Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Kapitel 16: 17 -------------- Bereits ihre Ankunft auf der Insel war besonders gewesen. Der Helikopter der Charlotte und die anderen ihres kleinen Teams auf die Insel gebracht hatte, war – sobald er eine Art unsichtbarer Grenze überquert hatte – von einem spontanem Unwetter erfasst worden. Daniel hielt es für eine Anomalie der Insel selbst, eine Art Schutzfunktion. Allerdings hielt er es auch für äußerst bedeutungsvoll, dass sie überlebt hatten. Er meinte, hätte die Insel sie wirklich umbringen wollen, hätte sie das mit dem Blitzeinschlag leicht schaffen können. Die enorme Spannung hatte die Rotorblätter des Helis sofort lahm gelegt, die gesamte Mechanik überladen und quasi zerfetzt. Während Frank, den sie seit dem Absturz nicht mehr gesehen hatten, die Maschine unter Aufwendung seiner wirklich außergewöhnlichen Fähigkeiten als Pilot zurück Richtung Boden steuerte, waren sie mitten im Unwetter mit ihren Fallschirmen abgesprungen. Der Wind hatte an ihnen gezerrt wie an gewichtslosen Stoffpuppen und hatte sie durch eine Wand aus Regen hinunter in das Dunkel des Waldes geschleudert. Jeder von ihnen hätte sich leicht das Genick oder sämtliche andere Knochen brechen können, aber das war nicht passiert. Die Schrammen und Blessuren, die sie davon getragen hatten, waren kaum einer Erwähnung wert. Es war nahezu unheimlich. Miles zumindest war es unheimlich und das, obwohl der Asiat eigentlich ein recht großer Anhänger des Unheimlichen sein sollte. Daniel schien weitaus weniger überrascht. Er hatte stets seine Theorien und darauf angesprochen, meinte er lediglich: „Entweder gibt es die Möglichkeit sein Schicksal auf der Insel selbst zu verändern, z.B. durch Eigeninitiative und Zusammenwirken von mehreren abhängigen Variablen oder wir sind doch wichtiger als ich dachte. Ich muss unbedingt Messungen durchführen!“ Charlotte hingegen hatte sofort gespürt, dass es eine Bestimmung gab, die sie alle am Leben gehalten hatte. Sie wusste nicht, genau welche das war, aber sie war seit ihrer Kindheit, seit sie ungefähr 10 war, dieser einen Bestimmung gefolgt. Jeder Schritt, jede Entscheidung war darauf gegründet gewesen. Sie hatte viel leisten müssen und noch viel mehr aufgeben müssen. Freundschaften, Liebe, die Beziehung zu ihrer eigenen Mutter und zu ihren beiden jüngeren Schwestern. In ihr hatte nichts weiter existiert neben diesem einen Wunsch: Diese Insel zu finden, endlich sich selbst und allen Anderen zu beweisen, dass sie nicht verrückt war, dass sie sich das nicht alles eingebildet hatte. Der frühe Auszug von zuhause, das Studium an der University of Kent, der Doktorgrad in Oxford, ihre jahrelange Arbeit als Kulturanthropologin, das ständige Ringen um Fördergelder, die ständigen Rückschläge, die zunehmende Vereinsamung. Jetzt bemerkte sie, dass es das alles wert gewesen war. Kein Zweifel. Das alles war verkraftbar gewesen, nahezu leicht, gegenüber dem Ziel, endlich wieder zuhause zu sein. Am Ort ihrer Geburt. Charlotte Lewis atmete die feuchte Luft ein, als würde sie all die Jahre, die sie an anderen Orten dieser Welt mit Atmen verschwendet hatte, wieder aufholen wollen. Sie roch das ferne Salz des Meeres, wie es zwischen den Felsen und Algenteppichen hindurch rollte und mit den Wellen auf den Strand lief. Sie roch den silbernen Tau, der sich in den Kelchen der exotischen Baumpflanzen gesammelt hatte und sie nahm die süßlichen Noten der Nektar tragenden Blüten war, die hoch über ihren Köpfen, auf dem bemoosten Ästen der Urwaldriesen wuchsen, als wären sie deren natürlicher Schmuck. Über ihnen flog ein Schwarm grüner Sittiche aufgeschreckt in den Himmel empor