Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Prolog: 1 --------- Susanna Hayden sah hinauf in den schwarzen Himmel. Stirn und Hände an die dicke Scheibe gepresst, versuchte sie so viel von diesem Augenblick aufzunehmen wie möglich. Ihre Augen fingen das Licht von Milliarden Sternen ein, die am unendlichen Firmament das wohl wunderschönste und größte Werk einer unsichtbaren Urmacht bildeten. Mit einem stummen Auflachen presste sie ihre Nase dichter an das kalte Glas. Dort war der Mond. Riesig und voll, rund wie ein silberner Wollknäuel und dennoch zerfurcht und vernarbt wie ein alter Kriegsheimkehrer. Er war der geheime Beschützer der Erde, er trug die Wunden, die eigentlich ihr zugedacht waren. Tausende von Kratern und Schluchten von Meteoriteneinschlägen würden in Ewigkeit davon zeugen, welch wichtige Rolle er innehatte. Für immer oder zumindest solange bis er an seiner Aufgabe zerbrechen würde. Sie entfernte die Nase einige Zentimeter vom Glas, um die beißende Kälte loszuwerden, die durch das Fenster gedrungen war. – 273 Grad sind nicht gerade menschenfreundlich, dachte sie, während sie den Himmel nach etwas ganz bestimmten absuchte. Als sie ihren Blickwinkel nur ein wenig nach unten korrigiert hatte, wurde sie fündig. Unter ihr lag, vom schwarzen Samt der ewigen Mitternacht umschlossen, der gigantische Erdball. Eine unvorstellbar große Zahl von Quadratkilometern Land und Wasser, Bergen und Ebenen, Inseln und Kontinenten aus einem völlig anderen Winkel betrachtet. Ihre Heimat. Ein Nichts im Vergleich zu der Offenbarung von Unendlichkeit, die Susanna nun erleben durfte. Endlich konnte sie Himmel und Erde sehen, wie es nur wenige Menschen konnten. So wie sie in Wirklichkeit waren. In keiner Hinsicht miteinander zu vergleichen. Gefangen in ihrer eigenen Glückseeligkeit, spürte sie einen Anflug von … Erleuchtung. Oder Erkenntnis. Aber egal, was es auch war, es wurde von der kindlich übergroßen Freude erdrückt, die man hat, wenn sich ein Lebenstraum erfüllt. Mit zitternden Händen strich Susanna über das runde Guckloch und sehnte sich nach einem größeren Blickwinkel. Sie wollte mehr. Mehr Bilder, mehr Erinnerungen, mehr – „Su?“ Sie ließ den Blick auf ihren Traum gerichtet. Sie brauchte sich nicht umdrehen, um zu wissen, wer hinter ihr stand. Eigentlich brauchte sie noch nicht einmal nachzufragen, was los war. Es war Kevin Eastwick und er hatte ein Problem. Er hatte immer ein Problem, wenn er zu Susanna kam. Denn, wenn er konnte, vermied er es, weil sie für ihn immer noch ein größeres darstellte. Wie erwartet nahm er trotz fehlender Reaktion den Faden ohne Umschweife wieder auf. „Simon ist immer noch der Meinung, die Außenhülle hätte etwas abbekommen und ich kann ihn nicht davon abbringen Panik zu schieben. Könntest du bitte nachsehen?“ So wie er das sagte, erschien es eher als Befehl, nicht als gestellte Frage. Sich zu sagen, dass es einfach seine Art war, hatte Susanna noch nie über die rasch aufsteigende Wut hinweg geholfen, die entstand, wenn er seinen Mund aufmachte. Kevin oder Mister Eastwick, wie sie ihn weitaus lieber nannte, da es unpersönlicher war, war der Inbegriff von einem Feigling der neben seinem fehlenden Mut, auch noch mit einem beachtlichen Defizit an Gehirnmasse zu kämpfen hatte. All das und die Tatsache, dass sie trotz allem mit ihm geschlafen hatte, brachte Susanna Hayden dazu, ihn zu hassen. Sie stieß sich leicht von der Wandverkleidung ab und schwebte an ihm vorbei, hinüber zu dem Schrank mit dem Werkzeugkoffer und den Raumanzügen. Zugegeben er hatte – eine Art von Stil, der ihr durchaus zusagte. Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, hatte sie ihn für einen Offizier der Army gehalten. Übertrieben gerade Haltung, muskulöser Körperbau, nicht gerade typisch für einen Astronauten. Aber auch wenn er dastand wie mit einem Holzbalken im Hintern, hatte er keine klare Richtung in Bezug auf seine Gedanken. Er war Perspektivlos. Trotz seines Alters von 46 Jahren schien er zu keiner größeren Weisheit gekommen zu sein. Und auch wenn er sich im Bett die allergrößte Mühe gab, seine Partnerin durch den Lattenrost und den Boden in die nächste Etage zu rammeln, würde das doch nie den auffallenden Mangel an verknüpften Synapsen aufwiegen. Manchmal, so schien es, war ihm das tragischerweise selbst klar. Schweigend begann sie in den sperrigen Anzug zu steigen und alle Reisverschlüsse, Schnallen und Klettverschlüsse sorgfältig zu verschließen. Ihre Füße steckten bereits fixiert in den Kilo schweren Magnetschuhen, als Kevin sich ihr von der Seite näherte. „Ich weiß wir hatten nicht die beste Zeit miteinander, Su. Aber das ist kein Grund mich links liegen zu lassen.“ Susanna blickte nicht auf, als sie ihm antwortete: „Für dich vielleicht nicht, Eastwick, aber für mich.“ Hervorgehoben laut zog sie den Reisverschluss bis ganz nach oben. „Du solltest wenigstens nicht so tun, als ob du mich gar nicht kennst. Wir könnten doch alles so lassen, wie vor unserer kleinen Affäre.“ „Ich kann in der Zeit nicht beliebig vor und zurück spulen. Wenn du das kannst, solltest du dir einen anderen Job suchen.“ Sie nahm den verspiegelten Helm vom Schrankboden auf und stellte das Werkzeug neben sich. „Wo genau vermutet Simon denn den Schaden?“ „Nahe dem rechten Flügel an der Grenze zum Hitzeschutz. Vielleicht aber auch ein bisschen weiter oben. Er war nicht sehr genau mit seinen Angaben.“ Kevin Eastwick hatte wieder einmal aufgegeben. Nicht, dass es ihm etwas genutzt hätte, länger auf Susanna einzureden, aber es war einfach charakteristisch für ihn, gleich nach dem ersten Tritt, den Schwanz einzuziehen. Susanna Hayden befestige setzte sich den Helm auf, schloss den Schrank und machte sich samt Koffer auf den Weg zur Schleuse. Eastwick stellte sich an die Schalttafel und öffnete die innere Schleusentür. Susanna trat hindurch in den kleinen Übergangsraum. Wieder trennte sie nur eine Schicht aus Stahl von den unendlichen Weiten des Weltalls. Sie seufzte. Es schien so, als würde es das Schicksal doch gut mit ihr meinen. Da draußen würde sie alles sehen können. „Pass auf dich auf, Su.“, sagte Kevin durch die Funkverbindung, schloss die Tür und blickte sie nur noch stumm durch das kleine Aufsichtsfenster an, welches darin eingelassen war. Susanna wartete jedoch nur darauf, dass das Vakuum im Raum vollständig hergestellt war und die äußere Schleuse sich öffnete. Dann war sie vollkommen frei. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)