Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Kapitel 9: 10 ------------- Rose Nadler hatte sich zu Tode erschreckt. In ihrem Alter, dachte sie, konnte man diesen Ausspruch bereits wörtlich nehmen. Obwohl sie mit ihrem Ehemann Bernard schon drei Jahre allein an dieser Stelle der Insel lebte, hatte niemand sie je gefunden. Noch nicht einmal ihre ehemaligen Freunde hatten nach ihnen gesucht. Seit diesem verhängnisvollen Tag, an dem man sie mit Feuerpfeilen beschossen hatte und an dem so viele gestorben waren, waren sie auf sich allein gestellt. Für Rose und Bernard jedoch kein Problem. Sie hatten ja sich. Doch nun, nach so langer Zeit der ungestörten Zweisamkeit, sah man von den Wildschweinen und Meerkatzen ab, die ab und zu ihr kleines Camp heimsuchten, um Essen zu plündern oder sich einfach die Zeit zu vertreiben, tauchte wirklich noch eine verirrte Menschenseele hier auf. Gut, was dort gerade vor ihr aus dem Gebüsch gekrochen kam, hatte nur noch wenig Menschliches. Ein verdrecktes, kleines Ding, das sich schwer auf seinen eigenen Beinen halten konnte und wahrscheinlich genauso schockiert war wie sie selbst. Wie sie so dastanden und sich gegenseitig in die Augen blickten, beschlich Rose das Gefühl von angebrachter Vorsicht. Als man das letzte Mal einen hilflosen Umherirrenden angeschleppt hatte, war es dieser Ben gewesen, der sie als Dank alle ans Messer geliefert hatte. Allerdings: Was sollten die Anderen jetzt noch für Interesse an zwei alten, friedlichen Menschen haben, dass es eine solch aufwendige Aktion bedurfte. Wenn sie sie töten wollten, müssten sie einfach nur eine bewaffnete Person schicken und die Sache wäre erledigt. Rose und Bernard Nadler hatten sich zur Ruhe gesetzt. Sie waren sozusagen in Rente gegangen. Egal, was die anderen Bewohner oder Besetzer dieser Insel für teuflische Pläne gegeneinander ausheckten, was auch immer sie gerade spielten, es war ihnen egal. Sie hatten die Sinnlosigkeit der ständigen Konflikte längst begriffen und hielten sich aus allem raus. Dennoch war es Rose in diesem Moment nicht möglich, sich aus dem Schicksal der jungen Frau heraus zu halten, die nun drei Meter vor ihr in die Knie ging und ihrer Sinne beraubt reglos liegen blieb. Rose’ Herz raste immer noch, als sie laut nach ihrem Mann rief, sich die Hände an ihrer Bluse trocken wischte und um das Wasserbecken herumlief. Vor dem Mädchen hockte sie sich hin, was ihr einige Schmerzen im Rücken einbrachte. Sie rollte mit den Augen. Du bist nun mal nicht mehr die jüngste, Rose. Ihre Hand strich vorsichtig die dunkelroten Haare aus dem Gesicht der Bewusstlosen. Unter dem ganzen Dreck und dem Schorf musste sie ein ganz hübsches Mädchen sein. Rose drehte sie auf den Rücken und hob ihre Beine auf ihre Schultern, damit das Blut zurück in den Kopf fließen konnte. Sie musste raus aus der Sonne. Doch alleine konnte sie unmöglich einen ausgewachsenen Menschen tragen. Sie hoffte, dass Bernard bald kommen würde. „Bernard!“, rief sie noch einmal, doch im selben Augenblick tauchte er bereits hinter einem Baumriesen auf. Mit seinem Wanderstock in der Rechten, balancierte er den abschüssigen Trampelpfad herunter, dicht gefolgt von Golden Retriever Vincent. Bernards graues, schütteres Haar klebte wie so oft durch den Schweiß in seinem Gesicht. Auf seiner Stirn waren tiefe Falten zu sehen und seine Bewegungen waren längst nicht so sicher wie sie früher einmal waren, doch für Rose, war er immer noch ein unbeschreiblich schöner Anblick. „Wo warst du?“, warf sie ihm ungeduldig vor. Bernard, der bereits angesetzt hatte, um sich zu verteidigen, blieb stehen und betrachtete mit offenem Mund den Fund seiner Frau. „Rose, wer ist das?“ Seine Ehefrau sah hinunter in das Gesicht der Fremden und antwortete leise: „Ich weiß es nicht. Sie stand plötzlich vor mir und ist ohnmächtig geworden. Sie braucht Schatten und etwas zu trinken. Bitte, hilf mir sie rüber zur Hütte zu tragen!