Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Kapitel 15: 16 -------------- „Herzlichen Glückwunsch zu deinem 16.Geburtstag Suzanna!“ Caroline Steathham kam lächelnd aus der Küche geeilt und umarmte ihre verdatterte Adoptivtochter so fest, dass diese nach Luft schnappte. „Ist schon gut Mom. Danke!“ Suzanna kämpfte sich noch ein wenig benommen los. Sie war gerade erst vor zehn Minuten aufgestanden und im Pyjama die Treppe hinunter gekommen, um zu frühstücken, bevor sie sich langsam fertig machen würde. Dass heute der 14.Juli und damit ihr Geburtstag war, hatte sie dabei völlig vergessen. „Ohje, du siehst ja noch völlig müde aus! Heute ist doch Samstag, du hättest ausschlafen können, mein Kind.“ Caroline tätschelte ihr spielerisch die Wange. Suzanna lies es in ihrem morgendlichen Tran über sich ergehen. Normalerweise hätte sie wieder eine sinnlose Diskussion begonnen, die insofern sinnlos war, weil ihre Ziehmutter einfach nicht verstand, dass man einen Jugendlichen nicht u jeden Preis wieder in die Rolle des Kleinkindes zurückdrängen sollte, weil dies zu starken Schäden in der weiteren menschlichen Entw— Suzanna gab sich in Gedanken eine Ohrfeige. Sie hatte in ihrem Leben soviel Zeit mit Jerry verbracht, dass sie selbst schon so analytisch dachte wie er. Jerry war ihr Psychologe, ihr Therapeut. Sie hatte ihn dass erste Mal besucht, als man sie nach dem Tod ihrer Mutter aus dem Krankenhaus entlassen hatte. Er war in ihren Augen von Anfang an, ein sehr aufgeschlossener und vertrauenswürdiger Mensch gewesen. Entgegen seinen Bedenken, es würde ein großes Hindernis bedeuten, wenn sie von einem Mann behandelt werden würde, stellte sich schnell heraus, dass er mit seiner lockeren und teilweise kindlichen Art leicht Zugang zu Suzannas angeknackster Psyche fand. Das Mädchen öffnete sich schnell seinen Methoden, redete sich die Seele rein und verarbeitete mit seiner Hilfe Stück für Stück, was es früher oder später gesellschaftsunfähig gemacht hätte, hätte sie die Last noch weiter allein tragen müssen. Am Anfang sahen sie sich beinahe täglich zur Behandlung. Bald wurde aus der reinen Prozedur ein freundschaftliches Verhältnis. Die Sympathie Jerrys für seine kleine Patientin führte sogar soweit, dass er es in Erwägung zog, sich ihrer vollständig anzunehmen und sie zu adoptieren. Da er aber als Mittdreißiger verheiratet war und selbst schon zwei Töchter hatte, scheiterten seine spontanen Pläne am Gespräch mit seiner Frau. Suzanna war über alle Maßen enttäuscht und traurig gewesen. Mit aller Kraft, die ein bockiges Kind aufbringen konnte, hatte sie ihn ignoriert und ihn seinen Fehler spüren lassen. Aber sie blieb immer noch seine Patientin und seine kleinste Freundin. Selbst jetzt, Jahre nachdem sie endlich adoptiert worden war und nachdem jede weitere Sitzung unnötig geworden war, trafen sie sich einmal im Monat zu einer Tasse Tee oder Kakao in seiner Praxis und sprachen über Dinge, die sie bewegten, über Probleme die sie beschäftigten. Suzanna konnte mit ihm leichter darüber reden, als mit ihrer Adoptivmutter. Was ihr von Zeit zu Zeit einen Stich versetzte, war dass Caroline sehr darunter litt, dass ihre Tochter nicht bei ihr nach Hilfe suchte. Suzanna hatte sich schon oft vorgenommen das zu ändern, aber immer wieder hatten sie ihr jugendlicher Wunsch nach Selbstbestimmung und die Macht der Gewohnheit daran gehindert, das offensichtlich Richtige zu tun. Einer der Gründe, warum sie sich selbst hasste. „So, jetzt setz dich erstmal!“ Caroline schwirrte um sie herum, wie eine Wespe um ein Stück Obstkuchen. „Ich will doch wissen, wie dir dein Geschenk gefällt.“ Suzanna setzte sich an den runden Esstisch. Sie konnte die Ringe unter ihren Augen deutlich spüren, als sie gähnte und sich die glatten dunkelbraunen Haare hinters Ohr strich. Auf der Tischplatte stand ein ziemlich großer Pappkarton. Kein Geschenkpapier, nur eine immense, giftgrüne Seidenschleife. „Ähm, kann ich es nachher auspacken? Ich würde lieber erstmal etwas essen.“ „Nein, Schatz, dieses Packet solltest du lieber gleich öffnen.“ Caroline zwinkerte übertrieben und streichelte Suzanna mit fester Hand über die Schulter und den Nacken. „Aber! Uh …“ Suzanna stöhnte resignierend und zog den Karton zu sich heran. Er war schwerer, als sie erwartet hatte und irgendetwas rollte darin lose herum. Es rollte immer noch, als das Geschenk ruhig vor ihr stand. Suzannas Neugier war geweckt. Caroline, die dies bemerkt hatte, setzte sich mit einer Tasse Kaffee seitlich an den Tisch und lächelte, wie es nur eine Mutter kann, die sich ihrer Sache absolut sicher war. Suzanna löste währenddessen etwas hastiger, als ihr jugendlicher Stolz es ihr empfahl, die Schleife und zog den giftgrünen Knoten auseinander. Mit vor freudiger Erregung zitternden Fingern klappte sie die Kartonflügel auseinander und griff nach kurzem Hinsehen hinein. Sie konnte sich ein beglücktes Quieken nicht verkneifen und dass ihre Augen funkelten wie zwei lupenrein geschliffene Saphire, konnte sie ebenfalls nicht verhindern. Ihre Hand berührte weiches, weißes Fell. Noch weicher als Hunde- oder Katzenfell. Wie ungepresste, feine Watte. So leicht und seidig, dass sie es an manchen Stellen nicht mehr unter ihren Fingerspitzen spüren konnte. Durch ihre Berührung lief ein kurzes Zucken unter dem Pelz entlang. Eine Reaktion aus Anspannung und Angst. Doch nach weiteren Strichen über die feinen Härchen entspannten sich die Muskeln und nahmen die liebevolle Geste der Zuneigung an. Ein kleiner Kopf mit roten Knopfaugen ruckte zu ihr nach oben. Die pelzige Haut über dem kleinen Näschen bewegte sich unablässig vor und zurück und versuchte den neuen fremden Geruch der Umgebung schnellstmöglich in sich aufzusaugen. Die langen Ohren lagen flach an den Nacken gepresst und wurden von Suzannas warmer Hand gestreichelt. „Ein Kaninchen! Wow, danke Mom!“ Suzanna bekam große Augen, als sie das verunsicherte Tier aus seiner dunklen Schachtel hob und an ihre Brust drückte. „Es ist so niedlich! Und sein Fell ist so weich! Und es ist ein Albino!“ Suzanna hatte Mühe alle guten Eigenschaften, die das Tier besaß, aufzuzählen. Caroline erwiderte das Strahlen ihrer Tochter mit einem gütigen Lächeln. „Ich habe schon beim Kauf gewusst, dass er dir gefallen wird. Ich dachte, vielleicht brauchst du ein wenig Gesellschaft über die Sommerferien, wenn deine Freunde im Urlaub sind. Und natürlich brauchst du auch im Winter jemanden, der dich warm hält, ich meine, wenn ich nicht da bin, um das selbst zu tun.