Lost von --Ricardus-- (Vom Himmel, durch die Welt, zur Hölle) ================================================================================ Kapitel 17: 18 -------------- Die Wände des Zeltes waren klamm und klebten an ihrem Rücken und an ihren Schultern, als sie sich dagegen lehnte. Die Luft roch muffig und ein wenig nach etwas Vertrautem. Kräuterbalsam oder Kräuterbonbons oder … kalter Tee. Nach dem Gespräch mit Widmore hatte man sie wortlos in ein Zelt geführt, den Eingang zur Seite geschlagen, damit Licht hinein fiel und damit die davor postierten Wachen besser ein Auge auf sie haben konnten. Im Inneren waren vier Feldbetten aufgestellt. Darauf lagen säuberlich zusammen gefaltete Decken, aus diesem kratzigen Stoff, den man ihn in Notfallunterkünften oder Feldlazaretten finden konnte. Zwischen den Kissen und auf den Kisten und Fässern, die scheinbar als Beistelltischchen dienten, lagen zahlreiche persönliche Gegenstände von Lagerbewohnern, die in diesen Betten wohl ihre Nächte und heißen Nachmittage zubrachten. Suzanna schob einen kleinen, grob genähten und wahrscheinlich steinalten Plüschaffen zur Seite, als sie sich auf eine der Pritschen niederließ. Sie betrachtete das ergraute Tier einen kurzen Moment lang ohne es wirklich zu merken. Ein Glasperlenauge schielte zur Seite, das andere starrte nach Vorne in die Leere. Der Affe trug eine schief genähte rote Weste und ohne jeden Sinn auch einen breiten, arabischen Gürtel. Auf seinem kleinen Gesicht befand sich ein breiter lächelnder Mund aus dem ein kleiner Stofffetzen ragte. Wahrscheinlich eine Zunge. Die Hitze war in dieser abgeschlossenen Kammer beinahe unerträglich. Die Schweißperlen auf ihrer Stirn liefen immer wieder zusammen und rollten über ihre Wimpern sodass sie sie wegblinzeln musste. Die Temperaturen würden sie noch wahnsinnig machen! Sie stützte ihre Ellenbogen auf ihre Oberschenkel und lies ihre glühende Stirn in den Mulden ihrer Handflächen verschwinden. Ihre Fingerspitzen gruben sich in das wilde Haar über ihren Augenbrauen und sie bemerkte, dass es so feucht war, als wäre sie gerade unter der Dusche gewesen, nur dass sie mit ihrem eigenen Schweiß geduscht hatte. Sie konnte noch nicht einmal das Wort denken, welches das Gefühl beschrieb, bei der Hitze schon über einen Tag nicht mehr gebadet zu haben und schon seit knapp einer Woche (Wer wusste das schon?) nicht mehr die Kleidung gewechselt zu haben. Widerlich! Ja, das war eines der Wörter, womit man es hätte beschreiben können. Aber es schien ihr noch nicht treffend genug. Noch nicht hart genug, Sie gab den Versuch schnell auf, Synonyme zu finden. Was machte es schon für einen Sinn immer neue Worte für einen Zustand zu haben, während man ihn nicht ändern konnte? Der junge Asiat, der Miles hieß, fummelte interessiert in den Papieren herum, die er in einem Kästchen auf dem Boden gefunden hatte. Alles Fotos oder alte vergilbte Briefe. Suzanna fragte sich, ob er es selbst nicht für unangebracht hielt sich an den privaten Sachen ihrer Entführer zu vergreifen. Wahrscheinlich war es sogar gefährlich. Sie selbst hatte keine Lust es heraus zu finden. Der Mann schien ihr nicht allzu wohl gesonnen zu sein und auf noch mehr unangenehme Überraschungen hatte sie keine Lust. Also schwieg sie sich gegen die anderen Drei aus und hoffte, dass ihn keiner der Wachen erwischte, wie er mit seinen Fingern in ihren Familienbildern herum fuhrwerkte. Nach einigen Minuten und mit aller Wahrscheinlichkeit erst nachdem sie sich durch Warten und Lauschen genügend versichert hatten, dass man sich wirklich dazu entschlossen hatte, sie am Leben zu lassen, fingen die rothaarige Charlotte und ihr Begleiter Daniel Faraday ein Gespräch an. Ihre Stimmen waren leise, hastig und drängend. Dennoch war sich Suzanna sicher, dass man sie ohne Mühe auch draußen hören konnte. Auch wenn man es schnell einmal vergaß, boten Zeltwände nicht mehr Geräuschabschirmung als eine Wand aus purer Luft. „Wie hängt das alles zusammen, Dan? Er hat mit keinem Wort erwähnt, dass seine Vergangenheit etwas mit der Insel zu tun hat. Ich habe gedacht, er schickt uns auf der Basis von Hören-Sagen los. Dass er vielleicht Andere vorher geschickt hat, Erkundigungen eingeholt hat durch Wissenschaftler und Forscher wie uns. Aber dass er hier gelebt hat! Das ist unmöglich! Was ist, wenn die Anomalien uns nicht durch die Zeit befördern, sondern durch alternative Wirklichkeiten? Was dann? Das wäre doch eine Erklärung, Dan, oder nicht?“ Daniel schüttelte sofort den Kopf. „Nein, selbst wenn wir es hier mit einer alternativen Realität zu tun hätten, wären die Chancen, dass Charles Widmore in genau dieser einen Realität Anführer der Feinde auf der Insel wäre, verdammt gering, nahezu gegen Null gehend. Es ist am Wahrscheinlichsten, wenn wir davon ausgehen, dass er uns mit vollstem Gewissen etwas verschwiegen hat, von dem er es nicht für notwendig gehalten hat, dass wir es wissen.