“ Bernard stand nur kurz unschlüssig neben der Szenerie, klemmte sich dann den Stock unter den Arm und fasste mit beiden Händen unter den Axeln hindurch an die Unterarme der fremden Frau, während Rose sie an den Beinen packte. Durch die Vereinigung ihrer Kräfte schafften sie es die gut 65 Kilo bis zu ihrer kleinen Holzhütte zu transportieren und sie dort auf das große mit riesigen Blättern und Wildschweinfellen ausgepolsterte Holzgestell zu legen, welches ihnen seit Jahren als Bett diente. Bernard wischte sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich auf einen Hocker sinken. Vincent stellte sich mit seinen Vorderpfoten auf die Bettkante und schnüffelte den Neuling kategorisch ab, doch Rose schob ihn zur Seite und setzte sich selbst auf die Kante damit sie mit den feuchten Tücher, die sie gerade von draußen herein geholt hatte, das Gesicht der Frau sauber waschen konnte. Die Bewusstlose war unnatürlich blass, fast wie tot. Rose prüfte sicherheitshalber den Puls. Etwas schwächer als normal, aber noch nicht im gefährlichen Bereich. Eigentlich war Bernard hier so etwas wie der Arzt, aber kleinere Dinge konnte sie auch gut alleine erledigen. Während ihr Mann sich von der Hitze und der Anstrengung durch das Tragen und die vorangegangene Gartenarbeit im selbst errichteten Beet erholte, schob Rose die Ärmel der blauen Kunstfaserjacke hoch und reinigte auch alle anderen kleinen Schürf- und Platzwunden, die sie an Händen und Armen fand. Den Rest des Körpers tastete sie nur oberflächlich ab, da sie vermutete die Fremde würde etwas dagegen haben, dass sie sie dafür auszog, auch wenn es dann einfacher gewesen wäre, nach Brüchen zu suchen. „Oh …“, entfuhr es Rose, als sie gerade das Schlüsselbein der Frau mit den Fingern befühlte. „Bernard?“ Dieser drehe sich aufmerksam zu ihr um, nestelte seine Brille aus der Brusttasche seines Hemdes und warf selbst einen geschulten Blick auf die Stelle, an der die Hand seiner Frau ruhte. Ohne zu zögern, rückte er mit seinem Hocker näher und tastete den gut sichtbaren Knochen selbst. Bernard sah nach einigen Augenblicken auf, nahm seine Brille wieder ab und sagte ruhig: „Es ist nichts Schlimmes. Wahrscheinlich angeknackst, aber nicht durchgebrochen. Siehst du?“ Er deutete auf den starken Bluterguss über der unregelmäßigen Stelle. „Das Gewebe ist ein wenig beschädigt und angeschwollen. Der Knochen ist aber noch in Position. Allerdings kann sich das schnell ändern, wenn es zu einer weiteren starken, mechanischen Einwirkung an dieser Stelle kommt. Er könnte ganz brechen. Lass uns lieber einen festen Verband um ihre Schulter anlegen. Etwas von deiner Salbe gegen die Schwellung und etwas Weiches als Stoßdämpfer. Hat sie noch irgendwelche Verletzungen?“ Rose sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Bernard, sie ist ein einziger blauer Fleck! Natürlich hat sie Verletzungen, aber keine weiteren, die man nicht mit ein bisschen Wasser und Salbe kurieren könnte, außer ihren kleinen Zeh. Ich glaube der Winkel, den er mit dem Rest des Fußes bildet, ist nicht normal.“ Leise schnaufend wanderte Bernard an das andere Ende des Bettes und betrachtete die unglückliche Zehe. Es sah nicht gut aus. Sie musste gebrochen sein, so wie er ihre derzeitige Position beurteilte. Er war kein Experte auf dem Gebiet der menschlichen Medizin. Größere Knochenbrüche waren für ihn noch im Bereich des Möglichen, aber nicht die von minimalistischen Körperteilen, die fast schon zur Arbeit eines Schönheitschirurgen zählten. Er seufzte. „Ich kann ihn auch stabilisieren, allerdings wird er wohl an den Gelenken steif zusammenwachsen. Gut möglich, dass sie ihn nie wieder bewegen kann.“ Rose musterte Bernard mit einem undefinierbarem Ausdruck in ihren braunen Augen und sagte dann ganz langsam und simple: „Nun mal ehrlich? Meinst du wirklich die Beweglichkeit eines kleinen Zehs ist so lebensbestimmend, dass sie die Schmerzen aushalten wird, bis man sie in ein Krankenhaus einliefert, was wohl auf dieser Insel am St.Nimmerleinstag wäre?