und kleine Laubblätter regneten zu ihnen herab. Es war, als würde sie in einem Märchen wandeln, das sie seit ihrer Kindheit begleitete. Allein deswegen befiel sie keine größere Sorge, als Daniel ihr versicherte, es würde Alles gut werden. Sie glaubte ihm. Sie war hier. Es war bereits alles gut geworden in ihrem Leben. Der Tross bewegte sich recht langsam durch den Urwald, was zum größten Teil nur an ihnen lag. Ihre neuen Freunde schienen keinerlei Schwierigkeiten mit dem unebenen Untergrund und den undurchsichtigen Dickicht zu haben. Sie bewegten sich durch das grüne Wirrwarr wie durch einen Perlenvorhang, die Bögen immer im Anschlag und die Augen immer abwechselnd auf die Umgebung und auf ihre Gefangenen gerichtet. Die junge Rothaarige – oder besser gesagt Brünette, Charlotte konnte ohne Weiteres erkennen, dass das Haar gefärbt war, im Gegensatz zu ihrem eigenen roten Haar – hatte einen Ausdruck in ihrem Gesicht, der weder Angst, noch Aufmerksamkeit in irgendeiner Form darstellte. Viel eher sah sie danach aus, als würde sie zu einer Hinrichtung schreiten, kraftlos und zu müde, um überhaupt noch etwas zu fühlen. Gut möglich, dass ihr auch die Hitze zu schaffen machte. Sie trug ihren fast bis zur Unkenntlichkeit beschmutzten NASA-Overall nur leicht geöffnet. Darunter lag, wie eine zweite Haut, schwarze Funktionskleidung. Charlotte tat es beinahe leid, sie vorhin so angefahren zu haben, aber gefährliche Situationen ließen einen ziemlich rüde und misstrauisch werden. Daniel, der neben ihr lief, war mit seinen Gedanken wieder ganz woanders. Seine Stirn war kraus gezogen und sein Mund nur noch ein schmaler Strich im Gestrüpp seines Bartes. Tief in seinen Gedanken verloren, fiel es ihm schwer auf seinen Untergrund zu achten und er stolperte sich seinen Weg voran, was ihrer blonden, mies gelaunten Oberaufseherin sehr zu missfallen schien. Unter mehrmaligen scharfen Bemerkungen packte sie ihn am Arm und zerrte ihn aus Hecken heraus oder beförderte ihn über am Boden liegende Baumstämme. Dabei sah sie aus, als hätte sie ihm lieber eine Kugel aus ihrer Schrotflinte in die dürre Brust gejagt, als ihre Kraft darauf zu verschwenden, ihn auf der Spur zu halten. Miles wirkte dagegen noch viel nervöser als sonst. Blass und deutlich verunsichert lief er zwischen zwei Bogenschützen, die gut zwei Köpfe größer waren als er. Der Schweiß, der ihm auf die Stirn getreten war, ran in kleinen Sturzbächen seinen Nasenrücken entlang und tropfte ihm vom Kinn. Sein Atem ging schnell, beinahe so, als ob er nur einen Schritt von einem hysterischen Anfall entfernt war. Charlotte versuchte gerade mit ihm Blickkontakt aufzunehmen, als sich die fremde Mitgefangene in ihr Blickfeld schob und Miles vorsichtig ansprach. „Ist alles okay? Du siehst aus, als würdest du jeden Moment umkippen.“ Miles antwortete nicht gleich, stattdessen schwammen seine Augen einen Moment lang unruhig umher, blinzelten und fixierten sich nur widerstrebend auf die, die ihn gerade angesprochen hatte. „Alles in Ordnung.“, murmelte er mit beinahe geschlossenen Mund, „Ich werde nur nicht sehr oft beinahe von Minen zerrissen und von Waldmenschen entführt.