“ „Ach Mom …“, äußerte sich Suzanna peinlich berührt. Die Emotionalität ihrer Ziehmutter war ihr manchmal sehr unangenehm, aber heute schaffte sie es darüber zu lächeln. Caroline hatte ihr gerade mit dem Kaninchen eine sehr große Freude gemacht. Die Dankbarkeit dafür hätte sie noch nicht einmal verstecken können, wenn sie es gewollt hätte. Vorsichtig setzte Suzanna den weißen Widder auf die Tischplatte und beobachtete wie er seinen Kopf unsicher hob, die Ohren aufstellte und in alle Richtungen wandte. Sein Näschen zuckte weiterhin vor und zurück, als Suzanna ihm ihre offene Handfläche zum Beschnuppern hinhielt. „Ich weiß schon wie ich ihn nennen werde. Ein weißes Kaninchen muss einfach so heißen.“ Caroline wärmte sich ihre alten Hände an ihrem Kaffeebecher und besah sich ihren neuen Mitbewohner aufmerksam. „Er heißt Tic-Toc.“, beschloss Suzanna. Caroline machte ein leises glucksendes Geräusch. „Du benennst dein Kaninchen nach dem Geräusch einer tickenden Uhr? Ein Glück machen sich Tiere nicht viel aus ihrem Namen.“ Suzanna sah ein wenig verletzt aus. Sie hielt „Tic-Toc“ für eine geniale Idee. „Ich finde ihn gut.“, sagte sie trotzig. Die Kritik hatte sie unsicher über ihre Entscheidung werden lassen und sie versuchte sie zu erklären. Wohl eher sich selbst, als ihrer Ziehmutter: „Jedes Mal, wenn ich ein komplett weißes Kaninchen sehe, muss ich an „Alice im Wunderland“ denken, an das mit der Weste und der Taschenuhr, das ständig Angst hat, zu spät zu kommen. Das Kaninchen hat leider keinen Namen. Deshalb dachte ich, ich nehme das Geräusch der Uhr. Irgendwie charakteristisch, oder?“ Die Art wie Caroline ihre Stirn und ihre Mundwinkel in Falten legte, lies keinen Zweifel darüber aufkommen, dass die Erklärung nicht den Namen rechtfertigte. „Na, immerhin hast du ihm nicht einen uneinfallsreichen menschlichen Namen gegeben. Ich hätte ihn gleich wieder zurück gebracht, wenn du ihn William, Jack oder John genannt hättest, meine Liebe“, sagte sie scherzhaft und glitt mit wehendem Strickmantel in die Küche. „Was hast du an deinem Geburtstag denn noch alles vor?“, fragte sie, während sie Wasser in die Spüle laufen lies. Suzanna legte ihr Kinn auf die Tischkante sodass sie mit ihrem neuen pelzigen Freund auf einer Augenhöhe war. Vor zwei Jahren hatte sie sich schon gegen Geburtstagsfeiern entschieden. Viel zu nervenaufreibend für sie und vor allem für ihre Mutter. Außerdem waren ihr die Ideen ausgegangen, was man an so einem besonderen Tag alles unternehmen konnte. Sie wollte nicht Teil des Konkurrenzkampfes werden, der bereits jetzt schon zwischen den weiblichen Teenagern tobte. Wer feierte die größte und teuerste Party? Wer hatte die meisten Gäste und somit auch offiziell die meisten Freunde? Wer bekam die teuersten Geschenke? Und so weiter … Sie hatte schon genug Probleme in anderen Bereichen ihres Lebens. In der Schule war sie zwar glänzend und Klassenbeste, wenn nicht sogar Jahrgangsbeste, aber in Sachen Liebe oder zumindest Flirts, konnte sie keine Erfolge verbuchen. Sie war nicht hässlich, das wusste sie. Sie war für ein Mädchen ihres Alters normal groß, eher schlank gebaut, hatte dunkelbraunes, mittellanges Haar und tanzte mit ihrer Kleiderwahl – wenn auch nicht in der ersten – zumindest auch nicht aus der Reihe. Ihr Problem bestand nur darin, dass sie das Interesse aller Jungs im Keim erstickte. Immer wieder rechtfertigte sie sich vor ihren Freundinnen – und auch vor sich selbst - für die zahlreichen Körbe die sie verteilte: Der eine war zu jung, der andere zu dämlich. Beim nächsten störten sie seine Manieren, ein anderer war ihr zu hochnäsig, zu dick, zu dünn, zu schüchtern, zu stürmisch, zu unscheinbar, zu unreif. Die Liste lies sich noch endlos fortsetzen. Zum Glück hatte Suzanna noch nicht die tiefste Stelle des hormonellen Beckens erreicht, wie es bei ihren Freundinnen der Fall war, und konnte mit Recht behaupten, ihr sei es gleichgültig, ob sie nun mit Freund oder ohne durch Canterburys Altstadt schlenderte. Allerdings hatte Ashley, eine ihrer Freundinnen, die sie noch nicht enttäuscht hatten, eine Art heilige Mission daraus gemacht, Suzanna an den Mann zu bringen. Zum Nachteil einer beträchtlichen Zahl armer, jungenloser Mädchen keine Seltenheit in Mädchencliquen. So war Suzanna dazu gezwungen häufige und lange Pirschgänge durch die örtlichen, angesagten Clubs zu unternehmen, was immer gleich und wenig erfolgreich endete: Und zwar mit einer besoffenen besten Freundin und dem Wissen, dass es einfach keine Jungs in Canterbury gab, die auch nur versuchten, Intelligenz vorzutäuschen – was in dem Fall ein Zeichen von Intelligenz gewesen wäre. Und genau solch ein Pirschgang stand ihr heute noch bevor. Wegen ihrem Geburtstag zum Glück nicht auf eigene Kosten. „Ashley, ich und ein paar andere Mädchen aus meiner Klasse gehen heute Abend noch ein wenig in die Innenstadt. Könnte spät werden. Du weißt schon.“ Sie verzog ihre Mundwinkel zu einem wagen Gesichtsausdruck, der etwas in Richtung Bedauern ausdrücken sollte, aber eher wie Qual aussah, „Ashley halt …“ Ihre Ziehmutter kannte die quirlige Klassenkameradin gut. Ashley hatte schon mehrmals bei ihnen übernachtet und während jedem ihrer Aufenthalte irgendeinen Einrichtungsgegenstand, sei es der Glastisch in der Wohnstube – dem nun eine Ecke fehlte – oder die blau gepunktete Kakaotasse – die schon längst zwischen den Scherben Millionen anderer unglücklicher Geschirrteile mit der ganzen Sehnsucht einer Tasse darauf wartete, Teil eines neuen Ganzen zu werden – die Würde genommen. Es war seltsam, dass sie immer noch beleidigt reagieren konnte, obwohl sie und der ganze Rest der Welt doch genau wussten, dass sie Gottes ganzer Stolz war, wenn es darum ging unter seinen Kreationen die beste Grobmotorikerin auszuwählen. Egal wie umsichtig Ashley war, irgendeine unsichtbare Kraft an ihr sorgte dafür, dass jeder Haushalt, den sie betrat, danach nicht mehr vollständig war. An dem „Aha“ ihrer Ziehmutter konnte Suzanna erkennen, dass sich in ihr gerade die Bilder wieder auffrischten. Sie lachte leise auf und bis sich dann angestrengt auf die Unterlippe. Man wusste ja nie, ob man schon darüber lachen durfte. Caroline war – seitdem sie Suzanna kannte – immer ein sehr fröhlicher, ausgeglichener Mensch gewesen. Offenherzig, tolerant und beherrscht. Momente, in denen sie die Fassung verlor, waren äußerst selten gesät. Wenn Ashley wieder einmal zu Besuch war, zum Beispiel. „Stark ist, wer sich selbst nicht zum Feind hat.