“ „Oder es war etwas, dass wir auf gar keinen Fall wissen sollten!“, rief Charlotte aufgebracht, „Er ist der Anführer der Gruppe, die die Dharma-Initiative immer wieder angegriffen und später sogar ausgelöscht hat oder er war es zumindest. Was, wenn er einfach nur vertuschen wollte, dass er gar keine guten Absichten oder ein rein wissenschaftliches Interesse an der Insel hat?!“ „Und wenn schon?“ Miles warf den Stapel Fotos, den er gerade durchgeblättert hatte, wieder zurück in die Blechdose und schob sie mit einem scharrenden Geräusch unter das Feldbett zurück, auf dem er saß. „Seine Absichten können uns doch vollkommen egal sein. Wir haben diese Aufgabe nicht angenommen, weil wir der Menschheit oder irgendjemand Anderen was Gutes tun wollten. Ich will nur mein Geld! Ein hübsches, fettes Sümmchen am Ende des Monats. Dann bin ich auf meiner eigenen kleinen Insel und die wird nicht voll sein mit durchgeknallten, bis an die Zähne bewaffneten Idioten. Da ist es mir egal, ob Widmore der Öko-Diktator dieser Insel war oder ein religiöser Fanatiker oder wirklich nur der alte, reiche Sack, der sich auf seinem Imperium ausruht! Solange die Bezahlung stimmt und wir hier lebend raus kommen, ist mir alles recht. Nur nicht dieses verdammte Durcheinander mit der Zeit! Ich hab seit dem letzten Sprung Kopfschmerzen und die werden nicht mehr schwächer.“ „Toll, Miles!“ Charlotte reagierte entsprechend aufgebracht und warf ihr langes Haar mit einem Schwung über die Schulter. „Von dir habe ich auch nichts Anderes erwartet. Du redest schon so, wie diese verfluchten Söldner auf dem Frachter. Geld, Geld, Geld! Sobald davon genug auf dem Tisch liegt, muss man nur noch das Gehirn ausschalten. Man könnte sich ja sonst von eventuellen moralischen Konflikten ablenken lassen.“ Auch wenn Suzanna die übertrieben zickige Art und die beinahe schon unecht wirkenden moralischen Vorwürfe von Charlotte als sehr unangenehm empfand, hatte die andere Frau recht mit dem was sie sagte. Miles Mangel an jeglichem Feingefühl für die Situation war unangebracht. Er wirkte beinahe so, als wäre er sich nicht bewusst, dass er in dieser Situation steckte. Als wäre es eigentlich etwas anderes als die Realität. Miles Augen wurden noch enger. „Du hast gut reden, Püppchen. Ihr beide - wenn ich mich recht entsinne – seid hier, weil Widmore euch eine einzigartige Gelegenheit geboten hat, eure Forschungen voran zu bringen. Diese Insel ist etwas Besonderes. Das wisst ihr. Und nur weil ihr so verdammt heiß darauf wart, eure Messgeräte in die Erde und in die Bäume zu stecken und jeden kleinen Winkel zu kartografisieren, seid ihr hier. Oh ja, ihr seid die selbstlosesten Menschen, die ich kenne. Zumindest in diesem Zelt!“ Charlotte schwieg und Daniel sah weiterhin nicht vom Boden auf. „Lass gut sein, Charlotte. Du weißt, er hat recht. Wir wollten hierher. Um jeden Preis. Wir können jetzt nicht vom ursprünglichen Plan abweichen, nur weil uns klar geworden ist, dass Widmore gelogen hat. Er hat es einfach getan. Und vielleicht nicht nur in dieser Sache.“ „Und dass wir in einer komplett anderen Zeitlinie sind? Ist das vielleicht ein Problem?“ Charlotte hatte sich an die Zeltwand gelehnt und starrte zu Daniel hinüber, als würde sie ihn am liebsten fressen. „Das …“ Daniel seufzte. „… wird nicht so einfach zu beheben sein, fürchte ich. Aber keine Sorge, ich habe einen Plan, der – denke ich – funktionieren wird.“ Miles strich sich über die schmerzenden Schläfen. „Den wirst du uns natürlich nicht mitteilen, oder?“ „Noch nicht. Bis dahin behaltet nur gut im Gedächtnis, was eure Konstanten sind. Wenn wir getrennt werden sollten, was ich nicht glaube, dann erinnert euch daran.“ „Klar… Die Konstanten!“ Miles schnaubte. „Den Mist hast du uns auch nicht erklärt. Aber ist nicht so wild, wir würden dein Wissenschaftsgeschwafel eh nicht verstehen.“ „Du vielleicht nicht.“ Charlotte blickte ihn nicht einmal an. Sie tat sich wirklich schwer damit, nicht auf die Sticheleien des Asiaten einzugehen. Suzanna schaute zwischen ihren Fingern in die kleine Runde. Es war ein seltsames Gefühl im selben sinkenden Boot immer noch ausgeschlossen zu sein. Die Tatsache, dass die Drei viel mehr wussten, als sie selbst, war unerträglich geworden, aber sie wollte die Sache langsam und behutsam angehen, anstatt ihrer schwelenden Panik nachzugeben und einfach verrückt zu spielen und vielleicht alle so zu verschrecken, dass sie nie wieder etwas aus ihnen raus bekommen würde. „Ähm … Mr. Faraday?“ Sie nahm die Hände vom Gesicht und lehnte sich interessiert nach vorne. Daniel blickte überrascht zu ihr. Er schien ganz vergessen zu haben, dass sie noch mit ihnen in einem Raum war. Dann blinzelte er die Verwirrung weg und sagte sofort: „Daniel, nenn mich ruhig Daniel. Das sind übrigens Miles und Charlotte. Und du bist?