Oh Shit. von m0nstellar ================================================================================ Prolog: Blaulichtbekanntschaft ------------------------------ Es brauchte die geballte Kraft dreier Kollegen, um die pummelige Dame im Friseurstuhl fixiert zu halten. Ihre hochfrequenten Schreie zerschnitten jedem im Salon beinahe das Trommelfell. All das Blut an ihren Händen, das durch Angst und Schmerz verzerrte Gesicht – und diese Augen. Diese riesigen, weit aufgerissenen Augen. »Was hast du da bitte zusammengemischt«, rief eine der Frauen vorwurfsvoll, während sie mit dem Arm der Kundin kämpfte, als handelte es sich dabei um ein wild gewordenes Tier. Stellar aber war nicht in der Lage zu antworten. Immer wieder schwappte ihr der Geschmack von Galle wellenartig in die Mundhöhle und machte es ihr so unmöglich auch nur einen Laut von sich zu geben. Wie angewurzelt stand sie da, unfähig, auch nur ihren Blick von ihr abzuwenden … Plötzlich stand eine weitere Person ganz dicht vor ihr. Es war ihre Chefin, Mrs. Palmer. »Mach gefälligst den Mund auf!«, brüllte sie und funkelte sie mit Hass erfüllten Augen an. »E-Es tut mir leid, i-ich –« Weiter kam sie mit ihrer Erklärung nicht, denn ihre Chefin gab ihr einen solch heftigen Stoß, dass sie ein paar Schritte nach hinten taumelte, das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel. Mit dem Finger auf die schreiende Kundin deutend, beugte sie sich über Stellar, trieb sie in die nächstgelegene Ecke, sodass sie ihr nicht mehr entkommen konnte. »Weißt du eigentlich, was du da angerichtet hast? Siehst du das?« Die Zornesfalte grub sich immer tiefer in ihre Stirn, während ihre Ader an der Schläfe bedrohlich pulsierte. »Siehst du, was du angerichtet hast? Das ist deine Schuld!« Stellars Körper bebte. Tränen rannen ihre Wangen hinunter. »Bitte, Mrs. Palmer, i-ich … Das war keine Absicht«, krächzte sie, presste sich mit dem Rücken fest an die Wand. »Keine Absicht? Am liebsten würde ich dir …« Vor Wut schnaubend holte sie weit mit der flachen Hand aus und – »Hey, sofort aufhören!«   Diese tiefe Stimme war Stellar völlig fremd. Vorsichtig hob sie den Kopf aus ihrer Deckung und öffnete eines ihrer zusammengekniffenen Augen, wollte wissen, wem diese Stimme gehörte. Anfangs erkannte sie nur verschwommene, grünlich gelbe Umrisse, die sich wie eine Mauer vor ihr aufgebaut hatten. Erst nach mehrmaligem Blinzeln entpuppten sich die Umrisse als die Uniform eines Sanitäters, der sich zwischen sie und ihrer Chefin gestellt hatte. Wer hatte denn den Krankenwagen gerufen? Und seit wann waren sie hier? »Bitte, beruhigen Sie sich doch! Es bringt doch nichts, aufeinander loszugehen.« »Ich soll mich beruhigen? Haben Sie die arme Frau da hinten nicht gesehen? Der sollten Sie vielleicht mal helfen und nicht dieser Pfuscherin! Die misshandelt nicht nur meine Kunden, die ruiniert mir mit ihrer Arbeitsweise auch noch meinen Ruf, meinen Laden! Und dann wollen ausgerechnet Sie mir sagen, ich soll mich beruhigen?« Trotz der Abschirmung durch den Fremden schaffte sie es, ihren knochigen Zeigefinger direkt in Stellars Gesicht zu halten. »Und das eine sage ich dir, Fräulein: Für das Geld, was uns deinetwegen durch die Lappen gegangen ist, kommst du aus eigener Tasche auf. Dafür sorge ich, darauf kannst du Gift nehmen!« Der Kloß in ihrem Hals mutierte zu einem scharfkantigen Felsbrocken. In dem Moment wurde ihr klar, dass es hier nicht mehr um die Kundin ging – Es ging um sie. Man wollte sie loswerden. Loswerden und dafür bluten lassen, dass sie, die Neue, beliebter war, als alle anderen in diesem Salon. Es war die Bestrafung dafür, dass einige der Kunden aus freien Stücken zur Neuen übergelaufen waren. Dieser Vorfall mit der pummeligen Dame war für das gesamte Team eine einmalige Gelegenheit und der wohl beste Vorwand, um sie rauszuschmeißen. Das eben war keine Drohung – Das war eine indirekt ausgesprochene, fristlose Kündigung. Von einer Sekunde auf die nächste drückte der Felsbrocken gegen ihren Kehlkopf und blockierte ihre Atemwege. Instinktiv schnappte sie nach Luft, immer und immer wieder. Doch je öfter sie das tat, desto weniger bekam sie davon, bis sie die Kontrolle über ihre Atmung dank der weiterhin andauernden Schreie schließlich ganz verlor. Luft, sie brauchte Luft! Verzweifelt streckte sie ihren Arm aus und versuchte, nach der Hose des Fremden zu greifen, doch sie schaffte es nicht. Ihre Finger waren zu steif. Zu ihrer Erleichterung war dem Sanitäter ihr Versuch, auf sich aufmerksam zu machen, nicht entgangen. Der kurze Blick über die Schulter genügte ihm offenbar, um den Ernst der Lage zu verstehen. Sofort drehte er sich um, beugte sich zu ihr herunter und half ihr auf die Beine. »Aus dem Weg!«, rief er, schob Mrs. Palmer unsanft beiseite und führte sie in den nahegelegenen Personalbereich, wo er sie behutsam auf einen der Hocker setzte. »Ganz ruhig, tief durchatmen. Ich bin Christopher Marvin, ich helfe Ihnen. « Stellar röchelte, nickte aber. Langsam ging er vor ihr in die Hocke, während er sprach: »Hören Sie, Sie hyperventilieren. Das bedeutet, dass Sie zu viel Sauerstoff im Blut haben. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass wir den Sauerstoffgehalt senken.« Stellar verstand ihr Problem und nickte erneut. »Was – was ist mit – mit Mrs. –« Ihr Gestammel brachte sie unter größter Anstrengung und Schnappatmung heraus. »Um die Dame vorn kümmert sich mein Partner. Machen Sie sich keine Sorgen, es wird alles gut.« Sogleich richtete er sich wieder auf, stöberte unkoordiniert in Schubladen und Schränken herum – und wandte sich mit einem schwarzen Handschuh wieder zu ihr. »Ich werde jetzt den Handschuh auf Ihr Gesicht halten und Sie atmen so tief und ruhig wie möglich in den Handschuh hinein.« Wieder ein Nicken. Vorsichtig umschloss er damit Nase und Mund. »Immer schön tief ein- und wieder ausatmen.« Sie tat, was er verlangte und kämpfte gegen den Widerstand in ihrem Körper. Ruhig atmen. Immer ruhig atmen. Und tief. Tief und ruhig atmen. »Sehr gut, Sie machen das wirklich sehr gut.« Gemeinsam beobachteten sie, wie der Handschuh sich aufblähte und wieder zusammensackte, und nach einer Weile wurden die Intervalle länger. Langsam, aber sicher beruhigte sich ihre Atmung. Auch die Schreie, die aus dem vorderen Teil des Salons zu ihnen durchdrangen, wurden leiser, bis nur noch ein Winseln übrigblieb. Nach weiteren vergangenen Minuten verstummten auch diese und Stellar nahm seine Hand und den Handschuh vom Gesicht. »Geht es schon besser?« »Ja, danke«, presste sie während sie hustete heraus. »Es geht schon wieder.« Gott, sie klang wie eine verrauchte Opernsängerin nach einer missglückten Stimmbänder‑OP. Ihn schien das jedoch nicht weiter zu stören. Er wartete, bis sich ihr Hustenreiz gelegt hatte, dann fuhr er mit seiner Behandlung fort. Aus seiner Brusttasche holte er seine Kugelschreiberleuchte heraus und schaltete sie ein. »Ich werde jetzt Ihren Pupillenreflex kontrollieren. Halten Sie sich bitte mit einer Hand ein Auge zu und sehen Sie mich an.« Als sie seiner Bitte nachkam schwenkte Mr. Marvin das Licht des Lämpchens vor ihrem Auge hin und her. Dasselbe tat er auch mit dem anderen Auge. »Alles normal«, stellte er hörbar erleichtert fest. Stellar hingegen spürte keine Erleichterung. Im Gegenteil: Ein neuer Tränenausbruch kündigte sich an. Die Schreie mochten zwar aufgehört haben, doch das machte die Lage, insbesondere ihre eigene Lage, nicht weniger dramatisch. »… Und jetzt erzählen Sie mal, was überhaupt passiert ist.« Wo sollte sie da nur anfangen? Sie wusste es ja selbst nicht wirklich. »Ich … Mir tut das so unendlich leid, ich wollte das nicht.« »Was meinen Sie damit, was tut Ihnen leid?« »Das mit Mrs. Jenkins. Das ist alles meine Schuld.« Und wieder kullerten ihr die Tränen die Wangen hinunter. Nach einem kurzen Schniefen wischte sie sich mit dem Handrücken über das Gesicht, senkte den Blick. Dass sie schon wieder heulte, war ihr peinlich. Eine Schranktür schlug zu und der Wasserhahn lief für wenige Sekunden. »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.« Stellar sah zu ihm auf und entdeckte das Glas Wasser, das er ihr mit einem wohl aufmunternd gemeinten Lächeln reichte. »Vielen Dank.« Sie nippte nur kurz daran, stellte das Glas wieder auf der Theke ab. »Mrs. Jenkins ist Stammkundin hier. Jeden Donnerstag kommt sie hierher, um sich für ihre Skatrunde die Haare frisieren zu lassen. Sie ist nur deshalb heute an einem Montag hier, weil sie ihren fünfundzwanzigsten Hochzeitstag hat. Sie wollte das Grau abdecken, mit einem ganz natürlichen Blond, und damit ihren Mann überraschen. Genau so, wie sie es früher getragen hat. Ihr Mann hat wohl sehr oft davon gesprochen, was für schöne Haare sie doch gehabt hat und dass es im Sonnenlicht wie Gold ausgesehen hätte …« »Der Mann versteht was von Komplimenten.« Ein kleines Grinsen tauchte bei ihr auf, verschwand aber sofort wieder. »Ich weiß nicht, was da schiefgelaufen ist. Ich habe alles so gemacht, wie ich es sonst auch mache. Ich habe die Farbe wie immer angemischt und ich habe sie auch wie immer aufgetragen. Aber als ich fertig war, hat sie gesagt, dass es sie am Kopf beißt und juckt … und dass sie das nicht länger aushält … Erst habe ich das für eine allergische Reaktion gehalten, aber dann hat sie sich ununterbrochen am Kopf gekratzt und geschrien und geschrien … Es war so grausam mit anzusehen. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte, ich war total überfordert.« Schwer seufzend strich sie sich über das Gesicht. »Machen Sie sich keine Vorwürfe, Miss …« »Panucci. Aber nennen Sie mich ruhig Stellar. Das machen meine Kunden auch.« »Mir ist Chris auch lieber als Mr. Marvin.« Kurz lächelte er sie an. »Wie gesagt, mach dir keine Vorwürfe. Es gibt eben Menschen, die völlig handlungsunfähig sind und nicht anders können, als dazustehen und zuzusehen.« Das war nicht gerade aufbauend. »Ich wünschte einfach nur, ich hätte ihr irgendwie helfen können, aber …« Sie beendete den Satz nicht. »Vielleicht kannst du das ja noch.« Stellar runzelte die Stirn. »Was meinst du?« »Du sagtest doch, du hast die Haarfarbe angemischt. Zeig mir mal, was du dafür benutzt hast.« »Okay …« Zögerlich und mit fiesem Bauchgefühl stand sie auf, holte aus dem Regal eine Packung Goldblond heraus und reichte sie ihm zusammen mit einer großen Flasche „H2O2 – 6%“. »Die Farbe wird zusammen mit Wasserstoffperoxid verrührt, damit die Farbe oxidiert. Erst durch das Oxidieren entwickelt sich die gewünschte Haarfarbe«, erklärte sie und ließ Chris nicht aus den Augen. Der nickte verstehend. »Kann man das auch falsch zusammenrühren?« »J-ja. Es braucht das richtige Mischverhältnis mit dem richtigen Oxidanten. Wasserstoffperoxid gibt es in verschiedenen Konzentrationen. Wenn die Konzentration beim Färben zu hoch ist, kann es zu einem sogenannten chemischen Haarschnitt kommen. Das heißt, die Haare brechen ab. Im schlimmsten Fall kann die Kopfhaut sogar Blasen bilden, aber ich habe bisher noch nie gehört, dass so etwas überhaupt jemals passiert wäre …« Nervös strich sie sich ihren Pony aus dem Gesicht. »Und du bist dir sicher, dass du die hier verwendet hast?« Er hielt demonstrativ noch einmal die Flasche H2O2 hoch, die sie ihm gegeben hatte. Bei näherem Überlegen gewann letztlich der Zweifel. »Eigentlich schon, ja. Ich bin mir ziemlich sicher …« Wenn jetzt wirklich rauskam, dass das ihr Fehler war … Chris nahm nun die Tube aus der Packung und las sich die aufgelisteten Inhaltsstoffe durch. Dann stutzte er. »Ist in allen Farben Ammoniak enthalten?« »Ähm … In den meisten, ja. Ammoniak quellt das Haar auf und lässt die Farbe ins Haar eindringen.« Grinsend hob er den Zeigefinger. »Einen kleinen Moment, ja? Ich komme gleich wieder.« So schnell konnte sie gar nicht reagieren, da war er auch schon aus dem Personalbereich verschwunden. Eine Zeit lang verharrte sie mit ihrem Blick auf der Tür, in der niemand rein- oder rauskam. Doch ihre innerliche Unruhe machte es ihr unmöglich, sitzen zu bleiben. Sie stand auf und schlich zur Tür, lugte um die Ecke und beobachtete Chris beim Gespräch mit seinem Partner. Er sah wirklich gut aus. Diese roten, zerwühlten Haare und sein genauso roter Drei‑Tage-Bart …  Dazu die hellgrünen Augen, sein Lächeln … Kopfschüttelnd wischte sie die Gedanken beiseite, trat von der Tür zurück und setzte sich wieder auf ihren Hocker. Was dachte sie sich nur dabei? Mrs. Jenkins litt Höllenqualen, vielleicht sogar ihretwegen, und sie hatte nichts Besseres zu tun, als den Sanitäter abzuchecken und sich zu fragen, wie wohl das Aufeinandertreffen mit ihm unter weniger dramatischen Umständen abgelaufen wäre. Wenn sie ihr doch nur geholfen hätte … Stattdessen stand sie nur da und gaffte sie wie eine Schaulustige an. Sie verstand sich selbst nicht. Sie mochte die alte Dame. Und sie mochte ihren Job. Wenn das wirklich ihre Schuld gewesen sein sollte, musste sie ernsthaft an ihrer Kompetenz als Friseurin zweifeln. Nervös wippte sie mit dem Knie auf und ab, knetete fleißig ihre Finger weiter und sah immer wieder zur Tür. Hoffentlich ging es Mrs. Jenkins gut … Heraustreten und selbst nachsehen wagte sie nicht. Mrs. Palmer würde nur erneut auf sie losgehen, der Rest des Teams wahrscheinlich auch. Vermutlich war es besser, wenn sie den Salon verließ und die Kündigung hinnahm. In einer Teppichfärberei konnte man ja wohl deutlich weniger Schaden anrichten als hier. Und sollte doch etwas schieflaufen, würde man sie nur wegen Sachbeschädigung drankriegen und nicht wegen versuchtem Mord. Vielleicht sollte sie es wirklich in Erwägung ziehen, sich dort zu bewerben. Ein Schatten erregte ihre Aufmerksamkeit. Chris stand nun im Türrahmen und erlöste sie. »Also, um dich erst einmal zu beruhigen: Mrs. Jenkins geht es soweit gut. Mein Partner hat ihr die Haarfarbe mit kaltem Wasser runtergewaschen und ihr geht es jetzt schon viel besser.