22 von Catch-a-Breath ================================================================================ Kapitel 1: Angst vor Zerfall ---------------------------- Es ist gerade Sommer geworden in dem kleinen ruhigen Städtchen Cjus, wo Ariana Kent mit ihrer Familie lebt. Ari, wie Ariane genannt wird, ist vor knapp 2 Monaten 17 Jahre alt geworden und kümmert sich unter anderem in ihrer Freizeit ehrenamtlich um die Kinder eines Heimes. Ari ist ein ruhiges, schüchternes und intelligentes Mädchen. Ihre Mutter Leander und ihr Vater Curtis führen einen kleinen Tante Emma-Laden in Videl, einer kleinen Nachbarstadt, um über die Runden zu kommen. Ari versucht so gut es geht, ihren Eltern finanziell unter die Arme zu greifen, doch leider ist es gerade für junge Menschen schwierig in Cjus und der näheren Umgebung Arbeit zu finden. „Ich gehe jetzt los!“, rief Ari ihrer Mutter aus dem Hausflur entgegen. „Wartet nicht mit dem Essen auf mich…heute ist Krisensitzung im Heim. Das kann wieder lange werden.“ Besorgt kam Leander in den Flur, schränkte die Arme ineinander und starrte wie gebannt ihre Tochter an. „Weißt du, Ari….ehrlich gesagt finde ich, dass du dich zu sehr um diesen Job im Heim bemühst. Diese Kinder dort sind unberechenbar. Was du mir manchmal erzählst…diese Geschichten. Ich habe Angst dass du irgendwann nicht mehr nach Hause kommst, weil dich irgend so ein Raudi abs….“ „Mum…!“, fiel Ari ihrer Mutter ins Wort, „Diese Raudies, wie du sie nennst, sind Menschen. Menschen, die einfach versuchen mit ihrem Leben klar zu kommen. Sie haben keine Eltern wie ich. Niemanden, der sich um sie kümmern kann, so, wie es nur Eltern können. Sie haben einfach Angst davor, irgendwann mal noch weniger zu besitzen, als jetzt schon. Bitte sorg dich nicht so um mich. Ich passe auf mich auf. Versprochen.“ Mit einem zögerlichen Lächeln öffnete Ari die Haustür und ohne ihre Mutter noch einmal zu verabschieden, zog sie die Tür hinter sich zu. Ari liebte ihren Job im Heim. Es war neben ihrem zu Hause, der einzige Ort, wo sie sich wirklich wohl fühlte. Es nervte sie einfach, dass sie überall woanders mit ihrer zurückhaltenden und ruhigen Art aneckte. Nur bei den Kindern und Jugendlichen hatte sie das Gefühl, dass diese sie so nahmen, wie sie ist. Selbst ihre Eltern verlangten immer, dass Ari doch mehr aus sich rausgehen sollte. Doch das war leichter gesagt, als getan. Ari war ein hübsches Mädchen. Schulterlange dunkle braune Haare fielen leicht um ihr zartes Gesicht. Sie hatte braune Augen und war von Natur aus sehr blass. Eigentlich hatte sie gar keinen Grund, sich selber unter den Scheffel zu stellen, doch war ihr Selbstbewusstsein immer auf dem Nullpunkt. Und so verging ein Tag nach dem anderen, ohne, dass sich in ihrem Leben auch nur irgendwas änderte. Das Heim, in dem Ari arbeitete, lag in Armadon, der Nachbarstadt von Cjus. Von außen wirkte es wie eine Bruchbude. Der Putz war alt und zerfallen und die Fensterrahmen hielten sich nur noch an wenigen Spänen am Haus. Der heutige Nachmittag war grau, neblig und verregnet. Jeden Dienstag und Donnerstag hatte Ari Schicht im Armadoner Heim. Knapp eine Stunde brauchte das junge Mädchen zu Fuß, um dort hin zu gelangen. Nur ein kleiner verwinkelter Trampelpfad führte in die Stadt. Weder eine Straße, noch ein humanerer Weg existierte. Cjus ist total abgeschieden von anderen Städten. Die Bewohner schien dies aber nicht zu stören, da sich niemand je darum bemüht hat, eine Verbindung zur Zivilisation aufzubauen. In Gedanken versunken streifte Ari über den Feldweg. Er war bewachsen mit Moos und fast vollständig mit Himbeersträuchern zugewuchert, was ein Durchkommen beinahe unmöglich machte. Mit ihrem alten Regenschirm schob Ari das störrische Gewächs beiseite. Nach 30 Minuten Fußmarsch konnte man das Heim schon am Horizont sehen. Es stand auf einem Hügel und war umringt von verschiedenen Nadelbäumen. Schon von weitem hörte man das Gelächter der Kinder. Kaum öffnete Ari das alte rostige Hoftor, dass das Heim mit einem zwei Meter hohen Metallzaun umringt, kommen auch schon die ersten Kinder angerannt, um ihre Stundenmutter zu begrüßen. Einer dieser Kinder ist Phyn. Ein achtjähriger Junge, der ohne Arme geboren wurde oder die blinde 14-jährige Helli, die immer einen alten Stoffhund namens Winnie mit sich rum trug. Dieser Moment, dieser Augenblick, wo diese jungen verlassenen Menschen auf sie zu kamen und ihr das Gefühl gaben, dass sie das wichtigste ist, was sie haben, war für Ari der schönste auf der Welt. Lächelnd kam sie ihren Schützlingen entgegen um sie dann mit einer riesigen Umarmung zu begrüßen. „Ari! Ari“, schrie der kleine aufgeregte Phyn, „wir haben eine riiiiieeessssen große Überraschung für dich!“ Er zerrte mit den Zähnen an ihrem Ärmel und gab ihr mit hampeligen Beinbewegungen zu verstehen, dass sie sofort ins Haus gehen soll. „Ist ja gut Phyn, ich komme doch schon. Da bin ich aber gespannt“ Zusammen mit ihren begeisterten ‚Fans’ lief sie Richtung Haustür. Plötzlich merkte sie, dass jemand fehlte. Sie drehte sich um und sah, wie Helli am Tor stand und starr in den nahe liegenden Wald sah. Sie regte sich nicht. Man sah nicht, ob sie atmete. Selbst ihren geliebten Stoffhund ließ sie lieblos auf dem Boden schleifen. „Helli?“, rief Ari ihr zu, „Was ist los? Willst du nicht auch die tolle Überraschung sehen?“ Helli rührte sich noch immer nicht. „Ach die Helli, die hat bestimmt wieder was gewittert“ Lachend sprang Phyn die Stufen hinab und rannte zu seiner Heimfreundin. Er trat ihr sanft gegen das Schienbein, da er viel zu klein war, um ihr ins Geischt zu sehen. „Hey Hellilein, ist bei dir alles in Ordnung da oben? Helliiiii???? Hallo? Helli??“ Phyn hielt inne. Irgendwas ist gerade vor ihm herunter getropft. Er sah auf den Boden. „Aaaaah, Ari! Komm schnell her, Helli blutet!“ Mit Windeseile rannte Ari zu Helli und Phyn und begutachtete das blinde Mädchen. „Oh Helli, du hast Nasenbluten. Argh…Phyn, hol bitte ein paar Taschentücher!“ Ohne Zögern lief Phyn sofort ins Haus. „Mensch Helli, hast das nicht bemerkt? Helli? Was ist denn nur mit dir?“ Ari beugte Helli nach vorn und hielt ihr die Nase zu damit das Blut gerinnen konnte. „Ich möchte so gerne in den Wald gehen….“ „Was?“, stockte Ari. „Ich möchte in den Wald gehen. Es ist so ein schöner Tag“ Helli hob ihren Kopf und blickte Ari an. Ihre Augen waren so leer und ohne Glanz. Trotzdem hatten sie mehr Ausdruck als die eines sehenden Menschen. „Natürlich können wir nachher in den Wald gehen“, redete Ari ihr gut zu, „aber zu erst müssen deine Nasenbluten aufhören und du dich erstmal erholen meine Süße, ok?“ Helli sank wieder ihren Kopf zu Boden und schob Aris Hände von ihrer Nase weg. Auf einmal fing sie an, das Blut durch die Nase hochzuziehen. „Ah Helli, was tust du da? Hör auf damit!“ Langsam richtete das Blinde Mädchen ihr Gesicht wieder zum Wald. „Lass uns in den Wald gehen, Ari.“ Ungläubig schüttelte Ari den Kopf und legte ihren Arm um die doch eigentlich sonst so fröhliche Helli. Noch immer blickte sie wie gebannt in den Wald. „Ach Helli….“ Plötzlich hörte Ari einen Schrei aus dem Heimgebäude erhallen. Sie blickte zum Eingang und traute ihren Augen nicht. Immer mehr Kinder und Jugendliche liefen aus dem Haus heraus und blieben kurz danach wie angewurzelt stehen. Alle blickten in Richtung des Waldes. „W….was….was ist denn jetzt los?