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Die Zehnte Plage

von

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One-Shot

Fingerübung für zwischendurch.
 

===
 

Sein Bruder war immer besser gewesen als er.
 

Schon seit er sich zurückerinnern konnte – und das war immerhin eine ganze Menge Zeit.

Besser, stärker, klüger... er hielt länger durch, er lernte leichter, er rannte schneller, er war nicht schüchtern.
 

Hatte nie vor etwas Angst.

Stellte immer die richtigen Fragen.
 

Er schwamm weiter, er tauchte tiefer. Er lenkte den Streitwagen beinahe so geschickt wie ihr Lehrer, obwohl er erst vierzehn war.

Ihm sahen die Mädchen hinterher, wenn sie, von Fächerträgern begleitet, durch die Straßen gingen. Auf ihn hörten die Dienstboten und keine Kinderfrau wagte es mehr, ihm etwas vorzuschreiben.
 

Sogar Mutter betrachtete ihn respektvoll und den vor Stolz förmlich glühenden Blick, den Vater ihm jedes Mal schenkte, wenn er ihn ansah... es war nicht auszuhalten.
 

Wenn sein Bruder wenigstens gemein gewesen wäre, ungeduldig oder unausstehlich, zumindest hin und wieder, dann wenn Re seinen brennenden Zorn über dem Land ausschüttete und alle Menschen, denen es aus irgendeinem Grund nicht gestattet war, sich im Schatten aufzuhalten, unweigerlich verdrießliche Gesichter zogen, aber nein.
 

Selbst dann noch war sein Bruder höflich, zuvorkommend, freundlich. Verbrachte sogar Zeit mit ihm, obwohl er immer noch seine Jugendlocke trug, nahm ihn mit, zeigte ihm Neues, erklärte ihm alles.

Lachte nicht über ihn und verlor auch nie die Geduld, wie ihr Vater es getan hätte.
 

Und trotzdem... etwas war da, tief und nagend in ihm.

Versteckt und schlafend im gleißenden Licht des Tages, wo man es hätte entdecken können, wo man es hätte finden und fangen und töten können. Es kam in der Nacht, in den dunklen, leeren Stunden, in denen er so einsam dalag wie niemand sonst auf der Welt, trotz der leisen Atemzüge des Dieners, der am anderen Ende des Zimmers auf seiner Matte schlief.
 

Es wachte auf, räkelte sich genüsslich und begann, in seinem Inneren nach oben zu kriechen. Fraß Löcher in sein Herz, lachte über seinen Stolz und zersetzte seine Seele.
 

Besser. Immer und ewig.

Für alle Zeit, solange sie beide lebten. Es gab kein Entkommen.
 

Der Schatten seines Bruders war lang und weit und erstreckte sich nach allen Seiten. Er mochte laufen, so weit er konnte, er mochte wachsen so viel er wollte – er wusste, es würde ihm niemals vergönnt sein, daraus hervorzutreten.
 

Und es war zu mächtig, zu viel, schlicht und einfach zu groß.

Er war zu jung für eine Gewissheit, die ein ganzes Menschenleben dauerte. Seine Schultern waren nicht breit genug, sein Gewissen nicht stark genug. Die Last war zu schwer.

Er konnte sie nicht tragen und er wusste es.
 

Er konnte nicht in diesem übermächtigen Schatten aufwachsen und gleichzeitig seinen Bruder weiterlieben, weiterhin anbeten wie bisher.
 

Es ging nicht. Die Entscheidung musste getroffen werden – wem gehörte seine Loyalität, ihm oder sich selbst?

Seine Wahl war egoistisch und geschah dennoch in keiner bösen Absicht. Er entschied sich aus purem, kindlichem Instinkt heraus und wählte das eigene Überleben.

Aus abgöttischer Liebe wurde dumpfe Eifersucht und aus Eifersucht wurde tief verwurzelter, pechschwarzer Hass.
 

Er begann, seinen Bruder zu meiden.
 

Die Tage zogen ins Land, das Jahr verging und mit einem Mal geschahen seltsame Dinge. Das Wasser färbte sich blutrot und war nicht mehr trinkbar, dann kam das Ungeziefer, Heuschrecken und Frösche.
 

Das Vieh verendete, die Menschen wurden krank.

Man munkelte und flüsterte, tuschelte erst hinter vorgehaltener Hand, schließlich in aller Öffentlichkeit. Die Sklaven, hieß es, seien dabei, aufmüpfig zu werden, aber Pharao beeindrucke das alles nicht.

Er hörte zu, lauschte gespannt und mit glänzenden Augen. Er war alt genug, um die Sache spannend zu finden, aber immer noch zu jung, um die die Ereignisse in ihrer vollen Tragweite zu begreifen.
 

Seinen Bruder mied er immer noch, sprach nur mit ihm, wenn es sich nicht vermeiden ließ – höflich zwar, aber distanziert.

Der unglückliche Gesichtsausdruck, der als Reaktion auf seine kurzen, knappen Antworten hin immer noch auftauchte, entging ihm nicht, aber es bekümmerte ihn nicht, ganz im Gegenteil.

Der ständig wachsende Abstand machte ihn stolz, schließlich hatte er die Brücken eigenhändig eingerissen.
 

Dann kam die Dunkelheit.
 

Aus dem Nichts sank sie herab und legte sich wie ein dicker, schwerer Schleier über die Stadt, über das ganze Land.

Kerzen flackerten und erloschen, Geräusche klangen mit einem Mal dumpf und wurden dann ganz verschluckt. Man sah die Hand vor Augen nicht, man sah nicht, wohin man seine Füße setzte.

