季の思 ~ Die Erinnerung der Jahreszeiten von Alaiya (Kai X Sei) ================================================================================ Kapitel 1: Erinnerung des Sommers --------------------------------- 季の思 ~ Die Erinnerung der Jahreszeiten Draußen hatte die untergehende Sonne den Himmel orange gefärbt, während Sei am letzten Tag vor den Ferien noch immer in der Schule war. Alle anderen waren schon gegangen, doch erst hatte er noch zusammen mit einem Klassenkameraden – Fuma – aufräumen müssen und dann hatte er, gerade als er das Schulgebäude verlassen wollte, bemerkt, noch sein Heft für Literatur auf dem Pult vergessen zu haben. Da er über die Ferien Hausarbeiten würde machen müssen, musste er es jetzt holen, denn morgen würde die Schule abgeschlossen sein. Gerade, als er mit dem Heft in der Hand über den Schulflur zur Treppe ging, hörte er eine Stimme aus dem ehemaligen Kunstraum. „Sei…“ Bildete er sich das nur ein? Er hatte letzte Nacht schlecht geschlafen, da er einen seltsamen Traum gehabt hatte. Wahrscheinlich spielten ihm deswegen seine Sinne einen Streich. Doch gerade als er sich wieder zum Gehen wenden wollte hörte er die Stimme erneut. „Sei…“ Nun lugte er doch durch die halboffene Tür in den Raum und sah… Den großen Spiegel. Einige Schüler erzählten Geschichten davon, dass dieser Spiegel ein Tor zur Geisterwelt war und nachts seltsame Gestalten in ihm zu sehen seien. Aber an solche Gruselgeschichten glaubte Sei nicht. Doch warum hing überhaupt ein so großer Spiegel in einer Schule? Nun betrat er vorsichtig den Raum und sah sein Spiegelbild dasselbe tun. Doch etwas daran war seltsam… Sein Spiegelbild hatte braune Haare! Die Eisblumen am Fenster versprachen dass es ein kalter Nachmittag werden würde. Kälter, als die letzten Tage und viel kälter, als Sei es aus Japan gewohnt war. Trotzdem musste er noch raus und einkaufen, da morgen, am 25. Dezember, die Geschäfte hier in Deutschland geschlossen haben würden. Sich einen Schal umbindend sah er zu der Spiegelscherbe, die auf einer Art Rahmen vor dem Fenster stand. „Auf Wiedersehen“, sagte er auf Deutsch, wie jedes Mal, wenn er das Haus verließ. Es war zur Gewohnheit, zu einem Ritual geworden, sich von Kai zu verabschieden, wenn er ging. Obwohl er sich nicht einmal sicher war, ob der andere seine Stimme überhaupt noch hören konnte. War er überhaupt noch da – in diesem eisigen Stück Glas? Sei wollte es glauben. Kai, der ihn sechs Jahre lang begleitet hatte, der ein Teil seines Lebens geworden war, durfte nicht einfach so verschwinden… Doch wieder sehen würde er ihn auch nicht – oder? Ihre Wege hatten sich für immer getrennt als ihre Geschichte im letzten Sommer endlich zu einem Ende gekommen war. Er hatte von Anfang an gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Ja, er hatte auch gewusst, dass dies passieren würde, wenn er Ichika und Manatsu beschützen würde. Er hatte die Regeln gebrochen und doch irgendwo auf die Nachsicht Sayas – auf die Nachsicht des Spiegeldschinns – gehofft. Am Ende war sie nachsichtig gewesen, denn sie – Ichika und er – lebten noch, aber der Preis dafür war hoch gewesen. Kai und Manatsu waren gegangen, hatten sich in die Spiegelscherben zurückverwandelt die sie einst gewesen waren. Mit