“ Aris Augen wurden immer größer. Was sie da sah, war das merkwürdigstes, was sie je gesehen hat. Die Kinder regten sich nicht. Nur ihre Blicke verrieten, dass ihr Ziel der Wald war. Sogar der kleine Phyn stand mit in der Menge. Alle sahen in Richtung Wald. Es war windstill. Kein Mucks, keine Bewegung. Nur Ari, die ihren eigenen Herzschlag hören konnte, ließ Helli los und rannte zu den Kindern. Ihre Augen füllten sich unwillkürlich mit Tränen. Ihre Bewegungen waren so ruckartig. Es fiel ihr so verdammt schwer, die kleinen zu erreichen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und sie schnappte ständig nach Luft. Sie lief durch die Massen. Streifte jeden nur mit einem Blick in die Augen. Niemand bemerkte sie. Sie bückte sich vor Phyn und versuchte eine Gefühlsregung zu bemerken. Aber nichts. Gar nichts. Der kleine Mann stand regungslos vor ihr und atmete ganz leise und ruhig. „Phyn? Phyn! Verdammt noch mal…Phyn! Was ist los? Was siehst du?“ Ari erhob sich und beobachtete die Menge. „Was seht ihr? Was zur Hölle seht ihr?“ Verstört und hilflos lief sie durch diesen Wald von seelenlosen Kinderkörpern. Jedem blickte sie in die Augen. Manche berührte sie an der Stirn, an den Schultern. „Verdammt noch mal! Hallooooo! Bitte, was ist los mit euch?“ Sie hob ihre Arme gen Himmel, als wollte sie vom Herren persönlich eine Antwort. Weinend und schwach sackte sie zu Boden. Vor ihr stand Helli. Sie hatte noch immer Nasenbluten. Ari stützte sich auf dem Boden ab. „Was ist nur los mit euch…“, flüsterte sie. Sie hatte keine Kraft mehr, zu schreien. Ihr hörte sowieso niemand zu. „Ich möchte so gerne in den Wald gehen“ Ari schreckte zusammen. Sie sah auf zu Helli, die sie leicht lächelnd ansah. Sie wirkte so majästetisch und doch so verletzend und kindlich. Das blut lief ihr über ihre roten Lippen, über das Kinn und tropfte nach und nach auf Aris Hände, die sich noch immer auf dem Boden abstützten. Ari schüttelte langsam mit dem Kopf. „Nein…Helli. Bitte, komm mit mir rein.“ Sie stand auf und drehte sich zu den Kindern. „Kommt doch bitte alle mit mir hinein. Bitte!“ Aus Hellis Heroischem Grinsen wurde schlagartig unmissverständlicher Ausdruck an Unverständnis. „Warum? Warum willst du mit uns nicht in den Wald gehen?“ Ruckartig ließ das blinde Mädchen ihren geliebten Stoffhund fallen: „Magst du den Wald etwa nicht?“ Ari stand ahnungslos mit dem Rücken zu Helli. Sie traute sich nicht, etwas zu sagen. Sie wusste nicht, was hier gerade geschah. Sie bemerkte gar nicht, dass sie sich ständig in den Arm kniff, um einen Alptraum aufzudecken. Langsam drehte sie sich um und schaute Helli an: „Was ist nur los mit euch? Mit dir?“ Sie hob den Stoffhund auf und drückte ihn fest an sich. „Wenn…wenn ihr euch alle abgeregt habt, dann geht bitte rein. Es fängt bestimmt gleich an zu regnen. Nicht, dass ihr noch krank werdet…“ Langsam lief Ari den Weg hoch zum Eingang. Im Augenwinkel sah sie einige Kinder, die sich einfach nicht regen wollten. Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie öffnete die Tür und ging ins Haus. Durch das Fenster beobachtete sie die vielen Kinder. Es begann zu regnen. „Ihr werdet doch alle nass…. Warum tut ihr das nur….?“ Sie legte ihren Kopf auf die alte knarrende Fensterbank und sah zu Helli, die wie eine Art Anführerin den Blick nicht vom Wald lassen konnte. Ari kam es vor, als wären bereits Stunden vergangen. „Ich sollte Hilfe holen…“ Als sie sich aufrichtete, blickte sie kurz zu der alten Standuhr, die gerade 17 Uhr schlug. Plötzlich hörte sie ein dumpfes Geräusch.. Schlagartig fielen alle Kinder wie auf Kommando um. „Oh mein Gott!“, schrie Ari und lief aus dem Gebäude. Draußen angekommen stand sie nun vor einem Meer an Kindern. Sie lagen über- und untereinander in alle Richtungen verstreut. Schon wieder konnte Ari ihre Tränen nicht zurück halten. „Oh mein Gott….oh mein Gott…“, flüsterte sie. Ihre Lippen zitterten und sie konnte nicht verhindern, dass das Klappern ihrer Zähne in der Stille zu hören war. Sie überkam eine Angst. Hoffnungslosigkeit. Sie hatte nicht den Mut, die Stufen hinunter zu gehen. Sie fürchtete sich vor lauter hilflosen Kindern, die bei strömenden Regen im Matsch lagen. Der ständige Versuch, sich loszureißen und ihren Schützlingen zu helfen, schlug andauernd fehl. Sie sah geschockt mit an, wie die leblosen Kinderkörper immer mehr aufweichten. Nun war sie es, die sich nicht rühren konnte. Doch da hörte sie unerwartet ein Husten. Sie sah in die Richtung. Ein kleines Mädchen grub sich durch die Körper nach oben und stand auf. Es öffnete die Augen und sah nun erst einmal die vielen rum liegenden Kinder. Mit einem lauten Schrei sprang sie über die Körper hinweg und fiel Ari erschöpft in die Arme. Durch den Lärm wurden nun auch die anderen Kinder nach und nach wach. „Häää? Wasn hier los??“, fragte der kleine Phyn verdutzt und schaute sich um. Ari konnte es nicht fassen. Alle Kinder waren wach, bewegten sich und schienen wieder völlig normal zu sein. „Phyn!“, rief sie, „du…du bist in Ordnung!“ Sie umarmte das kleine Mädchen und öffnete die Arme. Alle Kinder rannten zu Ari und ins Haus, um sich vor dem Regen zu flüchten. Auch Helli war wieder wach und schabte auf dem Boden rum: „Wo…wo ist mein Winnie?“ „Helli!“, rief Ari ihr zu, „Komm her, Winnie ist bei mir.“ Lächelnd rappelte sich Helli auf und folgte der Stimme ihrer Heimmutter. Nachdem sich alle beruhigt hatten, erzählte Ari den Kindern, was passiert war. „Ich wollte unbedingt in den Wald?“, fragte Helli ungläubig „Was sollte ich da wollen, dort kenne ich mich ja überhaupt nicht aus.“ Sie nahm ihren Kuschelhund und legte ihn vor den Kamin, um ihn zu trocknen. „Ich wusste überhaupt nicht, was los war…“, erzählte Ari, „Ihr habt alle so regungslos dagestanden und niemand hat auch nur einen Ton von sich gegeben.“ „Nicht einmal Phyn?“, rief ein Junge namens Peero In das Gespräch. Alle lachten. „Nein…“, fuhr Ari fort, „nicht einmal Phyn. Niemand von euch. Ihr habt alle in den Wald gestarrt, als würdet ihr von etwas magisch angezogen. Als würde eine Macht versuchen, euch zu sich zu holen. Aber das merkwürdige ist ja, dass ihr nur da standet. Ihr seid nicht in Richtung Wald gegangen geschweige denn auch nur in die Nähe des Tores. Dort stand nur Helli.“ Schweigen. Niemand wollte was Falsches sagen. Keiner wusste, was er davon halten sollte. „Naja, ihr Süßen. Ist doch nun auch egal. Was immer das sollte, ich hoffe, es war das letzte Mal.“ Gerade kam Phyn aus der Küche mit einem Tablett voller Kekse auf dem Kopf balancierend: „So Ari, jetzt aber….das ist deine Überraschung. Die habe ich zusammen mit Miss Lindo Gebacken.“ Miss Lindo war eine andere Heimmutter, die sich die meiste Zeit um die Kinder kümmerte, wenn Ari keine Schicht hatte. Stolz stellte Phyn das Tablett auf einen kleinen Servierwagen und schob diesen zu den anderen. „Bedient euch, es ist genug für alle da. Aber der Engel mit Puderzucker ist extra nur für Ari.“ Fröhlich grinsend setzte sich der kleine neben Ari und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. „Hmmm, die sehen ja unglaublich lecker aus, dann werde ich doch mal meinen Engel gleich kosten.“ Schelmisch zwinkerte sie Phyn zu und nahm den gepuderten Keks von dem Tablett. Der Engel war richtig hübsch. Seine Flügel waren in Himbeerglasur getaucht und die Haare hatten bunte Zuckerstückchen als Verzierung. Genüsslich biss Ari in einen der Flügel: „Hmmm, Phyn, das schmeckt ja wunderbar. Da will man ja gar nicht mehr aufhören zu kauen.