Vorteil von Staubsauger (...oder Nachteil?) ================================================================================ Kapitel 1: Vorteil oder Nachteil? --------------------------------- Ich hörte das gleichmäßige Ticken der Uhr, die auf dem Nachttisch neben meinem Bett stand. Ich wusste nicht wie spät es war, wie lange ich schon einfach nur so da lag. Ich hatte die Augen geschlossen. Das einzige, was ich - außer dem Geräusch der Uhr – hörte, war mein eigener Atem. Einatmen. Ausatmen. Es schien so einfach und so natürlich, als bräuchte man gar nicht darüber nachzudenken, was man tut oder was man tun musste, damit das Atmen funktionierte. Und damit man am Leben blieb. Es war sozusagen ein angeborener Reflex, den man nicht einfach ausstellen konnte. Vorteil oder Nachteil? Ich wohnte in Gütersloh. In Gütersloh bin ich aufgewachsen. Für meinen Geschmack war Gütersloh eine kleine Stadt, ich verglich sie gerne mit anderen Städten wie Berlin oder Hamburg, und im Gegensatz zu diesen Städten konnte Gütersloh keine erhebliche Größe aufweisen. Ich war der Sohn reicher Eltern, worum mich viele meiner Freunde beneideten, was ich aber im Allgemeinen eher als Nachteil ansah; meine Eltern waren beide stets schwer beschäftigt. Als ich jünger war hat die meiste Zeit mit mir unser Kindermädchen verbracht. Ich bin nie in eine Spielgruppe oder gar in einen Kindergarten gegangen, hatte keine Gelegenheit, Freundschaft mit anderen Kindern meines Alters zu knüpfen. Zu meiner Einschulung war lediglich meine Tante gekommen; meine Mom und mein Dad waren damals zu beschäftigt gewesen. Ich war nicht sonderlich traurig über diesen Umstand, denn ich kannte es ja nicht anders. Meine Eltern haben mich auch nie zur Schule gebracht oder haben mich abgeholt. Ich wurde jeden Tag von unserem Kindermädchen in den großen, schwarzen, Aufsehen erregenden Wagen vor unserer Tür gesetzt und der Chauffeur brachte mich dann zur Schule. Im Nachhinein glaube ich, wäre es meinen eigenen Eltern kaum aufgefallen, wäre ich nicht zum Unterricht gegangen. Vorteil oder Nachteil? Ich atmete wieder ein. Ein Windhauch wehte durch das Fenster, das ich offen gelassen hatte. Die kühle Luft wehte über meine nackte Haut, die winzigen Härchen stellten sich auf und die Gänsepelle floss kurzzeitig über meinen Körper hinweg. Es war nur ein kurzer Moment, dann schien die Kälte verschwunden. Ich strich mit meinen Fingern über den Bettbezug. Sie glitten leicht über ihn hinüber, fast zu leicht. Seide. Mein ganzes Zimmer war voll gestopft mit diesem teuren, überflüssigen Zeug, was sowieso keiner brauchte. Nachteil? Meine Eltern dachten immer, sie könnten ihre Abwesenheit und das Fehlen als Erziehungsberechtigter durch teure Geschenke wieder gut machen. Wenn ich als kleines Kind etwas haben wollte, habe ich es auch bekommen. Ich musste nicht lange quengeln oder sonst irgendwie betteln, ich bekam es einfach ohne große Umschweife. Dadurch wurden Festtage wie Weihnachten auch zu nichts Besonderem mehr. Es war halt da, man bekam Geschenke wie an anderen Tagen im Jahr auch und meine Eltern feierten Weihnachten nicht gerne zu Hause. Lieber in Australien, Neuseeland, Hawaii oder in der Karibik. Ich war dabei natürlich nur lästig. Ich wäre zu klein, sagten sie immer. Also blieb ich zu Hause. Mit dem Hausmädchen. Und dem Kindermädchen. Und dem Chauffeur. Und dem Koch. Ich schien also gar nicht so alleine zu sein. Ich hatte