diesen trüben Gedanken und der Erinnerung an die vergangenen Sommer in Japan verließ er das Haus in dem sein Appartement war und machte sich auf den Weg zum nächsten Supermarkt. Die Oberfläche des Spiegels begann zu leuchten und während Sei noch fassungslos mitten im Raum stand und schließlich das Heft fallen ließ, kam ein Junge aus dem Spiegel geschwebt. Der Junge, der zuvor im Spiegel gewesen war… Sein Spiegelbild? Nun stand dieser lächelnd vor ihm, während Sei sich zwang wieder zu sprechen. Sein Mund war trocken. Seine Hände zitterten. Auch wenn sein Gegenüber lächelte, er hatte Angst. „Du… Du bist…?“, brachte er keuchend hervor. „Ich bin Kai“, erwiderte der andere und griff einfach nach seiner Hand. Der kalte Winterwind wehte durch die Straßen von München, während Sei nachdenklich in einer der schmaleren kopfsteingepflasterten Seitenstraßen der Innenstadt stehen geblieben war und zum bewölkten Himmel hinaufsah. Er war den ganzen Tag schon so nachdenklich, ohne es sich wirklich erklären zu können. Letzte Nacht hatte er etwas Merkwürdiges geträumt, doch was es genau gewesen war, vermochte er nicht mehr zu sagen. Er wusste nur dass es ein seltsames Gefühl in seiner Magengegend hinterlassen hatte. Vielleicht war es weil es nur noch wenige Stunden bis zu Ichikas Geburtstag waren… Sie würde fünfzehn werden und irgendwie brachte das das Gefühl mit sich, dass jener Sommer endgültig vorbei war. Ein weiterer Windstoß fuhr durch Seis Haare und riss den ohnehin nur locker um seinen Hals hängenden Schal mit sich, was den jungen Mann aus seinen Gedanken aufschrecken ließ. Er sah seinem Schal hinterher, der nur wenige Meter weiter auf dem Boden landete. Schon wollte er hingehen und ihn aufheben, als sich bereits jemand anderes nach dem Stoffstück bückte und es hochhob. Fassungslos starrte Sei in das Gesicht des anderen Jungen. Halluzinierte er nun schon? Der braunhaarige junge Mann der den Schal in der Hand hielt lächelte ihn an. Er trug nur ein T-Shirt, genau wie damals, als Sei ihn das letzte Mal gesehen hatte. Aber… Konnte das überhaupt sein? Als er sich endlich aus seiner Starre gerissen hatte und der andere noch immer da war, eilte Sei zu ihm und legte ihm seine eigene Jacke um die Schultern. „Idiot“, flüsterte der andere. „Du frierst doch viel mehr als ich. Du wirst dich noch erkälten.“ Doch Sei schüttelte den Kopf und ließ die dunkle, gefütterte Jacke da, wo sie war. „Ich habe mich schon an den Winter hier gewöhnt.“ Es war real. Kai war wirklich hier. Aber irgendwo tief in sich ahnte er bereits, dass dies nicht unbedingt was Gutes bedeutete. „Lass uns… Nach Hause gehen“, brachte er schließlich heraus. Sein Spiegel-Ich lächelte ihn an. „Wolltest du nicht einkaufen gehen? Oder willst du an den Feiertagen hungern?“ Sei nickte. „Du hast Recht.