« Stellar atmete erleichtert auf. »Gott sei Dank.« »Wir werden sie aber trotzdem mit ins Krankenhaus nehmen und sie dort weiter untersuchen lassen, damit auch sicher festgestellt werden kann, was die Ursache des Ganzen ist«, erklärte er weiter. Und schon hielt sie wieder die Luft an. »Ist es so schlimm?« »Schlimm? Na ja … Jein. Im Moment sieht alles nach einer allergischen Reaktion aus. Sie spürt auch immer noch ein starkes Jucken und hat Schwellungen im Nacken, an den Ohren und am Kopf. Anscheinend hat sie eine Panikattacke gekriegt und sich mit ihren spitzen Fingernägeln dann blutig gekratzt.« Das klang fast so, als wäre sie unschuldig. »Also … muss ich nicht ins Gefängnis?« »Ins Gefängnis?« Chris lachte. »Um Gottes Willen, nein! Wie kommst du denn darauf? Ist doch noch nicht mal eine Polizeistreife hier.« Das wunderte sie auch schon eine ganze Weile. Warum eigentlich nicht? »Ich dachte nur, weil das wegen mir passiert ist«, murmelte sie und strich sich verlegen die Haare zurück. Nun kam Chris auf sie zu, legte ihr seine Hände an die Schultern und sah ihr tief in die Augen. »Ist doch Unsinn! Dich trifft keine Schuld. Für eine allergische Reaktion kann niemand etwas. Wenn du es gewusst und absichtlich getan hättest, dann hätten wir die Polizei nachträglich verständigen müssen, aber das hier ist in meinen Augen ein klassischer Unfall.« Mit seinen Worten besiegte er ihr fieses Magendrücken und sorgte für ein kleines Lächeln. Erleichterung kam auf. Er lächelte erst zurück, nahm aber dann seine Hände wieder von ihren Schultern und sah sie besorgt an. »Aber … Ohne dir zu nahe treten zu wollen: Macht ihr euch eigentlich immer so heftig gegenseitig fertig?« Sofort verschwand auch aus ihrem Gesicht das Lächeln. »Nun, was das angeht … Das ist ein bisschen komplizierter …« »Geht mich eigentlich auch nichts an«, räumte er ein. »Aber ich glaube, es gibt bestimmt noch andere Friseurläden mit besserem Arbeitsklima.« »Muss es. Das war hier vermutlich auch mein letzter Arbeitstag.« Ihre Stimme klang eher entschlossen als traurig. Sein besorgter Gesichtsausdruck milderte sich. »Das sage ich nicht gerade oft, besonders nicht, wenn es mir nicht zusteht, aber … in diesem Fall finde ich das wirklich gut.« Kurz warf er einen Blick über die Schulter, dann zurück zu ihr. »Ich wünsche dir jedenfalls viel Glück bei der Suche und dass du schnell etwas Neues findest.« In ihrer Brust machte sich Enttäuschung breit. Sie hätte sich so gern noch länger mit ihm unterhalten … Und da fiel ihr ein, was sie bei der ganzen Aufregung total vergessen hatte! Ehe er aus der Tür trat, griff sie ihn noch einmal am Ärmel und zog ihn zurück. »Chris, ich … habe total vergessen, mich bei dir zu bedanken.« »Ach was, nicht der Rede wert. Das ist mein Job.« Sein Lächeln weichte ihr die Knie auf. Wenn sie jetzt nicht fragte, würde sie womöglich nie wieder die Gelegenheit dazu bekommen. Wie oft traf man schon eine Person, die man nur flüchtig gesehen oder kennengelernt hatte, durch Zufall ein zweites Mal? Es war wirklich nicht ihre Art und es kostete sie enorme Überwindung, doch sie wollte sich unbedingt für seine Hilfe bedanken. Was er getan hatte, war für sie keineswegs selbstverständlich. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre sie wahrscheinlich noch ewig am Boden gesessen und hätte nach Luft gerungen – Wenn sie nicht sogar buchstäblich daran verreckt wäre, weil keiner ihrer sogenannten „Arbeitskollegen“ ihr zu Hilfe gekommen wäre. Also: Entweder jetzt oder nie! »Ich ähm … würde mich aber trotzdem gern irgendwie erkenntlich zeigen. Kann ich dich vielleicht … einladen? Zum Essen oder so?« Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie merkte, dass das nach einer Einladung zu einem Date klang. »E-einfach, um Danke zu sagen, ganz unverbindlich«, fügte sie schnell hinzu und spürte die Röte in ihrem Gesicht aufsteigen. Erst wirkte Chris überrascht, dann aber schien er ernsthaft darüber nachzudenken. »Na ja, warum eigentlich nicht?« Sie konnte es kaum fassen. »Echt jetzt?« »Ja, warum nicht? Ist es in Ordnung, wenn ich mich bei dir melde? Ich kann dir momentan noch nicht sagen, wann ich Zeit habe. Ich muss erst noch auf meinen Schichtplan schauen.« »Ja, klar! Sicher!« Voller Euphorie suchte sie Papier und Stift, fand aber auf die Schnelle nur einen Kugelschreiber und eine offen herumliegende Packungsbeilage. Dort notierte sie ihre Handynummer und drückte sie Chris in die Hand. »Ruf einfach an. Ich bin eigentlich immer zu erreichen. Egal wie spät.« Sie konnte es jetzt schon kaum erwarten. »Ich melde mich heute Abend, okay? Bis dahin habe ich auch auf den Plan geschaut.« »Okay. Ich freu mich.« »Ich mich auch.« Schon wieder dieses Lächeln … Aus dem Salon ertönte ein tiefes Gebrüll nach Chris. »Sorry, ich muss jetzt wirklich los. Ich melde mich, versprochen!« Ein letzter Wink und er war weg.   Obwohl Chris den Personalbereich schon längst verlassen hatte, hielt sich Stellars Grinsen eisern. Ob er sich wirklich meldete? Sie hoffte es. So aufgeregt, wie sie jetzt war, wäre sie am Boden zerstört, wenn er es nicht tat. Kapitel 1: Bananeneissamba -------------------------- Stellar dachte immer wieder gern an diesen Tag zurück. Obwohl es mit einer der schlimmsten Tage ihres Lebens gewesen war, hatte sie ihn in bester Erinnerung behalten. Genau genommen war sie über dieses Erlebnis sogar dankbar, denn ohne diesen Vorfall hätte sie nie den Mut gefunden, sich noch einmal eine neue Anstellung zu suchen. Viel eher hätte sie sich weiterhin dem Neid und der Missgunst ihrer Kolleginnen in diesem Salon ausgesetzt, sich stets einredend, dass sich die Situation bald besserte, bis sie gänzlich daran kaputt gegangen wäre. Und nicht nur das. Das für sie wohl Bedeutendste war ja, dass sie ohne diesen Vorfall Chris vermutlich niemals begegnet wäre.  An jenem Tag war er ihr Schutzwall gewesen, ihr Arzt und ihr bester Freund, obwohl er ein völlig Fremder war. Heute, ein halbes Jahr später, gehörte er tatsächlich zu den wichtigsten Menschen in ihrem Leben, zu ihren engsten Vertrauten. Sich nun vorzustellen, nicht mit ihm befreundet, ihm gar nie begegnet zu sein – sie wollte es nicht einmal versuchen. Was immer sie und Chris zusammengeführt hatte, ob Zufall oder Schicksal – Sie war einfach nur unendlich dankbar dafür; auch wenn sich aus ihrer Begegnung nicht das entwickelt hatte, was sie sich insgeheim erhofft hatte …   Wind kam auf und brachte die Baumkronen über ihr in Bewegung. Die Sonnenstrahlen, die sich nun durch das Geäst der Bäume zwängten, tanzten am Boden im Einklang mit jedem Luftzug. Stellar genoss die flackernden Lichter im Gesicht und das Blätterrascheln über ihrem Kopf. Nicht einmal das dumpfe Geschwätz der anderen Leute um sie herum hätte ihr die Ruhe und Zufriedenheit nehmen können. Im Gegenteil: Es half ihr sogar dabei, ihre Gedanken an Früher mit der warmen Brise davonziehen zu lassen, über den nahegelegenen See hinweg, wo die Sonne auf der Wasseroberfläche glitzerte. Eigentlich fehlte nur noch eines, um den Moment gänzlich vollkommen zu machen: Schokoladenkekse. Sie drehte sich um, um nach ihrer Umhängetasche zu greifen – und erblickte Chris. Mit verschränkten Händen am Hinterkopf lag er da, direkt hinter ihr und mit offenem Mund, aus dem ein leises Röcheln entwich. Typisch Chris. Ihr war schleierhaft, wie er es jedes Mal wieder fertigbrachte, so schnell einzuschlafen. Schmunzelnd beobachtete sie ihn eine Weile.  Wie es wohl wäre, bei ihm zu liegen? Dort, in seinen Armen, den Kopf auf seiner Brust ruhend und seiner Atmung lauschend; seinem Herzschlag …  Sein Röcheln wandelte sich in ein Schnarchen um und Stellars Schmunzeln wurde automatisch breiter. Eigentlich wollte sie ihn nicht wecken, aber da er es ja so wollte … Mit schadenfrohem Kichern pikste sie ihm immer wieder mit dem Zeigefinger in die Rippengegend.  Sofort zuckte Chris zusammen und schlug ihre Hand von sich. »Hey!« Stellar lachte. »Sorry, aber du hast gesagt, ich soll dich wecken, wenn du unterwegs einpennst. Schlafen kannst du heute Abend noch.« »Ich hab nicht geschlafen«, entgegnete er beleidigt, setzte sich in den Schneidersitz auf und rieb sich die Augen. »Ja, ja. Schon klar.« Ihr Grinsen wurde breiter. Nun holte sie aus ihrer Tasche die Packung Schokoladenkekse, die sie mitgenommen hatte. »Sag mal, können wir das hier nicht öfter machen?« »Was genau meinst du?«  »Na das hier: Hier, im Park in der Sonne liegen, entspannen …«, erklärte sie und fummelte an der Verpackungsfolie herum. »Ich dachte, du willst lieber kochen und DVDs gucken.« Stellar schürzte die Lippen. »“Lieber“ ist übertrieben. Natürlich mag ich kochen und DVDs gucken, aber das machen wir halt immer und das hier ist doch auch schön.« Nun lächelte Chris ihr entgegen. »Okay, wenn du das sagst … Dann machen wir das in Zukunft eben öfter.« Stellar erwiderte sein Lächeln und nachdem endlich das verschweißte Plastik nachgegeben hatte, fischte sie sich einen Keks aus der Packung. Chris bediente sich ebenfalls daran. »Dann nehmen wir aber das nächste Mal unsere Badesachen mit«, sagte er mit vollem Mund. Auch Stellar wollte gerade von ihrem Keks abbeißen, hielt nun jedoch inne. »Du willst im See baden?« »Klar, wieso nicht?« Stellar senkte den Blick und strich sich ihren Pony aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht … Ich fand den See bisher immer viel zu kalt dafür.« »Na ja, kalt muss er aber doch sein. Anders wäre es ja keine Abkühlung, oder?«, meinte Chris und zwinkerte ihr zu. Stellar schob sich den Keks in den Mund, um nichts darauf erwidern zu müssen. Er mochte damit ja Recht haben, aber − Ein Piepen ertönte zwischen ihnen; Chris’ SMS-Ton. Sofort zuckte ihr Magen zusammen. Chris wandte sich um, holte sein Handy aus seinem Rucksack und entriegelte die Tastensperre. Hoffentlich war das nicht wieder dieser – »Ah. Dylan hat mir geschrieben.« Verdammt! »Er lädt uns zum Eis essen ein«, erklärte er weiter und hielt ihr das Display unter die Nase, auf dem folgende Nachricht aufleuchtete:      Hey. Na, wie sieht’s aus?  In einer halben Stunde vorm Ice-Dealer? Ich geb ne Runde aus.  Unsere Eisprinzessin ist selbstverständlich auch eingeladen. ;) Dylan     Schweigend wandte sie den Blick ab. Blöder Fatzke. Dieser Typ führte doch nur wieder was im Schilde. Und überhaupt: Woher wusste er schon wieder, dass sie mit Chris unterwegs war?  »Und? Was denkst du?« In seinen Augen war die Hoffnung auf ihre Zusage abzulesen.  »Ehrlich gesagt habe ich keine große Lust drauf.« »Okay … Und … wieso nicht?« Das fragte er noch? Sie könnte ihm sämtliche Gründe in all ihren Einzelheiten aufzählen, ohne auch nur einmal ins Stocken zu geraten. Doch bringen würde ihr das nichts. Die Tatsache, dass er ihre Sichtweise nicht nachvollziehen konnte, machte es überflüssig ihm ehrlich darauf zu antworten. Deshalb verstaute sie lieber die angerissene Kekspackung in ihrer Tasche, schweigend. »Bitte, Stellar. Er ist mein bester Freund.« Richtig, und sie fragte sich nach wie vor warum. Chris war witzig, freundlich, hilfsbereit und zuvorkommend, hatte Manieren und Anstand. Er war ein richtiger Gentleman; Dylan war das völlige Gegenteil von ihm. Ungehobelt, chauvinistisch, manipulativ … Wie so jemand sein bester Freund sein konnte, war ihr unbegreiflich. Und wenn er tatsächlich vorhatte ihm zuzusagen, brauchte er nicht glauben, dass sie ohne Weiteres einfach so mitging. So oft, wie ihr dieser Typ das Leben schwer gemacht, ihr immer wieder ihre Treffen mit Chris torpediert hatte … Mittlerweile war sie sowieso der festen Überzeugung, dass er das mit Absicht tat und sich inzwischen einen Spaß daraus machte. Gott, wie sie diesen Typen hasste … In Gedanken war er es, den sie gerade zwischen ihren Zähnen zermalmte. »Bitte, mir zuliebe. Ich meine, immerhin hat er dich auch mit eingeladen. Das ist seine Art, ein Friedensangebot zu machen.«  Stellar schnaubte verächtlich auf. Normalerweise schätzte sie Chris’ Optimismus, aber im Moment fand sie ihn naiv und völlig unangebracht. »Selbst, wenn es so wäre: Ich habe kein Interesse an einem Friedensangebot, das er eh nicht ernst meint.«  Chris senkte kurz den Blick, dann suchte er in ihren Augen sichtlich nach Verständnis. »Ich weiß, er hat sich bei dir nicht gerade Sympathiepunkte geholt, aber er ist genauso ein Freund von mir wie du. Und ehrlich gesagt … Ich will mich nicht immer zwischen euch entscheiden müssen. Ich will die Zeit mit euch beiden verbringen, wenn ich schon mal welche habe.« Ihr war die Zwickmühle bewusst, in der er sich befand. Er hatte es allein durch seinen Job schon schwerer als andere, sich Zeit für seine Freunde zu nehmen. Sich dann auch noch zwischen seinen Freunden entscheiden zu müssen, war eine unnötige, zusätzliche Belastung. Aber auch sie saß dadurch zwischen den Stühlen. Denn ihm zuliebe mitzukommen bedeutete ein großes Opfer für sie. Es bedeutete, Dylan und seine anstrengende, nervtötende Art ertragen zu müssen, sie geradezu über sich ergehen zu lassen, nur um Chris’ Wunsch erst möglich zu machen. Aber andererseits … Jede Zeit mit Chris ist wertvolle Zeit. Und wenn es ihn glücklich machte … »… bitte.«  »Ist ja gut, ich komme mit«, murrte sie und stopfte ihre Jacke, die neben ihr lag, in die Tasche.  