“ Die Fremde sah ihn an. Sie wirkte vor den Kopf gestoßen, erwiderte aber nichts und fiel schnell wieder zurück in ihre Anteilnahmslosigkeit. Miles wie er schon immer gewesen war. Ein kaltes, unhöffliches und sehr sarkastisches Arschgesicht mit einem Hang zu endgültigen Formulierungen. Charlotte fand, dass er das besondere Talent, was er besaß, gar nicht verdiente. Würde sie können, was er konnte, hätte sie damit Gutes getan, aber er hatte es anfänglich nur zu seinem eigenen Wohl und für seine eigene Habgier eingesetzt und hatte damit mehr Leuten geschadet, als er in seinem Leben getroffen hatte. Insgeheim vermutete sie, dass diese Gabe, die er besaß, als Einziges zwischen ihm und dem sicheren Tod auf dieser Insel stand. Der feste Druck einer männlichen Hand gegen ihre Schulter, sagte ihr, dass die Wanderschaft zum Stehen gekommen war. Ein paar Meter vor ihnen hatte sich ihre Anführerin ihnen zugewandt, das Gewehr jetzt nicht mehr im Anschlag, sondern wie beiläufig zu Boden gerichtet. Die freie Hand hatte sie in ihre Hüfte gestemmt und lies einen eisigen Blick über die versammelte Gesellschaft schweifen. „Wir sind da! Ich denke ihr wisst, was das heißt.“ Charlotte wusste rein gar nichts. Seitdem die Sache mit den Zeitsprüngen ihren Anfang genommen hatte, war auf keine Vorrecherche über die Insel mehr Verlass gewesen. Sie wussten weder wann, noch genau wo sie auf der Insel waren. Daniel jedoch schien immer eine gewisse Vorstellung davon zu haben, sobald sie an etwas Bestimmten vorbei kamen, das ihnen einen Hinweis auf die Zeit geben konnte. Nur leider war er in letzter Zeit wenig mitteilsam geworden und lies sie über seine Berechnungen und Thesen im Dunkeln. „Im Lager wird man entscheiden, was mit euch geschieht. Solltet ihr trotz allem noch Unfug machen, wird euch diese Entscheidung abgenommen und ihr werdet ohne Vorwarnung erschossen!“ Sie hob zur Veranschaulichung ihr Gewehr. Dann drehte sie sich um und ging weiter in den unverändert dichten Wald hinein. Falls hier ein Lager sein soll, dachte Charlotte, dann ist es wirklich unglaublich gut versteckt. Die allgegenwärtig laute Dschungelkulisse war auch hier unverändert. Auch wenn sie es wirklich versuchte, sie konnte keinerlei ungewöhnlicher, von Menschen verursachter Geräusche in dem Durcheinander von Insektenzirpen, Vogelrufen und dem Balzgesängen ihr unbekannter Kreaturen ausfindig machen, bis auf ihre eigenen raschelnden Schritte in der Bodenvegetation. Ihr Blick blieb angestrengt auf der kleinen Gestalt der Frau mit dem Gewehr hängen, bis diese einfach verschwand, als wäre sie hinter ein Hindernis getreten und stehen geblieben. Doch ein paar Schritte weiter, konnte Charlotte sie wieder sehen, weiter unten. Und plötzlich bemerkte sie wie der Untergrund schnell immer abschüssiger wurde, bis sie sich nach hinten Fallen lassen musste, um langsam wie an einer Leiter nach unten zu kriechen. Sie befanden sich nun am Rande eines Talkessels, mitten im Wald. Die Mulde war groß und völlig baumlos. Dennoch fiel nicht viel mehr Sonnenlicht auf den Waldboden als anderswo um sie herum. Die umstehenden Baumriesen hatten die Lücke genutzt und ihre Kronen immer weiter über den Kessel wachsen lassen, bis sie sich wieder gegenseitig berührten. So wurde keine Sonnenenergie verschenkt. Der Boden der Einbuchtung war bedeckt mit einer dicken Schicht abgestorbenen Laubes. Die kreuz und quer gebauten Hütten und Zelte waren deswegen erst auf den zweiten Blick zu erkennen. Die Hütte bestanden fast ausschließlich nur aus natürlichen Materialien. Dicke Äste und breite Rindenstücke, die man von Stämmen gebrochen hatte, dienten als Wände, zusammengehalten von dicken Seilen aus Pflanzenfaser und getrocknetem Lehm. Auch die Dächer waren allem Anschein nach Konstruktionen aus Stockgeflechten und dazwischen gewobenen gewachsten Blättern. Darüber hatte man eine Schicht Laub gestreut, damit das verräterische Grün nicht hervor stach. Zwischen den Hütten standen zwei Zelte, mit einer ähnlichen Tarnung. Sie schienen allerdings aus schweren Leinen zu bestehen, welches gegen das Wetter mit einer besonderen Art von Öl imprägniert wurden war. Das gesamte Lager bestand aus acht solcher zusammen