“ Er sah die Straße hinab, über die außer ihnen noch andere Leute gingen. Niemand schien den Jungen, der aus dem Nichts aufgetaucht war, zu bemerken und Sei fragte sich, ob Kai für sie unsichtbar war, wie an jenem Tag als sie sich getroffen hatten. Es war ein seltsames, aber warmes Gefühl, das seinen Körper erfüllte, als Sei sich nach dem seltsamen Schmuckstück bückte, das der Junge aus dem Spiegel hatte fallen lassen. Er wusste nicht wieso er das tat, doch seine Hand berührte den Anhänger schon fast, als eine der Perlen, die auf dem unteren Teil, der ein Yang darstellte, befestigt waren, in einem gelborangen Licht aufleuchtete. Noch bevor er verstehen konnte, was hier geschah, schwebte er in der Luft und im nächsten Moment durch die Decke des Raumes hindurch. Rotgelbe Kleidung umhüllte seinen Körper als auch der andere Junge ihm hinterher geschwebt kam, in eine Art Anzug gehüllt. „Was… Was passiert hier?“, keuchte Sei, der sich nicht sicher war, ob er das Ganze vielleicht nur träumte. „Du hast mein Amulett aktiviert“, erwiderte der Junge. „Das ist die Macht eines Dschinns, die durch deinen Körper fließt. Siehst du ihn, den Dschinn der Sonne?“ Und als Sei nach oben sah, erkannte er tatsächliche die große, göttliche Gestalt, die still hinter ihnen durch die Luft flog. Als sie schließlich zurück in die Wohnung kamen waren sie doch beide durchgefroren, wenngleich sie nun zumindest zu Essen für die Feiertage hatten. „Puh“, seufzte Kai. „Das war ziemlich kalt draußen.“ Mit diesen Worten ging er zum Lichtschalter und machte das Licht im Raum an, da es draußen bereits dämmerte und somit recht dunkel in der Wohnung war. „Ich werde die Heizung anmachen“, meinte Sei, doch da fiel ihm etwas auf. „Wieso…“, setzte er an und sein Gegenüber verstand schon. Er zeigte auf den Halter, auf dem die Spiegelscherbe noch gelegen hatte, als Sei das Haus verlassen hatte. „Ich bin die ganze Zeit hier gewesen.“ Für einen Moment schwieg Sei und sah auf den leeren Rahmen. Das stimmte – Kai war diese Spiegelscherbe. Ein Spiegelgeist, eigentlich sein Spiegelbild. „Das stimmt“, erwiderte er schließlich und war sich dabei dessen bewusst, dass das Lächeln auf seinen Lippen traurig war. Da stellte Kai die Einkaufstüte auf dem Wohnzimmertisch ab und ging zu ihm hinüber. „Mach nicht so ein Gesicht“, meinte er. „Jetzt bin ich hier.“ Damit grinste er ihn breit an. „Und ich habe ziemlichen Hunger. Hab ja schon ziemlich lange nichts mehr zu Essen bekommen.“ Etwas zögerlich nickte Sei, wenngleich er die Trauer nicht ganz von seinem Gesicht verscheuchen konnte. „Wir können etwas kochen“, antwortete er und nahm nun seinerseits die Einkaufstüte, um sie in die Küche zu tragen. „Dann verlegen wir das Weihnachtsessen auf heute vor.“ „Wird Weihnachten in Deutschland nicht eh schon an diesem Abend zu feiern begonnen?“, meinte Kai und grinste ihn wieder an, ehe er ihm in die relativ große Küche folgte. „Ja“, erwiderte Sei. „Das stimmt. Heute ist Heiligabend.“ Mit diesen Worten begann er die Einkaufstüte auszupacken und nutzte dies gleichzeitig als einen Vorwand, um sein Gesicht von Kai abzuwenden. Er sollte sich eigentlich freuen, dass sein engster Freund wieder bei ihm war, doch er konnte es nicht. Ihm war klar, dass dies nicht für immer war und er fürchtete sich vor dem später folgenden Abschied. Er hatte sich gerade daran gewöhnt, ohne ihn zu sein, und wenn Kai nun wieder verschwand… Vielleicht war es ein Abschied für immer und vor dieser Gewissheit hatte Sei Angst. „Hey, Sei“, erklang nun Kais Stimme hinter ihm, während dieser sich gebückt hatte und in einem der Küchenschränke kramte. „Lass uns anfangen. Ich habe wirklich Hunger!