Am Druck seiner plötzlichen Umarmung konnte sie deutlich die Dankbarkeit und Erleichterung spüren. Sie hatte fast das Gefühl, sich richtig entschieden zu haben; innerlich aber behielt die Skepsis die Oberhand. Und das nicht ohne Grund. Bisher war kein einziges Aufeinandertreffen mit Dylan gut verlaufen. Schon allein deshalb bezweifelte sie, dass es ausgerechnet heute anders sein würde. Und dieses ominöse Friedensangebot, sofern es überhaupt eines war, würde daran auch nichts ändern. Trotzdem versuchte sie es positiv zu sehen. Immerhin könnte man ihr nicht vorwerfen, dass sie es nicht versucht hätte und Chris machte sie damit ja auch eine Freude.    Die Warteschlange am Eingang vom Ice-Dealer war ewig lang und schon von Weitem zu sehen; und damit auch Dylan. Ihn unter vielen zu identifizieren war nicht sonderlich schwer: Als Riese mit blauen Haarsträhnen an den Schläfen und zerrissenen Jeans stach er in der Menge regelrecht heraus.  Je näher sie ihm kamen, desto größer wurden ihre Zweifel. Vielleicht hätte sie doch besser nach Hause gehen und die Jungs unter sich lassen sollen … Doch jetzt, wo sie direkt vor ihm standen, war es für derartige Überlegungen zu spät.  Chris begrüßte ihn mit ihrem gewohnten Handschlag, dann wandte sich Dylan mit einem schiefen, provokanten Grinsen Stellar zu.  »Na sieh mal einer an. Hätte nicht gedacht, dass du auch mitkommst.« Seine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. Das wirklich Unangenehme aber war sein wohl absichtlich etwas zu fester Klaps auf die Schulter. »Und, alles klar?«  »Dylan, reiß dich zusammen.« »Was denn? Ich mach doch –« »Ist schon gut, Chris«, entgegnete sie und lächelte Chris dankbar an, ehe sie wieder – mit wesentlich ernsterer Miene – zu Dylan sah. »Lassen wir diesen ganzen Smalltalk-Quatsch doch einfach weg, hm? Du willst es nicht wissen, ich will es dir nicht sagen. Überspringen wir also das Ganze und holen uns einfach nur das Eis, ja?«   Zuerst sah Dylan sie einen Moment lang pikiert an, doch dann nahm er beschwichtigend die Hände nach oben und grinste sie erneut schief an. »Okay, wenn’s dich glücklich macht … Ich wollte nur nett sein.« Nett?! »Natürlich. Ganz bestimmt sogar.« Die Augen verdrehend verschränkte sie die Arme und wandte ihm den Rücken zu. Sie wollte sich nicht länger mit ihm unterhalten, was er Gott sei Dank verstand und überraschenderweise respektierte. Stattdessen unterhielt er sich mit Chris über Sport und seine belanglosen Erlebnisse der letzten Zeit. Stellar war froh darüber, dass sie es schaffte, ihm nicht zuzuhören. Nichts von dem, was er erzählte, hatte je ihr Interesse geweckt und diesmal würde es sicherlich genauso uninteressant für sie sein, davon war sie überzeugt. Weggehen konnte sie allerdings trotzdem nicht. Sie musste mit ihnen in der Schlange stehen bleiben und warten, bis sie an der Reihe waren. Nicht nur, dass Dylan ihr es sonst ewig nachsagen würde. Auch Chris wäre bestimmt enttäuscht, wenn sie jetzt ohne Grund einfach so verschwände.  Zu ihrer Erleichterung aber ging es schnell voran. Bereits nach fünfzehn Minuten waren sie die nächsten und Stellar entschied sich spontan – entgegen ihrer üblichen Wahl – für einen Jumboeisbecher mit Vanille, Zitrone, Joghurt, Stracciatella, Amarena und Banane. Ihr war klar, dass sie sechs Kugeln Eis niemals schaffte, aber genau genommen war sie weder dazu gezwungen bescheiden zu bleiben, noch das Eis aufzuessen, nur weil er sie einlud. Aber es verschaffte ihr eine kleine Genugtuung für den ruinierten Nachmittag mit Chris, mochte es auch noch so kindisch sein. Sie wartete, bis jeder von ihnen seinen Eisbecher hatte, dann machten sie es sich ein paar Meter weiter auf der Rückenlehne einer Parkbank bequem. »Ich hoffe, dir schmeckt dein Zwölf-Pfund-Eis«, murrte Dylan.  »Kann mich nicht beklagen«, antwortete sie, mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht. Eine Zeit lang herrschte angenehme Stille zwischen ihnen, während sie ihr Eis aßen – bis Dylan sie unterbrach.  »Sag mal, rein aus Neugier: Wählst du im Restaurant auch ganz selbstverständlich das teuerste Gericht auf der Karte aus, wenn dich ein Typ zum Essen einlädt?« »Dylan!« »Was? Ist doch so!« »Schon okay, Chris«, entgegnete Stellar und löffelte von der Kugel Bananeneis. »Nur zu deiner Information: Nein, würde ich nicht. Dieser Typ, mit dem ich ausgehen würde, hätte nämlich Anstand und Manieren. Ganz im Gegensatz zu dir, du Arsch.« »Wow. Ganz schön große Töne, die du da spuckst, Prinzessin.« Sein schiefes, selbstgefälliges Grinsen provozierte sie nur noch mehr. »Stell dir vor, es gibt noch solche Menschen.« »Daran zweifle ich auch nicht. Nur daran, dass so jemand mit dir ausgehen will.« »Leute, bitte –«  »Was kümmert’s dich überhaupt? Ich kümmere mich ja auch nicht darum, mit welchen aufgeblasenen Ballonbusenweibern du rummachst?!« »Hey, hallo?« »Ballon-was?« Er sah eher amüsiert aus als entrüstet. »Jetzt pass mal auf —« »HEY!«  Chris’ lauter Ausruf überraschte sie beide und ließ sie zusammenzucken. Sofort stieg in Stellars Ohren die Hitze auf.  »Ist es für euch wirklich so schwer, sich mal einen Nachmittag lang zusammenzureißen?!«  Keiner von beiden antwortete ihm, doch das schien ihm Antwort genug zu sein. Die Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen. »Ein normaler Umgang zwischen zwei Erwachsenen, mehr wollte ich von euch nicht. Aber anscheinend ist selbst das zu viel verlangt.« Mit einem Satz sprang er von der Parkbank. »Ich gehe jetzt erst mal pinkeln und wenn ich wiederkomme, habt ihr zwei euch im Griff, verstanden?« Ein letztes Mal sah er jedem von ihnen mahnend in die Augen, dann drehte er sich um und verschwand in der Eisdiele. »Super. Ganz toll«, motzte Stellar, während ihr Blick nach links zu Dylan wanderte. »Wirklich, ganz großes Kino. Ich hoffe, du bist jetzt zufrieden.« Entrüstet verzog er das Gesicht. »Hey, habe ich mich wie eine pubertierende Fünfzehnjährige aufgeführt oder du? Ich wollte euch beiden nur ein Eis spendieren. Wenn dir deswegen schon wieder ein Furz quer sitzt, kann ich nichts dafür.« »Oh, entschuldige bitte! Hab ich glatt vergessen. Selbstverständlich bist du ja nie an irgendwas Schuld.« Typisch Dylan. Immer schön die Schuld bei anderen suchen. Hoffentlich war Chris schnell wieder zurück. Sie wollte nicht länger als nötig mit diesem Vollidioten allein sein. Über die Schulter hinweg hielt sie nach ihm Ausschau.  »Ich glaub, du brauchst mal ’ne Abkühlung.« Sie hatte sich noch nicht ganz zu ihm umgedreht, als ihr mit einem leichten, aber schwungvollen Klaps auf ihre Rückhand die Kugel Bananeneis über den Becherrand hinausrutschte und direkt in ihrem Ausschnitt landete. Hell aufkreischend von der überraschenden Kälte, fuchtelte sie unkontrolliert mit den Armen herum, verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten von der Bank. Nun lag sie da im Grün – während in ihrem Ausschnitt das Bananeneis zerlief und zwischen ihren Brüsten Samba tanzte. Hastig rollte sie sich auf die Seite, beförderte so das Eis ins Gras und richtete sich dann auf.  »Sag mal, hast du sie noch alle?!«, schrie sie und wischte sich mit der Hand ihren Ausschnitt aus.  Dylan aber lachte; lauthals, dreckig und schadenfroh. »Oh Gott. Sorry, aber –« Sein Versuch einer Entschuldigung ging im Gelächter unter. »Oh, Mann. Ich wollte zwar, dass du dich abkühlst, aber so hatte ich das nicht geplant.« Immer noch dreckig kichernd stand er auf, kam um die Bank herum und auf sie zu, reichte ihr die Hand. »Sorry, ehrlich.« Stellar nahm nicht ein einziges Wort davon ernst. »Schieb dir dein „Sorry“ sonst wo hin.« Sie wandte ihm den Rücken zu, zog ihr Tank Top aus und wischte sich damit den letzten Rest aus dem Dekolleté.  »Ach, komm schon. Jetzt sei nicht eingeschnappt. Ich mein’s ernst, mir tut’s wirklich leid.« »Ist ja schön für dich, ich mein’s auch ernst?!« Vor sich breitete sie ihr besudeltes Oberteil aus und begutachtete die Flecken. Alles nur wegen diesem … Stronzo. »Oh, warte mal. Ich glaub, dein BH ist grad aufgegangen.« »Was?« »Kein Ding, ich mach das schon.« Plötzlich spürte sie etwas am Rücken. »Warte, nein! Der ist –«  SCHNAPP – zu spät: Die Verschlussenden ihres Büstenhalters schossen nach vorn, die Träger entspannten sich und der BH rutschte ihr von den Schultern. Panisch ließ sie das Tank Top fallen, presste ihre Arme fest an den Körper und fing mit den Körbchen ihre Brüste ein. Als sie beide eingefangen hatte, sah sie fassungslos zu Dylan – und zu Chris, der vollkommen unerwartet neben ihm stand.  »Was –?!« Chris irritierter Gesichtsausdruck wechselte zwischen Dylan und Stellar hin und her.  Scheiße. Sie war halbnackt. Mitten in der Öffentlichkeit. Und nicht nur Dylan, sondern auch Chris konnte sie sehen. Alle konnten sie sehen. Rasch griff sie nach ihrem Oberteil, unterdrückte bis zuletzt den Drang zu heulen und lief los. Sie wollte weg. Weg von Dylan, weg von Chris – und so weit wie nur irgend möglich. »Stellar, warte!«, rief Dylan ihr nach. »Bleib stehen!« Nicht in tausend Jahren wäre sie jetzt stehen geblieben. Schon gar nicht für ihn. Dumme Sprüche, verschüttetes Eis; Alles schön und gut. Aber das hier war kein Streich mehr. Das war viel schlimmer.   Es dauerte nicht lange, bis ihr Brustkorb das letzte Bisschen an Sauerstoff herausgepresst hatte und vor Anstrengung zu schmerzen begann. Mit Seitenstechen und ausgequetschten Lungenflügeln ließ sie sich keuchend auf die nächstbeste Parkbank fallen, kämpfte weiterhin gegen die Tränen an. Nebenbei versuchte sie verzweifelt die Träger des Büstenhalters auf ihre Schultern zu rücken, doch sie wollten einfach nicht halten. Immer und immer wieder schob sie sie hinauf; ohne Erfolg. Gott, sie fühlte sich so grauenvoll. Ihr mangelte es an Kondition, Luft bekam sie auch keine und zur Krönung des Tages saß sie halbnackt im Clayton National Park.  Noch nie war sie so gedemütigt worden. Von niemandem. Nicht einmal, als ihre Ex‑Kolleginnen sie wegen Mrs. Jenkins fertiggemacht hatten, hatte sie sich so gefühlt wie jetzt. Um sich zumindest nicht mehr nackt zu fühlen, legte sie sich ihr dreckiges Tank Top auf den Oberkörper. Wenn sie doch nur ihre Tasche mitgenommen hätte, dann könnte sie sich ihre Strickjacke anziehen. Dylan hatte inzwischen zu ihr aufgeschlossen und ließ sich neben ihr auf der Bank nieder, keuchte genauso wie sie. »Scheiße. Du bist ganz schön schnell … Hör zu, das habe ich absolut nicht gewollt, okay? Das war wirklich keine Absicht, das tut mir ehrlich leid. Ich ­­­­–« »Schieb dir deine Entschuldigung in den Arsch«, schluchzte sie, wandte sich von ihm ab und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen weg. Länger hatte sie sie nicht mehr aufhalten können. In ihren Augen brannte die zerlaufene Mascara, sodass ihr unfreiwillig noch mehr Tränen in die Augen traten und als schwarze Rinnsale über ihre Wangen liefen. »Stellar, bitte. So ein Arsch bin ich nicht.« »Hörst du mir nicht zu? Du sollst mich in Ruhe lassen! Was verstehst du daran nicht?« Warum? Warum verstand er nicht, dass es nur noch schlimmer machte? Plötzlich spürte sie wieder etwas am Rücken und ihr war sofort klar, dass er sich erneut dort zu schaffen machte. Blitzartig drehte sie sich um und schlug ihm Wut entbrannt die Hände weg, funkelte ihn düster an. »NON TOCCARMI! NON TOCCARMI HAI PIÙ, CAPITO?!« Augenblicklich zog er seine Hände zurück hielt sie nach oben. »Ehrlich … Ich will dir nur helfen.« »DU SOLLST MIR NICHT HELFEN SONDERN VERSCHWINDEN! VERPISS DICH ENDLICH!«  »… okay, ich weiß, du bist sauer, vielleicht auch zurecht. Aber ich will dir gerade wirklich nur helfen. Ich will dir nur den BH zumachen, mehr nicht.« Stellar schniefte nur, wischte sich fahrig mit dem Handrücken übers Gesicht.  »Es ist mir scheißegal, was du willst?!« »Bitte, Stellar. Gib mir eine Chance, es wieder gut zu machen. Okay, ich gebe zu, ich wollte dich ein bisschen ärgern, aber das habe ich ganz bestimmt nicht im Sinn gehabt.« Er war hartnäckig, das musste sie ihm lassen. Und irgendetwas sagte ihr, dass er es tatsächlich ernst meinte. Er war so ungewöhnlich ernst und ruhig … Unsicher, aber auch skeptisch starrte sie ihn weiterhin an.  Seine Augen machten sie wahnsinnig. Sein vernarbtes, linkes Auge war dunkelbraun, das rechte seltsam grün mit honigfarbener Scheckung. Woher sollte man da wissen, in welches man sehen sollte? Und in welchem der beiden Augen lag die Aufrichtigkeit und Reue, die er gerade vorgab? »Bitte.« Eigentlich wollte sie sich von ihm nicht helfen lassen. Viel lieber hätte sie stattdessen Gift geschluckt. Tatsache aber war, dass sie keine Wahl hatte. Sie konnte den Verschluss allein nicht wieder schließen, ohne sich dabei zu entblößen. Folglich war sie auf seine Hilfe angewiesen.  Zögerlich wandte sie ihm den Rücken zu und strich sich ihre langen, blonden Haare nach vorn.  »Einer der beiden Haken fehlt. Und den, der noch da ist, musst du ein bisschen in die Öse biegen.« Behutsam nahm Dylan beide Enden des BHs und schaffte es, nach einigem Gefummel sie ineinander zu verhaken. Als sie schließlich den festen Sitz des Büstenhalters spürte, nahm Stellar erleichtert die Arme von der Brust, setzte sich die Träger auf die Schultern und schlüpfte in ihr Tank Top. Dann stand sie auf und wollte gerade aufbrechen, als sie ihre Tasche neben Dylan entdeckte. Sofort riss sie sie an sich und wühlte ihre Strickjacke heraus, warf sie sich über und zog den Reißverschluss bis hoch zum Kragen. Ihr war es egal, dass es fünfundzwanzig Grad hatte. Sie war wieder angezogen, mehr zählte für sie gerade nicht. »Ohne dir zu nahe treten zu wollen: Willst du das Ding nicht mal wegschmeißen und dir einen neuen BH kaufen? Sollten doch kein Vermögen kosten, oder?