. Nur fünf Minuten nach dem plötzlichen Anfall war er wieder ruhig. Lag er entspannt in den Armen der Person, die er am meisten liebte. „C-chan“, flüsterte er, den häufig benutzten Kosenamen des Anderen verwendend. Eigentlich nannte er ihn immer so. Mit einer einzigen Ausnahme. Er nannte ihn eigentlich immer so, außer, wenn sie miteinander schliefen. Dann nannte er ihn immer bei seinem vollen Namen. Zumindest dem, den er ihm gesagt hatte. Denn Clover war nicht sein richtiger Name. Es war der Name, den er früher bei der Arbeit benutzt hatte. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie einander zum ersten Mal begegnet waren. Als der Mann, der sich Clover nannte, seine Liebe noch jedem geschenkt, seinen Körper an jeden verkauft hatte, der nur bereit war dafür zu bezahlen. Clover war Stricher, aber das hatte ihn nie gestört. Weil er ihn, der ihn so sanft in den Armen hielt, liebte. Und obwohl er selbst es nie zu hoffen gewagt hätte, hatte Clover sich für ihn entschieden. Er hatte nie etwas gesagt, aber irgendwann war Clover zu ihm gekommen und hatte ihm gesagt, dass er aufgehört hätte. Das, und dass er sich eine neue Arbeit suchen würde. Er erinnerte sich mit einem Lächeln daran, dass er geweint hatte. Ohne dass er hätte sagen können warum. Sie hatten auch nichts mehr gesagt. Sein Liebster hatte ihn in den Arm genommen und dann... Er war zu müde, um den Gedanken weiterzuverfolgen. Obwohl es eine schöne Erinnerung war. Wie jede, in der Clover auftauchte und seinen Platz an seiner Seite einnahm. Die Angst war verschwunden, hatte Wärme und Geborgenheit Platz gemacht. Clover spürte, wie der junge Mann in seinem Arm sich entspannte. Noch schlief er nicht, aber es war nur noch eine Frage der Zeit. „Ach Soji“, seufzte er leise, doch der Andere reagierte schon nicht mehr. Gedankenverloren glitten seine Finger durch das weiche Haar des Geliebten. Was hatten sie nur mit ihm gemacht. Was hatten sie diesem wundervollen Wesen nur angetan. Soji hatte ihm davon erzählt. Erst hatte er sich davor gescheut, doch schließlich hatte er ihn doch dazu bewegen können. Er hatte ihm geglaubt, natürlich, aber er hatte es nicht glauben können. Deshalb war er dorthin gegangen. An den Ort, der Soji solche Angst machte, zu den Menschen, die ihm Soji so viele Stunden am Tag vorenthielten – und die im Begriff waren, ihn ihm wegzunehmen. Diesen liebenswerten Menschen mehr und mehr an den Rand des Wahnsinns trieben. Er war dort gewesen und noch heute schauderte es ihn beim bloßen Gedanken daran. Als ob sich eine eisige Klaue um sein Herz schließe. Er wusste, welche hässlichen Seiten diese Welt hatte. Er hatte mehr als nur eine davon kennen gelernt. Und obwohl er das wusste, nur allzu gut wusste, hatte er stets dieses Bild der netten alten Dame oder des leicht senilen älteren Herrn vor Augen gehabt und sich auch nur schwerlich etwas anderes vorstellen können. Der Mann, der sich Clover nannte, schloss die Augen und ließ die Erinnerung an jenen Tag Revue passieren. Das Gebäude war dunkler als er erwartet hatte. Und sobald man ein wenig tiefer in das Innere des Hauses vordrang, wurde sie unweigerlich spürbar. Die unangenehme Spannung, die in der Luft lag. Er war es gewohnt auf derlei zu achten, das konnte in einem Job wie dem seinen überlebensnotwendig sein. Doch hier war diese Elektrisierung der Luft so deutlich, dass er nicht sicher war, ob man sie tatsächlich ignorieren, geschweige denn sich daran gewöhnen konnte. Aber noch etwas anderes war auffällig. Die Akustik. Man hatte das Gefühl, selbst das Atmen einer sich nahenden Person schon zu hören, lange bevor sie ins Blickfeld des Betrachters geriet. Dann wieder herrschte Totenstille. Es war schon spät und nur noch wenige Pfleger unterwegs. Die Türen zu beiden Seiten fügten sich in das alte Mauerwerk, als seien sie ein Teil desselben - nicht mehr als ein Bild an der Wand. Und dann hörte er das Schlurfen. Ein leises, regelmäßiges Schlurfen, das von überall herzukommen schien. Er wandte sich um - nichts. Er drehte sich wieder zurück - nichts. Er wiederholte es. Er schloss die Augen und lauschte. Und als er sie wieder öffnete, stand eine Frau vor ihm. Eine unglaublich alte Frau. Das Schlurfen verklang in der Ferne. Wieder herrschte Totenstille. Die Frau stand nur ein paar Meter von ihm entfernt, die offene Tür verbarg beinahe die Hälfte ihres Körpers. Er war wie gelähmt gewesen und noch heute verspürte er bei dem Gedanken daran jenes Gefühl, als ob ein Kloß in seinem Hals steckte. Die Alte sah ihn aus ihren farblosen grauen Augen an, trat auf den Flur und verharrte dann regungslos. Er nahm sich zusammen, lächelte und grüßte freundlich. Seine Worte verhallten ohne erwidert zu werden. Sie stand einfach da und starrte ihn an. Dann, wie in Zeitlupe, hob sich der alte, schlaffe, furchtbar magere Arm und ein knorriger Zeigefinger streckte sich ihm entgegen. Er sah sich um, prüfte ob jemand hinter ihm