“ Sei nickte. Er sollte an diesem Abend lächeln und sei es nur für ihn. Sie war Sei in letzter Zeit immer wieder aufgefallen. Das ältere Mädchen, das sie immer wieder beobachtete, aber nie zu nah an sie ranging. Sie war schon seit Beginn des Sommers da… Nein! Nein! Sie war schon immer da gewesen. Genau, ihr Name war Saya und sie lebte mit ihren Eltern in einem kleinen Haus am Ende der Straße. Sei konnte nicht verleugnen, dass er sie irgendwie hübsch fand, auch wenn sie sicher vier Jahre älter war als er. „Wo schaust du wieder hin?“, rief eine mittlerweile schon vertraute Stimme zu ihm hinüber. „Sei, nimm den Ball!“ Da fuhr er herum und nahm den Ball, den Kai ihm zugeschossen hatte, an. Er sollte sich nicht so leicht ablenken lassen, doch leider war er bereits den ganzen Sommer nicht so ganz bei den Sachen, die er machte. Deswegen verfehlte er nun, als er schoss, auch das Tor. Sie hatten bereits vier der Dschinn aktiviert und jedes Mal, wenn er sich verwandelte, wuchs das unwohle Gefühl in seiner Brust an. Es hatte Kai versprochen, dass er die Kraft der Dschinns nutzte, um dem Elfen zu helfen, der nur in seine Welt zurückkonnte, wenn er die Kraft des Amulettes aufgebraucht hatte, doch wirklich wohl fühlte er sich dabei nicht. Wieder wanderte sein Blick zum Rand des Fußballplatzes, wo einen Augenblick zuvor noch Saya gestanden hatte. Doch jetzt war sie verschwunden. Sei bemühte sich wirklich fröhlich zu sein und auch wenn am Anfang sein Lachen aufgesetzt und künstlich war, schaffte er es schließlich den Gedanken daran, dass es nicht für immer sein würde, zu verdrängen. Er lachte, als Kai sich darüber aufregte, dass ihm beim Möhrenschälen das Messer mehrmals abrutschte. „Das ist nicht lustig“, schmollte Kai, grinste dabei jedoch selbst. „Du scheinst es verlernt zu haben“, erwiderte Sei und lächelte ihn an, während er die geschälten Karotten in dünne Stücke schnitt und in den Topf mit Suppe gab, der auf dem Herd köchelte. „Du weißt, dass ich es noch nie wirklich konnte“, meinte der andere Junge daraufhin. „In diesen Dingen konnte ich noch nie mit dir mithalten.“ „Du übertreibst“, erwiderte Sei und griff nun nach den Gewürzen, um der Suppe mehr Geschmack zu verleihen. „Wir sind beinahe gleich.“ Bei diesen Worten wurde er für einen Augenblick nachdenklich, lächelte aber wieder als Kai begann sich zu beschweren. „Idiot! Du tust doch viel zu viel rein!“ Damit versuchte er Sei den Pfeffer wegzunehmen, mit dem er noch immer die Suppe nachwürzte. Dieser wich lachend aus. „Jetzt vertrau mir doch mal. Es ist genau richtig.“ Damit legte er die Gewürzmühle aus der Hand und rührte einmal durch die Suppe, ehe er einen Löffel nahm, um Kai probieren zu lassen. Dieser zögerte, schlürfte die Suppe dann jedoch. „Lecker“, stellte er dann fest. „Sage ich doch“, lächelte Sei und drehte die Herdplatte runter. „Jetzt werde ich mich um die Fleischbällchen kümmern. Holst du das Gehackte aus dem Kühlschrank?“ „Zu Befehl!