“ Er blinzelte noch mal, was er ausgesprochen oft tat, und fügte dann hastig hinzu: „Ja, tut mir leid. Es steht ja auf deinem Revers.“ Suzanna, die ihre eigene Kleidung auch bereits vergessen hatte, blickte verwirrt an sich hinunter und entdeckte dort in den Falten ihres Anzuges ihren mit Gold eingestickten Namen. „Äh, ja. Suzanna. Sue reicht aber vollkommen!“ Es war beinahe so wie der erste Tag in einer neuen Klasse. Sie fühlte sich absolut bescheuert während sie sich vorstellte. „Sue. Wann genau bist du hier gelandet? Ich meine, vor wie vielen Tagen oder besser: Wie oft hat sich der Himmel so seltsam verfärbt und du hast dieses Summen gehört?“ „Ihr habt es auch gesehen?“ Sie war nun ehrlich überrascht. Immer wieder hatte sie daran gezweifelt, ob sie wirklich gesehen hatte, was sie da gesehen hatte. Am Ende hatte sie geglaubt die Ausdünstung einer seltenen Pflanze ließ sie halluzinieren oder sie hatte sich beim Absturz einfach nur den Kopf so fest angehauen, dass ihr Gehirn doch beträchtliche Schäden davon getragen hatte. „Die Sprünge treten seit ungefähr 55 Zeitstunden auf. Immer wieder in verschiedenen Abständen. Mal nach acht Stunden, mal aber auch wieder nach dreißig Minuten. Ich bin mit meinen Berechnungen auf eine Formel gekommen, die vorhersagen kann, wann sich der nächste Sprung ereignet, aber bis jetzt habe ich noch nicht genug Möglichkeiten gehabt ihr Zutreffen zu beweisen. Wie lange ist dein letzter Sprung her?“ „Ich – ich denke so ungefähr 5 Stunden. Verzeihung, von was für Sprüngen reden wir hier?“ „Fünf Stunden? Interessant. Unser letzter Vorfall war vor gut 3 Stunden, kurz bevor wir zu dem Bachlauf gelangt sind. Das bedeutet …“ Daniel griff in seine Umhängetasche, die man ihm nach gründlichen Durchsuchen doch gelassen hatte, und zog ein dünnes, in Leder gebundenes Notizbuch hervor. Als er es aufklappte konnte Susanna, die ihm gegenüber saß, einen Blick hinein werfen. Die zerdrückten Seiten waren bis auf den letzten Millimeter vollgeschrieben. Formeln und Berechnungen und dazwischen zierliche, fast mädchenhaft geschriebene Notizen. Susanna verstand bereits recht viel von Physik, aber das! Sie musste noch nicht einmal einen näheren Blick darauf werfen, um zu wissen, dass sie hier niemanden vor sich hatte, der einen einfachen Abschluss an einer beliebigen Universität hatte. Der Junge mochte einen verwirrten und ein bisschen verrückten Eindruck machen, aber das vielleicht auch nur, weil ein großes Genie ein gewisses Maß an Wahnsinn voraussetzte. „Natürlich…Natürlich, natürlich!“ Daniel blätterte vor und zurück. Die Papierseiten raschelten zwischen seinen Fingern, tanzten hin und her und verhedderten sich ineinander, während er nach Worten jagte, die er irgendwann einmal auf ihnen niedergeschrieben hatte. „Es wird klarer. Ja, jetzt! Jetzt verstehe ich!“ Was?! Was verstehst du, Dan?“ Charlotte hatte die Geduld verloren. Mit verschränkten Armen und unsteten Augen hockte sie da und blickte genervt zu ihrem Freund. „Es ist anders, als wir gedacht haben. Die Zeitverschiebungen. Die Sprünge. Sie sind nicht linear. Es gibt sie nicht für Jeden zur gleichen Zeit! Versteht ihr?“ „Ich versteh nicht wirklich.“, sagte Miles. „Es ist wie - … Stellt euch eine Kuppel vor! Einen Halbkreis über der Insel. Im Zentrum dieses Halbkreises befindet sich am Boden der Insel der Auslöser dieser Phänomene, aller Phänomene. Die Zeitsprünge gehen von genau diesem Punkt aus. Wie eine Art Welle, ein Impuls. Die Menschen, die besonders nah an der Quelle dieser Anomalien sind, werden von dieser Welle zuerst erfasst. Dort wirkt sie am stärksten. Die Kraft schwächt sich erst nach Außen hin ab. Die Impulse breiten sich quasi kuppelförmig aus, in alle Richtungen. Im Inneren, wo sie noch genügend Kraft besitzen, wirken sie heftiger. Die Zeitreisen, die betroffene Personen dort erleben, gehen weiter. Viel weiter vielleicht sogar.“ „Aber wie erklärst du dann, dass sie nicht unsere Zeitsprünge geteilt hat, als sie annährend auf unserer Position war?“, fragte Charlotte, die jetzt ernsthaft interessiert wirkte. Daniel sah nur hinunter in sein Notizbuch und schüttelte ganz langsam den Kopf. „Na ja, ich bin mir da noch nicht ganz sicher, aber meine Theorie wäre, dass nur der erste Impuls entscheidet, in welchem Sprungrhythmus man gelangt. Wenn sie zur Zeit der Zerstörung des normalen Zeitgefüges in einem Außenbereich oder sogar vielleicht außerhalb der Insel war, ist sie in einem sich verlaufenden Impuls gelandet, der sich die ganze Zeit, die er sich um seine Quelle herum ausbreitet, verändert. Wie ein Audiosignal, welches seinen Kurvenverlauf dadurch bekommt, indem Teilchen in Schwingung versetzt werden und sich durch Hindernisse oder den Übergang in einen anderen Stoff ändert. Wahrscheinlich ist sie in eine andere Frequenz geraten und es ist nur ein Zufall, dass wir gerade in ein und demselben Zeitfenster stecken. Wenn ich Recht habe, dann könnten ihre Sprünge tatsächlich in andren Abständen auftreten und in andere Zeiten führen, als unsere.