ja Menschen, die sich um mich kümmerten. Trotzdem fühlte ich mich schon damals einsam. Nachteil. Ich frage mich, wieso sich meine Eltern überhaupt zu dem Gedanken durchgerungen haben, sich ein Kind anzuschaffen, wenn sie doch sowieso nie Zeit für mich hatten. Ich war ihnen immer nur ein Klotz am Bein gewesen; ich hatte ihr Geld verschwendet. Ich war ihr Vorzeigepüppchen, von dem Kindermädchen gut erzogen, und konnte bei wichtigen Anlässen immer gut mitgeführt werden, damit meine Eltern die ‚Heile Familie’ vorspielen konnten. Nachteil. Im Gegenzug, zu den vielen Sachen, die ich bekam, wurden mir aber auch sehr viele Sachen verboten; ich durfte nicht Fußball spielen, mich nicht im Dreck schmutzig machen, nicht auf Bäume klettern, nicht in Pfützen spielen. Später dann durfte ich keine schlechten Noten kriegen, durfte keinen Alkohol trinken, durfte nicht auf Partys gehen und nicht die falschen Freunde haben. Mein Leben war also eingegrenzt, die Freiheit, die ein Außenstehender in meinem Leben sah, war nur ein Trugbild. Nachteil. Ich öffnete die Augen. Mein Blick fiel an die Decke. Ich atmete aus. Zwischen den Ein- und Ausatmen entstanden nun längere Pausen. Es fiel mir nicht auf. Ich drehte meinen Kopf zur Seite und sah das Glas, das neben der Uhr auf meinem Nachttisch stand. Ich hatte es mit Wasser gefüllt gehabt, doch nun war es halb leer. Daneben lag ein kleines Schächtelchen. Der Inhalt war auf dem Nachttisch entleert worden. Die Plastikkapseln, in denen sich normalerweise die Tabletten befanden, waren alle leer. Vorteil?! In der Grundschule schon war ich von den anderen Kindern als Streber bezeichnet worden. Meine Eltern wollten einen Musterschüler als Sohn haben; einen, der in die perfekte Familie passte. Also haben sie schon in der Grundschule Privatlehrer nach Hause beordert, die mir außerhalb des Unterrichts noch etwas beibringen sollten und die dafür sorgten, dass meine Noten nie schlechter als eins minus wurden. Zwei plus galt schon als Ausrutscher. Ich hatte es nie so leicht, wie die anderen von mir glaubten. Sie wollten auch nie wirklich mit mir befreundet sein, wollten nur ihren Vorteil haben. Ich war naiv, wollte nicht länger alleine sein und gab ihnen, was sie wollten. So konnte man schon während der Grundschulzeit sagen, dass ich nur ausgenutzt wurde. Nachteil. Ich wusste es. Vorteil? Als ich auf das Gymnasium wechselte, wollte ich alles ändern. Ich wollte einen Neuanfang machen, versuchen, mich selbst zu finden. Mich selbst, und nicht den Sohn eines reichen Mannes. Ich suchte meinen eigenen Stil, fand meinen persönlichen Geschmack an Klamotten und ließ mir die Haare ins Gesicht wachsen. Als Mom das eines Tages sah (sie war tatsächlich einmal zu Hause anzutreffen), schlug sie entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Doch ich blieb standhaft. Langsam fühlte ich mich stark, fühlte mich treu, mir selbst gegenüber. Ich glaubte, mich gefunden zu haben. Ich sah nicht mehr aus, wie der verwöhnte Sohn aus reichem Hause. Ich machte mir nichts mehr aus dem Geld meiner Eltern. Ich dachte, ich hätte die Kurve nach meinen anfänglichen Startproblemen bekommen und könnte mein Leben so leben, wie ich wollte. Vorteil? Mittlerweile hatte ich auch Freunde gefunden. Es waren nicht viele Freunde. Und wahrscheinlich war da auch nicht so etwas, was andere als Freundschaft bezeichnet hätten. Aber zwischen mir und meinen Freunden gab es eine