“ Kai salutierte und entlockte damit seinem Freund ein weiteres Lachen, ehe er sich dem Kühlschrank zuwandte, um das Fleisch heraus zu holen. Die Menschen waren so herzlos. Nur weil sie einander nicht mochten trampelten sie auf den Blumenbeet der anderen Schule herum und nahmen den hilflosen Pflanzen ihr Leben. Das erkannte Sei nun, als er durch die Augen des Blumendschinns sah und tief in sich verspürte er das Verlangen die Menschen dafür zu betrafen. Sie sollten genau so hilflos sein wie die Pflanzen und Tiere, die jeden Tag durch sie starben. Ohne wirklich zu wissen wie er das machte, griffen Dornenranken aus dem Boden heraus und erschreckten die beiden Jungen aus der Nachbarstadt, die noch immer im Blumenbeet der Schule standen. Doch da drang eine Stimme durch Seis Bewusstsein, die für einen Augenblick seine Wut zu lindern vermochte. Eine Stimme, die sanft seinen Namen rief. Das Essen war gut und schmeckte nun, wo er nicht allein war, wesentlich besser als sonst. Zumindest kam es ihm so vor. Es war eine angenehme Wärme, die ihn erfüllte wenn er mit Kai sprach, wenn er lachte, wenn er ihn nur ansehen konnte. Eine Wärme, die er, wie er feststellte, nicht mehr gespürt hatte, seit Kai im letzten Sommer verschwunden war. Eine Wärme, die er vermissen würde wenn er wieder ging. Da fiel Kais Blick aus dem Fenster. „Schau. Es hat angefangen zu schneien.“ Sei folgte dem Blick seines Freundes und nickte, ehe er aufstand und die beschlagene Scheibe ein wenig wischte, so dass man hindurchsehen konnte. Tatsächlich fiel der Schnee in noch kleinen Flocken auf München hinab und war ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass der Sommer vorbei war. „Dann ist das wohl ein Abschied?“, meinte Sei und ließ es wie eine Frage klingen, auch wenn er sich eigentlich sicher war, das diese Worte stimmten. „Ja, es ist nur für heute Nacht“, bestätigte Kai. Bei diesen Worten merkte Sei, wie sich der Klumpen in seinem Inneren verhärtete. „Tatsächlich?“, presste er hervor und merkte, wie seine Augen anfingen zu brennen. Dabei war er kein Kind mehr – wie damals – das anfing zu weinen, wenn es sich von einem Freund verabschieden musste. Doch dieser Abschied war von einem besonderen Freund und vor allem für immer. „Weine nicht, Sei!“, meinte Kai mit beschwingtem Ton, als hätte er seine Gedanken gelesen, doch seine Augen sagten etwas anderes. „Idiot“, erwiderte Sei und lächelte nun. „Dasselbe könnte ich dir sagen.“ Er lachte kurz auf, aber wirklich echt war sein Lachen nicht, ehe er einen Moment später merkte, wie die Tränen nun doch über seine Wangen rannen. Er wollte nicht, dass Kai ging. „Idiot“, war es nun wieder an Kai zu sagen. „Habe ich dir nicht gesagt, dass du nicht weinen sollst.“ Mit diesen Worten legte er die Hand auf die Schulter Seis und zog diesen an sich heran um ihn zu trösten. Wortlos, doch diese Berührung reichte vollkommen aus. Weitere Tränen rannen über Seis Wangen, als er sich an ihn drückte. Was sollte er tun? Ihm war bewusst, dass er gar nichts tun konnte. Kai würde verschwinden. Er selbst wusste nicht einmal was das bedeutete. Würde Kai sterben? Danach wollte er nicht fragen. „Ich will nicht, dass du gehst“, flüsterte er und bemerkte, dass auch in den Augen des anderen Tränen zu sehen waren. „Ich weiß“, erwiderte dieser leise. „Ich will auch nicht gehen, aber wir können dagegen nichts machen.“ „Ich weiß“, entgegnete auch Sei und lehnte sich weiter an ihn. Er versuchte die Tränen zu schlucken, stark zu sein, aber so ganz wollte es ihm nicht gelingen. „Aber ich werde dich vermissen.“ „Sei!