“ Susanne sah Daniel an und versuchte nicht allzu geistig zurück geblieben auszusehen. Seine Theorie klang wie reinste Science-Fiction. Etwas, was sich ambitionierte und wissenschaftlich interessierte Autoren in ihren kühnsten Träumen auszudenken pflegten. Allerdings war die klassische Science-Fiction schon immer eine Wiege fortschrittlicher Ideen gewesen und hatte selbst zu den Erfindungen angeregt, die man bis dato gemacht hatte oder hatte die Zukunftsvisionen großer Wissenschaftler, die durchaus realistisch waren, in bunte und abenteuerliche Geschichten eingehüllt. Aber so oder so wehrte sich der menschliche Verstand immer gegen Neuerungen, die außerhalb der Vorstellungskraft noch keinen anderen Platz im öffentlichen Leben gefunden hatten. Susanna versuchte also neutral zu bleiben, auch wenn selbst diese abgespeckte Version einer Zeitanomalie-Theorie nach etwas klang, dass man am liebsten als naturwissenschaftliche Blasphemie auf einem Scheiterhaufen verbrannt hätte. Wenn so etwas möglich war, dann unter Garantie nicht auf dieser Erde. „Es tut mir leid, aber ich glaube, ich kann dir nicht ganz folgen. Du meinst, diese Phänomene veranlassen unsre Körper sich durch die Zeit zu bewegen?“, fragte Suzanna schließlich. Daniel nickte. „Und es gibt eine Quelle auf dieser Insel, die diese Sprünge auslöst?“ Erneutes Nicken. „Ich bin mir nicht sicher, aber viele Theorien besagen, dass Zeitreisen, wenn sie denn möglich sind, einen sehr negativen – vielleicht schon destruktiven Effekt auf Körper haben, die in ihrer Beschaffenheit und Veränderung stark an einen linearen Zeitstrang gebunden sind. Manche Menschen haben schon bei einem einfachen Jetlag so starke Probleme mit ihrer inneren Uhr, dass es sich auch ihre Gesundheit auswirkt. Was passiert dann mit uns, wenn wir weiterhin durch die Zeit geschickt werden?“ Daniel sah Suzanna einen Moment lang traurig an und sagte dann: „Ich denke es beginnt mit Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit. Vielleicht stark gesteigerter Blutdruck und einer Art Amnesie. Ich denke, wenn sich die Intervalle in ihrer Abfolge nicht verlangsamen, folgt nachdem jeder von uns durch die Verwirrung seiner zeitlich gebundenen Erinnerungen und Orientierung im Raum-Zeit-Gefüge verrückt geworden ist, unweigerlich der Tod.“ Miles rieb sich etwas energischer die schmerzende Stirn. „Tja, nett euch gekannt zu haben, Leute.“ Charlotte stemmte sich von der Liege hoch. „Wir müssen sofort los. Wenn wir den Ursprung des Impulses finden, können wir ihn vielleicht auslöschen!“ „Charlotte, das ist nicht ganz so einfach. Der Ursprung könnte überall auf der Insel sein. Außerdem sind wir immer noch Gefangene und man wird uns wohl kaum gehen lassen aufgrund einer so unglaubhaften Geschichte, zumal hier niemand dieselben Erfahrungen gemacht hat wie wir. Wir sind die einzigen Fremdkörper in diesem Zeitstrang. Alle anderen nehmen weder das seltsame Licht, noch dieses unerträgliche Geräusch wahr.“ „Was dann, Dan? Hierbleiben und sterben?“ „Nein, wir müssen nur bis zum nächsten Zeitsprung warten. Die Quelle existiert immer. Wenn uns also die nächste Welle hier herausholt, sollten wir schauen, dass wir schleunigst von der Insel verschwinden. Wenn wir aus dem Wirkungsradius raus kommen, sind wir gerettet. Es muss nur alles sehr schnell gehen.“ „Was ist dann mit mir?! Werde ich nicht vollkommen woanders landen?“ Suzannas Panik trieb ihr Adrenalin durch den Körper und sie packte Daniel an der Schulter. Faraday sah sie einen kurzen Moment mit tiefem Mitleid an, aber entzog sich nicht ihrem Griff. „Es tut mir leid…“ Auf den festgetretenen Boden zwischen ihnen fiel plötzlich ein langer, unscharfer Schatten. Sie hoben ihre Blicke und versuchten gegen die einfallende Sonne anzukämpfen. Suzanna hob die Finger vors Gesicht und blinzelte. Im Zelteingang stand ein Mann. Es war weder Widmore noch einer der Wachen oder der anderen, ihnen bekannten Campbewohner. Sue konnte sich nicht erinnern, ihn vorhin in der Versammlung entdeckt zu haben, allerdings war sie sich auch sicher, nicht so sehr auf anwesende Personen geachtet zu haben, während man ihr mit dem Tod drohte. Er war nicht ganz so groß wie Widmore, aber ebenfalls von schlanker, trainierter Gestalt und viel jünger. Vielleicht Mitte, Ende Dreißig. Auf den ersten Blick konnte man feststellen, dass er wahrscheinlich Hisspanier war oder zumindest aus dem südeuropäischen Mittelmeerraum stammte. Seine Haut schien von Natur aus brauner zu sein und sein Haar war dicht und pechschwarz. Der Fakt, dass es so aussah, als würde er Kajal um die Augen herum tragen, ließ Suzanna für einen kurzen Moment stutzen. „Hallo, ich bin Richard Alpert.