gewisse Verbindung. Wir hatten über viele Dinge dieselbe Meinung und verstanden uns, auch ohne groß zu reden. Vorteil. Irgendwann kam dann einer mit dem Stoff. Ich wusste nicht, wo er es her hatte. Aber schon nach kurzer Zeit war ich gebunden. Ich brauchte den Stoff, konnte nicht mehr ohne ihn. Wenn ich zu wenig hatte, hatte ich das Gefühl, dass die Welt über mir zusammenbricht. Mir schien, dass ich ohne den Stoff nicht mehr leben könnte, dass es ohne ihn keinen Sinn mehr im Leben gab. Und mit ihm war das Leben ein einziger schöner Traum, in dem man tun und lassen konnte, was man wollte. Nachteil? Ich wäre wohl an den Drogen verendet, hätte ich nicht ihn getroffen. Vorteil. Er war anders, als meine anderen Freunde. Er war anders, als die Menschen, die ich bisher kennen gelernt habe. Er schien sich ernsthaft Sorgen um mich zu machen. Sagte, die Drogen seien nicht gut für mich und dass es ein böses Ende für mich haben könnte, wenn ich jetzt nicht von ihnen loskomme. Ich habe ihn nicht verstanden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das ‚Glück’ in meinem Leben mich krank machen sollte. Aber er ließ nicht locker. Die darauf folgende Zeit war lang und qualvoll, doch er stand mir bei. Um seinetwillen wollte ich es schaffen, denn er gab mir einen Grund, an den Sinn des Lebens zu glauben. Vorteil? Es schien, als würde alles besser werden. Er meinte, es sei die falsche Umgebung, in der ich mich aufhielt, die falschen Freunde. Sie wären kein guter Umgang für mich. Er sagte die gleichen Worte wie damals seine Eltern. Doch aus seinem Mund hatten sie eine andere Wirkung. Ich hinterfragte sie nicht, sondern glaubte sie ihm. Er war der erste und einzige Mensch, dem ich je in meinem Leben vertraut habe. Nachteil. Ich drehte meinen Kopf langsam wieder gerade, sah wieder zur Decke. Meine Eltern waren nicht zu Hause, ich hatte die Tür verschlossen. Wann würde ihnen auffallen, dass ich nicht mehr nur für sie da wäre, wenn sie denn mal antanzten. Würde man es überhaupt bemerken? Vorteil? Mein einziger Freund. Ich verlor ihn. Irgendwann erkannte ich, dass ich nicht zufrieden mit dem war, was ich hatte. Es war mir nicht genug. Ich war zwar sein Freund und konnte ihm vertrauen, doch langsam aber sicher wurde er mir der liebste Mensch auf Erden. Ich wollte nicht bloß ein Freund sein, einer, mit dem man Spaß hat, mit dem man etwas trinken geht oder mit dem man Mädchen aufreißt. Ich wollte mehr; ich wollte ihn. Wollte seine Nähe spüren, seine Zuneigung, nicht nur geistig sondern auch körperlich. Ich wollte, dass er mir gehört und dass er sich genauso nach mir verzehrte wie ich mich nach ihm verzehrte. Die Zeit ohne ihn war einsam und von Sehnsucht erfüllt. Ich wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Gefühle, die ich noch nie vorher empfunden hatte. Gefühle, über die ich mit keinem Menschen reden konnte, weil der einzige Mensch, dem ich etwas dergleichen anvertrauen konnte, der Mittelpunkt dieser Gefühle war. Ich wusste nicht weiter und fraß meine Sorgen immer weiter in mich hinein, so wie zu der Zeit, wo es ihn noch nicht gab. Ich hatte Angst davor, mit ihm über meine Gefühle zu reden. Angst, dass er mich nicht verstehen oder mich gar zurückweisen könnte. Vorteil. Irgendwann konnte ich nicht mehr. Ich brach psychisch zusammen. Es ging einfach nicht mehr. Ich wusste nicht, was ich tun sollte und bin schließlich doch zu ihm gegangen. Am Anfang