« Über ihr Unterwäschesortiment wollte sie jetzt bestimmt nicht reden, schon gar nicht mit ihm. »Wo ist Chris?«, fragte sie und ignorierte seine Frage. »Chris ist immer noch vorn beim Ice-Dealer und wartet … Hör zu, es tut mir wirklich wahnsinnig leid.« Stellar schnaubte verächtlich auf. »Ja, genau. Als ob du jemals irgendeine deiner Entschuldigungen ernst gemeint hättest.« Sie wischte sich mit den Ärmeln das Gesicht trocken und gewann langsam die Kraft in ihrer Stimme zurück. »Für dich ist das alles doch nur ein Spiel. Das „Wie kann ich Stellar heute wieder vor Chris blamieren“-Spiel.« Nun wurde Dylan energischer. » Ey … Du tickst doch nicht richtig. Natürlich meine ich das ernst! Noch mal: Es war keine Absicht. Es war keine Absicht, dass es dich von der Bank gezimmert hat und es war auch keine Absicht, dass du – warte mal …« Er redete nicht weiter und zu Stellars Verwunderung wich seine bis eben noch zornige Miene einem immer breiter werdenden, diabolischen Grinsen. »Du magst ihn, nicht wahr?« Die Frage zog er in die Länge wie Kaugummi. Überfordert runzelte sie die Stirn. Sein ruhiger, neckischer Tonfall gefiel ihr gar nicht. Warum fragte er das?  »Chris«, ergänzte er, half ihr damit auf die Sprünge. »Du magst ihn, stimmt’s? Ziemlich gern sogar.« Ihr Magen krampfte sich zusammen. »Wir … sind Freunde, mehr nicht.« Super. Das klang noch nicht mal in ihren eigenen Ohren überzeugend. »Außerdem tut das gerade nichts zur Sache.« »Komm schon Stellar, sei ehrlich. Du bist in ihn verknallt, hab ich Recht?« Verunsichert strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »N-nein, bin ich nicht. Wie gesagt, wir sind Freunde, mehr nicht.« »Ha! Ich wusste es!« Dylan klatschte triumphierend in die Hände. Shit. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, sich nichts anmerken zu lassen – und ausgerechnet Dylan kam dahinter. Hilflos und nicht wissend, was sie mit ihren Händen anfangen sollte, strich sie erneut die Haarsträhne hinters Ohr, die sich seit dem ersten Mal nicht fortbewegt hatte.  Bestimmt würde er es Chris erzählen. Ganz sicher sogar. Und was das Schlimmste war: Sie könnte es noch nicht einmal verhindern. Selbst, wenn er ihr versprechen sollte es nicht zu tun, könnte sie sich nie wirklich sicher sein, dass er nicht doch einmal die Gelegenheit nutzen würde, um es ihm zu erzählen. Und dann wäre alles aus. Das einzige, das sie tun konnte war, wenn es soweit war, zu versuchen, es vor Chris glaubhaft zu leugnen.  »Also, ich weiß ja nicht, was du gerade denkst, aber … deinem Gesicht nach zu urteilen muss es furchtbar sein«, meinte er und grinste sie hämisch an.  Stellar schnaubte verächtlich auf. »Du bist ein riesengroßes Arschloch, hat dir das schon mal jemand gesagt?« »Keine Sorge, du bist nicht die Erste.« Sein Grinsen wurde noch breiter. Warum redete sie überhaupt noch mit ihm? Zeit zu verschwinden. Ohne ein weiteres Wort zu sagen schulterte sie ihre Tasche, drehte sich um und ging. Sie musste weg. Weg von hier und vor allem von ihm, bevor sie alles nur noch schlimmer machte. »Weißt du eigentlich, wie einfach du es haben könntest?« Sie antwortete nicht darauf, ging stur weiter.  »Du müsstest dich nur ein bisschen locker zu machen. Dann hättest du auch eine reelle -« »Ich bin locker«, schrie sie ihm entgegen, während sie sich wieder zu ihm wandte. »Ich bin sogar tiefenentspannt, wenn -« »Du? Tiefenentspannt? Nee, Mann«, unterbrach er sie und schüttelte hämisch lachend den Kopf. »Du flippst doch schon bei Kleinigkeiten total aus. Von deinem fehlenden Humor mal ganz abgesehen.« Langsam reichte es ihr mit ihm. »Jetzt hör mir mal gut zu: Nur weil du einen kranken Sinn für Humor hast, heißt das noch lange nicht, dass ich keinen habe?!« Nun stand er von der Bank auf, kam bedrohlich auf sie zu. »Mein Humor ist krank?« Sie zuckte lediglich mit den Schultern. »Keine Ahnung, sag du’s mir. Wie würdest du’s denn nennen, wenn dich jemand vor aller Welt nackt zur Schau stellt?!« »Meine Fresse … Wie nachtragend kann man eigentlich sein? Es war, verdammt nochmal, keine Absicht! Es tut. Mir. Leid! Soll ich’s mir mit dem Fingernagel in die Haut ritzen? Bist du dann glücklich?« »Glücklich bin ich erst dann, wenn du wieder von hier verschwindest und nie wieder auftauchst!« Dylan seufzte schwer und rieb sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel. Dann schaute er sie entschlossen an. »Okay, fein. Wie wär’s dann mit ’nem Deal? Ich helfe dir, dass ihr zusammenkommt, du und Chris. Wenn ich es nicht schaffe, verschwinde ich von hier. Für immer.« Erst wollte sie etwas kontern, verschluckte es jedoch, als sie verstand, was er sagte. Hatte sie da gerade richtig gehört? »… für immer?«  »Wenn ich es nicht schaffe, packe ich meine Sachen und du siehst mich in dieser Stadt nie wieder.« Tatsache, sie hatte sich nicht verhört. »… ist das dein ernst?« Dylans Selbstsicherheit blieb unverändert, als er nickte.  »Und wie willst du das anstellen?« »Ich bin sein bester Freund. Ich kenne ihn lange genug, um zu wissen, welche Hebel man bei ihm in Bewegung setzen muss.« Okay … Das kam unerwartet. Warum um alles in der Welt wollte er ihr auf einmal helfen?  »Und was, wenn Chris und ich dann zusammen sind? Was ist dann?« Jetzt wurde sein Blick noch entschlossener. »Wenn ich es schaffe, hörst du endlich auf, mir mit deinem arroganten, pubertären Teenager-Gehabe auf den Sack zu gehen und verhältst dich endlich wie eine erwachsene Frau!« »Im Gegensatz zu dir verhalte ich mich bedeutend erwachsener.« »Oh, oooh! Bitte entschuldige, ich vergaß. Es ist ja ein so überaus erwachsenes Verhalten, sich sechs Kugeln Eis auf Kosten anderer zu bestellen, obwohl man weiß, dass einem nach mehr als zwei Kugeln kotzübel ist. Und natürlich bist du vorhin auch überhaupt nicht zur Terrorzicke geworden, als ich dich auf dein Prinzessinnen-Verhalten aufmerksam gemacht habe.«  Stellar verstummte. Sie gab es äußerst ungern zu, aber er hatte leider Recht. Sie hatte sich ziemlich kindisch benommen und obendrein auch noch Chris damit vergrault. Trotzdem - Sie fragte sich, woher auf einmal dieses Angebot kam. »Wieso willst du mir helfen?« »Glaub mir, ich helfe mir selbst damit mehr, als dir.« Sich selbst helfen? Wie meinte er das? »Jetzt komm schon. Bei dem Deal kannst du doch gar nicht nein sagen. Wenn ich verliere, dann bist du mich für immer los und wenn es klappt, hast du deinen Chris. Klingt doch nach einem super Geschäft, oder nicht?« Erwartungsvoll sah er sie an und reichte ihr die Hand.  Stellar zögerte, verharrte mit den Augen auf seiner Hand. Es klang wirklich nach einem guten Deal. Warum hatte sie dann das Gefühl, dass an der Sache etwas faul war?  »Oh, und da wäre noch etwas. Damit das auch klappt, musst du mir natürlich vertrauen.« »Dir soll ich vertrauen? Wieso?« »Ganz einfach: Wenn du es nicht tust, kann ich dir nicht helfen.« Das klang logisch … aber irgendwie sträubte sie sich immer noch dagegen. Nachdenklich senkte sie den Blick.  Ja, sie wollte mit Chris zusammen sein. Sie wollte wissen, ob eine Beziehung mit ihm überhaupt möglich wäre, ob er dieselben Gefühle für sie hegte, wie sie für ihn. Und wenn es nicht so war, wollte sie die Gewissheit haben, dass ihre Gefühle nichts an ihrer Freundschaft änderten. Dass ihre Freundschaft weiterbestünde. Dass sich die Geschichte von damals nicht wiederholte … »Oh Mann, ich merk schon … Du bist dermaßen in deiner Komfortzone gefangen, dass du nicht mal eine Chance erkennst, wenn sie dir mit Anlauf ins Gesicht springt.« Gelangweilt seufzte er und steckte seine Hand in die Hosentasche. Sofort schnellte sie ihm ihre Hand entgegen und sah ihn mit unbeugsamer Miene an. »Okay, abgemacht.«  Zufrieden lächelnd schlug Dylan ein, drückte sanft zu. »Perfekt.« Kapitel 2: Wiedergutmachung --------------------------- Obwohl sie sich mit Dylan per Handschlag auf einen Waffenstillstand geeinigt hatte, hatte sie sich nicht dazu überwinden können, mit ihm zu Chris zurückzugehen. Ihr Schamgefühl war einfach zu groß, als dass sie sich noch einmal in die Nähe der Eisdiele wagte, von Chris’ Nähe ganz zu schweigen. Deshalb hatte sie sich von Dylan verabschiedet und war nach Hause gegangen.   Zu ihrer Erleichterung stellte sie zuhause fest, dass sie die Wohnung ganz für sich allein hatte. Moiras Kokosnuss-Parfum, das in der Wohnung in der Luft hing, verriet ihr, dass ihre Mitbewohnerin und beste Freundin kurz zuvor das Haus verlassen haben musste, denn ohne ein paar Spritzern davon verließ sie niemals das Haus.  Gott sei Dank. Nach „darüber reden“ war ihr jetzt nämlich wirklich nicht zumute. Lieblos ließ sie ihre Tasche im Flur zu Boden fallen, schlüpfte ohne die Schnürsenkel zu öffnen aus ihren Turnschuhen und zog bereits auf dem Weg ins Bad ihre Klamotten aus. Sie wollte das klebrige Gefühl in ihrem Dekolleté loswerden und endlich wieder sauber sein. Schnell legte sie sich noch ein frisches Handtuch parat, dann stellte sie sich in die Duschkabine und drehte den Wasserhahn auf. Wie schön eine heiße Dusche sein konnte … Regungslos und mit geschlossenen Augen stand sie unter dem Wasserstrahl, genoss den Dampf, das Prickeln auf der Haut und die Hitze, die in ihr aufstieg.  Jeder Muskel, auf den das Wasser traf, entspannte sich und schenkte ihr ein Gefühl von Leichtigkeit. Jeder Gedanke, der sie bis vor kurzem noch beherrscht und gequält hatte, wurde weggespült. Zurück blieb ein unendliches Meer aus Nichts. Ein Nichts, das ihr sogar für einen kurzen Moment den Hörsinn raubte und alles um sie herum in Schweigen hüllte. Kein Gurgeln vom Duschkopf war zu hören, kein Plätschern in der Duschwanne, kein Gluckern im Abfluss.  Erst, als sie die Augen wieder öffnete, kehrte der heutige Tag in ihr Bewusstsein zurück.  Ob es wirklich klug gewesen war, mit Dylan den Deal einzugehen? Jetzt, mit Ruhepuls und der Gelegenheit näher darüber nachzudenken, kamen ihr erste Zweifel auf.  Aus Erfahrung wusste sie, dass er sich kaum Mühe zu geben brauchte, um alles zu vermasseln. Allein, wenn sie an ihre erste Begegnung zurückdachte …   Schon als sie durch Chris’ Erzählungen zum ersten Mal von ihm gehört hatte, war er ihr irgendwie … suspekt vorgekommen. Jemand, der nach etlichen Jahren der Kontaktstille völlig überraschend vor der Tür seines Freundes stand und darum bat, eine Weile bei ihm unterkommen zu dürfen … Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass dieser Typ entweder riesengroße Probleme oder böse Absichten hatte; im schlimmsten Fall sogar beides.  Chris aber hielt das für absurd. Er gab zu, dass Dylan „anders“ als andere war, aber auf keinen Fall ein schlechter Mensch. Zudem hätte sich seiner Meinung nach trotz der Kontaktstille nie etwas an ihrer Freundschaft geändert. Deshalb wäre es für ihn geradezu selbstverständlich, ihn so lange bei sich aufzunehmen, bis er etwas Eigenes gefunden hatte.  Stellar wusste nicht, was ihr dabei mehr imponierte: Chris’ aufopfernde Hilfsbereitschaft oder sein bedingungsloses Vertrauen in einen Menschen, den er seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gesehen, geschweige denn gesprochen hatte.  Und als er sie dann auch noch darum bat, Dylan kennenzulernen … Es war Chris regelrecht anzusehen, wie viel es ihm bedeuten würde und wie sehr er ihr beweisen wollte, dass sie mit ihrem Bauchgefühl daneben lag.  Nur … als es dann soweit war, war sich Stellar nicht sicher, ob ihm das wirklich gelingen sollte.    Dieser Typ, der dort breitbeinig auf Chris’ Couch fläzte und sich eine Hand voll Chips in den Rachen drückte, während er in den Fernseher starrte – Dassollte wirklich sein bester Freund sein? Dieses „anders“, mit dem Chris ihn beschrieben hatte, hatte sie sich jedenfalls so nicht vorgestellt ... Dennoch gab sich Stellar alle Mühe, die Abneigung, die sich in ihr auftat, zu ignorieren. Wer weiß, vielleicht hatte sie ihn nur zu einem etwas ungünstigen Zeitpunkt erwischt. Trotz miesem Bauchgefühl marschierte sie also ins Wohnzimmer und streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. »Hi, ich bin Stellar.« Kaum hatte er den Blick vom Fernseher gelöst und sich zu ihr gewandt, erschrak sie innerlich vor seiner riesigen Narbe im Gesicht. Beklommenheit machte sich in ihr breit, doch sie zwang sich ihn freundlich anzulächeln anstatt ihn anzugaffen.  Er stand auf, wischte sich seine Fett verschmierte Hand an der zerfetzten Jeanshose ab und schüttelte die ihre. »Hi, ich bin Dylan. So ziemlich der älteste Freund von Chris.«  Stellar war sein prüfender und irgendwie auch wertender Blick überaus unangenehm, dennoch ermahnte sie sich im Stillen noch einmal: Sie durfte ihn nicht vorverurteilen.  Schließlich löste er den Händedruck, steckte beide Hände lässig in die Hosentaschen und grinste sie schief an. »Du bist dann also Chris’ kleine, neue Freundin, ja?« Kleine, neue Freundin? »Nein, ich … Ich bin eine Freundin, mehr nicht.« »So, so …« Wieder musterte er sie, diesmal aber mit hämischem Grinsen. »’N nettes Bienchen hat er sich da angelacht, muss ich schon sagen. Dich würde ich jedenfalls nicht von der Bettkante schubsen.«  Was zur … ?! Dunkel kichernd tätschelte er unsanft ihre Schulter. »Keine Sorge, ich mach nur Spaß.« Spätestens jetzt wollte sie nicht länger gegen ihr Bauchgefühl ankämpfen. Wer weniger als zehn Sätze brauchte, um sich wie ein Arsch zu präsentieren, der warauch ein Arsch. Da half auch jeder Wille fürs Gegenteil nichts.  Dylan aber schien sich über den Abend hinweg eine ähnliche Meinung über sie gebildet zu haben. Zwar schwieg er mehr, als dass er redete, doch seine eindeutigen, geringschätzigen Blicke in ihre Richtung machten Worte überflüssig.   