stand. Aber da war nichts. Der Korridor war kalt und leer. Als er sich umwandte stand sie noch immer da. Stand da, sah ihn aus emotionslosen Augen an und deutete mit dem Finger auf ihn, als wolle sie ihn anklagen. Dann sank ihr Arm schlaff herab und sie verschwand so leise wie sie gekommen war. Das einzige Geräusch, das an ihre geisterhafte Erscheinung erinnerte, war das leise Klicken des Türschlosses. Und es sollte nicht das einzige Ereignis dieser Art bleiben. Ein anderer Gang, die gleiche Ödnis, die gleiche Szene. Nur dass es mehr waren. Viel mehr. Sieben Menschen standen in den Türen, einige mehr tot als lebendig wie es schien, starrten ihn an und deuteten mit ihren langen dünnen Fingern auf ihn. Und dann kamen sie näher. Langsam, schlurfend und unverkennbar feindselig. Und er? Er war sich vorgekommen wie in einem Horrorfilm. Und die vollkommen irrwitzige Szene endete erst, als ein Pfleger den Schauplatz betrat. Plötzlich schienen sie eben jene freundlichen, liebenswerten alten Menschen zu sein, wie er sie sich immer vorgestellt hatte. Sie sprachen mit dem Pfleger, wirkten ein wenig tapsig und lächelten. Doch ihre Augen lächelten nicht. Wann immer ein Blick ihn traf, ihn nur streifte, fröstelte es ihn. Es war geradezu beängstigend. Und je mehr er erfuhr, desto besser verstand er, WAS es war, das Soji so belastete. Ihn wie einen Schatten verfolgte und ihn quälte. Tag um Tag, Nacht um Nacht. Er hatte es nicht verstanden, nicht geglaubt, aber an nur einem Abend hatte er es begriffen. Soji hatte Recht gehabt. Sie waren grausam. Ihr Lebensinhalt schien nur noch darin zu bestehen, ihre Boshaftigkeit jedem entgegenzuschleudern, der auch nur in ihre Nähe kam. Sie logen, sie verletzten und all das mit Freuden. Sie bestahlen, sie beneideten und mit Vorliebe und unendlich genüsslicher Häme spielten sie die Pfleger gegeneinander aus. Der französischen Hof, mit all seinen Intrigen, schien ihm dagegen wie ein Spielplatz, ein Prototyp, kaum mehr als eine Aufwärmübung. Sobald man das Gebäude betrat, schlug einem fein gebündelter, unendlich tiefer, kalter Hass entgegen. Groll, genährt durch den Neid auf andere, die Enttäuschung aus dem Kreis der Familie an einen Ort wie diesen abgeschoben worden zu sein, die Wut und Hilflosigkeit zusehen zu müssen, wie man langsam degenerierte, dahinsiechte. Ein ganzes Haus voll ungelebter Träume. Das war es wohl, was Soji meinte, wenn er sagte, man könne ihnen nicht böse sein. Wenn er ihm zu erklären versuchte, wie sehr viele dieser Menschen litten. Er hatte sich nie besonders dafür interessiert. Es konnte nicht entschuldigen was sie ihm antaten. Was kümmerte ihn die Enttäuschung eines Fremden, während er zusehen musste, wie sein Geliebter immer schwächer wurde. Sojis Leid war es, das ihn beschäftigte, ihn beunruhigte und das schwer zu ertragende Gefühl der Hilflosigkeit zurückließ. Er konnte ihnen nicht verzeihen. Ganz gleich was ihnen widerfahren war. Was auch immer man ihnen angetan hatte. Nichts berechtigte sie dazu, einem so jungen Menschen solches Leid zuzufügen. Sie hatten ihm unsagbar wehgetan, taten es noch immer, über so lange Zeit schon. Sie hatten ihn krank gemacht. Seine Seele war erkrankt und wenn er so weitermachte, dann würde sie bald unrettbar sein. Ohne Aussicht auf Heilung. Er musste sich beruhigen. Wenn er wütend wurde brachte ihn das nicht weiter. Soji war verstört genug. Er hatte genug Zorn, Hass und Groll erlebt. Es war genug. Wenigstens hier sollte er sich wohl, sich zuhause fühlen. Dieser Frieden, den die Liebe und das Gefühl der Sicherheit in sein Herz trugen, war das Einzige, das ihn noch retten konnte, ihn überhaupt noch aufrecht hielt. Gedankenverloren strich er dem jungen Mann durchs Haar. Der ruhige, gleichmäßige Atem des Geliebten fühlte sich auf seiner Brust warm und lebendig an. Er lebte, er atmete und sein Herz, das er zögerlich und doch so bereitwillig jedem öffnete, schlug im ewig gleichen Takt. Er lebte, aber er sollte auch glücklich sein. Und mehr als alles andere war er es, der ihn glücklich machen wollte. Und wenn ihn alle Welt verließ, er würde bei ihm bleiben. Nie mehr sollte er einsam sein. Nie mehr wollte er in diese furchtbar einsamen Augen sehen, die so unendlich sehnsuchtsvoll in die Ferne blickten. Er sah nach draußen. Schon dämmerte der Morgen, neigte sich die Nacht ihrem Ende und ließ ihn ein weiteres Mal schlaflos zurück. Und er war dankbar dafür. Dankbar, dass er es war, der keine Ruhe fand. Er, nicht Soji. Doch auch er würde bald erwachen. Schon regte sich der schlanke Körper in seinen Armen und nur wenig später öffnete der Geliebte die Augen, sah ihn schlaftrunken an. Clover lächelte und der Jüngere erwiderte das Lächeln. „Guten Morgen Soji“, sagte er sanft und gab dem Anderen einen Kuss auf die Stirn. Und wie gern, wie gern hätte er ihm gesagt, dass alles nur ein Traum gewesen war. ENDE Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)