Man verlief sich in Gassen, in denen man sein ganzes Leben lang entlang gegangen war.
 

Er zitterte tapfer vor sich hin. Dunkelheit hatte er nie gemocht.

Am liebsten wäre er in die Gemächer seines Bruders geflüchtet, um sich trösten zu lassen, doch er blieb standhaft.

Die Brücken waren fort, jetzt gab es nichts mehr außer reißendem Wasser.

Er konnte nicht hinüber.
 

Es wurde wieder hell und das Treiben in den Sklavenvierteln immer geschäftiger.
 

Und dann kam der Morgen, in dem sich in ganz Ägypten ein Klagegeschrei erhob, wie es unter Atons Sonnenscheibe noch keines gegeben hatte.
 

Er stand im Türrahmen, klein und blass und vergessen und sah die wehklagende Gestalt seiner Mutter, sah das fassungslose, schmerzverzerrte Gesicht seines Vaters.
 

Tot.

Erstgeboren. Besser.

Tot. Für immer und ewig.
 

Tot.
 

Er war sich sicher, nicht um ihn weinen zu können, selbst dann noch, als ihm vor Tränen längst die Sicht verschwamm und ihm wurde klar, dass all die Distanz und all die zerstörten Brücken nichts genützt hatten, weil es trotzdem wehtat, als wäre ihm gewaltsam etwas entrissen worden, das von jeher zu ihm gehört hatte.
 

Das war es doch, was er gewollt hatte, nicht wahr?

Aus dem mächtigen, überlebensgroßen Schatten herauszutreten, dessen Besitzer jetzt dort drüben auf dem Bett lag, grau und bewegungslos wie ein Bündel Lumpen.
 

Er hatte es geschafft. Die Arbeit war ihm abgenommen, seine Entscheidung war gebilligt worden. Sein Wunsch war erfüllt worden, erfüllt von jener höheren Macht, die von den Sklaven Jahwe genannt wurde und die Pharao in die Knie gezwungen hatte.

Der Schatten seines Bruders, in dem er Zeit seines Lebens gestanden hatte, war weg.
 

Weg.
 

Und er stand da, ohne Schatten, ohne Schutz, in der hellen, gnadenlosen Sonne der Realität und heulte wie ein kleines Mädchen.
 

End.
 

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Damit ich vor lauter Fanfics nicht das Wesentliche aus den Augen verliere. Obwohl... eigentlich ist das hier ja auch 'ne Fanfiction. Irgendwie. Ach, ihr wisst, was ich meine. =D



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von: Futuhiro
2017-07-10T18:11:36+00:00 10.07.2017 20:11
Wuh, die Story ist wirklich gut. Ein verdientes Yual. ^^
Ich hätte mir an irgendeiner Stelle mal gewünscht, genauer zu erfahren, wer ER nun ist. Oder wer sein Bruder ist. Wenigstens einen Namen. Die Tatsache, daß da von Dienern die Rede ist, ist der einzige Anhaltspunkt, daß es sich um Söhne von Höhergestellten handeln wird. ... Aber vielleicht macht gerade das die Story ja so reizvoll, daß man nicht zuviel erfährt. ^^
Von:  Kerstin-san
2017-07-03T16:26:30+00:00 03.07.2017 18:26
Hallo,
 
ich fand den One-Shot echt gut beschrieben, weil man von Anfang an ahnt, dass die brüderliche Rivalität in etwas dunkleres umschlagen wird. Den Übergang fand ich ganz stark dargestellt. Beginnend mit kindlicher Frustration hin zur Eifersucht, dann die gegenseitige Ingonranz (die trotzdem nur von der Seite des Pharaos ausgeht) bis hin zum Hass. Und das alles, nur um am Ende festzustellen, dass er seinen Bruder immer noch liebt und das sein Tod das schlimmste ist, was hätte passieren können.
 
Den einzigen Kritikpunkt, den ich habe, ist, dass ich von Anfang an den Pharao für den älteren Bruder gehalten habe, der von seinem jüngeren überflügelt wird. Das hätte für mich nämlich erklärt, warum er schon immer das Gefühl hatte in dessen Schatten zu stehen. Mag vielleicht ein bisschen spitzfindig sein, aber ich dachte auch, dass der Erstgeborene Sohn automatisch der Pharao wird und nicht der Zweitgeborene? Wenn der ältere Sohn ja eh so viel "besser" war als sein jüngerer Bruder macht es ja eigentlich noch weniger Sinn, dass nicht er der Pharao geworden ist (oder hab ich es genau falsch herum verstanden und der ältere Sohn ist der Pharao?).
 
Ansonsten hat mir die Geschichte aber sehr gut gefallen, besonders toll fand ich die Eindrücke aus der der Jugend der beiden und wie der Pharao versucht etwas schlechtes in seinem Bruder zu sehen, damit er einen Grund für seine Abneigung haben kann und er aber nur ein lieber und höflicher Junge ohne jeden Fehler zu sein scheint.  Vermutlich ist diese scheinabre Perfektion das schlimmste und noch ein Grund mehr, warum der Pharao sich ihm gegenüber so klein und fehlerbehaftet fühlt.
 
Liebe Grüße
Kerstin
Von: abgemeldet
2009-07-04T12:37:32+00:00 04.07.2009 14:37
Uii. Du schreibst ja wirklich wunderbar. Interessante Thematik und grandiose Umsetzung. Ich bin wirklich begeistert!


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