“ Er streckte weder die Hand aus, noch kam er näher. Stattdessen fuhr er fort, ohne jemanden die Chance zu lassen, sich vorzustellen. „Ich würde gerne wissen, woher Sie das mit der Wasserstoffbombe wissen!“ Daniel blinzelte ihn an. „Ich denke, das tut nichts zur Sache…“ „Oh doch, eine ganze Menge sogar! Die Bombe befindet sich schon seit Jahrzehnten auf dieser Insel. Sie ist sicher und keiner hat sie bis jetzt angerührt. Allerdings habt ihr unseren Anführer jetzt dazu gebracht, sie zu suchen und den Versuch zu unternehmen sie zu entschärfen. Und ihm ist vollkommen egal, ob das eine gute Idee ist oder nicht.“ Miles setzte sich ein Stück weiter auf seiner Liege vor. „Moment! Sie wissen davon? Sie wissen von der Bombe?“ „Ich weiß von der Bombe. Charles wusste es nicht. Das heißt, bis vorhin, als Sie, Mister Faraday es erwähnt haben. Seitdem herrscht da draußen völliges Chaos!“ Alpert deutete durch die Zelttür nach draußen. „Was soll das?“, fragte Daniel sichtlich verwirrt, „Wieso haben Sie es keinem gesagt, wenn Sie bescheid wussten? Woher wissen Sie überhaupt davon? Die Bombe befindet sich in einem unterirdischen Silo. Es ist komplett zugewuchert. Unmöglich, dass das jemand gefunden hat, der nicht vor 50 Jahren dabei war, als sie aufgestellt wurden ist!“ „Nun Mr. Faraday, da haben wir beide wohl unsere Geheimnisse. Oder wollen Sie mir sagen, Sie wären vor 50 Jahren hier gewesen? Ich bin wirklich sehr schlecht darin, Menschen in ihrem Alter einzuschätzen, aber Sie sehen mir nicht aus wie Anfang Fünfzig.“ Richard griff unter eines der Armeebetten und zog eine offene Holzkiste hervor, gefüllt mit Wasserflaschen und kleinen Schachteln, die anscheinend trockene Cracker enthielten, von einer Marke, die es seit Jahrzehnten eigentlich nicht mehr gab. Er warf den Vieren, jeweils zwei Flaschen Wasser und eine Crackerpackung hin. „Ihr verschwindet hier. Und zwar sofort! Ich will auf gar keinen Fall, dass irgendeiner von euch noch einmal den Mund aufmacht. Charles Widmore darf den Standort dieser Bombe nicht erfahren. Der Versuch sie zu entschärfen, könnte gefährlicher sein, als sie einfach dort zu belassen, wo sie ist. Ich werde die Wachen kurz ablenken und ihr verlasst das Camp durch die unbewachte Schneise hinter diesem Zelt und lauft dann in jegliche Richtung, die euch einfällt. Ich würde euch raten, so weit weg wie möglich von diesem Camp entfernt zu sein, wenn die Sonne untergeht.“ Erschrockenes Schweigen. Richard blickte ihnen allen noch einmal fest in die Augen, stand dann auf und verlies das Zelt, um mit den Wachen zu reden. „Tja, ehm“, begann Miles zögernd, „Ich denke, das lief eigentlich ganz gut. Nur sollten wir wirklich verschwinden, im Falle unser Muchacho noch seine Meinung ändert. Und ich traue diesem Kerl kein Stück. Nichts von alledem hat bis jetzt einen Sinn ergeben. Ich weiß nur mit Sicherheit, dass die hier anscheinend ein echtes Kommunikationsproblem haben.“ Daniel und Charlotte zögerten keine Sekunde und packten ihre Wasserflaschen und den Proviant zusammen, während Miles aus dem Zelt späte, um den richtigen Moment für ihren Ausbruch abzupassen. Suzanna bewegte sich keinen einzigen Millimeter. Sie war sich vorher noch nicht ganz sicher gewesen, aber jetzt war es kaum zu überhören. Das vibrierende Surren, das von ganz weit her zu kommen schien, konnte sie jetzt nicht mehr ignorieren. Die Sonne, die durch den Zelteingang fiel, wurde gleißend hell und von einer Sekunde auf die andere explodierte das Geräusch in ihrem Kopf und war plötzlich überall. Um sie herum, in ihren Gedanken, in jeder Faser ihres Körpers. Daniel musste etwas bemerkt haben und kam zu ihr gestürzt. Sie hielt die Hände gegen die Ohren gepresst. Ihre Nase hatte zu bluten begonnen und ihre Augen schmerzten, weil das Licht durch ihre Augenlider immer noch alles überstrahlte. Daniels Hand drückte fest in ihre Schulter. So fest, dass sie gezwungen war, aufzublicken. Sein Gesicht schwamm in einem See aus milchigem Weiß und sie konnte kaum seine Augen und seinen dunklen Bart erkennen, weil ihr die Tränen kamen. Dennoch bewegte er unablässig seinen Mund. Er schrie so laut, dass sie ihn trotz des Lärms um sie herum noch zu verstehen glaubte. Einige Worte und Bruchstücke von Sätzen. „D…musst … stopp… zurück … Oxford … einen Weg zurück … es stoppen … deine anderen … Konstante…“ Sie sah wie er einige Worte wiederholte, aber sie konnte ihn schon längst nicht mehr verstehen, auch wenn er so laut schrie, dass das ganze Camp es bemerkt haben musste. Aber das Camp existierte nicht mehr. Nicht mehr für Suzanna. Für sie gab es nur noch helles, dichtes, schmerzendes Weiß und einen Ton, der ihre Eingeweide zum Bersten brachte. Das Erste, was sie diesmal wahrnahm war ein unangenehmer Geruch. Er biss sich in ihre Nase und blieb dort bis sie nicht mehr wagte zu atmen. Sie verzog ihr