“, schrie Kai und schwebte nun neben ihm in der Luft. „Sei, komm zu dir!“ Noch immer sah der Angesprochene die Jungen, die nun versuchten den Dornen zu entkommen. Er wollte dass sie litten, oder? Menschen waren grausam, verloren und herzlos. Das hatte er schon so oft erfahren seit der Sommer begonnen hatte. „Sei, hör damit auf, das bist nicht du!“ Er wusste, dass das, was er tat, böse war. Genau so böse wie das zertreten der Büsche, aber er konnte nicht anders, wenn er die anderen besah. Dabei… Wollte er das doch nicht! Kai hatte Recht, aber es fiel so schwer. Es war falsch, was er tat, alles war falsch. Gab es in diesem Sommer überhaupt irgendetwas das so war wie es sein sollte? „Kai“, hauchte er, als er endlich den Elfen wieder richtig erkannte. Die Kraft des Dschinns schwand und er merkte, wie er mit der Bewusstlosigkeit zu kämpfen hatte. „Sei“, hörte er erneut die Stimme Kais, als dieser ihn auffing und stützte, ehe er wieder Boden unter den Füßen spürte. Während sie so am Fenster standen, piepste das Handy, das noch immer in Seis Jackentasche steckte, und verkündete damit, dass eine SMS eingegangen war. Mit einem schweren Seufzen löste sich Sei von Kai und ging in die Küche um es zu holen. Es widerstrebte ihm sich auch nur für einen Moment von Kai zu entfernen bis dieser verschwand, doch er hatte sich angewöhnt Nachrichten immer sofort anzusehen. Schließlich wusste er nicht, ob es wichtig war, auch wenn ‚wichtig’ im Moment ein sehr undefiniertes Wort war. „Von Ichika und Manatsu“, stellte Kai fest, der ihm über die Schulter sah und das Bild, das die beiden Mädchen ihnen aus Japan geschickt hatten, sah. „Sie ist auch da um sich zu verabschieden“, murmelte Sei. „Ja.“ Leise seufzte Kai und schlug seinen Freund dann auf die Schulter. „Idiot! Nimm nicht alles so schwer. Du hast das letzte halbe Jahr auch ohne mich ganz gut überstanden, oder etwa nicht?“ Sei beantwortete die Frage nicht, sondern sah auf das Display des Handys. Frohe Weihnachten stand da. „Ich hatte die ganze Zeit gehofft, dass du wiederkommst.“ „Sei.“ Nun lächelte sein Spiegel-Selbst ihn an. „Du wirst es auch ohne mich schaffen, dass weißt du genau so gut wie ich. Du bist nicht schwach, Sei. Also weine nicht.“ Er nahm ihm das Handy aus der Hand. „Wir sollten ihnen antworten“, meinte er dann. „Immerhin haben sie heute Geburtstag, nicht?“ Damit sah er auf die Uhr, die in der Küche hing. Tatsächlich war in Japan bereits der 25. Dezember. Ichikas Geburtstag – ebenso, wie der von Manatsu. Immerhin war diese nur das Spiegelbild des anderen Mädchens. „Sie werden sicher nicht wollen dass du weinst“, fügte Kai nun hinzu. „Genauso wenig wie ich das will.“ Angsterfüllt sah Sei Saya an, die mit einer Sense in der Hand vor ihm stand, während seine Hände mit spitzen Glaskristallen am Spiegel festgehalten wurden. Kai stand neben ihr und sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. Man hatte ihn den ganzen Sommer belogen! „Wie lautet nun deine Antwort?“, fragte Saya und sah den Zwölfjährigen an. „Ich kann nicht antworten“, flüsterte dieser, weil ihm keine Wahl blieb. Welcher Mensch könnte schon so ein Urteil fällen? „Ich kann nicht antworten.