“ - Lautete die Weisheit, die Caroline jedem ins tiefere Gedächtnis pflanzte, den sie traf und Suzanna bereits so sehr verinnerlicht hatte, dass diese glaubte, es wäre der erste Satz gewesen, den sie nach ihrer Geburt gehört hatte. Und sie bekam ihn immer noch zu vielen Gelegenheiten zu hören: Wenn sie sich mit einer Freundin gestritten hatte, wenn sie schlechte Noten bekommen hatte, wenn sie sich zu dick fand, zu dumm oder zu unbeliebt. Wenn sich die Jungs seltsam über sie unterhielten, wenn ein Lehrer sie auf dem Gewissen hatte, wenn ihr an manchen Tagen einfach nichts gelingen wollte. Sie selbst eingeschlossen – so hatte Suzanna feststellen müssen – gab es erschreckend viele schwache Menschen. Teenager waren ausschließlich damit beschäftigt, sich selbst zu hassen und ihr eigener Feind zu sein. Es hatte in vielerlei Hinsicht etwas Beruhigendes, nicht die Einzige zu sein, die sich selbst als Nemesis ansah. So konnte man sich ohne schlechtes Gewissen weiter nicht mögen und ein Kollektiv bilden, das aus gemeinsamem Selbstzweifel einen starken Zusammenhalt bildete. Die Mädchen teilten ihre Sorgen und Depressionen, fanden Verständnis und Bestätigung und dachten nicht im Traum daran, aus ihrer dramatisiert depressiven Grundstimmung heraus zu kommen. Auf Grund all dessen wusste Caroline Steathham, dass es noch Jahre brauchen würde, bis ihre Ziehtochter die Bedeutung hinter den klugen Worten erkennen würde. Bis zum Mittagessen – es gab gebratenen Fisch mit Reis und einer wunderbaren Senfsoße – beschäftigte sich Suzanna intensiv mit Tic-Toc. Sie richtete seinen Käfig ein, den ihre Mutter ihr nach oben brachte und beobachtete, während sie im Pyjama auf dem dunkelblauen Teppichboden ihres Zimmers versuchte „Hamlet“ für die Schule zu lesen, wie das weiße Kaninchen seine neue Unterkunft erkundete. Jetzt roch es in ihrem Zimmer nach Heu und Holzspänen. Caroline hatte das Fenster sofort geöffnet, aber Suzanna hatte den Vorgang wieder rückgängig gemacht, als sie allein war. Sie wollte den neuen Duft genießen, ihn überall haben. Sie fand ihn interessant und beruhigend. Holzgeruch war ihr immer einer der liebsten natürlichen Düfte gewesen, neben dem von frisch gemähten Gras und dem unverkennbaren Odeur eines regnerischen Morgens, wenn das Wasser die Erde aufweichte und in kleinen Wasserfällen von den Dächern stürzte. Egal zu welcher Jahreszeit, in England kam und ging der Regen, als wäre er an nichts gebunden. An heißen Sommertagen lag er wie eine freundliche Verheißung, an stürmischen Herbstnachmittagen wie eine dunkle Drohung in der Luft. Auch der Duft änderte sich, unabhängig davon, ob ein leichter Schauer – fast wie ein Nebel – niederging oder es Bindfäden regnete. Suzanna glaubte, es lag an den Pflanzen, deren ganz eigene Note im frischen Ozongeruch mitschwang. Im Frühling Osterglocken, Krokusse und die ersten Kirschblüten, im Sommer Sonnenblumen, Buschwindrösschen und ganz eindeutig die Herbe der Rapsfelder. Im Herbst konnte man, wenn man sich konzentrierte, Äpfel herausschnuppern, im Winter wehte einem bei Regen nicht mehr um die Nase, als der feuchte Geruch von Beton und Mauerwerk. Suzanna fühlte viel über diesen ihrer Sinne. Er löste in ihr Emotionen aus, wie es meist nur schöne Musik konnte. Ihre Nase schien einen direkten Draht zu ihrer Seele zu haben. Sie konnte die Schönheit eines Geruchs überall im Körper spüren. Nur leider verloren Dinge, die man oft roch, nach und nach ihre Sinnlichkeit. Ein markanter, betörender Duft wurde – je länger er in der Nase lag – umso gewöhnlicher. Vielleicht war es eine absurde Eigenart und ein bisschen naive Kinderlogik, wegen der sich Suzanna zwang, besondere Gerüche nur eine bestimmte Zeit lang zu inhalieren und dann ihre Nase zu „neutralisieren“. Sie hatte einmal gehört, dass es so auch die Parfümdesigner machten, damit sich Einzelgerüche nicht festsetzten und die Wahrnehmung verfälschten. Als sie nach guten fünfzehn Seiten und fast drei Stunden „Hamlet“ satt hatte, öffnete sie das Fenster wieder und ging hinunter zum Mittagstisch. Der Fisch und spätestens der Reis taten ihre Wirkung und Suzanna begann nur mit bedachten, sehr langsamen Bewegungen auf ihrem Zimmer mit den Ausflugsvorbereitungen. Ihr Reich lag im zweiten Stock des Hauses, schräg gegenüber der Treppe, neben einem Bad und dem Schlafzimmer ihrer Ziehmutter. Es war 18 m² groß, hatte zwei viergeteilte Fenster an der Wand gegenüber der Tür, die zum Garten hinaus zeigten, und war Platz sparend eingerichtet. Wenn man hinein kam, befand sich gleich gegenüber unter den Fenstern das Bett, links am Kopfende ein Tischchen und an der linken Wand ein Bücherregal. Am rechten Zimmerende standen ein heller Eichen-/ Sperrholzschrank und ein Eckschreibtisch, dessen Farbe meist nicht zu erkennen war, da er mit aufgeschlagenen Büchern und Zeitschriften zugepflastert war. Jeden Tag kam eine neue Schicht hinzu und formte Suzannas Arbeitsplatz zu einem perfekten alpinischen Faltengebirge. Wenn sie die kleine Tischlampe darüber anschaltete, warfen die Gebirgsgipfel – zurzeit ein Schulbuch über Stochastik und drei Ballen zusammengeknülltes Karopapier – monumentale Schatten über bunte Büroklammerseen und Wiesen aus Radiergummiflocken. Unten auf dem Boden, gleich rechts neben der Tür, hatte nun der Kaninchenkäfig seinen Platz gefunden. Tic-Toc hatte sich nach all der Anstrengung doch entschieden seine Ohren und Augen innerhalb der kleinen Holzhütte auszuruhen, die Teil seiner neuen Behausung war. Seine Nase zuckte dennoch unablässig vor und zurück. Die Sonne fiel zu jeder Tageszeit nur als Streiflicht in das Zimmer und warf durch die Apfelbäume im Garten, Schatten von Blättern und Ästen an die moosgrünen Wände und die hellen Möbel. Selbst bei geschlossenem Fenster konnte sie das Rascheln und Rieseln, das Kratzen und Flüstern in den vollen Baumkronen hören. Sie schlief damit ein und wachte damit auf. Und wie das Ticken einer Uhr, nahm sie es nicht mehr bewusst wahr. Doch sie war sich sicher: Wenn die Bäume verschwinden