Gesicht und drehte den Kopf zur Seite, in der Hoffnung dort etwas frischere Luft zu atmen. Sie wurde enttäuscht. Überall um sie herum schien es erbärmlich zu stinken. Wie Biomüll im Hochsommer, verrottendes Fleisch in der Mittagshitze. Sie griff nach oben an das Revers ihres Overalls und zog sich den Stoff über die Nase. Er roch nach einer Mischung aus Schweiß und Erde, aber viel angenehmer, als ihre Umgebung. Allmählich merkte sie, dass bis auf den scharfen Geruch, um sie herum nur wenig wahrzunehmen war. Es schien dunkel zu sein und relativ kühl im Vergleich zur voran gegangenen Mittagshitze. Ruhig war es dennoch nicht. Grillen, Frösche und vereinzelte Affenschreie. Sie war also noch im Dschungel. Und es war Nacht. Sie öffnete nur vorsichtig die Augen. Die Schwärze war angenehm und beruhigte ihre verkrampften Gesichtszüge. Dennoch ließ der Gestank sie nicht in Frieden. Sobald sie die Kraft gefunden hatte, aufzustehen, rollte sie sich zur Seite und stützte sich auf ihren Handballen ab. Der Boden war feucht und etwas Kleines bewegte sich zwischen ihren Fingern hindurch. Vor Schreck wäre sie fast wieder zu Boden gestürzt, konnte sich aber mit der linken Hand abfangen. Die Erde eines Urwaldes war voller Getier, aber in der Dunkelheit nicht zu erkennen, was einem da über die Hand krabbelte, war auf eine besondere Weise beunruhigend. Suzanna kniete sich vorerst hin bis der Schwindel nachgelassen hatte. Erst Kopfschmerzen, dann Schwindel, Bluthochdruck, Übelkeit. Dann Wahnsinn und Tod. Sie spähte in das schwarze Nichts vor sich. Langsam glaubte sie ein paar Details zu erkennen. Die Schatten von Bäumen und Buschwerk und auch etwas, das für sie erst wie eine Schlange aussah, sich aber zu ihrer Erleichterung als herunterhängender Ableger einer Baumpflanze herausstellte. Die Ursache des Gestanks konnte sie so allerdings nicht erkennen. Im Dunkeln auf die Quelle zuzutasten, hielt Suzanna nicht für eine ihrer besten Ideen. In ihrem Nacken saß die Angst vor Daniels Worten. Sie musste diese Insel verlassen, so schnell es ging und möglichst vor dem nächsten Zeitsprung. Sie würde sich zum Strand durchkämpfen und dort sehen, was sie tun konnte. Vielleicht konnte sie ein Boot bauen oder traf unterwegs auf Jemanden, der eine Möglichkeit wusste, von hier weg zu kommen. Auch wenn „auf Jemanden treffen“ bis jetzt immer zu den schlechtesten Dingen gehört hatte, die einem auf dieser Insel passieren konnten, klammerte sich Suzannas verzweifelter Verstand an das Gefühl der Hoffnung, das die Begegnung mit einem weiteren Menschen in diesem Fall bedeuten konnte. Ihre Knie gaben fast augenblicklich nach, als sie sie belastete. Panisch griff sie nach etwas, um sich zu stabilisieren und griff dabei in die Luft. Ihr Körper kippte nach rechts und ihre Schulter traf auf die harte Rinde eines Baumes. Der unerwartete Aufprall erschreckte sie und das Gewebe an ihrem Oberarm wurde schmerzhaft gequetscht, als sie an der Rinde entlang schrammte und kleine Baumstücke abbrachen. Sie drückte sich vom Stamm weg und stand nun sicherer auf ihren Beinen. Sie konnte kein bisschen sehen. Die Angst in ihr, langsam den Verstand zu verlieren und beim nächsten hellen Licht einfach Tod umzukippen, veranlasste sie in die Richtung zu gehen, die sie für die richtige hielt. Sie musste es versuchen. Sie musste sich wenigstens irgendwohin bewegen. Wenn sie Glück hatte, war die Insel vielleicht nur klein und sie würde in jeder Richtung bald auf den Strand treffen. Die Arme weit von sich gestreckt, bewegte sich Suzanna schlurfenden Schrittes über den unebenen Waldboden, der auf jedem Zentimeter entweder abfiel oder anstieg. Sie konnte keinen ihrer Schritte planen. Der Grund ließ sich nicht vorausahnen und für ein paar Meter brauchte sie mehrere Minuten. Nicht nur einmal drohte sie auf ganzer Länge hinzufallen und sich den Kopf auf einem Stein oder einer Wurzel anzuschlagen, aber das Schicksal hatte bald ein Einsehen und ihre Augen gewöhnten sich soweit an das schwache Licht, dass sie Bäume und große Hindernisse auf dem Waldboden erkennen konnte. So lief sie gefühlte Stunden umher, ohne zu wissen, ob sie sich noch in die gleiche Richtung bewegte, wie am Anfang oder ob sie bereits im Kreis lief. Immerhin hatte sie den Gestank nicht mehr gerochen und war also nicht noch einmal exakt da vorbei gekommen, wo sie gestartet war. Dann hob sie den Fuß und stieß mit der Oberseite so heftig gegen eine aufgerichtete Wurzel, dass sie nach vorne in das Dickicht hinein kippte, welches sie gerade umgehen wollte. Ihr Fuß schien innerlich zu splittern und wurde augenblicklich heiß und dick in ihrem Schuh. Sie spürte wie die Venen gegen den festen Stoff pochten und biss sich auf die Zunge, um nicht los zu flennen, wie ein kleines Mädchen. Es war nichts gebrochen, aber der Fußknochen war angeknackst und steckte jetzt in einem Schuh