gezimmerter Behausungen. In der Mitte, wo man eine Art öffentlichen Platz frei gelassen hatte, brannte ein winziges Feuer, auf dem eine kleine Kupferkanne hin und her schwang. Auf den ersten Blick konnte Charlotte ungefähr zwanzig Leute sehen, die zwischen den Hütten und um das kleine Feuer herum standen. Niemand schien mit etwas beschäftigt zu sein, keiner hielt etwas anderes in der Hand außer einer Art von Bewaffnung. Ihre Blicke waren zu ihnen hinauf gerichtet und ihre Gesichter zeigten keinerlei Emotion, nur die abgehärmte Härte und den Schmutz ihres einfachen Lebens. Sie waren beinahe so dreckig, dass Charlotte annehmen musste, dass auch das zu ihrer Tarnung gehörte. Zwischen den Eingangsflügeln eines Zeltes meinte sie plötzlich ein Paar neugieriger Kinderaugen zu sehen, aber dann war der Moment vorbei und die schweren Tücher des Zeltes schwangen wieder vollends zu. Charlottes Beobachtungen waren noch nicht sehr tiefgehend, aber dennoch war sie sich jetzt sicher, dass sie die Ureinwohner gefunden hatten, vor denen man sie ebenso gewarnt hatte, wie vor allem anderen Leben auf der Insel. Egal wann sie jetzt waren, diese Leute hatte es schon ewig gegeben. Sie waren weit länger dort gewesen, als die spätere Dharma Initiative und ihr Auftraggeber hatte unmissverständlich angedeutet, dass sie immer noch existierten. Allerdings hatte da noch niemand gewusst, dass sie mitten in einer Zeitanomalie landen würden und alle Informationen – da sie sich nur auf die Gegenwart bezogen – völlig nutzlos waren. Sie versammelten sich in der Mitte des Platzes, rund um das Feuer. Sofort hatte man sie umringt und lies sie nicht mehr aus den Augen. Ihre Anführerin war anscheinend zufrieden gestellt mit der Sicherung ihrer Gefangenen und verlies den Kreis, um in einem der Zelte zu verschwinden. „Was machen wir jetzt?“ Miles duckte sich hinter Daniel hervor und warf einen drängenden Blick in die Runde. Charlotte sah wie Daniel Faraday den Kopf schüttelte. „Ich weiß es noch nicht. Das hier ist eine äußerst interessante Entwicklung. Wirklich äußerst interessant…“ Seine Stimme wurde zu diesem unverständlichen Brabbeln, mit dem er immer zu sich selbst sprach. Doch Miles war durch diese Aussage nicht zufrieden gestellt. Gerade als er zu einer erneuten Frage ansetzen wollte, wurde der Verschlag des Zelteingangs zur Seite geworfen und die kleine blonde Frau trat in Begleitung eines wesentlich größeren Mannes heraus. Er trug abgetragene, schlichte Kleidung in Braun- und Beigetönen, seine Füße waren nackt und verursachten kaum ein Geräusch auf dem unruhigen Waldboden. Er schien nicht bewaffnet. Diese Tatsache und die bestimmte Art wie er sich auf sie zu bewegte, lies keinen Zweifel daran, dass er hier eine Art Sonderposition genoss. Er schien sogar im Rang über der Frau neben ihm zu stehen, auch wenn sie sich Mühe gab, ihre niedere Stellung nicht zu zeigen. Sie wirkte sogar ein wenig säuerlich. Gut möglich, dass sie gerade ein eher unangenehmes Gespräch gehabt hatte. Auf der Stirn des Mannes wurden tiefe Falten und einige dicke Adern sichtbar, als er zu ihnen in den Kreis trat, dabei war er vielleicht Ende 30. „Ich bin Charles Widmore“, begann er ohne Umschweife, „Warum habt ihr die Waffenruhe gebrochen? Ihr habt die Grenzen überquert und seid in unser Gebiet eingedrungen. Ist euch die Strafe dafür bekannt?“ Charlotte hielt den Atem an. Niemals! Das kann nicht sein! Wenn das wahr ist, dann hatten sie ab jetzt wirklich Probleme. All die Informationen, die sie bekommen hatten, von oberster Stelle, waren die überhaupt vertrauenswert? Das änderte einfach alles. Auch Miles schien in eine Art Hypnose gefallen zu sein. Nur Dan richtete sich vollends auf. „Mein Name ist Daniel Faraday. Wir wollten keinen Vertrag verletzen. Wir besitzen nicht einmal die Kenntnis eines solchen. Die Leute, für die Sie uns anscheinend halten, sind ganz Andere.