Mittlerweile waren sie längst über derartigen Blickaustausch hinaus. Inzwischen sorgten sie mit lautstarken, verbalen Kämpfen, Provokationen und kindischen Aktionen regelmäßig dafür, dass keiner die Abneigung des anderen vergaß. Eben genauso wie heute Nachmittag. Für Stellar war das unglaublich Nerven aufreibend und Kräfte zehrend. Für Dylan aber schien es wie ein Spiel zu sein. Als duellierten sie sich darum, wer von ihnen der Schlagfertigere war, wer von ihnen mehr Macht besaß – und ihm gefiel dieses Spiel.   Oh, Mann. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen …  Fairerweise musste sie aber zugeben: Dylan hatte Chris weder Probleme beschert, noch war er ihm allzu lange auf der Tasche gesessen. Schon nach sehr kurzer Zeit hatte er – wahrscheinlich auch mit Chris’ Hilfe – eine eigene Bleibe gefunden und war bei ihm wieder ausgezogen. Die einzige, die jetzt wegen ihm Probleme hatte, war sie selbst.  Schwer seufzend schloss sie die Augen. Vielleicht brauchte sie erstmal einen Tee. Die Welt sah nach einem Tee immer anders aus. Einen Tee und einen Moment länger unter der Dusche, um all die schlechten Gedanken noch einmal wegzuwaschen.   Knapp eine halbe Stunde später war sie fertig, hatte sich einen frischen Schlafanzug angezogen und stellte gerade den Wasserkocher an, als ihr Handy im Flur kurz aufschrillte. Schon krampfte sich ihr Magen zusammen. Das war bestimmt eine SMS von Chris. Sicher wollte er sie fragen, wo sie war und ob es ihr gut ging.  Jetzt brauchte sie wirklich einen Tee. Jeden Handgriff tätigte sie bewusst langsamer, um das Lesen der Nachricht so lange wie möglich hinauszuzögern. Erst, als der Tee trinkfertig war und es nichts mehr gab, womit sie noch mehr Zeit schinden konnte, ging sie in den Flur zu ihrer Tasche, holte ihr Handy heraus und verschwand mitsamt der Tasse in ihrem Zimmer. Vorsichtig setzte sie sich aufs Bett und schlürfte den ersten Schluck, dann löste sie mit größter Anspannung die Tastensperre. Von dem, was dort auf ihrem Bildschirm aufblinkte, war sie allerdings verwirrt. SMS von Unbekannt?     N’Abend Püppchen. ;) Morgen schon was vor? Dylan      Dylan schrieb ihr? Widerwillig speicherte sie seine Nummer ab und tippte eine Antwort:   Hi. Erstens: woher hast du meine Nummer? Zweitens: Was willst du von mir? Stellar     Lange brauchte sie nicht auf eine Antwort zu warten.     Chris hat sie mir gegeben, damit ich mich bei dir „entschuldigen“ kann. Hab eine Shopping-Tour geplant. Ein paar neue Klamotten für dich und einen neuen BH, auf meine Kosten. Na was sagst du? ;)     Von Chris? Super. Warum hing er nicht gleich Flyer mit ihrer Nummer in der ganzen Stadt aus? Darüber musste sie unbedingt mit ihm reden. Aber noch vielmehr verwirrte sie Dylans Angebot. Freiwillig shoppen gehen und alles bezahlen?      Aha. Und was hast du davon?     Die Antwort folgte prompt:     Hab doch gesagt, dass ich die Sache von heute wieder gut machen will. Außerdem sollten wir dafür sorgen, dass so etwas nicht nochmal passiert.     Okay, das hatte sie nicht erwartet. Vorsichtig schlürfte sie noch einmal am Tee, las dabei immer wieder den SMS-Verlauf. Eigentlich konnte sie neue Klamotten wirklich gut gebrauchen.    Neben einem inzwischen zu klein geratenen Bikini hatte sie auch noch zwei oder drei andere BHs, die ihre besten Tage längst hinter sich hatten. Und wenn sie es sich genauer überlegte, könnte sie eigentlich auch noch das ein oder andere Paar Schuhe oder Shirt gut gebrauchen. Da passte das Angebot von Dylan eigentlich ganz gut …     Also, was ist? Bist du dabei?     Konnte er nicht fünf Minuten warten, bis sie sich das in Ruhe überlegt hatte?     Was willst du dafür?     Ein „Danke“ wäre ein guter Anfang … Sonst will ich gar nichts. Sieh es dann als beglichene Schuld an.      Na ja. Im Grunde wäre sie blöd, wenn sie das Angebot nicht annehmen würde. Trotzdem schadete es nicht, noch einmal nachzufragen:     Damit ich das richtig verstehe: Du und ich gehen morgen einkaufen und alles, was ich kaufen will, zahlst du. Habe ich das richtig verstanden?     Japp.  Es wäre übrigens sehr nett von dir, wenn du mir ein bisschen was vom Geld übriglässt. Muss ja schließlich noch von irgendetwas leben. Also, abgemacht?     Klang doch eigentlich nicht verkehrt.     Gut, abgemacht.      Nachdem sie sich für den morgigen Nachmittag verabredet hatten, legte Stellar ihr Handy beiseite und trank von ihrem Tee.  Irgendwie fühlte es sich komisch an. So entspannt hatten sie noch nie miteinander geredet … Bestimmt war das nur Zufall oder dem heutigen Tag geschuldet. Auf jeden Fall war sie gespannt, was sie morgen erwarten würde – und ob er sein Wort hielt.  Kapitel 3: Zwischen Stoff und Schuh ----------------------------------- Clayton beherbergte in seinem Zentrum ein regelrechtes Shopping-Paradies. Es war nicht viel mehr als eine Fußgängerzone, vollgefüllt mit unzähligen, aneinander gereihten Geschäften; aber das eine ganze Meile lang.  Von Drogerien über Kleiderboutiquen zu Lebensmittelhändlern und Schmuckgeschäften; Von Spielwarenhändlern über Elektronikfachgeschäften und Parfümerien; Sogar Fast Food Restaurants und Cafés fügten sich ein. Ob Sucher oder nicht – Hier wurde ausnahmslos jeder zum Finder. Deshalb zählte sie besonders bei jungen Menschen zu den beliebtesten Treffpunkten der Stadt.   Die U-Bahnstation zur Einkaufsmeile, an der sie sich verabredet hatten, erreichte Dylan zu seinem eigenen Erstaunen überpünktlich. Normalerweise nahm er es mit Uhrzeiten zu Treffpunkten nicht allzu genau und eigentlich konnte er sich für diesen Nachmittag etwas Besseres vorstellen, als mit dieser Göre dort einkaufen zu gehen. Doch es half nichts. Seinen Fehltritt von gestern musste er wiedergutmachen, unbedingt. Wirklich: Er hatte ihr nur mit dem BH helfen wollen. Dass seine Hilfe letztendlich darin resultierte, dass das doofe Ding den Geist aufgab und sie halbnackt dastand, war wirklich nicht seine Intention gewesen. Gott, sie hatte ihm so unendlich leid getan … Diese sonst so harte, schlagfertige Frau hatte vor ihm gestanden wie ein fallen gelassenes, verrotztes Taschentuch – und das war allein seine Schuld. Dieses Schuldgefühl lastete wie ein Amboss auf seinen Schultern, auch wenn es ein Unfall gewesen war. Er konnte ihre Wut auf ihn gut verstehen. Vermutlich wäre er an ihrer Stelle genauso sauer auf sich. Umso wichtiger war es ihm, ihr nun zu beweisen, dass er durchaus einen guten Kern besaß und dazu in der Lage war, sich Fehler einzugestehen und diese wiedergutzumachen. Selbst wenn das bedeutete, dem Grauen ins Auge zu sehen und dem Drachen neue Kleider zu kaufen. Auf den Drachen musste er nicht lange warten. Auch Stellar war pünktlich eingetroffen und nach einer kühlen Begrüßung – beide nickten sich schweigend zu – ließen sie sich von der Menschenmenge mittreiben, die vom U-Bahnaufgang in die Straße strömte. Der Deal für den heutigen Tag war einfach: Stellar entschied darüber, in welchen Läden sie sich ihre Klamotten aussuchte und Dylan holte auf Kommando den Geldbeutel heraus und bezahlte.  Viel redeten sie währenddessen nicht, nur das absolut Nötigste. Deshalb machte sich bei Dylan schnell Langeweile breit. Um sich bei Laune zu halten und um sich die Zeit zu vertreiben, blieb er immer wieder an den Sonnenbrillen- und Hutständern stehen, setzte sich eines nach dem anderen auf, manchmal auch beides zusammen, und stöberte für sich selbst ein wenig bei den Kleiderstangen herum. Doch nach fast zwei Stunden konnte auch das die Zeit nicht schneller vertreiben oder gar spannender gestalten. Wenn sie wenigstens ab und zu nach seiner Meinung fragen würde … Er wusste, dass sie darauf nicht sonderlich viel Wert legte, trotzdem war er davon überzeugt, dass es ihnen beiden helfen würde. Jedenfalls könnte er ihr so die Bestätigung für ihre Kleiderwahl geben, die sie zu brauchen schien.  Zwei Stunden waren eine lange Zeit, um sie zu beobachten und je länger er es tat, desto sicherer war er sich, dass sie eine zweite Meinung suchte – und auch dringend brauchte. Allein der Kauf der Sport-BHs zeigte ihm das mehr als deutlich. Die Farbgestaltung dieser teuren Stofffetzen war so zum Himmel schreiend grässlich, dass er sich ernsthaft fragte, warum sich eine attraktive, junge Frau wie Stellar derart abscheuliche Unterwäsche kaufen wollte. Ohne es zu wissen lieferte sie ihm damit jedenfalls einen Grund, für sie auf Kleidersuche zu gehen. Er hatte eine ungefähre Vorstellung, wonach er suchte. Es sollte weiblich sein, vom Stil her vielleicht etwas mutiger als bisher, aber keinesfalls bieder oder wie eine graue Maus. Es sollte sie so selbstbewusst zeigen, wie sie war, aber auch nicht so übertrieben, dass es nach Unantastbarkeit aussah … Und wie durch Zufall fand er es. Es war an der SALE-Kleiderstange lieblos dazwischen gestopft worden und womöglich sogar das letzte Exemplar. Zumindest hatte er es kein zweites Mal gesehen. Sofort suchte er den Laden nach der kleinen Blondine ab und entdeckte sie am Wühltisch. Mit viel Glück hatte es genau ihre Größe und mit sehr viel Glück probierte sie es sogar an. Er nahm das Kleidungsstück vom Haken, versteckte es hinter seinem Rücken und schlich sich von hinten an Stellar ran.  »Sag mal … ich will dich ja nicht nerven, aber – « »Dann halt die Klappe und komm erst wieder, wenn ich dich rufe«, unterbrach sie ihn, ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und hielt sich eines der Shirts vom Wühltisch an den Körper. Kurz biss sich Dylan auf die Zunge, hielt die Luft an, damit ihm nicht doch noch ein fieser Spruch rausrutschte. Den Ärger runtergeschluckt startete er einen neuen Versuch: »Wie wäre es, wenn ich dir mal was raussuchen würde?« Ungläubig sah sie über die Schulter zu ihm. »Und was soll das sein? Minirock, bauchfrei, Nuttenstiefel und neonfarbene Netzstrumpfhose oder was?« Dylan schürzte die Lippen. »Wahnsinnig witzig. Also, würdest du etwas von mir anprobieren, ja oder nein?« Stellar wandte sich wieder dem Wühltisch zu und mimte nach alter Gewohnheit die Eisprinzessin. »Kommt drauf an.« »Und worauf?« »Na, was es ist, das du mir da anschleppst.« Gut. Es war immerhin schon mal kein grundsätzliches Nein.  »Was hältst du dann davon?«, fragte er, zog seine Wahl hinter seinem Rücken hervor und präsentierte es ihr, breitete es vor sich aus. Sie seufzte genervt auf, ehe sie sich umdrehte, und hob dann überrascht die Augenbrauen. »Ein Kleid?« »Ganz genau. Ein Kleid.« »Ein sehr kurzes Kleid«, ergänzte sie. Mit zwei Fingern ergriff sie den Saum und musterte es skeptisch. »Ich trage nie Kleider.« Diese Reaktion hatte er erwartet. »Denkst du nicht, dass Chris in dir erst dann mehr sieht, wenn du das auch zeigst?« Als Chris’ Name fiel, ließ sie es sofort los. Die Röte in ihrem Gesicht verriet ihm, dass es ihr peinlich war, dass er ihn angesprochen hatte.  »Sollte er mich nicht so mögen, wie ich bin?«, fragte sie kleinlaut und strich sich ihren Pony hinters Ohr. Armes Mädchen. Sie hatte die richtige Einstellung, aber den falschen Ansatz. Dylan raffte das Kleid zusammen, legte es ihr über die Schulter und beugte sich zu ihr auf Augenhöhe herunter.  »Ein kleiner Tipp, von Mann zu Frau: Wie soll er sehen, was du zu bieten hast, wenn du es nicht zeigst, hm?« Lächelnd zwinkerte er ihr zu, gab ihr einen Moment, um darüber nachzudenken. »Manchmal schadet es nicht, wenn man uns auf die Sprünge hilft.«  Der Zweifel stand ihr ins Gesicht schrieben, aber er nahm ihr ihr Misstrauen nicht übel. »Stellar, es ist nur ein Kleid, keine Schönheitsoperation. Du ziehst einfach nur ein Kleid an.« Bevor sie noch länger im Stillen weiterzweifelte, packte er sie an den Schultern, drehte sie einmal um und manövrierte sie zu den nächstgelegenen Umkleidekabinen. »Du musst es ja nicht kaufen, wenn’s dir nicht gefällt. Anprobieren reicht mir vollkommen.« Man sah ihr an, dass sie mit sich haderte. »… Na schön.« Innerlich feierte er sich selbst, als er ihr dabei zusehen konnte, wie sie in der Kabine ging und hinter dem schweren Vorhang verschwand. Das war ein Triumph, an den er nicht geglaubt hatte.  Warum sie letztlich das Kleid anprobierte, war Dylan egal. Hauptsache, sie tat es und dass sie es tat, war ein großer Erfolg.  Nach einigen vergangenen Minuten Wartezeit sah er ungeduldig auf die Uhr. Wie lange brauchte man, um ein bisschen Stoff anzuziehen? So kompliziert war der Reißverschluss nicht, als dass sie ihn allein nicht hätte schließen können. Im Zweifelsfall hätte er ihr dabei geholfen. Zeit, um mal nachzufragen.  »Und, passt es?« »Nein, nicht wirklich.« »Ist es zu klein oder woran liegt’s?« »Wenn ich mich bücke, schaut mein Arsch raus.« Oh, nette Vorstellung … »Zeig mal her.« »Pf. Vergiss es.« Gott sei Dank konnte sie nicht sehen, dass er die Augen verdrehte. Es war ihm unbegreiflich, wie verklemmt diese Frau war. »Und warum nicht?« »Weil ich mir von dir bestimmt nicht auf den Arsch gaffen lasse, darum.« »Jetzt komm schon raus und lass dich ansehen.« Keine Antwort, keine Reaktion. »Ich gaffe auch nicht, versprochen.« Eine Zeit lang war von ihr nichts zu hören, ehe es leise aus der Umkleide durchdrang: »… Wehe, du lachst.« »Jetzt zeig schon her und hör auf rumzuzicken, sonst dauert das hier noch länger und ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.