würden, würde sie kein Auge mehr zutun können, so sehr hatte sie den einzigartigen Takt der Natur in sich aufgenommen. Suzanna war mit Caroline nie umgezogen und mit großer Wahrscheinlichkeit würde es auch nie dazu kommen, dass sie Canterbury gemeinsam verlassen würden. Ihre Ziehmutter war alt, fast Sechsundsechzig, und hing sehr an dem historischen Städtchen mit seiner einprägsamen Altstadt, der Kathedrale und den kleinen Gasen und Eckläden. Sie hatte den Großteil ihres Lebens hier verbracht, war reich und beliebt geworden und ebenfalls wieder arm und einsam. Alles in Carolines Leben war mit Canterbury verbunden – oder besser – mit ihrem Mann Walter, den sie hier kennen gelernt hatte. Als sie Dreiundzwanzig war – in der Zeit knapp vor dem zweiten Weltkrieg - arbeitete sie in einer kleinen Herberge in der Innenstadt. Ein weitläufiger Geheimtipp, besonders unter den einheimischen Urlaubern, die die Geschichtsstadt oft im Frühjahr oder Herbst besuchten, wo sich die Anzahl der fremdländischen Touristen noch in Grenzen hielt. Uriges Mittelalterflaire mit einem unglaublichen Gespür für die gewisse noble und royale Note, die die Engländer so schätzten. Die Unterkunft nannte sich „The Wells’ Botton“ – „Brunnengrund“ - und lag in eine Ecke gedrängt zwischen einem antiquierten Buchladen und einem Fahrradverkäufer, im Schatten einer üppigen Linde. Keines der Gästezimmer hatte einen Balkon oder mehr als zwei kleine, schüchtern eingesetzte Fenster. Keines mehr als ein Bett, einen Schrank, einen Tisch und zwei Stühle und dennoch zog es Menschen geradezu magisch an. Die eigentliche Besonderheit, die kundige Reisende aus allen Teilen des Landes dazu bewog, mindestens eine Nacht in diesem Etablissement mit seiner, mit dunklen Kirschholzbalken verzierten, weißen Fachwerkhausfassade, zu verbringen, war sein Keller. Der Raum war ein Wunder in vielerlei Hinsicht. Von - für einen Gasthauskeller - geringer Größe und spartanischer Einrichtung, verbargen sich unter seinen schiefen Holzbalken und der grauen Staubschicht, die wie ein dünnes Leichentuch über den Weinflaschen und Bierfässern lag, zwei unermessliche Schätze: Glaube und Erfüllung. So komisch das auch klang, das war es, was die meisten Leute, die dort hinab stiegen zu finden erhofften. Und sie fanden es am Grund des Brunnens, dem die Herberge ihren Namen verdankte. Unten im diesigen Ambiente des Untergeschossraumes des „Wells’ Button“, hinter einer grob gezimmerten, aber liebevoll beschrifteten und bemalten Balustrade, führte ein tiefes, schwarz-grünes Loch im Boden gut zehn Meter nach unten. Davor präsentierte sich in bronzenem Guss eine Informationstafel, deren englische Aufschrift wie folgt lautete: “What Is A Living Body Without Happy Thoughts? Worthless. What Are A Woman And A Man Without Love? Strangers. What Is A Story Without Listeners? Nothing. What Is A Wish Without Faith? A Dream. So Throw A Penny Into This Well And See Where It Gets You. And Do Not Forget: Faith Is The Key To Open All Doors, Even Those Which Are Not Found Yet.” Natürlich hatte dieser Brunnen, wie jeder andere Wunschbrunnen im schönen Großbritannien, ebenfalls eine mittelalterliche Legende, in der die Wurzeln seiner magischen Kräfte verborgen lagen. Diese stand auf einer zusätzlich angebrachten und weitaus weniger schmuckvollen Plastiktafel unter dem Guss. Die Legende handelte von einem jungen namenlosen Knappen, der einem örtlichen Ritterorden Zeit seiner Jugend treu untergeben war. Jede Aufgabe, jedes Wagnis führte er mit Bravur aus sodass ihm seine Herren, die obersten Ritter des Ordens, große Chancen zusprachen, selbst eines Tages zum Ritter geschlagen zu werden. Grundsätzlich bedurfte dies einer weit reichenden Ausbildung in den Künsten Schwertkampf, Ringen, Reiten, Bogenschießen und Etiquette, denn niemand wird Ritter ohne die Aufmerksamkeit und die gönnerhafte Hand eines Adligen mit Verbindungen zum Königshof. Der Junge war kein Taugenichts. Er lernte überaus schnell, war nie leichtsinnig und äußerst redegewandt. Seine Mentoren beobachteten nicht ohne Stolz seine Fortschritte und hielten ihre schützende Hand nur äußerst selten über sein Haupt. So wurde aus dem halben Kind, ein ganzer Mann und es kam die Zeit, dass man ihn den Grafen von Canterbury persönlich vorstellte. Ein mächtiger und weiser Mann und ein Cousin des damaligen Königs. Perfekt, um den Ordensschüler in seiner Laufbahn zu unterstützen. Natürlich lies sich dieser gescheite Mann nicht vom Erscheinen des Jünglings und seiner Redekunst allein blenden. Er wollte einen Beweis für seine Loyalität und schickte den Schüler aus, um den reichen Sohn eines anderen Grafen aus London hierher nach Canterbury zu geleiten, wo dieser dann die Tochter des Grafen zu Canterbury ehelichen sollte. Der junge Mann widmete sich dieser Aufgabe, als hätte es in seinem Leben nie etwas Wichtigeres gegeben und brachte den zukünftigen Schwiegersohn in die Stadt. Die Hochzeit sollte noch in derselben Woche stattfinden und der Knappe wurde mit der Hilfe des zufriedenen Grafen zum Ritter des Ordens ernannt. Am Tag der Hochzeit war auch er zugegen. Mit stolzer Brust wohnte er im Kreise seiner Ordensbrüder der Feier bei und – verlor sein Herz! Denn als er die Grafentochter das erste Mal sah, wie sie nun im Brautschmuck und mit zurechtgemachtem Haar zum Altar schritt, um verheiratet zu werden, so sah er einen Engel spürte, wie alles zuvor in seinem Leben verblasste, bei ihrem Anblick. Doch seine Liebe kam zu spät. Sein Blick war zu falscher Zeit auf sie gefallen und er verfluchte sich und sein Schicksal, dass er den Mann zu ihr gebracht hatte, den sie jetzt heiraten würde. Wochen brachte er damit zu, zu vergessen, was seine Augen und sein Herz gesehen hatten und scheiterte. Aus Trauer und Schmerz, wurden Verzweiflung und Hass. Er scheiterte an den einfachsten Arbeiten, an den leichtesten Aufträgen und mied bald auch die Gesellschaft seiner Mitbrüder. In seiner Einsamkeit verstärkte sich sein Wahnsinn nur und er beschloss den Gatten der Grafentochter aufzusuchen und ihn zu töten. So hoffte er, müsse sie sich, um die Ehre ihres Vaters zu wahren, einen neuen Mann erwählen und da er Ritter war, wäre auch er ein Kandidat. Ohne den geringsten Fehler und ohne ein Anzeichen von Reue erschlug er den Ehemann beim nächtlichen Spaziergang in den gräflichen Gärten und hinterließ keine Spuren. Nach der Trauerfeier drängte es den Grafen, einen neuen Mann für seine Tochter zu finden, denn er wusste, er war alt und brauchte einen männlichen Nachfolger. Hunderte von Bewerbern lies er antreten und nahm sie in Augenschein. Darunter auch der junge Ritter. Doch zu ihm sagte der alte Graf nur: „Dein Besitz ist verschwindend klein, mein Junge und die Beziehungen, die du hast, hast du nur durch mich. Ich schätze dich als guten Untertan und beispiellosen Kämpfer, aber als einen Schwiegersohn kann ich dich nicht akzeptieren.