“ Der Grauhaarige sah sie resignierend an. Rose hatte Recht. Mit einem weiteren Seufzer brachte er Verbandsmaterial und Rose’ wirksame Wundsalbe aus einem kleinen Köfferchen und begann mit ihrer Hilfe die Patientin zu verarzten. Er knotete gerade die letzten Zipfel dünnen Stoffes über dem Schlüsselbein zusammen, als ihm etwas auffiel. Interessiert glättete er die Falten des blauen Overalls. In seinen Augen flackerte Erkenntnis und Überraschung auf. „Sieh mal Rose!“, er deutete auf das bestickte Namensschild und das darunter liegende Emblem. Rose nickte wissend. Sie hatte es beiläufig bemerkt, als sie die Erde von der Haut gewaschen hatte. „Wahnsinn!“, sagte Bernard und warf einen weiteren Blick auf seine Entdeckungen, „Wie ist das möglich? Das kann doch nur ein schlechter Scherz sein. Ich meine, wir sind mit einem Flugzeug abgestürzt und sie? Wir können doch nicht wirklich davon ausgehen, dass irgendwo auf der Insel ein … ein …“ „Ein Raumschiff abgestürzt ist?“, ergänzte ihn seine Ehefrau gefasst, „Ich persönlich halte es für genauso unmöglich wie du, aber wenn es tatsächlich so ist, wird uns Ms Hayden von der NASA hier, aufklären können.“ Das alte Pärchen sah sich wie so oft in die Augen und ohne ein weiteres Wort zu sagen, einigten sie sich. Sie würden ihren neuen Gast zuvorkommend und offen gegenüber treten, ohne dabei die Wahrscheinlichkeit einer Falle außer Acht zu lassen. Bernard und Rose waren ein eingespieltes Team und ihre stärkste Waffe war ihre Erfahrung. Ohne weiteres würden sie es fertig bringen, die Wahrheit mit bestimmten Fragen heraus zu finden und Lügen durch ihre bisherigen Beobachtungen zu entlarven. In beiden schlummerte die Hoffnung, dass sie diesmal jemandem gegenüber standen, der sie nicht mit falscher Menschlichkeit betrog und sein wahres Gesicht bis zur letzten Stunde verborgen hielt. Was dies betraf waren die Anderen unerreichte Meister. Um Dinge zu schützen, deren Wichtigkeit kein anderer Mensch begriff, waren sie bereit alle Grenzen, Prinzipien und Gesetze der Welt außer Acht zu lassen, jeden zu belügen, zu foltern, zu verderben, zu töten oder zu manipulieren und diese Fähigkeiten so weit zur Perfektion zu treiben, bis sie sich selbst untereinander nicht mehr trauen konnten. Diese Tiere waren eine starke Gesellschaft, wenn es gegen einen gemeinsamen Feind ging, doch unsicher und zermürbt hinter der scheinbar festen Fassade. Vielleicht waren sie auch keine Tiere, sondern lediglich die Manifestation der wirklichen Natur des Menschen. Rose war sich über ihre Beweggründe nie klar geworden. Sie hatte auch nie versucht sie zu verstehen, viel eher sich die Erkenntnis vom Leib zu halten, da sie Angst hatte, genauso umgedreht zu werden, wie einige ihrer alten Freunde. Doch, ohne es abstreiten zu wollen, war diese Insel etwas Außergewöhnliches. Rose war vor dem Absturz der Oceanic 815 von Sydney nach Los Angeles schwer krank gewesen, sterbenskrank. Doch als das Flugzeug über der Insel auseinander brach und alle Passagiere durch die Wucht des Aufpralls aus dem Rumpf über den Sand geschleudert wurden, musste etwas passiert sein, denn als Jack, ein Chirurg, der den Körper seines verstorbenen Vaters nach Amerika zurück holen wollte, um ihn dort zu bestatten und deshalb im selben Flug gesessen hatte, sie wiederbelebte, spürte sie, dass etwas anders war. Rose wusste, dass es etwas mit diesem Ort zu tun hatte, mit der Insel. Sie war der Meinung, wenn es einen Gott gab, dann würde er hier sein. Doch bereits eine Woche später war sie sicher statt im Paradies, in der Hölle gelandet zu sein. Ab da an, gab es für sie alle nur noch ein Ziel: Überleben. Und um dies zu erreichen, musste jeder irgendwann eine Sache einsehen: Nichts ist so wie es scheint. Niemals. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)