« Wie in Zeitlupe öffnete sich der Vorhang und als Stellar heraustrat, dachte er nur eines: Wow. Das Kleid, das er ihr rausgesucht hatte, hatte einen offenen Hemdkragen, leichte Puffärmel und schmiegte sich perfekt an ihren Körper. Es sah aus wie eine weiße Bluse, die in einem langen, schwarzen Rock mit hoher Taille steckte und durch einen handbreiten, roten Gürtel zusammengehalten wurde. Dieses Kleid brachte perfekt und im richtigen Maße Stellars Vorzüge zur Geltung: Ihre Sanduhrfigur, ihre Kurven, den Hintern und ihr Dekolleté. Gedanklich musste er mindestens fünf Mal ansetzen, bevor er einen Satz herausbrachte: »Krass. Hätte nicht gedacht, dass sowas in dir steckt.« Sofort drehte sie sich um und wollte zurück in die Kabine, doch ehe sie es hinter den Vorhang schaffte, hielt er sie am Arm zurück.  »Hey, jetzt warte doch mal. Hast du dich mal selbst im Spiegel angeschaut? Du siehst bildhübsch darin aus.« »Ich sehe wie ein Flittchen aus«, entgegnete sie und wagte es nicht, vom Boden aufzuschauen.  Es war unfassbar. Sah sie es wirklich nicht. Mit etwas Nachdruck zog er sie zu sich zurück und stellte sich mit ihr gemeinsam vor den Spiegel. »Schau dich doch mal an!« Mit seiner Hand hob er ihr Kinn an und zwang sie dazu, sich im Spiegel zu betrachten. »Du hast ein bildhübsches Gesicht, tolle Augen, eine hammer Figur, wunderschöne Beine ... Wie soll Chris das in den Latzhosen an dir sehen, hm? Wie soll er in dir eine Frau sehen, wenn du es an dir selbst nicht mal sehen kannst?« Dylan ließ ihr Zeit, damit sie seine Ansage verdauen konnte. Wahrscheinlich hatte sie sich durch ihre Latzhosen und ihren generell eher burschikosen Stil so noch nie gesehen. Ihr Kleidungsstil passte zu ihr, keine Frage, aber damit konnte man keine Weiblichkeit zeigen und an sich entdecken erst recht nicht.  Als sie ihm durch den Spiegel in die Augen sah, lächelte er sie an. Es brauchte vermutlich ein Bügeleisen, um ihre Sorgenfalten auf ihrer Stirn loszuwerden und Wäscheklammern bis hinter die Ohren, damit sie sein Lächeln erwiderte, aber er war sich sicher: Das, was sie dort im Spiegel sah, war zwar neu und gewöhnungsbedürftig, aber es gefiel ihr. Darauf verwettete er sein letztes, sauberes Hemd – also das, was er anhatte. Dieses Funkeln in ihren Augen … Das konnte sie nicht verstecken, egal wie sehr sie sich auch darum bemühte. »Also, ich weiß nicht … ich habe noch nie Kleider getragen und das hier ist wirklich sehr kurz ... Ist der Ausschnitt nicht auch ein bisschen zu tief?« »Nein, überhaupt nicht.« Da war ein Funkeln gewesen. Sie konnte sagen, was sie wollte, er hatte es genau gesehen.  »Hmm, ich weiß nicht … Ich finde es trotzdem ziemlich … freizügig.« »Glaub mir: von einem Flittchen sind wir meilenweit entfernt und so, wie es ist, ist es vollkommen in Ordnung.« Vorsichtig zog sie an dem Ausschnitt, um ihn etwas höher zu ziehen, was jedoch zur Folge hatte, dass auch der Rock nach oben rutschte. Also zog sie den Rock wieder tiefer – und den Ausschnitt gleich mit. Es war ein Teufelskreis, der sie sichtlich zur Verzweiflung brachte. »Wie soll man das denn anstellen, dass man beim Laufen nicht irgendwann halb nackt dasteht?«  Dylan belächelte ihre Bemühungen, schwieg aber dazu und verkniff sich sämtliche Geräuschkulisse beim Kichern. »Lach nicht so dumm! Ich mein das ernst.« »Stell dich doch nicht dümmer, als du bist! Zieh doch einfach eine Leggins drunter, dann ist das Thema erledigt.«  So überrascht, wie sie ihn ansah, wäre sie wohl nicht auf die Idee gekommen. Sie senkte den Blick und strich sich wieder mal ihren Pony hinters Ohr.  Es war wirklich faszinierend, wie eisern sie es durchzog, sich selbst Steine in den Weg zu legen, nur um ihm nicht Recht geben zu müssen. Und doch bemitleidete er sie dafür.  Behutsam legte Dylan seine Hände auf ihre Schultern, drehte sie zu sich um und suchte ihren Blick. »Sei mal ganz ehrlich zu dir selbst: Dir gefällt es doch, oder?«, bohrte er nach. Das Nicken kam zögerlich, aber es kam.  »Na also. Wo ist dann dein Problem? Nimm es doch, wenn’s dir gefällt.« Keine Antwort, keine Reaktion. Seine Stimme wurde sanfter: »Nochmal: Es steht dir und es gefällt dir. Also nimm es mit. Und davon mal abgesehen bezahl ich doch das Ganze.« Wieder strich sie sich den Pony zurück. »… okay.« Na endlich. »Braves Mädchen.« Zufrieden über ihre Entscheidung zwickte er ihr in die Wange, wie es Großmütter bei ihren Enkeln taten. Sofort riss sie ihren Kopf zur Seite weg. »Hey!« Zunächst kicherte er dunkel, doch dann verstummte er, als ihm ihre Schuhe in der Kabine auffielen. Das Kleid konnte noch so toll an ihr aussehen, wenn sie die gesamte Optik mit Turnschuhen versiebte.  War nicht ein dezentes Schuhsortiment in der Nähe der Kabinen? »Warte mal kurz hier«, sagte er und machte sich sogleich auf die Suche. Keine fünf Minuten später stand er wieder neben ihr mit einem Paar leuchtend roten High-Heels in den Händen. »Hier. Zieh die mal an.« Stellar riss die Augen auf. »Was, die soll ich anziehen? Bist du irre? Die sind viel zu hoch!«  »Jetzt mach doch einfach mal das was ich dir sage! Ich will doch nur mal sehen, wie das zusammen aussieht.« Ihrem schweren Seufzen folgten verschränkte Arme vor der Brust. »Dylan, was soll das hier eigentlich? Du schleppst mir hier ein Kleid an, obwohl ich dir gesagt habe, dass ich nie Kleider trage, dann diese völlig übertriebenen Schuhe … Was soll das alles?«  »Ich versuche dir zu helfen, endlich mal wie eine Frau auszusehen und nicht wie Chris’ bester Kumpel!« Schockiert von seinen Worten brachte sie keinen Ton heraus, obwohl sie schon zu einem Konter angesetzt hatte. Sie sah erneut zu Boden, strich sich ihre Haare hinter das Ohr und blieb still.  Vielleicht war das gerade ein bisschen zu hart von ihm … Er versuchte es noch einmal mit Argumentation: »Es bringt nichts, wenn du das Kleid trägst und dann Turnschuhe dazu anziehst. Dann können wir gern weiterhin bei deinen heiß und innig geliebten Latzhosen bleiben, damit wirst du aber niemanden aufreißen. Weder Chris, noch sonst irgendjemanden.« Wieder keine Antwort, wieder keine Reaktion. Nur Schweigen. Sonst hatte sie doch auch eine große Klappe, warum diesmal nicht? Ihr Schweigen war fast noch schlimmer, als ihre Beleidigungen und ihr Gezicke. Dann aber sah sie verlegen zu ihm auf. »Gegenvorschlag: Ich nehme das Kleid und wir suchen nachher gemeinsam nach Schuhen …?« Ihr Genuschel hatte er gerade so verstanden. Er war überrascht, dass sie nach einem Kompromiss suchte. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass sie die ganze Aktion über den Haufen warf und einfach ging. »Ähm, na klar. Zieh dich um und dann geht’s weiter.« Froh über diese Einigung lächelte sie ihn dankbar an und zog dann auch schon den Vorhang zu. Dylan lehnte sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Kabine und wartete. Erleichterung machte sich in ihm breit und mit einem überaus großen Seufzer fiel eine enorme Anspannung von ihm ab. Sie machten Fortschritte. Endlich hatte sie verstanden, dass er ihr nur helfen wollte. Doch obwohl sich die Shopping-Tour so positiv entwickelte, blieb er realistisch. Beste Freunde waren sie damit noch lange nicht. Sie ließ sich lediglich darauf ein, sich von ihm helfen zu lassen. Das war ein Anfang, ein Schritt in die richtige Richtung. Und wer weiß, vielleicht verlor sie irgendwann mal all ihre Vorurteile ihm gegenüber. Für den Augenblick aber war es reines Wunschdenken. Plötzlich traf ihn ein Stück Stoff im Gesicht und riss ihn aus seinen Gedanken – das Kleid.  »Du kannst ja schon mal zahlen gehen, bis ich hier fertig bin. Ich komme dann nach.« Dylan aber hatte gar nicht zugehört. Er war abgelenkt. Als sie ihm das Kleid zugeworfen hatte, hatte sich der Vorhang einen Spalt weit geöffnet, sodass er nun durch diesen offenstehenden Spalt zum Spiegel in Stellars Kabine spähen und ihr beim Umziehen zusehen konnte. Dass sie eine tolle Figur hatte, war von ihm nicht nur so daher gesagt. Man hatte es ihr immer angesehen, aber dieser Spalt im Vorhang zeigte die Tatsache weitaus deutlicher und detaillierter als ihre Latzhosen … Als seine neugierigen Augen ihren Rücken hinauf wanderten, war die Begeisterung für sie allerdings tot. Diese unmöglichen Sport-BHs … Irgendwie musste er ihr noch einen anderen BH aufschwatzen, ganz dringend. Es musste ja nichts hocherotisches sein, aber diese Sport-BHs waren genauso sexy wie eine knallig orangefarbene Warnweste für einen Kanalarbeiter. Und genauso funktionierte dieses Ding: man konnte einfach nicht wegschauen. Das aber war sein Fehler, denn er verpasste dadurch den Moment, rechtzeitig von der Kabine zu verschwinden. Fertig umgezogen stand sie – für ihn ganz plötzlich – vor ihm, mit einem dicken Fragezeichen im Gesicht.  »… Ich dachte du bist schon beim Zahlen?«  »Ach, weißt du … Ich habe mir gedacht, du zahlst es. Sollst dir ja auch sicher sein«, erklärte er und drückte ihr mit aufgesetzter Unschuldsmiene Kleid und Geldbeutel in die Hand. Eine Weile musterte sie ihn misstrauisch, ging dann aber schließlich ohne ein Wort zur Kasse. Puh. Das war eine knappe Kiste. Nachdem Stellar bezahlt und sie den Laden verlassen hatten, blieben sie vor dem nächsten Schaufenster eines Schuhgeschäfts stehen.  »Ist da was für dich dabei?«, fragte er, begutachtete aber weiterhin die ausgestellte Ware. Stellar tat es ihm gleich. »Hmm … Weiß nicht. Kann sein, sicher bin ich mir nicht.«  »Dann lass uns da mal reinschauen«, meinte er und steuerte bereits den Eingang an.  Nicht nur das Geschäft war riesig, auch das Sortiment bot für jede Gelegenheit den perfekten Schuh, vor allem für die Damenwelt. Sie nahmen zwei Drittel des Ladens ein, den Rest teilten sich Männer mit Kindern. »Schau dich mal ein bisschen um, vielleicht findest du ja gleich auf Anhieb etwas, was dir gefällt.« Stellar nickte, machte sich gleich im Parallelgang auf die Suche. Er selbst blieb nicht untätig. Trotzdem musste er zugeben, dass er sich die Aktion „Schuhkauf für Stellar“ irgendwie einfacher vorgestellt hatte. Gefiel ihm ein Paar, gab es sie nicht mehr in ihrer Größe. Gefiel ihm ein Paar und waren in ihrer Größe vorrätig, waren sie entweder zu teuer oder ihr gefielen sie nicht. »Oh schau mal, die sind toll!«, rief sie und kam gleich zu ihm geeilt. In ihren Händen hielt sie ein Paar Sneakers. »Die gibt’s sogar in meiner Größe.« Dylan war weniger begeistert, zog eine Augenbraue nach oben. »Ja, wirklich ganz nett. Leider nur die falsche Art von Schuh, die wir suchen.«  Ihr freudiges Lächeln war verschwunden und seufzend legte sie den Schuh wieder zurück. »Müssen es unbedingt High-Heels sein?«, jammerte sie und sah ihn leidig an. Doch er blieb hart mit seinem Entschluss und nickte.  »Es müssen keine Zwanzig-Zentimeter-Treter sein, aber ein Schuh mit Absatz eben schon.« Er sah ihr an, wie schwer ihr diese heutige Veränderung fiel, aber niemand hatte je behauptet, dass Veränderung leicht war. »Und was ist mit denen hier? Gehen die nicht auch?«, fragte sie und deutete auf ein paar rote Ballerinas.  Na ja … Sie waren zwar besser als Turnschuhe, aber nicht das, was er wollte.  »… Behalten wir die mal im Hinterkopf, okay?« Noch wollte er sich nicht mit ihrer Wahl zufriedengeben. Er hatte sich High-Heels zu dem Kleid eingebildet und in diesem verfluchten Laden musste es doch welche geben, die ihr gefielen, in seinem Budget lagen und auch noch in ihrer Größe verfügbar waren … Und wieder, als wäre es vorbestimmtes Schicksal, fand er in diesem Moment das in seinen Augen perfekte Paar. »Hier, guck mal. Wie findest du die hier?« Eine braune Leder-Sandalette mit einem Absatz in passabler Höhe und goldenem Fesselriemchen. Ein wirklich hübscher Schuh. Stellars Begeisterung hielt sich wie zu erwarten in Grenzen. »Ich kann doch nicht mal da drin stehen«, meinte sie und nahm zögerlich den Schuh entgegen.  »Zieh ihn erstmal an, dann kannst du meinetwegen rumjammern.« Widerwillig zog sie ihre Schuhe und Socken aus, setzte sich auf eine der Bänke und schlüpfte in den Schuh.  »Den anderen auch?«  »Du hast doch zwei Füße, oder? Natürlich, den anderen auch.«  Ihm war klar, dass sie nur Zeit schinden wollte, vielleicht auch Mitleid erregen, aber dafür hatte sie sich den Falschen ausgesucht. Er wollte sie in diesen Schuhen sehen und ihm war es auch vollkommen egal, wie lange es dauern würde.  Wieder sah sie ihn unsicher an. »Meinst du nicht, dass Absätze übertrieben sind? Ich habe solche Schuhe noch nie angehabt. Ich weiß ja nicht mal, wie man damit läuft …« »Wie mit jedem anderen Schuh auch«, entgegnete er und reichte ihr seine Hand zur Hilfestellung. »Na los, komm. Aufstehen, hinstellen und einmal in den Schuhen laufen.« Zögerlich legte sie ihre Hand in seine und stützte sich damit ab, als sie aufstand. Es dauerte keine drei Sekunden, da geriet sie schon ins Wackeln. Das Flehen um Gnade stach aus ihren Augen. »Dylan, glaub mir … Das ist ’ne dumme Idee. Wie soll ich bitte darin laufen können, wenn ich noch nicht mal stehen kann?« »Was hast du denn erwartet? Wenn du die Dinger noch nie angehabt hast, dann kannst du auch nicht auf Anhieb drin laufen. Das braucht eben ein bisschen Übung.« »Die sind total unbequem«, murmelte sie, sah auf ihre Füße.  Gerade wollte sie einen Schritt vorwärts machen, da knickte sie um und fiel nach vorn. Hätte Dylan sie nicht aufgefangen, hätte sie unfreiwillig den Boden geküsst.  Sofort kniff sie die Augen zusammen, hielt sich die Hand an ihren Knöchel. Ihm hatte das Umknicken schon beim Hinsehen wehgetan, wie schmerzhaft musste es dann für sie sein? Vorsichtig setzte er sie wieder auf dem Hocker ab.  »Tut’s sehr weh?« Keine Antwort. Stattdessen massierte sie weiterhin mit schmerzverzerrter Miene ihren Knöchel und schluckte jedes Geräusch herunter, das sie vor Schmerz von sich gegeben hätte. Gut, vielleicht verlangte er mit den High Heels etwas, was sie wirklich nicht konnte. Er gab sich geschlagen. »… Ich denke, wir nehmen die Ballerinas, hm?