“ Er sprach schnell und in kurzen Sätzen, wahrscheinlich weil ihm die Zeit davon lief, sich zu erklären. „Wie meinst du das, die Leute für die ich euch anscheinend halte? Machst du dir einen Spaß mit mir?“ Widmore tat einen weiteren Schritt auf sie zu. „Die Initiative leistet sich weitaus mehr, als ihr zusteht. Wir schließen die Verträge nicht zum Spaß! Ihr betretet unser Land, verletzt die Grenzen, die wir vor Jahren gemeinsam ausgehandelt haben und besitzt die Frechheit uns auch noch zu belügen. Glaubt nicht, das würde euch den Hals retten, jetzt da wir euch aufgegriffen haben. Wie oft in den letzten Monaten habt ihr die Grenzen noch überschritten? Was für ein Plan steckt dahinter?“ „Ich weiß nicht, wovon Sie da reden. Bitte, glauben Sie mir. Ich möchte Ihnen gern alles erklären, nur ist das nicht so leicht getan. Es ist-“, er atmete tief ein und resignierend wieder aus, „kompliziert.“ „Er will nur Zeit schinden, Charles!“, bellte die Blonde und richtete ihren Gewehrlauf auf Daniel. „ELLI!“ Beim Klang seiner widerspruchslosen Stimme zuckte sie zusammen und lies das Gewehr automatisch ein Stück sinken, bevor er es selbst mit solcher Härte nach unten drückte, dass der Lauf gegen ihr Knie schlug. „ICH rede hier. Und ICH entscheide auch, was mit Ihnen zu passieren hat. Wenn du an der Reihe bist, etwas zu sagen, dann lasse ich es dich wissen.“ Ellis Gesichtsausdruck entglitt ihrer Kontrolle. So schnell, dass es beinahe schon grotesk war. Unsagbare Wut, aber auch Enttäuschung und Angst verformten ihre Züge in etwas Bedrohliches. Dennoch biss sie sich auf die Zunge und blieb still. Charles wandte sich erst nach einigen langen Sekunden wieder der kleinen Gruppe zu. „Ihr haltet das hier vielleicht für ein Spiel. Aber Gnade habt ihr nicht zu erwarten. Übertretet die Grenze und eurer Leben gehört uns. Noch einfacher hätten wir es euch nicht machen können.“ Er griff hinter seinen Rücken und holte eine Pistole hervor, die vom Modell her aus den 50ern zu stammen schien. Doch sie glänzte neu und bedrohlich in seiner Hand. Charlotte spürte wie sie von hinten gepackt und zu Boden gedrückt wurde. In ihrem Kopf drehte sich alles, sie hatte noch nicht einmal die Konzentration zu widersprechen. Daniel, Miles und ihre fremde Mitleidende wurden ebenfalls auf ihre Knie geworfen. Daniel hob erklärend die Hände. „Bitte … bitte. Bitte, Sie machen einen Fehler. Wenn Sie uns erschießen, machen Sie einen Fehler. Vielleicht den größten überhaupt!“ Widmore schenkte dem keine Beachtung. Für ihn war das Flehen von Vertragsbrechern nur etwas, was man ignorieren musste. Er richtete die Pistole auf Daniels hohe Stirn und ging beinahe so nah heran, dass das Haar des jungen Mannes den kalten Lauf der Waffe berührte, die ihn in einigen Sekunden das Leben kosten würde, würde es ihm nicht gelingen, den Hals doch noch aus der Schlinge zu ziehen. „Bitte, Sie machen wirklich einen Fehler.“, Daniel wurde immer leiser, je näher ihm die Waffe kam. Er kniff die Augen fest zusammen und mit einem letzten beinahe geflüsterten Satz, den Charlotte nicht mehr verstehen konnte, versuchte er den Mann zu überzeugen, der ihren sicheren Tod in Händen hielt. Widmore lies die Waffe sinken und starrte Daniel von oben herab an. „Was?!“ Daniel blickte zu ihm hinauf. Die Augen immer noch zu ängstlichen Schlitzen verengt, wiederholte er die Worte etwas lauter: „Da ist eine Bombe … auf dieser Insel. Eine Wasserstoffbombe.“ „Das ist unmöglich!