“ Die Worte trafen den Ritter wie ein scharfes Schwert und schnitten ihm durch Seele und Herz. Er wusste, solange der alte Herr noch lebte, würde nur ein wahrer Adliger seine Tochter ehelichen können. So fasste er auch den gräulichen Entschluss und mordete seinen alten Schirmherrn und Gönner mit einer giftigen Tinktur im Schlaf, noch bevor dessen Auswahl auf einen neuen Freier gefallen war. Nach der Beisetzung und den Festlichkeiten war es nun an der Tochter selbst, die als Gräfin nur im Übergang regierte, einen Gemahl zu finden. Der junge Ordensmann begann alsbald ihr den Hof zu machen, ihr Briefe und Geschenke zu senden und Liebesbekundungen vorzutragen. Doch das Schicksal wollte ihm nicht geben, nach was ihm so verlangte, denn die Gräfin antwortete nach langem Ringen nur mit einem einzigen Brief, mit einer einsamen Zeile auf feinem Papier in noch feinerer Schrift: „Ich schätze dich als Untertan und beispiellosen Kämpfer, Ritter, aber als Ehemann kann ich dich nicht lieben.“ Seine Welt ging unter, in jener Nacht, in der ihn dieser Brief erreichte. Doch nun da es eigentlich an der Zeit war, seine Untaten zu bereuen und bei Gott um Vergebung zu flehen für sein wildes Herz, fasste er einen noch schlimmeren Entschluss: Er suchte eine Hexe auf. Nicht weit von Canterbury entfernt, in den dichten Wäldern von .???, trieb ein bekanntes Teufelsweib sein Unwesen. Jeder wusste davon, doch niemand hatte den Mut gehabt, sich ihr mit Waffengewalt zu stellen. „Hexe!“, rief er und warf sich vor dem Weib in den Staub, „Ich bitte dich, benutze deine Kraft und befiel der Gräfin mich zu lieben. Ich kann nicht ohne sie!“ Die Hexe sah ihn lange an und sprach dann mit wissendem Kichern: „Nun gut, mein Ritter. Aber wenn ich dir gebe, was du begehrst, dann musst auch du mir geben, was ich begehre.“ „Alles!!!“, schrie der junge Ritter und kniete noch tiefer. Die Teufelsanbeterin beugte sich zu ihm und flüsterte: „Wenn du und dein Weib zehn Jahre lang glücklich wart, dann musst du ihr das Leben nehmen und mir ihre Seele bringen, ansonsten wirst auch du deine Seele verwirken.“ Der Ritter, überzeugt, der Hexe später durch einen Trick doch noch entrinnen zu können, willigte ein und der Zauber zeigte Wirkung. Bereits im folgenden Monat wurde er mit der Gräfin vermählt. Sie lebten glücklich und er vergaß, dass ein Zauber ihre Liebe erzwang. Sie schenkte ihm zwei Töchter und einen Sohn und war ihm immer eine gute Frau. Er war ein weiser und gerechter Graf, nun da er hatte, was er immer gewollt hatte. Sein Herz hatte Frieden und er hatte den hohen Preis vergessen, den er bald würde zahlen müssen. Nach zehn Jahren Ehe kam der Tag, an dem der ehemalige Ritter sein Versprechen der Hexe gegenüber einlösen sollte und er erdachte sich den Trick, das Leben einer anderen Frau zu nehmen, eines Dienstmädchens. Sie war der Gräfin nicht unähnlich und schien ihm gut geeignet, um das Leben seiner Frau zu schützen. Ohne weiter zu überlegen erschlug er sie und brachte ihren Leichnam zur Hexe, damit sie sich die Seele her vor holen konnte, bevor diese zum Himmel fuhr. Natürlich durchschaute die Hexe das falsche Spiel und wurde sehr zornig. Aus ihren Händen schlugen Blitze und ihre Augen glühten wie das Höllenfeuer, als sie schrie: „Ein Lügner bist du! All die vielen Menschen konntest du töten, ohne einen Stich im Herzen! Nur eine Frau, die dich nicht wirklich liebt, kannst du nicht erschlagen? Du wirst das gebrochene Versprechen büßen und dein Leben lang dafür bezahlen!“ Mit einem lauten Knall verschwand die Hexe und mit ihr auch der Zauber, den sie auf die Gräfin gelegt hatte. Als der Graf nach Hause zurück kehrte, wurde er sofort verjagt, da der Eheschwur unter Hexenzauber nicht anerkannt wurde. Es war Winter und das Wetter eisig. Frierend verbrachte er die Tage bettelnd in den engen Gassen und die Nächte unter den Brücken der Stadt. Dort suchten ihn immer wieder fürchterliche Alpträume in seinem unruhigen Schlaf heim. Die Schuldgefühle über seine Taten waren erwacht und quälten den Mörder zu jeder Tageszeit. Kein Priester wollte ihm die Tat vergeben, kein Gebet wollte ihm Linderung verschaffen. Nach einigen Wochen war aus dem Grafen ein Mensch geworden, der keine Freude mehr im Leben zu finden vermochte und der die Last der eigenen Schuld nicht mehr tragen konnte. So beschloss er zu einer kleinen Schlucht unweit der Stadt zu gehen und sich in der Quelle, die dort unten entsprang, zu ertränken. Es war eine sternenklare Nacht und das Wasser war kalt, als er sprang. Sein Körper war noch vor seinem Geist tot. Und so geschah es, dass der Graf Angst bekam. Fürchterliche Angst vor der Hölle und den Qualen, die er dort für seine Todsünden erleiden musste, und sein Geist begann sich plötzlich an das Diesseits zu klammern. An das Wasser, welches den toten Körper umgab, an die Kieselsteine, an die Quellblüten. Die Angst vor der Hölle war so groß, dass die unsterbliche Seele des Mannes in die Quelle überging und sich dort in das Gestein grub. Doch sie wusste, irgendwann würde das göttliche Gericht auch über sie richten und dann wäre die Strafe noch um Vieles größer. Da fasste das Unsterbliche einen Entschluss: Jedem Menschen, der an der Quelle einen Wunsch aussprechen würde, sollte dieser Wunsch erfüllt werden, durch den Geist des verstorbenen Grafen. Niemand sollte mehr eine solch große Sünde begehen wie der Ritter, um etwas zu bekommen, was er sich von Herzen wünschte. So tut der Ritter heute noch Buße und erfüllt am Quell die Wünsche der Menschen, in der Hoffnung auf Gottes Gnade, wenn die Zeit gekommen ist. Der Brunnen unter dem „Wells’ Button“ ist, der Überlieferung nach, der einzige oberirdische Zugang zu dieser verwunschenen Quelle. Einige Geschichten berichten ebenfalls von einem versteckten Kellerloch in den Gewölben unter der „Canterbury Cathedral“, zu dem nur die Priester und Bischöfe Zugang haben. Der allgemeine Volksmund bezweifelt aber das Interesse, das die christlichen Würdenträger an so einer heidnischen Angelegenheit hätten. „Es ist eine wahre Geschichte. Keine, die mit Gott oder Jesus zu tun hat, aber trotzdem eine wahre Geschichte.