“ Begeistert schauten die anderen Kinder Ari dabei zu, wie sie ihren Engel verspeiste. „Hihi, Ari, du isst deinen eigenen Schutzengel auf. Wenn das mal nicht schief geht.“, lachte eines der Kleinen und bediente sich ebenfalls von dem Tablett. Ari hielt inne: „Oh, du hast Recht Maja. Aber weißt du, er hat doch selber Schuld, wenn er so lecker schmeckt. Da würde vermutlich jeder schwach werden.“ Genüsslich biss sie auch noch den anderen Flügel ab. „Dann meinst du, dein Schutzengel verzeiht dir das?“ „Natürlich, schließlich esse ihn ja nicht, um ihm zu schaden, sondern weil er so unwiderstehlich ist.“ Alle lachten vergnüglich und vergaßen schnell die Ereignisse, die sich heute ereigneten. Ungewiss dessen, dass dieser Tag nur der Beginn eines viel größeren Ereignisses war. Am Abend, als alle Kinder des Heimes schon bettfertig und in ihren Zimmern waren, trafen sich die drei Heimmütter, zu denen auch Ari gehört, zur so genannten Krisensitzung. Die anderen beiden waren die 37 jährige Miss Lindo und Fenie, eine 19 jährige verwöhnte Göre, die diesen Job ihren Eltern zu verdanken hatte. Man sah ihr schon von weitem an, dass sie etwas besseres sein wollte. Ihre Kleidung, ihr Haar, ihr Auftreten…alles war mit Bedacht gewählt. An diesem Tag war es besonders schlimm. Fenie war alles andere als schlank, eher war sie ein molliges junges Mädchen, mit roten Locken und einem dicken roten Knutschmund. Sie trug ein olivgrünes Rüschenkleid mit Pailletten und einem gelben Blumenmuster Kragen. Leicht genervt setzte sie sich auf den Platz am Kamin und kramte in ihrer Handtasche nach einem Zettelblock und einem Stift: „Ich hoffe, es dauert heute nicht schon wieder so lange, Miss Lindo. Mein Chauffeur wäre beinahe eingeschlafen, als er mich letzten Dienstag nach Hause fuhr. Ich habe keine Lust, irgendwann mal im Krankenzimmer zu erwachen, nur, weil mich die Gespräche über ein paar sinnlose Kinderstreiche bis in die Puppen wach halten. Ich hoffe doch, dass das für Sie verständlich ist.“ Sie legte ihre Schreibutensilien auf den Tisch und sah zu Ari hinüber: „Für dich natürlich auch….ähm…äh….wie war dein Name doch gleich?“ „Ari, ich heiße Ari, Fenie. Und ja, natürlich verstehe ich das. Dein Chauffeur braucht auch Schlaf.“, erwiderte die 17 jährige und setzte sich 3 Stühle weiter an den Tisch. Dass sich Fenie noch immer nicht ihren Namen merken konnte, war Ari unverständlich. Die beiden arbeiteten nun schon knapp drei Monate zusammen und jedes Mal musste man ihr auf die Sprünge helfen. „Was?“ Fragend blickte Fenie zu Ari: „Wen interessiert denn der Chauffeur? Der bekommt ja wohl sein Geld. Es geht um mich! Je später es wird, desto gefährdeter ist meine Gesundheit! Und am Ende stehe ich da…meine Schönheit ist zerstört von einem Baum und ich bekomme keinen müden Cent dafür. Ihr solltest froh sein, dass ich mich überhaupt so sozial engagier. Anderen Leuten sind diese kleinen Würmer hier total egal.“ Miss Lindo lächelte leicht belustigend. Sowohl sie, als auch Ari wussten ganz genau, dass Fenie diese Arbeit nicht freiwillig machte. Ihre Eltern, zwei wichtige Unternehmer, vermittelten sie an das Heim, um ihrer Tochter das soziale Zusammenleben in einer Gesellschaft näher zu bringen. Leider schien diese völlig immun gegen diese Lerneinheiten zu sein. Miss Lindo setze sich mit zu den beiden. Sie nahm einen Stift und ein altes Blatt Papier: „So ihr zwei, gibt es etwas, was euch beschäftigt. Was ist in der letzten Woche so passiert?“ Ari war sich nicht sicher, ob sie das zuvor erlebte wirklich ansprechen solle. Sie wusste doch selber noch nicht einmal, was sie davon hielt. Vielleicht war das ganze auch nur einmalig. Irgendwas Unnatürliches war es schon, aber es war doch sicher das erste und letzte Mal. „Ari?“, fragte Miss Lindo, „hast du etwas erlebt, worüber du reden willst oder musst?“ Erschrocken ließ Ari ihren Stift fallen: „Ähhh…äh..nein. Nein…nichts. Aber Phyn hat mir heute seine Plätzchen gezeigt. Vielen Dank auch an sie. Die waren fantastisch.“ Gerade als Lindo antworten wollte, meldete sich plötzlich Fenie zu Wort: „Ich hätte da so einiges zu berichten.“ Stürmisch stand sie auf und stellte sich ans Fenster. „Also, vor zwei Tagen zum Beispiel. Da meinte dieser kleine komische Junge ohne Arme….wie heißt er doch gleich? Ohhh, ich komme nicht auf seinen Namen. Ähm…Phili? Fabi?“ „Phyn!“, wütend schlug Ari mit der Faust auf den Tisch „Er heißt Phyn und er ist verdammt noch mal nicht komisch! Hab endlich mal mehr Respekt vor diesen Kindern, Fenie!“ Mit erschrockener Miene wandte sich Fenie langsam zu Ari um und blickte dem aufgebrachten Mädchen leicht dümmlich in die Augen. „Ja aber Ari….hast du noch nie etwas davon gehört, dass man Menschen, besonders, wenn sie aus reichen Hause stammen, ausreden lassen sollte, bevor man seine Meinung kundtut? Hat man dir so etwas tatsächlich nie beigebracht? Wie schade…wirklich schade.“ „W…w…ww…was….?“, Verständnislos schüttelte Ari mit dem Kopf. Fenie hingegen drehte sich gemächlich wieder zurück zum Fenster und redete weiter. „Also was ich sagen wollte, dieser Junge, ich wieß gerade leider nicht, wie er heißt, hat doch tatsächlich vorgestern mit ein paar anderen Jungen den Hund des Bürgermeisters Finte auf das Heimgrundstück gelockt und mit auf sein Zimmer genommen. Dort hat er ihm dann Strümpfe und Kleider der Mädchen angezogen und so durchs gesamte Gebäude laufen lassen. Dieser widerliche Hund hat neben den unzählbar vielen Haufen auch einige Kratzspuren im Haus hinterlassen. Sie beide können sich doch sicherlich vorstellen, wie wütend Herr Finte nach diesem Vorfall war. Hätte ich mich nicht gedankenlos und beschützend vor diese kleinen armen Geschöpfe gestellt und alles Übel auf mich genommen, dann hätte dieser Mann sicherlich eine Heimschließung durchsetzen können. Aber das ist ja leider noch nicht alles, gester…..“ „…Entschuldige, Fenie, dass ich dich unterbreche.“, fiel Miss Lindo ihr ins Wort „Aber warum haben Sie mir davon nicht schon an dem Tag bescheid gesagt. Das ist ja nun wirklich keine Kleinigkeit. Sobald andere Personen ins Spiel kommen, haben sie die absolute Pflicht, mich darüber zu informieren. Mister Finte hat mich gestern ganz aufgebracht angerufen und gemeint, dass er noch zwei silberne Haarbänder an seinem Hund gefunden hätte und ich diese doch so schnell wie möglich abholen solle. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah. Ich hatte fast die Befürchtung, dass er wieder mit dem Trinken begonnen hatte.“ Leise grinste Ari in sich hinein. „Ja, da haben Sie natürlich vollkommen Recht, Miss Lindo. Aber sehen Sie, in dem Moment haben die Kinder meine volle Aufmerksamkeit gebraucht. Sie standen alle unter Schock und verstanden gar nicht so genau, was sie falsch gemacht haben. Wollen Sie mir jetzt etwa wirklich einen Vorwurf machen, dass mir das Wohl der Kleinen wichtiger war, als sofort Bericht zu erstatten? Also mal ehrlich Miss, dann hätte ich doch total den Beruf verfehlt.“ „Ich fasse’s nicht.“, dachte sich Ari und verließ das Zimmer: „Ich geh kurz Luft schnappen.“ Miss Lindo nickte ihr zu und drehte sich zu der gereizten Fenie:„Trotzdem! Das nächste Mal möchte ich bitte sofort informiert werden. Ansonsten werde ich Ihre Eltern informieren müssen.