“, flüsterte Elli hinter ihnen ehrfürchtig. „Was sollte eine Bombe auf dieser Insel zu suchen haben? Hat die Initiative sie hergebracht?“ Daniel schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Die U.S. Army hat vor Jahrzehnten einige Tests im Pazifikraum gemacht und ein verloren gegangener Trupp wurde auf dieser Insel stationiert. Sie haben erst bemerkt, dass sie nicht auf einer normalen Insel waren, als es zu spät war. Da sie aber keine Verbindung zur Basis herstellen konnten, haben sie die Bombe nicht in die Luft gejagt. Eigentlich müsste euch der Verbleib dieser Soldaten bekannt sein. Ihr habt ihre Zelte.“ Daniel deutete auf die Stoffgebilde hinter ihnen. „Das war … vor unserer Zeit.“ Widmore atmete schwer. Seine kleinen Augen fixierten Daniel, als würde er versuchen heraus zu finden, ob man ihm gerade eine weitere Lüge auftischte oder ob der Druck gereicht hatte, um dem Mann die Wahrheit zu entlocken. Daniel wirkte immer ruhiger, je mehr er erzählte und je mehr Abstand er zwischen sich und dem sicheren Tod bringen konnte, auch wenn es nur durch Reden war. „Die Initiative hat sie noch nicht gefunden, aber wenn sie es tun“ Er atmete wieder hörbar ein. „dann werden sie sie wahrscheinlich als Druckmittel gegen euch verwenden.“ „Das ist nicht möglich! Wir haben seit Jahren einen Vertrag, der den Frieden wahren soll. Wenn sie ein Druckmittel besitzen ist der Friede nichtig. Das würde das Ende aller Abkommen bedeuten. Sie können nicht wirklich so dumm sein.“ Widmores Gesicht war fassungslos. Seine starke Position begann unter seiner wachsenden Verunsicherung zu bröckeln. „Das spielt keine Rolle.“, sagte Daniel mit einem verzogenen Lächeln, „Ich kann sie entschärfen.“ Widmore sah ihn plötzlich an, als hätte er gerade eben von sich behauptet, er sei Gott. „Ich werde sie entschärfen, aber nur, wenn ihr danach mich und meine Leute gehen lasst.“ Der Spieß hatte sich umgedreht. Charles hatte zwar eine geladene Pistole in der Hand, aber Daniel, der kleine Bursche, der vor ihm im Dreck kniete, stand ihm auf einmal mit einer scharfen Wasserbombe gegenüber, die, falls sie losgehen sollte, einen großen Teil der Insel mit sich reißen würde und sollte sie in die Hände der anscheinend verfeindeten Initiative fallen, ein noch größeres Dilemma auf lange Zeit gesehen anrichten würde. Fassungsloses Schweigen breitete sich aufgrund dieser neuen Umstände in der Versammlung aus. Dann brach eine hitzige Diskussion aus. Die Lagerbewohner wirkten zutiefst beunruhigt über die neue Entwicklung. Viele sahen einander mit Angst in den Augen an, einige machten den Eindruck, als würden sie gerne ihre Sachen packen und verschwinden. Charlotte konnte sehen, dass die Situation kurz davor war zu eskalieren. Eine scharfe Bombe auf dieser Insel. Das war etwas, womit keiner von ihnen auch nur im Entferntesten gerechnet hatte. „WAS WENN ER LÜGT?!“ Die Stimme schnitt durch das Durcheinander wie ein scharfes Schwert durch gespanntes Tuch. Elli umklammerte ihr Gewehr wie eine Stütze. Ihre Arme zitterten. „Was ist, wenn er lügt? Wenn er doch von Dharma ist und diese Geschichte nur erfindet, damit wir ihm zu einer bestimmten Stelle folgen, wo man uns eine Falle stellt? Wie wahrscheinlich ist es denn, dass eine Gruppe völlig Fremder mitten im Dschungel auftaucht und nichts über die Insel weiß. Woher sollen sie gekommen sein, wenn nicht von der Initiative?“ Sie wandte sich jetzt direkt an Charles. „Du weißt, sie haben uns schon oft betrogen. Und sie haben nie etwas daraus gelernt. Diese Menschen sind besessen davon, uns los zu werden. Sie wollen diese Insel für sich allein. Die scheren sich schon längst nicht mehr um alte Verträge! Du willst dir das Geschwätz noch länger anhören, von einer Bombe, von der U.S. Army? Charles, nur zu! Aber ich weiß, dass du nicht so naiv bist!