haben wir schweigend nebeneinander gesessen. Doch Irgendwann kam es aus mir herausgesprudelt. Ich erzählte ihm von meinem Leben, das mir sinnlos vorgekommen war, bis er auftauchte, beichtete ihm alles und gestand ihm schließlich meine Gefühle. Nachteil. Er schwieg die ganze Zeit, hörte mir aufmerksam zu. Doch er sagte kein einziges Wort. Auch als ich geendet hatte, sagte er nichts. Das versetzte mir einen Stich ins Herz. Hätte er genauso empfunden, wie ich, wäre ich der glücklichste Junge auf Erden gewesen. Hätte er nicht so empfunden, wäre über mir die Welt zusammengebrochen. Doch er sagte nicht, gar nichts. Und ich blieb weiter unwissend. Ich hätte genauso gut alles für mich behalten können. Im Endeffekt machte es keinen Unterschied. Glaubte ich. Wir schwiegen uns weiter an. Dann ging ich. Nachteil. Das war das letzte Mal, an dem ich ihn gesehen habe. Von diesem Tag an ließ er sich nicht mehr blicken. Er war einfach nicht aufzufinden. Nicht auf der Skatebahn, nicht in der Stadt, nicht im Park. Selbst seine Wohnung fand ich verlassen vor, als ich noch einmal zu ihm wollte. Es schien, als hätte er nie existiert. Das tat weh. Als hätte ich mir all meine Gefühle selbst nur vorgespielt. Da, wo ich vorher mein Herz vermutet hatte, schien einfach nichts. Ein Loch. Als hätte man es mir entrissen. Ich war alleine auf der Welt. Ich hatte keine Freunde. Da war niemand, der sich um mich kümmerte, niemand, der mich mochte, niemand, der mich liebte und auch niemand, der mich vermissen würde. Kein Mensch, nicht mal meine Eltern. Das Leben hatte keinen Sinn mehr. Der einzige Halt in meinem Leben war verschwunden, hatte sich in Luft aufgelöst. Und nun schien ich in eine bodenlose Tiefe zu stürzen. Ich hatte Angst vor dem Aufprall, doch als dieser erfolgte, war ich schon betäubt vom Schmerz. Nachteil? Ich hatte nicht lange überlegt, doch mein Entschluss stand fest. So, wie die Situation jetzt war, konnte ich nicht mehr weiterleben. Wozu sollte man leben wollen, wenn man sowieso nur hintergangen, verletzt und enttäuscht wurde. Wenn Menschen, von denen du dachtest, sie seien deine Freunde, plötzlich nichts als Phantome waren. Sie schienen da zu sein, doch sie waren ungreifbar. Es gab so viele Wege es zu beenden, doch ich wollte nicht noch mehr Schmerz erleiden. Ich ging zur Apotheke. An die Schlaftabletten kam ich ohne Probleme heran. Die Apothekerin warnte mich noch, dass ich höchstens eine Tablette pro Nacht nehmen dürfte, alles andere wäre gefährlich. Wie viele Tabletten waren in der Packung? Ich schaute nach. Zwanzig. Das müsste reichen. Damit würde ich es schaffen. Nachteil? Es fiel mir schwer, meine Augen noch auf zu halten. Mein Atem ging langsam. Mit den Fingern strich ich ein letztes Mal über den Seidebezug. Welche Schlüsse würden sie ziehen? Würden sie sich selbst die Schuld geben? Würden sie ein schlechtes Gewissen bekommen, ihren Sohn allein gelassen zu haben, jetzt, wo alles sowieso zu spät ist? Sie konnten nichts mehr ändern. Ich hatte meinen Entschluss gefasst. Auch, wenn ich mich jetzt noch um entschieden hätte, wäre es zu spät gewesen. Ich hatte gehandelt. Ob ich Angst hatte vor dem Tod? Nein. Ich empfang ihn beinahe mit geöffneten Armen. Meine Augen fielen nun endgültig zu. Ich hatte keine Kraft mehr und viel in einen tiefen Schlaf. Einen Schlaf, aus dem ich nie wieder erwachen würde. Vorteil. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)