« Hastig nickte sie, öffnete ein Auge und sah zu ihm. »Ich denke auch, bevor sich Chris bei dem Anblick noch zu Tode lacht.«  Dylan kicherte dunkel. »Ah, verstehe. Wir haben also doch Humor.« Er stand auf und ging vor ihr in die Hocke, half ihr, die Schuhe auszuziehen und brachte sie zurück ins Regal. Danach schnappte er sich die roten Ballerinas. »Ich geh mal eben zahlen, dann kannst du dich noch ein bisschen von deinem halsbrecherischen Sturz erholen«, sagte er und ging in Richtung Kasse.  Nach einer Weile in der Schlange stehen wanderten die Geldscheine über die Theke und mit einer Tüte mehr in der Hand kam er zu ihr zurück.  »Geht's wieder?« fragte er und ging erneut vor ihr in die Hocke.  »Geht schon wieder, ja. Solange du mich nicht noch einmal zwingst, diese Horror-Stelzen anzuziehen, sollte ich wieder einwandfrei laufen können.«  Beide grinsten sich an.  »Ich habe ganz schön viel bei dir wieder gut zu machen, stimmt’s?« »Ja, das kann man wohl sagen.« Ihr angedeutetes Lächeln verriet ihm, dass sie ihm das nicht übelnahm. Diese gelöste Stimmung zwischen ihnen war neu, aber angenehm. Er könnte sich wirklich daran gewöhnen.  »Was hältst du davon, wenn wir uns nach dem Shoppen ein wenig abkühlen?« Kapitel 4: Plitsch Platsch Gluck -------------------------------- Als die Nachmittagshitze ihren Höhepunkt erreichte, brachen sie die Shopping-Tour ab. Länger hätte es Dylan auch nicht ausgehalten. Kein einziges Wölkchen war am Himmel, nicht einmal ein Lüftchen wehte. Gefühlt waren es fünfzig Grad Celsius und es gab absolut nichts, das den Verbrennungsgrad der Haut von Stufe drei auf Stufe eins senken konnte. So der prallen Sonne ausgesetzt kochte es ihm das Hirn matschig und die aufgeheizte Luft schrumpfte ihm die Lungenflügel zusammen. Vom Schwitzen einmal ganz abgesehen; Seine Haare waren klitschnass, ihm lief es in Rinnsalen die Stirn, teilweise auch den Rücken hinunter und seit einer halben Stunde war sein T-Shirt vollständig durchnässt. Er sah wie ein getauftes Kind aus, dem man einen ganzen Eimer Wasser übergekippt hatte. Madame hingegen brauchte sich nur hin und wieder mit dem Handrücken die Stirn trocken zu wischen. Sie war ja auch nicht diejenige, die die Plastiktüten rumschleppte, folglich musste sie auch deren abstrahlende Hitze nicht zusätzlich ertragen. Nichtsdestotrotz war er in gewisser Weise stolz auf Stellar. Sie hatte sich – nach anfänglichen Überwindungen – auf die Typveränderung eingelassen und sich zum Schluss sogar zwei neue BHs gekauft. Zu schade, dass er bei der Auswahl und Anprobe nicht dabei sein durfte …   »Sag mal, warum gehen wir eigentlich durch den Park? Mit der U-Bahn ist es doch viel kürzer nach Hause«, fragte sie und wedelte sich mit der flachen Hand ein wenig Luft ins Gesicht. »Wir gehen nicht nach Hause. Ich habe dir doch eine Abkühlung versprochen, oder?« »Willst du schon wieder zum „Eis-Dealer“?« Dylan lachte lauthals auf. »Vergiss es. Du hast mir heute den letzten Cent aus der Tasche gezogen. Wenn ich Glück habe, ist der alte Putzschwamm im Müll noch nicht ganz verschimmelt. Dann komme ich diesen Monat damit über die Runden, wenn ich ihn mir gut einteile.« »Du hast Putzzeug zuhause?«, scherzte sie, kicherte und grinste ihn dann schadenfroh an. »Du bist selbst schuld, wenn du mir so ein Angebot machst. Hättest eigentlich damit rechnen müssen, dass ich das ausnutze und so viel war’s jetzt auch nicht.« Ihren Blick erwiderte er mit einer hochgezogenen Augenbraue und einem Schmunzeln. »Kannst du nicht wenigstens so tun, als ob du Mitleid für mich übrighättest?« Statt auf seine Frage zu antworten, kam sie auf ihre ursprüngliche Frage zurück: »Wenn wir nicht zum „Eis-Dealer“ gehen, wohin geht’s dann?« »An den See, eine Runde schwimmen. Sonst bin ich tot, bis ich zuhause bin.« »An den See?« Ohne Vorwarnung blieb sie einfach stehen. Er war sich nicht sicher, aber er glaubte einen nervösen Unterton wahrzunehmen. Auch er blieb nun stehen und wandte sich zu ihr um. »Wieso nicht? Oder hast du keine Lust auf baden?« »Doch, schon, aber …das ist jetzt schon ein bisschen sehr spontan. Ich habe gar keinen Bikini dabei.« »Na und? Dann schwimm in Unterwäsche, das macht keinen Unterschied. Außerdem haben wir dir gerade neue Klamotten gekauft. Kannst dich also danach umziehen.« »Aber … wir haben gar keine Handtücher.« Fing das etwa schon wieder an? Eigentlich hatte er gedacht, dass die Zeit für Nonsens-Diskussionen schon längst passé war. »Mann, Stellar … Ich war jetzt vier Stunden mit dir shoppen, bin bestimmt krebsrot auf meiner Rückseite und ich habe die ganze Zeit deine Tüten getragen, alles ohne rumzujammern. Ich finde, ich habe mir das verdient.« »Du wolltest doch unbedingt shoppen gehen, nicht ich! Das war ganz allein deine Idee!« Dylan verdrehte die Augen. »Jetzt komm schon, sei keine Spielverderberin, ja? Du schwitzt genauso wie ich und eine Abkühlung wird uns beiden guttun.« Schweigen machte sich breit und Stellars Lippen waren wie zugenäht. Aus ihr kam kein einziges Wort. Sie strich sich lediglich ihren Pony hinters Ohr und sah ihn hilflos an. »Kannst ja auch nur die Füße reinhalten, wenn du nicht schwimmen willst.« Keine Antwort, keine Reaktion. Dass man sie aber auch wirklich zu allem überreden musste … »Ich trage dir die Tüten auch bis zu deinem Kleiderschrank, wenn’s dich glücklich macht, aber entscheide dich schneller, ich krieg bald ’nen Sonnenstich.« »… okay, schon gut. Ich komme mit.« »Danke. Das wollte ich hören.« Und damit sie es sich nicht doch noch anders überlegte, legte er einen Arm um sie und zog sie mit sich.   Nach einem zehn minütigen Fußmarsch erreichten sie den See. Dylan fackelte auch nicht lange: Die Tüten warf er achtlos auf einen Haufen, dann schälte er sich aus Schuhen und Socken, Shirt und Cargo-Shorts, ließ alles einfach ins Gras fallen und rannte in den See hinein, tauchte ab. Im ersten Moment durchfuhr seinen überhitzten Körper eine Kältewelle und sämtliche Muskeln spannten sich an, doch nach wenigen Sekunden bot das kühle Nass die reinste Erfrischung. Nachdem er aufgetaucht war, musste er enttäuscht feststellen, dass sich Stellar lediglich ins Gras gesetzt hatte. Genierte sie sich vor ihm? In Unterwäsche sah er von ihr auch nicht mehr als im Bikini. »Jetzt komm endlich rein, das Wasser ist herrlich!« »Schon okay, ich passe auf unsere Sachen auf«, schrie sie zurück, deutete dabei auf die Tüten und machte keine Anstalten, diesen Sitzplatz zu verlassen. Wahrscheinlich würde sie sich dort verwurzeln, nur um nicht schwimmen zu müssen. Aber darum würde er sich später kümmern. Erst einmal wollte er sich selbst etwas Gutes tun.   Die ersten Schwimmzüge legte er tauchend zurück, dann aber stieg er aufs gemütliche Brustschwimmen um und sinnierte über die vergangenen paar Stunden. Seit er ihr das Kleid gezeigt und ihr zur Seite gestanden hatte, war Stellar wie ausgewechselt. Sie blieb offen für seine Ratschläge, zettelte selbst keinen Streit an, wie sie es sonst üblicherweise tat, und überraschte ihn mit einer Eigenschaft, die er erst innerhalb der letzten Stunden kennenlernen durfte: Stellar besaß Humor. Sie konnte sogar über sich selbst lachen – sogar mit ihm zusammen. Wenn er all das richtig interpretierte, herrschte aktuell unausgesprochener Waffenstillstand.   So in seinen Gedanken vertieft stellte er auf dem Rückweg erst fest, dass Stellar klammheimlich ihr holdes Plätzchen verlassen hatte. Stattdessen saß sie in Shirt und ohne Latzhose bis zum Bauchnabel im Wasser und wackelte mit ihren Füßen. »Na, wen haben wir denn da?« Kaum hatte er sie erreicht, setzte er sich direkt neben sie. »Unfassbar. Da ist aus dem kleinen Zeh fast die ganze Stellar geworden«, spottete er. »Doch zu heiß in der Sonne, hm?« »Ein bisschen«, räumte sie ein und träufelte sich eine Hand voll Wasser über ihren Arm. »Aber so reicht mir das schon.« »Und warum schwimmst du nicht?« »Zum Schwimmen ist mir das Wasser zu kalt.« Hä? Sie saß doch schon halb drin! »Also … du sitzt hier gerade mit mir, im See, und willst mir weismachen, dass dir das Wasser zum Schwimmen zu kalt ist. Habe ich dich richtig verstanden?« Stellars Nicken kam zögerlich, aber ihre Miene war entschlossen. »Komm schon, du verarscht mich doch. Einmal eingetaucht und dann bist du drin!« »Dylan, ich will jetzt nicht schwimmen, okay?« »Warum denn nicht?« »Weil ich einfach keine Lust habe!« Den Blödsinn konnte sie jemand anderem erzählen, aber ihm nicht. Wahrscheinlich war sie bloß zu eitel, als dass sie mit nassen Haaren nach Hause laufen wollte. »Gut …«, murmelte er, stand auf und stellte sich hinter sie. »… Dann helfe ich eben ein bisschen nach.« »Was –« Ehe sie reagieren konnte, hatte er sie schon gepackt, hochgehoben und ein paar Schritte tiefer ins Wasser getragen. »Was machst du? Nein! Lass mich sofort runter!«, kreischte sie, als hätte sie die Tollwut gepackt. Sie wirbelte ihren Kopf umher, strampelte mit Armen und Beinen, um sich loszulösen, doch es half nichts. Für Dylan wurde es dadurch nur kniffliger, sie ins Wasser zu kriegen, aber nicht unmöglich. Ein eineinhalb Köpfe kleinerer Giftzwerg musste schon mehr aufbringen, um ihn davon abzuhalten. »Nein! Bitte! Lass mich –« PLATSCH – Da lag der Giftzwerg vollständig im Wasser. Bis eben hatte Dylan noch gelacht. Als er ihr dann dabei zusah, wie sie schwamm, wurde er leichenblass und ihm blieb das Lachen in der Kehle stecken.   Unkontrolliert schlug sie mit ihren Armen um sich, versuchte an der Wasseroberfläche zu bleiben, hustete, da sie wohl Wasser geschluckt hatte, ging unter, kämpfte sich erneut nach oben, rang nach Luft und schluckte dabei anscheinend nur noch mehr davon ... Und dann war sie weg. Panik machte sich bei ihm breit. Scheiße. Ihm schlug die Pumpe gegen den Kehlkopf, seine Ohren dröhnten und sein Atem stockte. Warum hatte sie nichts gesagt? Scheiße, scheiße, scheiße! Nachdem er aus seiner Versteinerung erwacht war, hechtete er ihr hinterher und erwischte ihren Arm, zog sie daran nach oben. Wieder hustete sie, japste nach Luft. Schnell griff er unter ihren zweiten Arm, mit dem sie immer noch um sich schlug, und zog sie, so gut es ihm bei ihrer Zappelei gelang, an Land. Als sie den Boden unter ihren Füßen spüren konnten, riss sie sich aus seinem Griff los, stellte sich auf alle Viere und hustete und hustete … Hilflos stand er neben ihr, wusste nicht, was er tun sollte. Das Dröhnen wurde lauter, der Knoten im Hals verdickte sich und erfüllte jedes Schlucken mit Schmerz. Allein das Husten war so fürchterlich mit anzuhören, dass es Dylan eine Gänsehaut verpasste. Erst, als sich ihr Hustenreiz verflüchtigte, traute er sich wieder, sich ihr zu nähern. Vorsichtig kniete er sich zu ihr herunter, griff ihr unter den Arm und –  BAM! Die Ohrfeige kam überraschend und mit ordentlichem Schwung, vor allem aber treffsicher und schmerzhaft. Er konnte jeden einzelnen ihrer Finger in seinem Gesicht spüren. Sie wummerte sogar noch in seinem Kopf. Oder war das sein Herzschlag, den er hörte? »Fass mich bloß nicht an!«, ächzte sie, mit einer Stimme, die sogar das schlimmste Reibeisen in den Schatten stellte. »Deinetwegen wäre ich fast ertrunken!« Während er noch immer kein Wort herausbrachte und zu begreifen versuchte, was sich im See abgespielt hatte, richtete sie sich auf und quälte sich auf wackeligen Beinen zu ihrem Platz zurück. Dylan hingegen war in Schockstarre. Unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen, stand er da. Dazu verdammt, Stellar dabei zuzusehen, wie sie ihre Latzhose und ihre Tasche einsammelte, sich die Tüten griff und sich so schnell wie es in ihrem Zustand möglich war davonmachte. Er versuchte erst gar nicht ihr hinterherzulaufen. Instinktiv wusste er, dass es besser war, sie ziehen zu lassen.   Stellar war längst außer Sichtweite, als er seine Gliedmaßen wieder spüren und bewegen konnte. Er rieb sich kurz die Wange, die glühte und feuerrot sein musste, und setzte sich neben seinen Klamotten ins Gras, mit leerem Blick auf den See. Seinetwegen wäre sie fast ertrunken. Nur, weil er sie gegen ihren Willen in den See geworfen hatte. Ob gut gemeint oder nicht, das spielte keine Rolle. Je tiefer diese Tatsache in sein Bewusstsein drang, desto mehr erschrak er vor sich selbst. Er wollte ihr nie etwas antun. Er wollte einfach nur ein bisschen Spaß. Sich für die Sache von gestern entschuldigen und es wieder gut machen. Dass er dabei eine derart ernste Grenze überschritt – woher hätte er das wissen sollen? Andererseits: Warum wunderte er sich eigentlich noch? Das zwischen ihnen würde nie eine andere Basis als Feindseligkeit finden. Sie waren einfach zu verschieden. Er hatte es versucht. Er hatte es versucht und es war gewaltig schiefgelaufen. Gar nicht erst daran zu denken, wenn Chris erfuhr, was hier und heute passiert war … Zeit, um nach Hause zu gehen. Die Situation konnte er im Augenblick eh nicht ändern und die Schuldgefühle wurden von jetzt auf gleich auch nicht weniger.   