“ Während Fenie und Lindo noch diskutierten, stand Ari draußen vor der Haustür und blickte in den Abendhimmel. Sie konnte die Geschehnisse des Tages einfach nicht vergessen. Immer wieder sah sie die leblosen und starren Gesichter der Kinder vor sich. Besonders der Blick von Helli wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Dieser völlig mimiklose Ausdruck. Eine Mischung aus Angst und unwiderstehlicher Sucht. Was sie und die anderen Kinder wohl gesehen haben…? Die Krisensitzung ging noch eine ganze Weile. Fenie hatte immer mehr kuriose Beschwerden und Verbesserungsvorschläge. Am nächsten Morgen hatte Ari die Ereignisse mit den Kindern fast vergessen. Sie machte sich gerade für die Schule fertig und packte ihren Rucksack. Sie hasste ihre Schule. Sie hasste ihre Klasse und sie hasste ihre Klassenkameraden. Unglücklich verließ sie ihr Zimmer und ging hinunter, um zu frühstücken. Aus der Küche roch es gut nach Pfannkuchen, die Leander gerade backte. „Guten Morgen, meine Süße. Setz dich hin, du bekommst gleich was zu essen.“, sagte sie strahlend zu ihrer Tochter. Natürlich bemerkte sie wie fast jeden Morgen, dass irgendwas nicht mit Ari stimmte. Doch hat sie es aufgegeben, nachzufragen. Aris Antwort war immer dieselbe: „Nichts, alles in Ordnung.“ Leander legte Ari zwei Pfannkuchen auf den Teller. Sie lehnte sich an den Küchenschrank und beobachtete ihr Kind beim Essen. Aris Augen blickten starr auf den Teller, mit den fetttriefenden Pfannkuchen. Sie aß sehr langsam. Fast so, als ob sie es versuchen wollte, zu verhindern, dass der Tag vorbei ging. Besorgt verfolgte Leander die steifen Bewegungen. Sie schüttelte beinahe vorwurfsvoll mit dem Kopf und drehte sich zum Herd, um die fertigen Pfannkuchen aus der Pfanne zu nehmen. „Möchtest du dann noch einen, Ari?“ „Nein, danke….ich muss jetzt los.“ Ari nahm ihre Sachen, winkte ihrer Mutter lapidar zu und ging zur Wohnungstür. Aris Schule, die Marian Highscool, war, wie auch das Heim, in Armadon. Den Weg dort hin musste sie ebenfalls per Fuß gehen. Es frustrierte sie ziemlich oft, dass ihr Leben sich nur in einem Umkreis von knapp vier Kilometer abspielte. Marian war eine typische Highschool im 21. Jahrhundert. Cliquen, Cheerleader, Footballmannschaften und Außenseiter gaben sich hier die Klinke in die Hand, um sich auf das zukünftige Studentenleben vorzubereiten. Ari gehörte zu den Außenseitern, war damit aber mehr als zufrieden. Sie wollte so wenig wie möglich mit dem ‚Abschaum’, wie sie ihre Mitschüler nannte, zu tun haben. So hatte sie auch nur eine, allerdings sehr sehr gute Freundin…Laney Carter. Laney war ein fröhliches und aufgewecktes Mädel, das sich selber als ‚Retterin des weiblichen Stils’ bezeichnete. Anders als Ari, war sie sehr beliebt an der Marian. Sie hatte lange schwarze glatte Haare und helle blaue Augen. Stark geschminkte Augen, sowie viel Schmuck und bunte Accessoires gehörten genauso zu ihrem Stil, wie die Tatsache, dass sie es abgrundtief hasste, Hosen zu tragen. Außerdem hatte sie immer eine winzige grüne Schmetterlingsklammer im Haar, die ihren ohnehin schon viel zu langen Pony, aus den Augen hielt. Mit ihr hatte Ari immer etwas zu lachen, auch, wenn es schon manchmal anstrengend war, dem schnellen Geplapper des ausgeflippten Mädchens zu folgen. Laney stand gerade umringt von fünf Jungs vor dem Haupteingang. Ihre laute, fast hysterische Lache war über den gesamten Schulhof zu hören. „Oh man, was sie nur immer mit diesen Typen zu bereden hat“, flüsterte Ari. „Jeden Tag stehen diese hohlen Tassen bei ihr.“ Eigentlich war es Ari immer zu blöd, sich zu der kokettierenden Gruppe zu stellen, doch war das immer noch besser, als alleine rum zu stehen. Mit einem leisen „Hi“ begrüßte sie Laney und versuchte sich zwischen die Gruppe zu drängen. Die Blicke der Jungs waren nicht falsch zu verstehen. Mit einem grimmigen Blick verließen sie die zwei Mädchen, wobei jeder der fünf jungen Männer der hübschen Laney einen Kuss auf die Wange drückte. Diese grinste schelmisch in sich hinein und drehte sich zu Ari, die völlig geschockt mit offenem Mund ihre Freundin ansah. „Guten Morgen Arileinchen! Na..? Gut geschlafen?“ „Was war das denn?“ Ari nahm Laney an die Hand und zog sie näher an sich heran. „Sag mal, was sollte das eben?“ „Was meinst du denn? Was hab ich getan?“ „Stell dich doch nicht dumm! Du weißt genau was ich meine. Warum lässt du dich von diesen notgeilen Fratzen abknutschen? Hast du jetzt jedes letzte Gefühl Würde verloren oder was?“ „Ach was, jetzt stell dich mal nicht so an. Das war doch völlig harmlos.“ „Ich glaub das einfach nicht. Du bist viel zu schade für die.“ „Warum bist du so sauer? Es war doch nur ein kleiner Ku…“ „Ich geh schon mal vor.“ Genervt lief Ari eilig durch den Haupteingang, die Schulgänge entlang und setzte sich im Klassenzimmer auf ihren Platz. Laney kam kurz darauf hinterher und setzte sich ebenfalls an ihren Tisch. Ohne ihrer besten Freundin auch nur einen Blick zu würdigen, öffnete Ari ihr Schulbuch und tat so, als ob sie las. Im Augenwinkel konnte sie erspähen, wie sie von Laney besorgt angestarrt wurde. Sie wusste anscheind wirklich nicht, was Aris Problem war. Anscheind war sie aber auch so eingeschüchtert und unsicher, dass sie sich nicht traute, nachzufragen. Und so ging das noch geschlagene 13 Minuten. Um Punkt 8.20 klingelte die Schulglocke. Der Lehrer war noch nicht da, was die Schüler dazu verleitete, weiterhin miteinander zu reden. Andere bastelten Papierflieger, malten oder beschrieben die Tafel mit dummen Texten. Auch Laney unterhielt sich mit einigen Mädchen über die neusten Trends und Parfums. Nur Ari saß mutterseelenallein in der Mitte der Menge und starrte noch immer auf dieselbe Seite im Schulbuch, wie schon vor einer viertel Stunde. Sie verstand Laney einfach nicht. Warum gab sie sich so als Lustobjekt für ein paar daher gelaufene Typen her und nun kümmerte sie nicht einmal mehr der Konflikt. Plötzlich kam der Lehrer rein. Mister Dewey. Er wirkte leicht verstört und verstreut und kramte in einer seiner unzähligen Akten, die er ständig mit sich rum trug. Als der das gesuchte Schriftstück fand, verließ er wieder den Raum, ohne auch nur ein mahnendes Wort zu seinen Schülern zu richten. Es dauerte wieder knapp 10 Minuten, als er endlich wieder ins Klassenzimmer kam und nun anscheinend fertig war. „Tut mir Leid, meine Gutsten, ich hatte noch ein kleines organisatorisches Problem. Er nahm den Tafelschwamm und wischte die Schmierereien weg. Kein böses Wort. Kein Geschimpfe. Dewey schien aufgeregt zu sein. Da klopfte es an der Tür. „So Leute. Ihr bekommt heute Zuwachs. Ein neuer Schüler hat sich prompt dazu entschlossen, schon heute hier neu anzufangen. Eigentlich sollte er erst in knapp einem Monat kommen. Auf jeden Fall ist er jetzt da…ähm…ich hol ihn jetzt rein. Reißt euch bitte zusammen.“ Dewey ging zur Tür und gab mit einem Wink dem wartenden Schüler zu verstehen, dass er reinkommen kann. Wenig begeistert blätterte Ari in ihrem Buch. „So, der junge Mann heißt Noah Albert Grimm. Heißt ihn willkommen.“ Ein leises Gelächter ging durch die Reihen. „Was für ein geiler Name, Alter!“, rief der Klassenclown Jeff durch den Raum. Noch immer interessierte Ari nicht, wer der Neue ist. Sie sah stur in ihr Buch, musste allerdings bei dem Namen auch ein wenig schmunzeln. Noah betrat nun das Klassenzimmer. Auf einmal fingen die Mädchen an zu tuscheln. Ein Raunen ging durch die Klasse. Ein Mädchen neben Ari konnte sich kaum zurück halten und schrie fast „Wooooow!!