“ Suzanna erinnerte sich noch genau an den Tag, an dem ihr Caroline das erste Mal von dem Brunnen erzählte. Sie schälte gerade Kartoffeln, als sie davon sprach. Suzanna war gerade einmal elf Jahre alt und nicht geschickt genug im Umgang mit einem Messer, als dass ihre Ziehmutter ihre Hilfe abverlangt hätte. Lediglich ihre Anwesenheit und ihr offenes Ohr, um die Arbeit einfacher zu machen und genug Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen. „Ich gebe dir Brief und Siegel darauf, dass das der Grund ist, warum unter der Kathedrale kein zweiter Brunnenschacht ist.“, hatte sie gesagt und sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn gewischt. „Es gibt Dinge, die durchschaut man mit dem Glauben nicht, sondern man glaubt sie einfach. Und das ist es, was die Kirche nicht versteht. Obwohl sie sich doch selbst von dieser Art tiefsten Vertrauens nährt.“ Hätte jemand anderes außer der kleinen Suzanna, Caroline so reden gehört, wäre derjenige niemals zu überzeugen gewesen, dass sie eine fromme Katholikin war. Bis aufs Blut, bis in die Tiefen ihrer Seele stand sie loyal zu Gott und seinem Sohn, Jesus auf Erden. Seid ihrer Geburt hatte man ihr die Lehren der katholischen Kirche vorgelebt, ihr Geschichten aus der Bibel vorgelesen und sie zum Gottesdienst mitgenommen. Die kleine Caroline musste Psalme auswendig aufsagen können und jeden Abend vor einem kleinen Altar auf dem Speicher für ihre Familie und ihre Freunde beten. Dort, im Schein kleiner selbst gefertigter Wachskerzen, saß sie auch während der Nächte des zweiten Weltkrieges, die Hände stumm gefaltet, die Stirn an die hölzerne Altarplatte gepresst. Draußen war es meist still. Canterbury blieb größtenteils verschont von Fliegerangriffen. Aber die Angst, das Blatt könnte sich wenden, hing spürbar in der Luft. Carolines Vater und ihr älterer Bruder fielen im Krieg, als Mattrosen auf einem Bergungsschiff, welches bei der Suche nach alliierten Überlebenden deutscher U-Bootangriffe selbst von einem Torpedo versenkt wurde. Seitdem wohnten Caroline und ihre Mutter im alten Familienhaus. Caroline arbeitete härter als je zuvor als Kellnerin und Teilhaberin von „Wells’ Button“, bis ihre Mutter starb, danach arbeitete sie umso mehr, wurde Wirtin und Geschäftsführerin. Selbst nachdem sie in Rente gegangen war, tauchte sie ab und zu in ihrem früheren Betrieb auf, um zu sich nach Neuigkeiten zu erkundigen, mit alten Freunden zu unterhalten und den ein oder anderen Wein zu trinken. Wenn noch etwas Zeit war, ging sie immer hinunter zum Brunnenloch und starrte in die dunkle, feuchte Tiefe. Suzanna nahm sie zweimal zu ihren Besuchen mit, stellte sie dem Personal vor, kaufte ihr eine Portion Pommes mit Ketchup und zeigte ihr natürlich den Brunnen. „Der Brunnen hier ist älter als ich, älter als dieses Gebäude und älter als die Cathedrale.“, sagte sie. Die kleine Suzanna machte ein paar unsichere Schritte die steinerne Kellertreppe hinunter und lies das schwarze Loch nicht aus den Augen. Im Untergeschoss war es angenehm kühl und die Luft war nicht so stickig und voller Zigarettenqualm wie oben im Schankraum, dennoch saßen hier selbst in den Sommermonaten keine Menschen, sondern nur bauchige Weinflaschen in Holzregalen. Das Essen und Trinken war im Keller verboten wurden, weil es sich ein paar Gäste zum Spaß gemacht hatten, Essensreste und anderen Müll den Schacht hinunter zu werfen. Anstatt eines unansehnlichen Gitters auf dem Brunnen, nahm man lieber die Einschränkungen im Raum auf sich und verbannte Besucher der Gastwirtschaft ins obere Stockwerk. Das kleine Mädchen Suzanna äugte staunend über den Rand des Wunschbrunnens und versuchte weiter unten Wasser zu erkennen. Aber da war nichts, keine Spiegelung, keine flüssige Bewegung, kein wässriges Glucksen. Sie kniff angestrengt die Augen zusammen, während Caroline ihr die Geschichte auf der Tafel vorlas. „ … und deswegen kann man hoffen, dass jeder Wunsch hier in Erfüllung geht.“, endete sie, „Möchtest du dir auch etwas wünschen, Sue?“ Das Kind wirbelte herum und sprang mit aufgeregt aufeinander klatschenden Händen in die Luft. Soviel ging ihm durch den Kopf. Ein weißes Pferd, eine dieser neuen Barbiepuppen, eine bunte Perlenkette … „Aber es muss etwas ganz besonderes sein. Am besten etwas -“ Ihre Ziehmutter drückte ihr einen Penny in die kleine, vorgestreckte Hand und lächelte, „- was man nicht mit Geld kaufen kann! Und! Du darfst es nicht laut sagen!“ Suzanna zögerte, die kleine silbrige Münze in der Hand. Ihr kindlicher Verstand sagte ihr, dass alle Dinge, die sie sich gerade wünschen wollte, durchaus käuflich waren und suchte nun verzweifelt nach einem anderen Wunsch, nach einem besonderen. In ihrem kleinen, blassen Gesicht lag Verwirrung. „Keine Bange, mein Engel! Dir fällt schon was ein.“, sagte Caroline und schob sie sanft zum Schacht hin. Es war still, als das Mädchen sich mit der Brust über den Rand beugte. Die kleine Hand schwebte über den Abgrund, die Augen waren geschlossen. Sie atmete kaum, so konzentriert war sie. Ich wünsche mir … Ich wünsche, dass ich -, begann sie in Gedanken. Sie hatte Angst etwas falsch zu formulieren. Vielleicht verstand der Geist des Ritters sie dann nicht. Ich wünsche mir, dass ich meinen Bruder wieder sehe! Bitte bring mir meinen Bruder wieder! Suzanna öffnete die Faust und der Penny löste sich von ihrer Handfläche. Unsicher atmete sie aus und beugte sich noch weiter über den Rand, um dem metallenen Glitzern hinterher zu starren. Caroline hielt sie sanft an der Schulter fest. Sekunden verstrichen wie Stunden. Wie goldener Honig, geräuschlos und zart, floss die Zeit dahin. Der Staub rieselte im Schein der nostalgischen Öllampen langsam von der Decke, die Schatten der Besucher, die durch die Deckendielen fielen, flogen über den Boden und die Wände hinauf. Dieser Moment, dieser Raum hatte etwas Magisches. Caroline drückte ihre junge Ziehtochter an sich. Tief im Brunnen platschte es. Der Zauber war vorbei, der Wunsch