fest, der jeden weiteren Schritt zu klein für die Schwellung wurde. In dem Moment, in dem sie sich zwang ruhig zu bleiben, bemerkte sie das erste Mal um sich herum die Stille. Weder Grillen, noch Vögel, noch Affen waren zu hören. Und im Unterholz bewegte sich nichts mehr. Suzanna hatte den Schmerz vollkommen vergessen und lauschte nun angestrengt in den Wald hinein. Je länger und gewisser die Abwesenheit jeglicher Geräusche wurde, desto schneller und heftiger ging ihr Herzschlag. Ein Unbehagen breitete sich in ihrer Magengegend aus und das Einzige, was ihr ihr Verstand noch sagte, war: Lauf! Lauf! LAUF! Und sie lief! Sie hatte den Moment nicht bemerkt, indem sie aufgestanden war und angefangen hatte zu rennen, aber jetzt trugen sie ihre Füße über den Waldboden, als wäre nie eine Schwierigkeit dabei gewesen. Sie stolperte, fing sich wieder und spürte kaum die Schmerzen in den Knochen, die sie sich dabei anschlug. Die Geräusche kehrten nicht wieder, aber sie war sich jetzt sicher, dass etwas sie verfolgte. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie ohne einen klaren Grund so beunruhigt gewesen wie in diesem Moment. Wie bei einem in Angst versetzten Kaninchen hatte ihr Körper jegliche Kontrolle übernommen und kein einziger Gedanke drang mehr zu ihr durch. Ihre Füße flogen über den Boden, ihre Hände schürften an Rinde, Blättern und Ästen entlang, ihr Blick war in einem engen Winkel nur nach vorne gerichtet und ihre Ohren versuchten die Umgebung hinter ihr zu überwachen. Tatsächlich war dort ein Geräusch. Wie das zu schnelle Ticken einer Uhr oder das das metallene Klappern einer Kette, die über kalten Stein gezogen wurde oder – erinnerte sie sich plötzlich – wie wenn man eine Spieluhr sehr langsam aufzieht. Fast blind vor Panik versuchte sie noch schneller zu laufen, streckte ihren Kopf nach vorne und hob ihre Unterarme schützend vors Gesicht. Da glaubte sie zwischen ihren angewinkelten Armen etwas zu erkennen. Ein helles Viereck aus Licht irgendwo zwischen den Bäumen. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es ein Fenster war hinter dem in einem warmen Orange Licht brannte. Gottseidank, gottseidank, gottseidank!!! Das waren ihre ersten Gedanken seit einer Ewigkeit und sie trugen sie auf das Licht zu, als wäre es ihre einzige Hoffnung. Sie wusste nicht, was sie verfolgte. Sie konnte noch nicht einmal sehen, ob dort etwas war. Aber in diesem Moment war Suzanna sich sicher: Sie würde sterben, wenn sie es nicht bis zum Licht schaffte. Mittlerweile war sie so nah heran gekommen, dass sie erkennen konnte, dass sie auf ein Haus zulief. Auf eine Art flachen Containerbau mit einem dunklen Dach und Wänden aus blauem Wellblech. Es stand auf einer großen Lichtung und war teilweise umgeben einem metallenen Viehzaun, an dem die Farbe abblätterte und der anscheinend eine Weide absteckte. Davor standen altes Feldarbeiter-Gerät und Unmengen sonstiger verrosteter Abfall wie leere Blechdosen und Glasflaschen. Hinter dem Gebäude und auf dem Dach reckten sich einige angelaufene Satellitenschüsseln in den Nachthimmel und kleine grüne und rote Lichter zeigten an, dass sie in Betrieb waren. Das Haus wirkte heruntergekommen und vernachlässigt, aber das Licht hinter dem Fenster und die blinkenden Satellitenschüsseln deuteten darauf hin, dass es bewohnt war. Suzanna sprintete auf die Anlage zu. Als sie an dem Viehzaun vorbei hechtete, flackerte eine kurze Neonröhre über der Eingangstür auf und tauchte den schlammigen Boden vor ihr in kaltes Licht. Den unsichtbaren Verfolger immer noch hinter ihr, stürzte sie auf den Eingang des Hauses zu. Sie verringerte ihre Geschwindigkeit nicht einmal, als die Tür vom Gebäude aufgestoßen wurde und eine großer Schatten auf den Boden vor ihr fiel. „Bleib stehen! Keinen Schritt weiter!“ Sie blieb nicht stehen. Sie durfte nicht. Das Licht war ihre einzige Chance. „Ich hab gesagt, BLEIB STEHEN!!!“ Der Schuss war ohrenbetäubend laut. Der Schreck riss Suzanna so heftig von den Füßen, dass sie im ersten Moment nicht wusste, ob sie einfach im Schlamm ausgerutscht war oder ob sie die Ladung der Schrottflinte tatsächlich getroffen hatte. Sie lag nach vorne gestreckt in einer warmen braunen Suppe aus Dreck und Gras; und Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie hob schwach die Hände. Durch den salzigen Schleier vor ihren Augen konnte sie nicht viel mehr erkennen, als den verschwommenen, formlosen Schatten auf der Türschwelle einige Meter vor ihr und durch ihr Schluchzen klangen ihre Stimme eher wie das sinnleere Gewimmer eines Kindes, das noch nicht gelernt hatte, zu sprechen. „Bitte… Bitte! Bitte… Da ist etwas. Etwas verfolgt mich! Ich weiß nicht, was es ist. Aber Oh Gott !