“. Neugierig und von dem erstaunten Verhalten der anderen angeregt, wagte Ari einen kurzen Blick vor zur Tafel. Sie traute ihren Augen nicht. Da stand ein unglaublich gut aussehender junger Mann am Lehrerpult und blickte sich um. Noah hatte braune, leicht gelockte kurze Haare. Kleine blonde, fast weiße Strähnchen lockerten das reine Braun auf und zierten sein markantes Gesicht. Seine eiskühlen blauen Augen waren nicht zu übersehen. Er stand regungslos vorne und sah wie eine Art Herrscher durch die Mengen. Man konnte fast glauben, er zähle die Schüler. Ari erwischte sich, wie sie ein wenig auf ihren Pult sabberte. Sie wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und schaute wieder in ihr Buch. Doch sie konnte ihre Augen nicht von ihm lassen. Immer und immer wieder sah sie zu Noah vor. So jemanden hat sie noch nie gesehen. Allerdings schien sie nicht die einzige zu sein, die begeistert von seinem Anblick war. Alle Mädchen saßen total aufgeregt auf ihren Stühlen und wetteiferten mit lieben Blicken und Zwinkern um seine Aufmerksamkeit. „So, möchtest du dich selber einmal vorstellen, Noah?“, fragte der Lehrer und deutete auf die Klasse. Noah sah Anderson an, dann die Schüler. Anscheinend überlegte er, was er sagen solle. Seine Augen wanderten durch den Raum, auf und ab. Sein Mund bewegte sich ganz merkwürdig, als würde er in Gedanken sprechen. „Ja, das werde ich.“ Er ging einen Schritt nach vorne und bäumte sich auf. Er nahm tief Luft, grinste einige der überdrehten Mädchen an und begann mit Reden. „Mein Name ist Noah. Noah Albert Grimm. Ihr könnt mich Noah nennen. Ich bin mit meiner Familie gerade erst nach Armadon gezogen. Diese Schule gefällt mir bis jetzt nicht wirklich. Ihr scheint alle ziemlich dumm und zurück geblieben zu sein. Aber trotzdem hoffe ich, dass wir uns gut verstehen, wir wollen ja alle so schnell wie möglich raus aus dieser Anstalt. Danke“ Augenblicklich war der Raum totenstill. Keiner machte mehr einen Mucks. Alle saßen verwundert auf ihren Plätzen, unvorbereitet dessen, was Noah von sich gab. Nur eine war vollkommen und restlos begeistert von ihm. Ari. Ihr breites Grinsen stach in der Menge hervor, wie ein Elefant im Ameisenhaufen. Das, was sie immer meinte und still in sich hinein dachte, sagt dieser Junge völlig frei von Ängsten, obwohl er nie auch nur ein Wort mit den Menschen in der Klasse gewechselt hatte. „Äh, Noah, ich hoffe, das war jetzt nicht so ernst gemeint. Natürlich fühlst du dich hier wohl und wirst viele wertvolle Erfahrungen und Freundschaften sammeln.“, stotterte Anderson, tupfte sich mit einem Taschentuch die Schweiftropfen von der Stirn und legte seinen anderen Arm um den Neuankömmling. Wieder grinste Noah nur selbstbewusst in die Menge. Er findet sich selber wohl unwiderstehlich. Anderson zeigte mit seinem völlig voll geschwitzten Taschentuch auf einen der freien Plätze. „Wenn du willst, kannst du dich da hinten hinsetzen.“ Noah nickte nur mit dem Kopf und lief grinsend durch die Klasse zu seinem neuen Sitzplatz. Er saß direkt hinter Ari. Etwas enttäuscht, dass sie ihn nun nicht ständig sehen kann, aber auch aufgeregt, so ein Schnuckelchen hinter sich sitzen zu haben, klappte sie ihr Buch zu und legte es zurück in ihren Rucksack. Der Tag verging relativ schnell. Noah verschwand nach dem Schlussklingeln so schnell wie möglich aus dem Schulgebäude. Keiner hatte an dem Tag mit ihm gesprochen. Am Ende der letzten Stunde kam Laney zu ihr rüber. „Du, bist du noch sehr sauer auf mich?“ Ari schaute ihre Freundin an. Laneys Gesicht zierte eine Mischung aus Traurigkeit und Angst, aber auch ein wenig Spott konnte man ihr ansehen. „Ach Mensch, du kleines Biest.“, lächelte Ari „Dir kann man einfach nicht böse sein.“ Aus Laneys trübem Gesichtsausdruck wurde flink ein breites Grinsen. „Jippi! Dann ist ja wieder alles supi!“ Ari nickte ruhig und packte ihre Sachen zusammen. Sie stand auf und ging aus der Tür, als Laney ihr hinterher rannte und sich in ihrem Arm einhakte. „Ich geh noch ein Stück mit dir Arileinchen, meine Mum holt mich bei Polly’s ab. Dann können wir die paar Meter noch ein wenig über den Neuen lästern. Ist der nicht total ungehobelt? Wie kann einer, der so geil aussieht, nur so ein riesiger Dummkopf sein? Ne ne, Sachen gibt’s. Ist doch wirklich so, meinst du nicht??“ Von Ari kam keine Antwort. Sie lächelte nur in sich hinein. „Wie ich dich kenne, gefällt dir gerade das an ihm, nicht wahr?“, fragte Laney weiter und stupste ihre grinsende Freundin an. Ari erschrak und stolperte fast über ihre eigene Füße. „Was sagst du?“ „Hihi, ist schon gut, Arileinchen. Ich hab schon verstanden. Da vorne ist Mama. Also dann, wir sehen uns morgen. Machs gut.“ Laney drückte ihrer Freundin einen dicken Kuss auf die Wange und rannte zu einem roten Ford Fiesta, der vor einer alten Imbissbude mit der Aufschrift ‚Polly’s’ parkte. Ari winkte ihr noch einige Sekunden zu und machte sich dann auf den Heimweg. Es sah sehr nach Regen aus. Als sie am Heim vorbei ging, blickte sie durch das Tor. Hatte sie unbewusst darauf spekuliert, dass die Kinder wieder starr auf dem Rasen stehen? Doch Fehlanzeige. Sie atmete beruhigt aus und machte sich auf den Heimweg. Als sie zu Hause ankam, fuhr urplötzlich ein riesiger Umzugswagen vor ihrem Haus vorbei. Es sah gefährlich aus, wie der riesige LKW sich auf der alten Buckelpiste durch Cjus schlich. Ein paar Minuten sah Ari dem Wagen noch nach. Unbekümmert zuckte sie mit den Schultern und schloss die Tür auf. Ihre Eltern waren noch nicht zu Hause. Sie kamen immer erst spät aus Videl zurück. Das schlechte Geschäft zwang sie, den Laden ein paar Stunden länger zu öffnen. Ari schnappte sich einen Apfel aus der Küche, wo noch ein paar alte Pfannkuchen in der Pfanne lagen und hockte sich, wie jeden Tag, in ihrem Zimmer vor den Fernseher. Am nächsten Morgen fiel es Ari um einiges leichter, in die Schule zu gehen. Die ganze Nacht hat sie nur an Noah gedacht. Heute würde sie ihn an ansprechen, nahm sie sich vor. So jemanden findet man im ganzen Leben, wenn überhaupt, nur einmal. Eilig sprang sie aus dem Bett und begrüßte fröhlich ihre Mutter. Diese saß gerade am Küchentisch und sortierte Rechnungen. Sie stöhnte leise erwiderte mit einem müden „Guten Morgen Schatz“. Ari war viel zu aufgeregt, um zu realisieren, dass es Leander schlecht ging. Sie nahm ihren Rucksack und rannte in den Flur. „Bis heute Abend, Mum!“, rief sie nur noch eilig und schmiss die Tür hinter sich zu. Doch als sie raus lief, konnte sie ihren Augen nicht trauen. Auf der Straße stand Noah. Und der schien auf jemanden zu warten. Ari konnte einen Aufschrei gerade noch unterdrücken. Auf wen er wohl wartetet…? Etwa auf sie? Nein. Vermutlich nicht. Er drehte sich um zu ihr. Sagte aber nichts. Starrte sie nur an. Ari wusste nicht recht, was sie sagen oder tun sollte. Sie räusperte sich, zupfte ihre Jacke zurecht und lief ohne einen Blick zu Noah zu werfen, Richtung Trampelpfad, den sie immer nach Armadon nahm. Sie hoffte so inständig, dass er sie zurück rufe, doch das tat er nicht. Wahrscheinlich hätte er eh nicht gewusst, wer sie war. Betrübt lief Ari weiter. Warum sollte er sich auch gerade für sie interessieren. Um noch mal zurück zu sehen, fehlte ihr der Mut. Trotzdem hätte sie gerne gewusst, ob er sie angesehen, geschweige denn erkannt hatte. Während Ari und Laney auf dem Hof standen und sich unterhielten, kam auch Noah an – aber alleine. Ari wunderte sich noch immer, was er in ihrem Heimatstädtchen wollte, denn eigentlich gab es nichts, was ein Besuch in Cjus wert wäre. Trotzdem war sie noch immer hin und weg von dem Typ. Wie er so da stand, wie er sich umsah, wie er ganz locker durch die Mengen lief. Das er einige der Schüler zur Seite schubste und keine Rücksicht nahm – auf niemanden – einfach diese völlige Ignoranz gegenüber dem, was auch sie missachtete - das alles faszinierte die stets ruhige und mutlose Ari. Auch im Unterricht war Noah kühl und gleichgültig. Er war zwar sehr intelligent, doch machte es ihm unwahrscheinlich viel Spaß, die Lehrer für dumm zu verkaufen. Er berichtigte sie oft und trieb besonders schusselige Lehrer mit Unmengen an Fragen in die totale Verzweiflung. Niemand der Schüler oder der Lehrer fand das lustig. Nur Ari konnte sich manchmal kaum das Gelächter verkneifen. Es störte sie unwahrscheinlich doll, dass sie einfach nicht wusste, wie sie ihrem Schwarm in ein Gespräch verwickeln konnte. Es war weniger die Angst davor, ihn anzusprechen, als die Befürchtung, dass er gar kein Interesse daran hatte, sie näher kennen zu lernen. Es war gerade Mittagszeit an der Marian High. Die Cafeteria war total überfüllt. Ari und Laney saßen in der Menge und aßen. „Hast du nicht manchmal Lust auf einen richtig schön saftigen Burger?