“ „Dann war es also umsonst“, erwiderte die Frau und holte mit der Sense aus. Würde es so enden? Doch da schritt Kai zwischen den Spiegel und dessen mächtigsten Geist, die Arm schützend ausgebreitet. „Bitte, Saya-san! Tu Sei nichts! Ich will nicht, dass er stirbst!“ „Dann hast du auch versagt“, rief die Dschinn aus. „Du verstößt gegen die Regeln!“ „Das ist mir egal“, erwiderte Kai. „Töte mich, wenn du willst. Aber lass Sei am Leben. Es ist nicht seine Schuld. Kein Mensch könnte auf diese Frage antworten. Ich weiß es… Weil ich auch ein Mensch bin.“ Das Gesicht Sayas verhärtete sich und sie fasste die Sense noch fester. „Törichte Kinder!“ Erneut holte sie aus. „Nein! Kai!“, war es nun an Sei auszurufen, in dessen Augen die Tränen standen, während sein Blut von Händen und Füßen zu Boden tropfte. „Dann willst du doch antworten?“, fragte Saya erneut. „Das kann ich nicht“, hauchte Sei. „Ich will nicht sterben. Ich will nicht, dass er stirbt. Ich will niemanden sterben sehen.“ Obwohl er das Mädchen den ganzen Sommer lang bewundert hatte, fürchtete er sich nun vor ihr. Wieso verlangte sie so etwas? Ein Leben gegen so viele. Aber er wusste, dass er selbst nicht wertlos war – oder? Kais Hände zitterten. „Ich werde nicht zulassen, dass er stirbt. Dafür ist er mir zu wichtig!“ „Ist das so?“ Kühl musterte das Mädchen die beiden für einige Zeit, wobei sich ihr hartes Gesicht schließlich entspannte und sich die Sense wieder in einen weißen Leinenschal verwandelte. „Dann stelle ich euch vor eine andere Wahl…“ Draußen schlug die Turmuhr der nächsten Kirche erneut, wenngleich nun nicht zu einer Uhrzeit, sondern weil die Christmette vorbei war. Doch das änderte nichts daran, dass das Geräusch Sei zusammenschrecken ließ. Zehn Uhr war schon vorbei und ewig würde die Zeit nicht mehr dauern. Bald würde er verschwunden sein, Kai. Und Sei wusste trotzdem nicht, wie er sich verabschieden sollte. Er würde nicht die richtigen Worte finden. Sie saßen auf dem schmalen Sofa im Wohnzimmer, auf dem Sei normalerweise immer las und redeten, während auf dem kleinen Tisch vor ihnen zwei Tassen mit dampfendem Kaffee standen. „Sei.“ Kai griff nach seiner Hand. „Nimm es nicht so schwer.“ Sie hatten viel geredet an diesem Abend, hatten sich an die sechs Jahre erinnert, die sie zusammen in Japan verbracht hatten. An jenen ersten Sommer und an den letzten, in dem Ichika vor dieselbe schwere Entscheidung gestellt worden war wie er. Und auch sie hatte nicht antworten können. „Du bist mir wichtig“, murmelte er schließlich. „Deswegen möchte ich nicht, dass du gehst. Auch wenn ich weiß dass ich es nicht verhindern kann. Aber es wird schwer werden, wenn du nicht mehr da bist.“ „Ich werde nie ganz verschwinden, Idiot“, erwiderte Kai nun und lächelte ihn sanft an. „Du wirst mich sehen, wenn du in den Spiegel schaust.“ „Aber ich kann nicht mit dir reden.“ Sei sah erneut zum Fenster hinter dem die Stadt langsam unter einer weißen Decke verschwand. „Das brauchst du auch nicht“, entgegnete sein Gegenüber. „Du bist nicht allein. Du hast auch hier Freunde und in Japan.“ Er lächelte ihn an. „Du bist stark. Du brauchst mich nicht mehr – sonst würde ich nicht gehen.“ „Das stimmt nicht!“, widersprach Sei. „Ich brauche dich, mehr als irgendjemand anderen.“ Erneut spürte er, dass Tränen in seine Augen stiegen. „Du bist ein Teil von mir.