gesprochen und gehört. An diesem Tag glaubte die kleine Suzanna jede Minute daran, ihr kleiner Bruder würde plötzlich vor ihr stehen. Caroline bemerkte die Unruhe und sagte nur, sie müsse viel mehr Geduld haben. Der Geist brauche Zeit. Manchmal dauere es nur Stunden oder Tage, manchmal Jahre. Niemand konnte das genau sagen. Unerschütterlich und fest, wie der Glaube ihrer Mutter, war auch Suzannas Glaube an die Macht dieses Ortes. Sie war ja noch ein Kind. Was blieb ihr anderes übrig, als dass sie glaubte. Doch jetzt, an ihrem 16.Geburtstag, glaubte sie schon lange nicht mehr daran. Sie hoffte darauf, aber sie wusste auch, dass es wohl später an ihr liegen würde, ihn zu finden. Wenn sie erwachsen war. Wenn Caroline sie nicht mehr aufhalten konnte. Sie riss sich vom hypnotisierenden Anblick der Apfelbäume los und öffnete ihren Kleiderschrank. Nach zehn Minuten lagen eine Jeans-Shorts, ein bunter Holzperlengürtel und ein zerschnittenes Top in Suzannas Lieblingsfarbe weinrot auf ihrem Bett. Einen Moment später gesellten sich ein dünnes Paar frischer Socken und eine silberne Halskette hinzu. Danach lief sie ins Badezimmer, duschte, zog sich um und schminkte sich. Ihr langes dunkelbraunes Haar, band sie zusammen und steckte es mit einer großen Plastikspange nach oben. Jetzt, da sie zufrieden mit ihrem Aussehen war – so zufrieden wie es ein Teenager überhaupt werden konnte – fütterte sie Tic-Toc, packte die wichtigsten Sachen für den Abend zusammen in eine Handtasche und ging nach unten, um sich von ihrer Ziehmutter zu verabschieden. Ashley und die anderen Mädchen wollten sich mit ihr um acht Uhr vor dem „Underdome“ treffen. Suzanna überquerte im Stechschritt den sich füllenden Parkplatz vor der Jugenddiskothek, die Handtasche sicher unter den Arm geklemmt. Ashley, Sarah Boyles, Jessica Oakbridge und Cindy Tyler aus der Parallelklasse warteten füßetippelnd vor dem Eingang. „Alte, wo warst du?“ Ashley schloss sie fröstelnd in die Arme. Der Sommerabend war kälter geworden, als jeder von ihnen gedacht hatte. Ashley hatte einen Faltenrock und ein bauchfreies Shirt an, Sarah zitterte in Dreiviertelhosen und Tangtop, und Cindy krallte ihre langen Fingernägel in die Pailletten ihres funkelnden Cocktailkleidchens. Nur Jessica hatte eine Röhrenjeans und eine Lederjacke an. Sie war älter als die Anderen, ironischerweise auch vernünftiger. „Können wir jetzt reingehen, Leute?“, quiekte Cindy, die sich vor Zittern zu hart auf die eigenen Zehen getreten hatte und schon ein wenig angepisst vom Abend war. Jessica ging mit einem Seufzen als Erste zum Türsteher und wurde mit einem steinernen Nicken eingelassen. Der Rest der Mädchengruppe folgte ihr. Cindy verlor einen Schuh und fluchte. Das Underdome war eine der angesagtesten Diskotheken dieses Jahr. Was vor allem daran lag, dass die Betreiber das verstaubte Altprogramm, gegen ein frisches Konzept ausgetauscht hatten. Das hieß: Themenabende, wie „Ladies Night“, „Duple Beer“, „Couple Dance“, „Techno Love“ und „Black Light Event“. Die Jugendlichen hatten Spaß daran, sich nach einmal bezahlen, besinnungslos zu trinken, sich im Schwarzlicht mit weißer Farbe anzumalen oder eine Nacht lang Independent Bands zu hören, anstatt die Charts. Heute bewegten sich die jungen Massen in der alten Industriehalle zu einer Mischung aus Industrial und Techno. Die Mädchengruppe fand sich also in einem Meer vorwiegend schwarz gekleideter Tänzer wieder, die es fertig brachten, sich selbst zu dieser Musik noch angemessen zu bewegen. Sarah lies die Schultern hängen und starrte Ashley an. „Davon hast du nichts gesagt!“, brüllte sie durch den Dunst hindurch, „Ich hätte mir etwas Anderes anziehen sollen!“ Ashley zuckte mit den Schultern. Auch Jessica sah wenig begeistert aus und verzog sich sofort stumm zur Bar, um Guinness zu bestellen. Cindy war bereits auf der Tanzfläche untergegangen und glitzerte irgendwo glücklich zwischen einer Jungsgruppe. Als dann auch noch Sarah beleidigt zur Theke abzog, standen Ashley und Suzanna alleine neben dem Halleneingang und blickten einander an, dann lachten sie. Wenn es etwas gab, was sie beide in diesem Moment genau wussten, dann war es, dass sie spätestens in einer halben Stunde wieder alle gemeinsam auf dem Parkett standen und im Kreis tanzten, während Sarah neben ihnen angetrunken auf einer Box stand und ein wildes Headbanging vollführte. Egal zu welcher Musikrichtung. Bis zu diesem historischen Moment mussten sie sich aber erst einmal alleine beschäftigen. Cindy war unwiederbringlich in der Masse verschwunden und Jessica nippte an ihrem ersten Bier. Ashley begann mit geübten, koordinierten Bewegungen. Suzanna nahm den Beat in sich auf, genoss den Bass in ihrem Bauch und schloss die Augen, während sie ihre Beine und Arme rhythmisch umherschwirren ließ. „Und, Darling? Was hat dir deine Mutter geschenkt?“ Ashley begann sie anzutanzen, um in Hörreichweite zu bleiben. „Sie hat mir einen Hasen geschenkt.“ „Einen WAS?“ „Ein Kaninchen!“ Suzanna hob beide Hände neben den Kopf und versuchte die Ohren eines Kaninchens zu imitieren, wobei sie ebenfalls die obere Zahnreihe nach vorne schob. „Echt jetzt? Cool!“, rief Ashley verdutzt, „Hätte ich nicht gedacht. Ich mein, meine Mutter … MEINE Mutter würde mir kein Tier schenken. Noch nicht mal eins, das nicht haart.“ Suzanna runzelte die Stirn. „Sie mag den Geruch nicht. Manchmal bildet sie sich sogar ein, dass sie ein Tier riecht und dann fragt sie mich jedes Mal, ob ich eins mit nach Hause gebracht habe! Ich sag dir, die ist vollkommen paranoid!“ Suzanna lachte solidarisch und bemerkte in ihrem Rücken den Ellenbogen eines anderen Tänzers. Seine Entschuldigung, wenn es denn eine gab, ging im Lärm unter. Kurze Zeit später rempelte sie jemand mit seinem Hintern an und sie fiel in Ashleys Arme. „Weißt du“, sagte sie dann, „ich geh mal was trinken. Vielleicht mein erstes offizielles Bier, oder so.“ Ashley grinste. Sie war schon immer scharf darauf gewesen, Suzanna einmal betrunken zu sehen. „Wir sehen uns später, Süße! Pass ja auf, dass Cindy genug trinkt. Eine Wiederholung vom letzten Mal wäre eine weitere wertvolle Erinnerung!“ An der Bar war es seltsam übersichtlich. Jessica saß an ihrem zweiten Guinness und von Sarah war nichts zu sehen. Suzanna nahm neben ihrer Freundin platz und bestellte doch ein Ginger Ale. „Wo ist Cindy?