“ Skeptisch sah Ari ihrer Freundin zu, wie sie in einer faustgroßen Portion Karottensalat stocherte. „Hm, ich weiß gar nicht. Bisher glaube ich nicht. Oder doch…? Keine Ahnung und selbst wenn, dann würde ich ihn nicht essen. Wäre doch schlimm, wenn ich so ein Weichei wäre und schon nach zwei Monaten Vegetarierdasein rückfällig werden würde, nicht wahr?“ Lächelnd knabberte Laney auf einem Stück Möhre rum. „Wenn du meinst.“, nuschelte Ari und sah aus einem der großen Fensterfassaden der Mensa. Draußen stand Noah am Geländer mit einer Flasche Cola in der Hand. Die Sonne schien auf sein Gesicht. Es blendete ihn wohl nicht, denn er sah fast direkt hinein. Ari beobachtete ihn. Erneut sah sie ihn von unten bis oben an. Wie das Sonnenlicht auf seine zarte Haut schien, wie seine eisblauen Augen fast weiß funkelten, seine schmalen Hände und diese markanten Wangenknochen. Sie verzehrte sich beinahe nach ihm. In ihrem Kopf schwirrten lauter Fantasien herum, die sie niemals in der Lage wäre, zu erzählen und doch hätte sie ihm gerne gesagt, was sie für ihn empfindet. Laney blieb das merkwürdige Verhalten ihrer Freundin nicht verborgen, doch sprach sie sie auch nicht darauf an. Es war ihr unverständlich, wie Ari auf so einen unfreundlichen und arroganten Typen stehen konnte. Sie nahm ihr Tablett und wedelte mit der Hand vor Aris Gesicht herum, worauf diese erschrocken aufsprang. „Du Arilein, ich geh’ schon mal ins Klassenzimmer. Ich muss noch die Mathehausaufgaben von Jenny abschreiben. Kommst du gleich nach?“ „Ja. Klar. Ich komme….dann….sofort….nach…“. Ari sackte wieder langsam zusammen und sah weiter rüber zu Noah. Laney schüttelte mit dem Kopf und verließ den Tisch. Ein wenig peinlich war es Ari ja, dass sie dermaßen unkontrolliert ins Schwärmen geriet, dennoch war es ihr einfach unmöglich, die Augen von Noah zu lassen. Noch nie hatte sie sich so sehr für einen Menschen interessiert, auch, wenn er ferner zu sein schien, als der Pluto von der Erde. Nachdem die Mittagspause zu Ende war, versammelten sich die Schüler wieder in ihren Räumen. Alle waren mies drauf, weil Mathe bevorstand und so ziemlich jeder die Hausaufgaben nicht hatte. Während Laney und auch andere Schüler die letzten Zeilen der Rechnung aus Jennys Mathehefter abschrieben, saß Ari an ihrem Platz und zeichnete, wie verliebte Teenies das öfter machen, kleine Herzchen auf die Bank. Blitzartig kam auf einmal Mister Dewey in den Raum und bat um Ruhe. Er war völlig aus der Puste und hatte ein paar Formulare in den Händen. „Also Leute, es gibt da Neuigkeiten. Nachdem wir gestern Herrn Grimm in unserer Klasse begrüßen durften, kommt hier nun ein neues Gesicht dazu. Begrüßen sie freundlich Vincent Curt Andersen. Schon wieder ging ein lautes Gelächter durch den Raum. „Haben wir große Märchenwoche oder was?“, rief Jeff nach vorne und biss provokant in einen Schokoriegel. Alle fingen an zu lachen und selbst Noah konnte es sich nicht verkneifen, ihm lächelnd mit einer Handbewegung zu Verstehen zu geben, dass er den Gag verstand. Dewey warf Jeff einen mahnenden Blick zu und rief Vincent hinein. Schon wieder war Ari so im Kritzeln vertieft, dass sie gar nicht mit bekam, dass wieder jemand Neues in die Klasse stieß. Plötzlich hörte Ari die Mädchen um sich herum wieder tuscheln und feixen. Fragend schaute sie sich um. Sah, wie Laney mit Sperrangel weit offenem Mund auf ihrem Stuhl kniete und sich nach vorne beugte. Fragend sah nun auch Ari in die Richtung, in die alle sahen und traute abermals ihren Augen nicht. Da stand noch so ein unglaublich süßer Typ vor der Klasse. Bunt gefärbte Haare zu einem nackenlangen Haarschwanz gebunden, dunkle Augen und als Markenzeichen eine etwa drei Zentimeter lange Narbe auf der rechten Seite des Halses. Dewey öffnete einen der Vorhänge, um etwas Sonne in den Raum fallen zu lassen. „Vincent wollte auch erst frühestens in einem Monat hier anfangen, aber anscheinend ist unser Sommer hier sehr beliebt. Also ein herzliches Willkommen Vincent. Möchtest du dich vorstellen?“ Vincent nahm seine Hände aus den Hosentaschen und verschränkte die Arme. Er schloss die Augen und sank seinen Kopf etwas nach unten. „Haja, wenn’s denn sein muss…“ Langsam schaute er wieder nach oben und fixierte eine der Zimmerpflanzen, die auf dem Schrank am Ende des Raumes stand. „Ich heiß’ Vince, bin 17, bin lustig, cool, was auch immer und ich find’s hier irgendwie scheiße. Die Weiber hier sehen alle scheiße aus. Football is’ auch scheiße und das Essen ist auch scheiße. Die Sonne auch. Alles in allem ist Armadon total…“ „SCHEISSE!“, vervollständigte die gesamte Klasse. „Alter, wenn’s dir hier nich gefällt, dann mach `nen Abgang. Solche Vögel wie du haben hier eh nix zu suchen!“, rief Jeff aufgebracht dem Neuen zu. „Und dann kannste gleich deinen Märchenerzählerbruder Grimm mitnehmen!“ Noch immer aß er an seinem Schokoriegel der ihm schon die gesamte Handinnenfläche braun färbte. Auch Dewey war der Vorfall unangenehm. Schweigend zeigte er auf Vincents neuen Sitzplatz, den dieser auch gleich einnahm. Wie erwartend war Ari total begeistert von dem vorlauten Kerl, der sie so eben indirekt beleidigt hatte. Doch das störte sie nicht. Ihr Augenmerk war nun auf Vince gerichtet. Dieser hatte allerdings nichts Besseres zu tun, als eines der Mädchen um eine Zigarette zu fragen. Dewey, dem der Schweiß noch mehr auf der Stirn stand, als jemals zuvor, verließ kurz den Raum, um noch ausstehende Formalitäten zu klären. Während die Schüler die Zeit nutzten, um leise zu lästern und zu tuscheln, besichtigte Vincent die Klasse näher. Er saß zwei Reihen links von Ari, die den Augenblick nutzte, um den Neuankömmling ebenfalls genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie fand es unheimlich aufregend, dass gleich zwei absolut rebellische Männer in die Klasse kamen und beide waren genau ihr Typ. Sie zog Vergleiche und Kontraste zwischen den beiden, versuchte abzuwägen, wer interessanter, toller, spannender, süßer war und kam auch nach stundenlangen Überlegungen nicht zu einem Ergebnis. Als sie und Laney nach der Schule wieder ein Stück zusammen liefen, konnte Ari überhaupt nicht mehr klar denken. Es war total um sie geschehen und während sich die aufgebrachte Laney nur pikierte und über eine geheime Verhaltensforschung der Highschoolschüler im 21. Jahrhundert philosophierte, spielten sich in Aris Kopf tausende Gedanken und Wünsche ab. Am Abend saß sie mit ihren Eltern am Abendbrotstisch und erzählte von Noah und Vincent. „Andersen? Grimm? Ich hoffe doch, dass das nur ein Witz ist…“ Naserümpfend schnitt Curtis ein Brötchen auf und schaute skeptisch zu seiner Tochter. „Ich glaube nicht, dass das ein Witz ist, Dad. Dewey hat au….