“ Ihre Stimme brach ab und ging von wimmerndem Geschrei in das scharfe Flüstern einer vor Angst Wahnsinnigen über. „Es ist ganz nah. Ich habe es nicht gesehen, aber ich kann es hören. Es kommt näher. Es kommt hierher!!! Bitte …“ Sie stütze sich auf die Knie und hob ihre leeren Hände in die Luft, damit der Schatten sehen konnte, dass sie unbewaffnet war. „Sie müssen mich reinlassen. Bitte, SIE MÜSSEN MICH REINLASSEN!!!“ Sie hörte wie jemand die Treppen zum Eingang hinunter stieg und auf sie zukam. Die Schritte waren forsch und zielgerichtet. Suzanna wurde an der Schulter gepackt und auf ihre Füße gezogen. Dann stieß man sie nach vorne auf die offene Tür zu. „Geh da rein! BEEIL DICH!“ Sie stolperte nach vorne und die drei Stufen hinauf. Im Haus stürzte sie an die gegenüber liegende Wand und rollte sich zusammen, während sie hörte wie die Tür hinter ihr geschlossen und verriegelt wurde. Weitere Schritte in der Stille. Ein Vorhang wurde zur Seite gezogen und wieder geschlossen. Der Schatten bewegte sich im Raum von einer Seite zur anderen. Etwas Metallenes kratzte über den Boden. Das Geräusch endete kurz vor ihr. Suzanna löste ihr verheultes Gesicht aus der Umarmung ihres Körpers und blickte in den Raum hinein. Das Haus bestand fast nur aus einem einzigen Raum. Weiter hinten teilte eine Wand aus Stahlstreben das Innere des Hauses. Die Wände und der Boden waren kalt und abgenutzt, aber trotzdem nicht kahl. Jemand hatte einen großen, ausgeblichenen Teppich den grauen Beton geworfen und weiter hinten im Raum konnte sie eine Couchgarnitur mit einem Tisch erkennen. Zwischen den Streben konnte man einen Wanddurchbruch zu einer Küche erkennen und daneben noch zwei weitere Türen, die wahrscheinlich in andere Räume führten. An den Wänden hingen Bilder und Zeitungsartikel. Ein Poster, auf dem eine Ballerina oder eine Turnerin in konzentrierter Pose abgebildet war. Die Schrift darauf war kyrillisch. Suzanna konnte russisch lesen. Sie erkannte auf den ersten Blick nur, dass die Bildunterschrift darauf hinwies, dass die Frau eine gewisse Nadia Comaneci war. Der Name sagte Suzanna nichts. Die anderen Bilder und Zeitungsfotos waren zu klein, um sie zu erkennen. Viele von ihnen waren vergilbt und so oft gefaltet wurden, dass die Druckfarbe in den Falten bereits verschwunden war. Der Schatten saß vor ihr auf einem umgedrehten Stuhl. Auf der Lehne ruhte der Lauf eines Gewehres und zeigte mit präziser Bestimmtheit auf ihre Brust. Suzanna atmete stockend ein. Ihr Herz pochte immer noch schmerzhaft gegen den Stoff ihres Overalls und ihr Fuß begann wieder zu schmerzen. Aber sie fühlte sich sicherer. Die Waffe, die man auf sie richtete war nichts im Vergleich zu der unsichtbaren Bedrohung zuvor. „Wer schickt dich?“ Suzanna wischte sich mit dem Handrücken den Dreck und die Tränen aus den Augen. Ihr Gegenüber war ein Mann und er sprach mit einem starken kyrillischen Akzent. Als erstes erkannte sie den Gewehrlauf und zwei außerordentlich ruhige Hände, die ihn hielten. Über der Zielhilfe blickte ein schmal zusammen gekniffenes Auge auf die Stelle, an der ihr Herz lag. Kein Wimpernschlag verriet auch nur die Absicht ihr ins Gesicht zu sehen. Das andere Auge lag unter einer schwarzen Augenklappe. Suzanna spürte, wie die Anspannung des Mannes auf sie überging. Jeder einzelne Muskel verharrte in seiner vorgesehenen Stellung. Sie konnte nicht einmal erkennen, ob er überhaupt atmete. „Antworte! Wer schickt dich?“ „Niemand. Niemand! Wer sollte mich schicken? Ich weiß nicht, was Sie--“ Der Mann mit der Augenklappe ließ den Ladehebel demonstrativ laut zurück schnellen. Suzanna hätte schwören können, dass die Waffe bereits vorher schon durchgeladen wurden war, aber anscheinend benutzte er diese Geste jetzt zur Verstärkung seiner Worte. Und es verfehlte seine Wirkung nicht. Suzanna wurde sich ihrer erneut bedrohlichen Situation schlagartig bewusster. „Ich frage kein drittes Mal! Bist du eine von Bens Leuten?“ „Ob ich was bin? Wer ist Ben?!“ Er stand auf und stieß den Stuhl dabei nach vorne um. Die Lehne krachte wenige Zentimeter vor ihr auf den Boden. Dann trat der Mann den Stuhl zur Seite und Suzanna spürte den unangenehm festen Druck des Gewehres auf ihren Rippen. „Ich habe keine Ahnung, wer Ben ist! Ich war gerade noch mit ein paar Leuten unterwegs. Daniel, Char…Charlotte und den Namen von dem anderen hab ich vergessen! Bitte, ich habe keine Ahnung, wer Ben ist. Ich weiß nicht…“ Sie zögerte einen kurzen Moment, dann sagte sie aus einer Eingebung heraus: „Ich weiß nicht, kennen Sie einen Charles Widmore?“ Für einen kurzen Moment leuchteten die Augen des Mannes auf und Suzanna hatte das Gefühl den richtigen Nerv getroffen zu haben. „Ja.“, sagte der Einäugige in einem seltsamen Ton, „Ja, ich kenne Charles Widmore.“ Dann riss er den Griff seiner Waffe nach vorne und bevor der Schmerz an ihrem Kinn bis in ihren Kopf vorgedrungen war, hatte Suzanna bereits ihr Bewusstsein verloren. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)