“ Erneut lächelte Kai ihn an. „Das werde ich auch immer bleiben.“ Wie schon zuvor legte er nun den Arm um ihn. „Vertrau mir. Ich würde dich nicht alleinlassen, wenn ich nicht wüsste, dass du es nicht schaffst. Du bist auch mir wichtig, Sei. Aber ich möchte auch nicht weiter in deiner Schuld leben, deswegen muss ich gehen.“ „In meiner Schuld?“, fragte Sei als sich Kai auf einmal zu ihm hinüberbeugte und seine Lippen kurz gegen die seinen drückte. Obwohl sie sich schon immer sehr nah gestanden hatten, war Sei für einen Moment überrascht von diesem Kuss, reagierte jedoch auch nicht abweisend. Er wurde nicht einmal verlegen, denn obwohl sie sich nie geküsst hatte, fühlte sich diese Berührung vertraut an und erinnerte ihn an das Meer in Japan. Ein seltsamer Vergleich. Nun legte Kai die Arme um ihn. „Du bist mir wirklich wichtig, Sei“, flüsterte er. „Ich will nicht, dass du weinst. Ich mag dich wirklich sehr.“ „Ich weiß“, erwiderte Sei und das war keine Lüge. „Es tut mir leid“, flüsterte Kai, nachdem sie am nächsten Morgen gefrühstückt hatten. Das Essen schmeckte Sei noch immer nicht, aber er hatte Hunger und wusste, dass er Essen musste, wenn er bei Kräften bleiben wollte. Er lebte noch und dafür würde er dankbar sein, auch wenn sich der Anhänger in seiner Hosentasche wie ein schwerer Stein anfühlte, da der Gedanke daran, dass ein weiteres Kind dasselbe durchmachen würde, ihm zu schaffen machte. „Ich habe dich da mit reingezogen“, fuhr Kai fort. „Du hattest keine Wahl“, murmelte Sei tonlos während er auf etwas Reis herumkaute. „Sei“, murmelte Kai, als ob er wüsste, dass der andere Junge noch immer etwas an ihm zweifelte. Wahrscheinlich wusste er es wirklich… Irgendwo draußen schlug die Turmuhr erneut, doch Sei nahm es mittlerweile nicht mehr wirklich war. Er lag neben Kai auf dem Sofa im Wohnzimmer als Verlierer im Kampf gegen die Müdigkeit. Er döste nun mehr eigentlich nur noch vor sich hin, da auch der Kaffee ihn nicht mehr wach hielt. Mitternacht war schon seit fast zwei Stunden verstrichen, aber er wollte wach bleiben. Er wollte nicht auch noch dieses Mal schlafen, wenn es zum Abschied kam. Doch der Kampf schien vergeblich. Was ihn schließlich aufweckte, war das kurze Wackeln des für zwei liegende Männer eigentlich zu kleinen Sofas, als Kai aufstand. „Was?“ Sei schlug die Augen auf, sah jedoch nur in die Kais, als sich dieser über ihn beugte und ihn noch einmal kurz küsste. „Auf Wiedersehen“, flüsterte er und eine seiner Tränen fiel auf Seis Wange, ehe er sich aufrichtete und abwandte. Am Fenster des relativ kleinen Wohnzimmers erkannte Sei Saya, die mit verschränkten Armen dastand, ihn aber anlächelte, und ihm wurde klar, dass dies nun der Abschied war. „Kai“, hauchte er und der andere Junge drehte sich kurz um. „Auf Wiedersehen, Kai.“ Und trotz der Tränen, die sie beide vergossen, lächelten sie sich ein letztes Mal zu, ehe Kai und Saya aus dem Zimmer verschwunden waren. Draußen schneite es noch immer. Es war tatsächlich Winter geworden… Doch irgendwann würde ein weiterer Sommer kommen. Ein neuer Sommer, der sich von den vergangenen unterschied. So wie auch der letzte Sommer… Hosted by Animexx e.V. 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