“ „Ariana…!“, Leander warf Ari einen auffordernden Blick zu, „MISTER Dewey, bitte.“ „Ja, sorry Mum. MISTER Dewey hat auf jeden Fall die beiden auch so vorgestellt. Aber die Namen sind ja total uninteressant. Viel interessanter sind die Jungs an sich. Whaaa, Dad, die sind so cool!“ Leander und Curtis warfen sich belustigende Blicke zu. Bisher hatte Ari nur von Schauspielern so geschwärmt. „Wie die zwei sich vorgestellt haben. Charakterlich könnten sie Geschwister sein. Total ehrlich und absolut fies haben sie den müden Haufen aufgebracht. Die zwei passen gar nicht in die Marian High….genau wie ich.“ „Na dann hoffe ich doch mal, dass ihr drei gute Freunde werdet.“, grinste Aris Mum. Curtis stockte. „Leander, bist du denn des Wahnsinns. Unsere Tochter wird auf keinen Fall mit solchen Chaoten verkehren. Abgesehen davon, dass es Typen sind…geschlechtsreif….wild…und hungrig auf alles, was keine Haare an den Beinen hat. Und kaum ist das Mädchen 19, hat es zwei Bälger und lebt im Mutterkindheim!“ „Jaja Dad, alles klar. Leg dich besser hin, bevor du rot anläufst und wir wieder Misses Fisher holen müssen, um dich beatmen zu lassen.“ Ari zwinkerte ihrem Vater liebevoll zu und räumte ihren Teller in die Spülmaschine. „Ich geh wieder hoch. Ich muss noch ein bisschen was für die Schule machen.“ „Ach Ari!“, rief Leander ihrer Tochter hinterher, „Warte bitte noch kurz. Wir müssen mal was mit dir bereden.“ „Öh, okay…“ Verdutzt setzte sich Ari wieder an den Tisch und sah ihren Eltern ahnungslos dabei zu, wie sie einen kleinen Stapel aufgerissener Briefe aus einem Schubfach nahmen. Sie legten die Schriftstücke auf den Tisch und setzten sich dazu. Schweigen. Leander und Curtis schauten sich unsicher in die Augen. Keiner wusste, wie er anfangen sollte. Auch Ari traute sich nicht, etwas zu sagen. Sie folgte den nervösen Blicken ihrer Eltern und bekam langsam Angst vor dem, was sie gleich erwartete. „Also….“, räusperte Curtis. „Ariana, das hier sind Rechnungen.“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf den Stapel Briefe und holte tief Luft. „Genauer gesagt, sind das Mahnungen. Deine Mutter und ich können schon seit knapp fünf Monaten die Miete für den Laden nicht bezahlen. Unsere Einnahmen sind zu niedrig. Sollten wir das Geld nicht innerhalb des nächsten halben Jahres zurückzahlen, wird der Laden geschlossen und ein Teil unseres Hauses gepfändet. Deine Mutter und ich haben allerdings eine Idee. Wir wollen den Laden ungern aufgeben. Aber Videl und vor allem der Standort in Videl ist mehr als besch..eiden. Wir haben ganz einfach nicht genügend Kunden dort. Deshalb haben wir uns mit dem eigentlichen Ladenbesitzer so geeinigt, dass wir umziehen dürfen….in eine größere Stadt, denn anscheinend ist unser Laden recht gefragt, aber für die meisten Menschen einfach zu schwer zu erreichen, da Videl ja weder eine Anschlussstraße, noch einen ordentlichen Fußweg besitzt.“ Ari nahm einen der Briefe. „Ja aber, das ist doch toll. Dann ist das Prob…“ „Die eigentliche Sache ist aber, Ari…“, fiel Leander ihrer Tochter angespannt ins Wort, „Die eigentliche Sache…nein…das eigentliche Problem ist, dass diese größere Stadt nicht Armadon sein wird und du somit noch länger alleine zu Hause sein wirst, als jetzt.“ „Gut, ihr müsst ja nicht nach Armadon. Es gibt ja auch andere größere Städte um Cjus herum. Und ich kann auch ein paar Stunden länger ohne Mami und Papi sein, ich bin schon groß.“ Belustigend ließ sich Ari zurück in den Stuhl fallen. Sie verstand das Problem nicht. Leander und Curtis schauten sich wieder hoffnungslos an. „Lass uns doch ausreden, Schatz.“ Curtis nahm Ari den Brief aus den Händen und legte ihn auf den Stapel zurück. „Du wirst eine ganze Zeit ohne uns sein. Wir werden unseren Laden in Grancis City neu eröffnen.“ Ari hielt inne. Aus der optimistisch dreinblickenden Miene wurde ein sprachloser und ungläubiger Gesichtsausdruck. Wie verrückt schaute sie abwechselnd zu ihre Mutter und zu ihrem Vater an. Ihre Augen zuckten wie wild geworden von einem zum anderen. „Crancis City? Das Crancis City?? Das Crancis City, wo Tante Linsay wohnt??? Das Crancis City, dass knapp 700000 Einwohner hat???? Das Crancis City, dass knapp 300 Kilometer von uns entfernt liegt???? Meint ihr DAS CRANCIS CITY???“ Leander und Curtis nickten langsam mit den Köpfen und sahen missmutig auf den Boden. „Und wie habt ihr euch das vorgestellt? Ich bleibe sechs Monate alleine hier und mach den Haushalt und kümmere mich um alles? Das kann nicht euer Ernst sein!“ Wütend stampfte Ari mit den Füßen auf, verschränkte die Arme und kratzte mit dem Fingernagel an einem abgekauerten Span am Rande des Tisches herum. Wieder trat peinliches Schweigen aus. Curtis räusperte sich und rückte mit dem Stuhl näher zu dem aufgebrachten Mädchen. „Ich denk’, du bist schon groß?“ Neckisch stupste er seine Tochter an, doch Ari wehrte seine Hand wütend ab und neigte sich weg. „Ach Schatz, sechs Monate...das ist doch gar nichts. Du wirst sehen, die vergehen wie im Flug und außerdem kommen wir auch öfter mal an Wochenenden oder in den Ferien nach Cjus.“ Auch Leander legte nun ihren Arm um Aris Schulter, um sie zu beruhigen. Es tat den beiden so Leid, ihre Tochter so traurig zu sehen. Sie hatten gehofft, dass sie es einfacher aufnimmt, doch stattdessen saß da nun eine völlig zerknautschte junge Frau, die ein Gesicht zog, wie ein kleines Mädchen, dem man die Süßigkeiten wegnahm. Zögernd stand Ari auf und lehnte sich an die Küchentür. „Und was ist nach den sechs Monaten?“ Curtis und Leander sahen ihre Tochter fragend an. „Schaut nicht so. Sagt schon…was ist nach den sechs Monaten? Wollt ihr mir jetzt erzählen, dass ihr dann wieder mit dem Laden nach Videl zieht oder was? Ich bin doch nicht blöd!“ „Wir…wir... Ja, du hast Recht. Natürlich werden dann nicht zurück nach Videl gehen. Wenn es außerordentlich gut läuft in Crancis City, dann bleiben wir natürlich dort. Wir hätten dich dann, wenn die Schulden abbezahlt wären, auch nach Crancis geholt…dort würdest du dann deine Highschool beenden und danach vielleicht dort studieren. Das klingt doch toll oder?“ Blitzartig erschien vor Aris geistigem Auge Laneys Gesicht. Der Gedanke in naher Zukunft ihre liebste und treuste Freundin einfach zu verlieren, bereitete ihr üble Bauchschmerzen. „Und was, wenn ich gar nicht nach Crancis City will? Seit wann trefft ihr einfach so riesige Entscheidungen, ohne mich nach meiner Meinung zu fragen? Ich gehe nicht nach Crancis! Diese Stadt ist laut, stinkt und die Menschen dort sind noch hohler als hier! Ohne mich!“ Sauer und laut meckernd stampfte Ari die Treppen zu ihrem Zimmer empor und knallte die Tür mit voller Wucht zu. „Na….wenigstens weiß sie es jetzt…“, flüsterte Curtis leise seiner Frau zu, die sich verkrampft an den Küchentisch klammerte. Zusammen gekauert saß Ari auf ihrem Bett. Je länger sie über Crancis City nachdachte, desto weniger verstand sie, warum sie sich so darüber aufregte. Sie war doch sowieso der Meinung, dass sie nicht nach Cjus oder Armadon gehört. Andererseits war sie sich sicher, dass Crancis dann erst recht nicht zu ihr passte. Verwirrt legte sich hin und versuchte nicht mehr daran zu denken. Es würde schon alles so kommen wie es sollte. Am Morgen erwarteten Curtis und Leander gemeinsam ihre Tochter zum Frühstück. „Dad? Du bist noch da? Wie kommt’s?