“ „Nein, Elli…“ Widmores Gesicht hatte eine ungesunde rötliche Färbung angenommen. „Nein, bin ich nicht. Deswegen wirst du ihn begleiten. Du allein.“ „Das geht nicht, ich-“ „Ihr werdet diese Wasserstoffbombe finden, ihr werdet sie entschärfen und dann kommt ihr wieder. Seine Freunde werden hier bleiben und falls er uns hintergeht, werden sie auch nicht mehr woanders hingehen.“ Er blickte dunkel in die Runde. Elli widersprach nicht mehr, aber auf ihrem Gesicht lag ein verzweifelter Ausdruck, so als wäre etwas in ihr zerbrochen. Wie einem Reflex folgend hielt sie ihre freie Hand auf ihren Bauch gepresst. „In zwei Stunden brecht ihr auf!“ Damit war das letzte Wort gesprochen und Charles Widmore zog sich in die Abgeschiedenheit seines Zeltes zurück, wo ihn auch niemand so schnell mehr zu belästigen wagte. Die Versammlung löste sich nicht auf. Viele der Bewohner fanden sich in kleinen Gruppen zusammen und versuchten mit seichten Worten und abgeklärten Feststellungen ihre eigene Unruhe und Angst zu mindern. Sie gingen dabei so vertraut miteinander um, wie Mitglieder einer großen Familie. Einige gaben sich die Hände, umarmten sich oder drückten die Schulter eines Anderen. Alles von einem ruhigen Strom aus Worten begleitet. Diese Menschen waren keine kalten, brutalen Höhlenmenschen. Sie waren eine eingeschworene Gemeinschaft, die während ihrer Existenz neben einem gemeinsamen Feind bereits viele Rückschläge und Leiden hatte erfahren müssen. Charlotte akzeptierte nur sehr widerstrebend, dass der Grund für das Versteckspiel im Wald und für die besorgten Gesichter die Dharma-Initiative zu sein schien. Die andere Gemeinschaft auf dieser Insel, von der sie wussten. In ihrem Zeitstrang existierte sie längst nicht mehr. Doch Charlotte fragte sich das erste Mal während ihrer Mission, ob sie hier nicht einen riesigen Fehler machten. Es schien alles viel mehr miteinander verstrickt zu sein, als sie vermutet hatten und außerdem konnten sie sich anscheinend kaum noch auf die Informationen verlassen, die man ihnen gegeben hatte. Langsam wurde ihnen allen klar, dass man ihnen nur das gesagt hatte, was für ihr eigentliches Primärziel wichtig gewesen war. Es war nie gedacht gewesen, dass sie weiteres Hintergrundwissen benötigen würden. Hin und wieder zurück. Und als weiteren Anreiz hatte man ihnen gestattet, Messungen und Tests auf der Insel durch zu führen, solange sie einen bestimmten Zeitplan nicht überschritten. Doch von ihrem Zeitplan und ihrem eigentlichen Ziel waren sie jetzt dank der Anomalie sprichwörtlich Welten entfernt. Und das schien nur das kleinste aller Probleme zu sein, die sich in den letzten zwanzig Minuten ergeben hatten. Charlotte sah zu Daniel hinüber, den man gerade vom Boden aufhalf und bemerkte wie ihm eine tonnenschwere Last abfiel, als er realisierte, dass er noch am Leben war. Dann sah er zu ihr herüber. Er sah sie eine kleine Ewigkeit unverwandt an, bis sie ihn ganz vorsichtig – fast so, als würde sie sich jeden Moment umentschließen wollen, diese Frage zu stellen – fragte: „Ist das wirklich wahr?“ „Ich schätze, du meinst nicht die Sache mit der Bombe.“ Er verzog die Mundwinkel zu einem ironischen Lächeln und sie schüttelte mit offenem Mund den Kopf. „Nun ja, wenn du die Tatsache meinst, dass wir gerade Charles Widmore, unseren Auftraggeber und Chef von Widmore Industries, in seiner wesentlich jüngeren Ausgabe auf einer Insel getroffen haben, die er angeblich nie betreten hat, dann bin ich genauso überrascht wie du.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)