“, fragte sie und kühlte sich die Hände an ihrem Glas. Jessica hob nur ihre freie Hand und drehte die Handinnenfläche nach oben. Die kleinen goldenen Armreifen an ihrem Handgelenk klimperten. Jedenfalls täten sie das, wenn die Musik nicht so laut wäre. „Weiß nicht. Vielleicht nach Hause, sich umziehen.“ Das war einleuchtend. Sarah wohnte nur drei Straßen vom Underdome entfernt und es war noch nicht spät genug, um sich nicht mehr allein raus trauen zu können. Trotzdem hätte sie bescheid sagen können. Sie war wohl sehr eingeschnappt. Suzanna seufzte und schlürfte an ihrem eisigen Ale. „Ich geh mal da rüber.“, räusperte sich Jessica und deutete auf die Tür zur Damentoilette, „Passt du bitte auf meinen Drink auf, Sue?“ Suzanna nickte. Auch hier gab es natürlich männliche Besucher und perverse Barkeeper, die sich Mädchen ausguckten und ihnen K.O.-Tropfen in die Getränke schütteten. Man hatte schon von Fällen gehört, in denen direkt vor der Tür der Diskothek Vergewaltigungen stattgefunden hatten. Die Welt war so verdammt pervers … Genau in diesem Moment quatschte sie ein Typ von der Seite an. Zuerst versuchte sie die männliche Stimme zu ignorieren, die sich ihr von links näherte. Sie drehte sich sogar ein wenig weg, damit der Idiot merkte, dass sie kein Interesse hatte. Doch dann legte er auch noch seine Hand auf ihre Schulter. Nicht vorsichtig oder unsicher, sondern fest. „EY?! Siehst du nicht, dass ich nicht mit di- Oh!“ Suzanna hatte sich entschlossen umgedreht, bereit dem Kerl ins Gesicht zu fauchen und ihm die Augen auszukratzen, wenn seine Dreistigkeit danach verlangte. Der Laut des Erstaunens hing in der Luft zwischen ihrem und seinem Gesicht. Vor ihr saß ein junger Mann, Anfang Zwanzig. Er hatte schwarz glänzendes, glattes Haar. Der sorgsam sortierte Seitenscheitel bedeckte ein Auge. Das andere sah sie mit einem glänzenden Grau an. Er lächelte, dann lachte er. Auf seiner Zunge konnte sie ein silbernes Piercing sehen, einen weiteren Ring an seiner Augenbraue. Seine Kleidung war schwarz, vom Oberteil bis zu den Schnürsenkeln seiner Lederschuhe und an seinem Hals und seinen Unterarmen hingen unzählige dicke und dünne Silberketten mit Pentagrammen und umgekehrten Kreuzen. Er war wunderschön. Auf eine seltsame Art wunderschön. „Hey.“, sagte er erheitert, „Ich wusste nicht, dass ich dich so sehr nerve. Ich wollte eigentlich nur wissen, wie du heißt.“ „Ich, äh, ich“ Suzanna rang nach Worten, sie suchte nach Sätzen. „Also, ich. Entschuldige. Ich werde nicht so oft angesprochen. Das kam ein bisschen plötzlich.“ Er blinzelte freundlich und musterte sie mit aufrichtigem Interesse. „Ich denke, du wirst nur von den falschen Leuten angesprochen. Zumindest sieht man das an deiner Reaktion.“ „Jaaaaaa … Das kann sein.“, lachte sie peinlich berührt, „Nein, aber wirklich, tut mir leid. Ich heiße Suzanna.“ Sie drehte sich mit ihrem Glas direkt zu ihm und merkte, dass ihr Gesicht warm geworden war. „Wie – Wie heißt du?“ Seine Haltung war lässig, aber nicht unangenehm. Er saß ihr gegenüber, Arme und Beine in einer offenen Haltung, Gesicht gehoben, die Augen aufmerksam auf die ihren gerichtet. „Ich habe drei Vornamen, die mir meine Mutter gegeben hat, die mir aber nichts bedeuten. Meine Freunde nennen mich Beast.“ Suzanna stutze kurz. „Beast? Wie „The Beast“ aus „The Beauty and the Beast“?” ”Na ja, so was in der Art, könnte man sagen.“ Er nahm einen kräftigen Schluck seines eigenen dunklen Bieres. „Eigentlich hat es mit anderen Dingen zu tun.“ Beast deutete auf seine Ansammlung von umgekehrten Pentagrammen und Kreuzen und Suzanna nickte, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich eine Ahnung hatte. Sie hatte nichts gegen Satanisten. Eigentlich wusste sie auch nicht viel über sie. Es gab einfach viele Jugendliche, die sich gerne darüber unterhielten, sich schwarz anzogen und die Zeichen trugen. Sie hatte auch von interessanten Hexenspielen, wie das Gläserrücken oder Pendeln, gehört und einfach alles in einen Topf geworfen. Als sie Beast ansah, interessierte sie sich schlagartig für diese Dinge und begann, mit dem Ziel, das Gespräch aufzulockern, einen Schwall an Fragen zu stellen. Beast antwortete geduldig. Oft lachten sie. Jessica war zwischendurch zurück gekehrt um ihr Bier zu holen und war auch gleich wieder verschwunden. Suzanna trug ein dauerhaftes, unauslöschbares Lächeln auf ihren Lippen und verfolgte seine Worte gebannt. Aber wirklich zuhören tat sie nicht. Sie beobachtete die Bewegung seiner Lippen, das enthusiastische Glimmen in seinen Augen und die erklärenden Bewegungen seiner Hände. Was auch immer er da redete, er kannte sich damit aus. Seltsamerweise stellte sich auch heraus, dass er in der Abschlussklasse ihrer Schule war. Er war zweimal sitzen geblieben und hatte die Schule gewechselt. Zudem war er mit einem von Sues Klassenkameraden befreundet: Anthony Foster, reicher Sohn, eines reichen Geschäftführers. Beast traf ihn sehr oft und war der Meinung, dass Tony ein unglaublich vielschichtiger Typ war. Suzanna wollte das nicht so recht glauben, genauso wie sie nicht glauben konnte, dass sie Beast in der Schule übersehen hatte. Nach einer Weile, war sie sich sicher, dass sie sich verknallt hatte. Und das in einer Diskothek! Ashley würde sie dafür ewig mit einem Ich-wusste-es-doch-Gemurmel verfolgen und sich einen Wolf freuen, zu Suzannas Glückseeligkeit beigetragen zu haben. „Weißt du was ich jetzt am liebsten machen würde, Sue?“, flüsterte Beast geheimnistuerisch am Ende seines Vortrags über die wahre Bedeutung des Drudenfußes. „Wäh? Nein?“ „Am anderen Ende der Stadt treffen sich einige meiner Leute, um zu feiern. Tony kommt auch. Ich hab ein Auto hier. Ich dachte mir, ich könnte mit dir da hin fahren und dir noch mehr erklären, wenn du dich so dafür interessierst.“ Oh ja. Alles, was du willst!, dachte Suzanna aufgeregt und war schon halb im Auto. Die Party hier war zu langweilig. Sie fühlte sich in einem kleineren Kreis besser aufgehoben. „Und was macht ihr da so? Auf euren Feiern?“, fragte sie dann kichernd und bezahlte ihr Getränk. Beast blickte kurz auf einen undefinierten Punkt an der Barwand, trank sein Bier mit einem riesigen Schluck aus und sah das Mädchen neben ihm wissend an. „Sag mal, Sue, weißt du, was eine Schwarze Messe ist?“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)