“ „Ja, wir öffnen den Laden heute später.“ Curtis gähnte, streckte sich und goss sich Kaffee in eine Tasse. „Wir wollten noch mal mit dir reden.“ Leander kam auf ihre Tochter zu und sah ihr wehleidig in die Augen. „Hast du dich denn beruhigt? Wir wollten dich gestern abend nicht mehr stören…“ Ari sah verschämt zu ihren Eltern. „Weißt du, Schatz. Wir wissen, dass es dir nicht leicht fällt, dich mit der Idee anzufreunden, aber dein Vater und ich, wir wollen einfach den Laden nicht verlieren. Und solange wir es in der Hand haben, wollen wir alles dafür tun, unsere Existenz zu sichern.“ Ari versuchte, so verständnisvoll wie möglich zu wirken. Es fiel es ihr schwer, die eigenen Ängste und Gedanken hinten anzustellen. Natürlich konnte sie nachfühlen, was ihre Eltern durchmachten, aber sie wollte auch nicht akzeptieren, dass sie nichts gegen die Entscheidung tun konnte. „Macht euch keine Gedanken. Ich werd drüber hinweg kommen. Aber das mit der Highschool in Crancis….ich…..da muss ich noch ein wenig drüber nachdenken.“ Aris Eltern lächelten herzlich und gaben ihrer Tochter mit einem zuversichtlichen Nick zu verstehen, dass sie ihr die Zeit geben wollten. Eine ganze Weile standen die drei wie angewurzelt in der Küche und sahen sich an. Ein unwohles Gefühl kam in Ari auf. Warteten ihre Eltern auf etwas? Wie sie sie ansahen….so aufgeregt….erwartungsvoll. „Ich…ich muss dann jetzt auch los. Macht’s gut.“ Eilig entriss sich Ari den deutungslosen Blicken ihrer Eltern. Sie zog sich die Schuhe im Flur an und hörte aus der Küche, wie sich ihre Eltern über den Ladenumzug unterhielten. Unglücklich atmete sie tief ein und verließ das Haus, ohne ihre Schuhe richtig zuzubinden. Die Sonne schien unwahrscheinlich doll. Fast wäre Ari die paar Stufen zur Straße hinunter gestolpert. Als sie sich wieder vom Beinahe-Sturz erholte und sich die noch offenen Schnürsenkel zuband, sah sie einen Schatten knapp 3 Meter von ihr entfernt. Da die Sonne so stark blendete, konnte sie nur Umrisse erkennen. Sie stellte sich wieder hin und versuchte die Gestalt zu erfassen. In dem Moment schob sich eine kleine Wolke vor die Sonne. Ihre Augen wurden größer. Da stand doch tatsächlich wieder Noah und wartete. Wieder starrte er sie an. Dieses Mal wollte Ari nicht einfach gehen. Sie ging einen Schritt auf ihn zu und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Doch als sie gerade anfangen wollte mit Reden, tauchte hinter Noah auch noch Vincent auf. Sie standen beide vor ihrer Tür. Erschrocken blieb Ari stehen und drehte sich wieder um. „Gott, war das peinlich…“, dachte sie bei sich und wurde in ihrem Gang immer schneller. „Hey! Du!“, rief einer der beiden ihr plötzlich hinterher. Wie verstarrt blieb Ari stehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie sie meinten, traute sich auch nicht, sich umzudrehen. Stattdessen wartete sie, ob noch irgendetwas komme. „Komm mal her!“ Wieder riefen sie nach ihr…und dieses Mal sollte sie sogar zu ihnen kommen. Ari drehte sich nervös um. „M….m…meint ihr mich…?“, rief sie zu den beiden Jungs hinüber. Schemenhaft konnte sie erkennen, wie die beiden ihr zunickten. Langsam ging sie auf Noah und Vincent zu. „Was gibt’s denn?“, fragte sie zögernd und hielt sich die Hand vor die Augen, um die beiden besser zu sehen. Sie ging an die Stelle, wo die zwei bis vorhin standen. Doch auf einmal waren sie nicht mehr da. Weder Vince, noch Noah. „Hallo…? Hallo? Vincent? Noah? Hallo?“ Fassungslos erforschte Ari die Stelle, an der ihrer beiden Schwärme eben noch standen. Ein paar Mal sah sich noch um. Sie waren wie von Erdboden verschwunden. Insgeheim hatte Ari die Vermutung, dass die zwei sich einen Scherz aus ihr machten und sie nun heimlich von irgendwo her beobachteten. Verunsichert machte sie sich auf den Weg zur Schule. Und wieder sah sie, als sie mit Laney auf dem Schulhof stand, wie Noah aus einer ganz anderen Richtung zur Schule lief. Langsam fing sie an, an ihrem Verstand zu zweifeln. Die beiden standen doch ganz sicher und eindeutig in Cjus vor ihrem Haus. Nie im Leben war das nur eine Einbildung. Sie hatten sie ja auch gerufen. Kurz, nachdem Noah in das Schulgebäude ging, kam auch Vincent aus einer Seitengasse eingebogen und lief in Richtung Marian High. Wie kann das sein? Verwirrt sah Ari den beiden Jungs hinterher. Kapitel 2: Märchen ------------------ „Alles in Ordnung? Hast du ein Gespenst gesehen?“ Laney beugte sich vor Aris Sichtfeld und grinste frech. „Nein nein. Es ist nichts…gar nichts.“ „Dann lass uns rein gehen. Mir ist kalt.“ „Dann zieh dich nicht immer so freizügig an.“ Die beiden Freundinnen lächelten sich zu und gingen zusammen in das Schulgebäude. In ihrem Raum wartete schon Mister Dewey auf seine Klasse. Er sortierte gerade sein Federmäppchen. „Dewey sieht schon wieder total fertig aus, findest du nicht?“, fragte Laney eines der Mädchen, die vor ihr saßen. Ari war ebenfalls aufgefallen, dass ihr Lehrer etwas unruhig auf seinem Stuhl saß. Kurz vor dem Schulbeginnklingeln betraten auch Vincent und Noah das Zimmer. Zusammen. „Also haben die beiden doch etwas miteinander zu tun…“, flüsterte Ari leise und sah Vincent dabei zu, wie er seine Sachen auspackte. „So, Ruhe bitte!“, rief Dewey durch den Raum. Er tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Also…das wird euch jetzt sicher etwas verwirren….natürlich wird es das…mich verwirrt es ja auch…“ Zitternd lief er vor der Tafel auf und ab. „Also. Ihr bekommt heute einen weiteren neuen Schüler.“ Ari wurde hellhörig und auch der Rest der Klasse konnte nicht glauben, was Dewey sagte. „Noch einer? Das sind drei Neue in drei Tagen, Mister Dewey. Geht das überhaupt?“, fragte eine der Schülerinnen ungläubig. „Ähm, ja…wieso sollte es nicht gehen. Auf jeden Fall kommt heute ein Neuer hinzu. Er war ebenfalls erst für September angemeldet, aber na ja.“ Ari spürte den langsamen und ruhigen Atem Noahs in ihrem Nacken. Auch Vincent saß kerzengerade auf seinem Platz und zog eine ernste Miene. Während alle um sie herum redeten, spekulierten und lachten, waren die zwei Jungs absolut unbeeindruckt. Fasziniert beobachtete das gleichgültige Verhalten von Vince. Plötzlich kam ein junger Mann ins Zimmer. Er trug einen Smoking, eine grüne Krawatte und einen kleinen Aktenkoffer in der rechten Hand. „Psssssst, Leute!“, mahnte Dewey seine Klasse, „Hier, euer neuer Klassenkamerad, John Samuel Hauff!“ Jeff packte sich mit der Hand an den Kopf. „Ey sorry…aber…hey, das ist doch nicht euer Ernst. Hauff? Der Märchenschreiber? Ich bin zwar dumm, aber soviel weiß ich noch.“ Auch Laney meldete sich empört zu Wort: „In drei Tagen, drei neue Typen….mit den Namen Grimm, Andersen und Hauff. Okay, Leute, war ganz witzig, ihr könnt jetzt die Spielchen lassen und mit der versteckten Kamera rauskommen!“ Ari wünschte sich von Herzen, dass das Ganze keine Verarsche der Schule war. Sie hatte Vince, Noah und auch den gut aussehenden John schon so interessant gefunden. „Das ist kein Witz, meine Gutsten.“, sagte Dewey, während er John ein paar Unterlagen übergab, „Es ist zwar sehr ulkig, aber wahr. Wir haben nun die drei bekanntesten Märchenschreibernamen in unserer Klasse vertreten. Seid stolz! Vielleicht ist ja einer ein naher Verwandter.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)