Die schienen einen reizend perfiden Humor zu besitzen, wie Dylan fand. Sie hatten ihm das Bild, wie Stellar im Wasser um ihr Leben strampelte, in die Netzhaut eingebrannt und ließen es während des gesamten Nachhausewegs vor seinem inneren Auge wie einen schlechten Film in Dauerschleife ablaufen. Er hatte gehofft, dass zumindest der Umweg von mindestens einer Stunde quer durch den Park ihm dabei half, es abzustellen; Fehlanzeige. Nur kurz befreite ihn die stickige, abgestandene Luft, die schwer in seiner Wohnung hing und ihn als Willkommensgruß daheim erschlug. Doch sobald er sich daran gewöhnt hatte, war der Horrorstreifen wieder präsent. Ununterbrochen lief ihm die Gänsehaut rauf und runter. Der Anblick, das Husten … In solchen Momenten waren ihm gute Vorsätze, wie das Rauchen aufzuhören, scheißegal. Ihm wirklich helfen, sich besser zu fühlen, konnte da jetzt nur eins: eine Zigarette. Und ein Bier, am besten kalt. Ohne Schuhe auszuziehen ging er zielstrebig durch den Flur in die Küche und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Sein Blick verharrte auf dem Etikett. Wut stieg in ihm auf. Wut über das, was passiert war. Wut über sich selbst. Mit voller Wucht knallte er die Kühlschranktür zu und hielt sich das Bier an die Stirn. Warum? Warum hatte er ihr „Nein“ nicht einfach akzeptieren können? Warum nur musste er immer seinen Dickkopf durchsetzen? Chris hatte schon immer zu ihm gesagt, dass er vorher darüber nachdenken solle, bevor er etwas tat. Schon immer. Und eigentlich müsste er es doch allmählich begriffen haben, dass er damit Recht hatte. So oft, wie er sich bei Stellar schon entschuldigen musste ... Das letzte, was er wollte war, dass sie Angst vor ihm hatte. Wer aber konnte es ihr jetzt, nach dieser Glanzleistung, schon verdenken?  Dylan nahm die Packung Zigaretten mitsamt Feuerzeug vom Kühlschrank herunter, steckte sie sich in die Gesäßtasche und watete im Wohnzimmer durch die verstreuten Kleidungsstücke bis zum Balkon.   Endlich war Wind aufgekommen, die Hitze ein wenig abgeflaut und es dämmerte inzwischen. Die Kinder, die Dylan von seinem Balkon aus im Innenhof spielen sah, machten ihn wehmütig. Noch einmal Kind sein, noch einmal unbeschwert durchs Leben springen. Das wünschte er sich gerade. Einfach nur rutschen, wippen und schaukeln. Vielleicht noch ein paar Sandburgen im Sandkasten bauen oder auf den Kletterbaum klettern. Als Kind hätte er nicht solche Probleme am Arsch, wie jetzt. Allerdings gäbe es auch kein Bier. Ein kräftiger Druck mit dem Daumen gegen den Bügel und der Verschluss seiner Bierflasche ploppte auf. Es war ein sehr großer, erster Schluck. Ein Drittel des Inhalts fehlte, und wirklich besser fühlte er sich nicht, so erfrischend das Bier auch war. Auch das Flaschenglas auf der Stirn brachte keine Besserung. Warum konnte man Gedanken nicht einfach einfrieren? Oder einfach in Alkohol ertränken? Ertränken … Ihm entwich ein schwerer Seufzer. Jetzt schmeckte ihm auch das Bier nicht mehr. Er stellte es auf den Boden und mit einem Griff in die Gesäßtasche holte er die Schachtel Kippen und das Feuerzeug hervor. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und wollte sie gerade anzünden, da vibrierte sein Handy in der Hosentasche. Eine SMS: Hey stronzo. Das vorhin war unfair von mir. Sorry. Stellar   Hä? Stronzo? Sorry? Was sollte das bedeuten? Bevor er lange tippte, nahm er die Fluppe aus dem Gesicht und rief sie einfach an. Nach fünf Freizeichen hörte er keines mehr, die Gesprächszeit aber lief. Sie hatte also abgehoben, nur noch nichts gesagt. Oder war die Leitung kaputt? »… Hallo? Bist du dran?« Ein zögerlich zustimmendes Summen drang durch die Leitung. »Sorry für was? Und was soll dieses „stronzo“ heißen?« Keine Antwort. »Hallo?« »… Mann, keine Ahnung.« Ihre sonst so kraftvolle Stimme verdünnte sich, zitterte und schoss zum Ende schlagartig in die Höhe. Diesmal war es Dylan, der schwieg. »… Ich hatte einfach Panik und … eigentlich wolltest du mir ja nur helfen.« Er war nach wie vor von ihrer Entschuldigung verwirrt, auch davon, dass sie deutlich hörbar zu weinen begonnen hatte. Jetzt wusste er, warum sie nicht angerufen, sondern eine SMS geschickt hatte. Was sollte er nur sagen? »Tut mir leid, das war unfair. Auch die Ohrfeige.« Ihre Stimme klang gepresst, als kämpfte sie gegen die Tränen an. »Schon gut, vergiss es. Ich habe sie ja verdient ...« Er musste ihr einfach die Frage stellen: »Warum … hast du nicht einfach gesagt, dass du nicht schwimmen kannst?« Diese Frage brannte ihm schon die ganze Zeit wie Feuer auf der Zunge. »Weil …« Ein Schniefen unterbrach den Satz. »Weil das peinlich ist. Damit geht man nicht hausieren, okay? Jedes kleine Kind kann schwimmen, sogar Babys. Und ich bin schon fünfundzwanzig Jahre alt und kann’s nicht. Das ist nichts, was man jedem erzählt. Chris weiß es ja auch nicht …« Stille baute sich auf, die immer dicker zu werden schien, immer mehr die Leitung vereinnahmte, je länger sie vorherrschte. Nur ihr Schniefen schaffte es sie zu durchdringen. Im Trösten hatte er noch nie geglänzt, zumal ihm eh niemand die Floskeln abkaufte, nicht einmal er selbst. Was sollte er also darauf antworten?   »Also … Ich kann bis heute keine Schleifen binden«, sagte er und zerschnitt damit das neu aufgekommene Schweigen. Das trompetenartige Geräusch, das folgte, war so laut, dass er sich in dem Moment das Handy weiter vom Ohr weghalten musste. Das war aber ein sehr kräftiges Naseputzen … »Was?« »Ja, ehrlich! Ich kann keine Schleifen binden. Ich mach zwar einen Knoten, aber den Rest von den Schnürsenkeln stopf ich nur noch in die Schuhe. Meine Mutter hat zwar versucht, es mir als Kind beizubringen, aber ist schier daran verzweifelt. Mein Vater meinte, dass ich das dümmste Kind der Welt bin, zumindest in dieser Angelegenheit.« Erst schien sie nicht zu wissen, was sie davon halten sollte. Außer dem ständig wiederkehrenden Schniefen war nämlich nichts zu hören, dann aber tauchte ein kleines Lachen auf. Ja, so gefiel sie ihm schon viel besser. Kurz stieg er in ihr Lachen mit ein, dann aber wurde er wieder ernst. »Stellar … Es tut mir wirklich leid. Wenn ich das gewusst hätte … Ich … Wirklich, ich hätte dich niemals in den See geschmissen.« Schon wieder Trompeten. »Schon okay … Ich hätte einfach was sagen sollen«, entgegnete sie. Das hätte es bestimmt verhindert, ja. Den Gedanken aber sprach er besser nicht aus. »Geht’s dir denn gut? Du … hast mir vorhin einen ganz schönen Schrecken eingejagt.« »Ja, danke. Mir geht es gut. Hat vielleicht schlimmer ausgesehen, als es war.« »Eher schlimmer angehört …« Puh. Gott sei Dank. Damit sagte er endgültig: Bye bye, Schuldgefühle. Wieder wurde das Gespräch durch Schweigen geführt, bis es Stellar mit gefassterer Stimme unterbrach. »Danke, dass du mir geholfen hast.« »Oh bitte, nicht dafür.« Soweit kam es noch! Dass sie sich dafür entschuldigte, dass er sie aus einer Notsituation retten musste, die er eigenhändig verursacht hatte. »Okay … Können wir die Sache vielleicht für uns behalten? Ich will nicht, dass Chris davon weiß.« Er hatte sich so etwas schon gedacht. Ihm war das nur Recht. Dann musste er sich vor ihm auch nicht rechtfertigen. »Vergessen wir das Ganze einfach, okay? Das ist nie passiert.« »Okay. … Danke.« »Nicht der Rede wert.« »Cool, dann … dir noch einen schönen Abend.« »Dir auch. Danke, dass du angerufen hast.« Stellar zögerte. »Ich habe doch gar nicht angerufen.« Stimmt, das war ja er. »Ich meine, für die SMS.« Ihr Kichern ließ ihn lächeln. »Bis dann.« »Ach, Stellar? Was heißt denn jetzt „stronzo“?« Tut. Tut. Tut. Einfach aufgelegt.   Dylan nahm das Handy vom Ohr und sah auf das schwarze Display. Wow. Dieser Tag hielt wirklich jede Menge Überraschungen bereit. Insbesondere mit Stellar. Mit dieser Frau erlebte er wirklich eine ganz persönliche und einzigartige Stimmungsachterbahn. Wie schaffte es Chris nur, mehrere Tage mit ihr Zeit zu verbringen? Ihm war ein Nachmittag schon zu viel Action. Trotzdem konnte er nicht aufhören, sein Handy anzugrinsen. Diese Frau hatte bei ihm gerade drei Dinge verhindert: Erstens, mit dem Gefühl schlafen gehen zu müssen, dass er durch sein unüberlegtes Handeln beinah eine Frau auf dem Gewissen hatte. Zweitens, dem Drang nachzugeben, seine Wohnung aufzuräumen; den er eh nur gehabt hätte, wenn er keine anderweitige Beschäftigung hätte finden können. Und drittens, einen Rückfall in Punkto Rauchen. Ziemlich starkes Resultat. In Gedanken immer noch bei dem Gespräch steckte er die Zigarette wieder in die Schachtel, ebenso das Feuerzeug. Vielleicht hatten sie sich zu Anfang wirklich nur falsch eingeschätzt. Und vielleicht brauchten sie nur eines: Zeit, um sich besser kennenzulernen. In einer Sache war er sich völlig sicher: dass sich heute zwischen ihnen etwas verändert hatte. Kapitel 5: Andere Sichtweisen ----------------------------- Nachdem sie aufgelegt hatte, atmete Stellar einmal tief durch und ließ sich rückwärts aufs Bett fallen. Sein überraschendes Geständnis brachte sie immer noch zum Schmunzeln. Dylan Callahan. Ein erwachsener, zwei Meter großer Mann, der sich allein keine Schuhe zubinden konnte, weil er an einer simplen Schleife scheiterte. Hoffentlich ergab sich einmal die Gelegenheit, das mit eigenen Augen anzusehen. Mit Schwung setzte sie sich wieder auf, griff sich zwei Taschentücher aus der Papierbox, die auf dem Nachttisch stand, und schnäuzte mehrmals kräftig hinein. Dieser neue Frieden zwischen ihnen war irgendwie ermutigend. Sie fingen an, aufeinander zuzugehen und einander zu respektieren - zumindest ein bisschen. Aber immerhin, es war ein gar nicht mal so übler Anfang. Jedenfalls war das weitaus besser und ihr zehn Mal lieber als dieser ständige Machtkampf zwischen ihnen. Noch einmal wischte sie sich mit dem Taschentuch über die Nase, dann warf sie es in den Mülleimer, als es im selben Moment an der Tür klopfte. Ein kleiner rothaariger Lockenkopf lugte vorsichtig ums Eck. »Hey. Ist alles okay bei dir? Klang so, als hättest du geweint …« Stellar winkte ab, lächelte sie an und schob ihr Handy in die Hosentasche. »Es geht schon wieder. Seit wann bist du zuhause? Ich dachte, du bist heute zum Singen in der Bar?« In der „69-Bar“ – einem Jazz-Club, in dem Moira tagsüber kellnerte - durfte sie an zwei Abenden die Woche die Gäste mit ihrem Gesang begeistern und aus irgendeinem Grund war Stellar davon ausgegangen, dass heute einer dieser Abende war. »Nee, ich war ja gestern schon. Am Samstag erst wieder«, erklärte Moira und hockte sich unaufgefordert zu ihr aufs Bett. »Du siehst ganz schön scheiße aus«, bemerkte sie und sah sie mitleidig an, strich ihr über den Arm. Stellar quälte sich ein weiteres Lächeln ab. »Ich weiß. Gib mir eine Stunde im Bad und dann sehe ich wieder hübsch aus. Oder zwei Stunden, das klingt realistischer.« Moira schüttelte den Kopf. »Erzähl mir mal lieber, was Dylan jetzt schon wieder angestellt hat.« Stellar erwiderte ihr Kopfschütteln. »Nee, ist schon gut, ehrlich. Es geht schon wieder.« Moira verdrehte die Augen. »Jetzt sag schon, was hat er gemacht?« So sehr Stellar sich bemühen würde, es nicht erzählen zu müssen, auskommen würde sie Moira dennoch nicht mehr. Hartnäckigkeit war ihr zweiter Vorname. Sobald sie etwas aufschnappte, was in irgendeiner Form ihr Interesse weckte, verbiss sie sich darin wie ein tollwütiger Hund und bohrte so lange nach, bis sie alles wusste, was sie wissen wollte. Und zwar wirklich alles. Um ihren quälenden Fragen gar nicht erst ausgesetzt zu sein, entschloss sich Stellar, ihr zunächst eine abgespeckte Version des gestrigen Tages zu erzählen. Schließlich wusste sie davon auch noch nichts. »Unglaublich. Der Typ hat sie doch nicht mehr alle!«, schnaubte sie und tippte sich wiederholt mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Und Chris? Stand der nur dumm daneben und hat zugeschaut, oder wie?« »Chris war auf dem Klo, der hat gar nichts mitbekommen. Nur, dass ich halbnackt dagestanden habe. Das hat er wahrscheinlich noch gesehen, bevor ich abgehauen bin.« »Na toll.« Stellar wischte sich mit den Händen übers Gesicht. »Mir ist das immer noch so peinlich …« Kurz schwiegen sie und Moiras Blick wanderte nachdenklich zu Boden. »Glaubst du, er steht auf dich?« »Chris?« »Nee, Dylan.« Wie bitte? Wo kam das auf einmal her? Stellar schürzte die Lippen und hob eine Augenbraue. »Komm schon, bleiben wir realistisch.« »Na ja, warum nicht? Kann doch sein.« »Ach komm, hör doch auf!« Moira verdrehte die Augen. »Interessiert es dich denn gar nicht, warum er das die ganze Zeit macht?« »Nee. Eigentlich will ich nur, dass es aufhört. Warum er das macht ist mir ziemlich schnurz?!« Beschwichtigend nahm Moira die Hände nach oben. »Und warum hast du jetzt geheult? Doch nicht deswegen, oder?« Schon verlor sich Stellars Gereiztheit wieder und ihre Miene trübte ein. Vom heutigen Nachmittag wollte sie ihrer besten Freundin nichts erzählen. Moira hatte ebenfalls keine Ahnung, dass sie nicht schwimmen konnte und das sollte auch  so bleiben. Mit Dylan waren es eh schon viel zu viele, die  davon wussten. Aber da gab es noch etwas, das ihr ebenso auf den Magen schlug und sie den Tag über nicht in Ruhe gelassen hatte. »Chris war gestern ganz schön sauer auf mich und Dylan. Wir haben ihm eigentlich versprochen, dass wir uns zusammenreißen, aber … Na ja, du hast ja gerade gehört, was passiert ist.« »Er war sauer?« »Ja. Angepisst auf jeden Fall.« Moira schnaubte verächtlich auf. »Unfassbar. Genau der gleiche Trottel.« Stellar runzelte die Stirn. »Wieso Trottel?« »Also, entschuldige mal bitte«, schimpfte sie. »Er hat überhaupt kein Recht, sauer auf dich zu sein! Es ist eine Sache, sich ’nen Nachmittag zusammenzureißen zu müssen. Aber er kann doch nicht von dir verlangen, dass du einfach alles weglächelst, was Dylan mit dir veranstaltet?! Wo kommen wir denn dahin?« Moiras Augenbrauen berührten sich fast, so eng schob sie sie zusammen. »Und außerdem: Er könnte ruhig auch was dafür tun. Zum Beispiel seinen ach so tollen Kumpel ein wenig einbremsen und sich nicht nur darüber beschweren, dass das zwischen euch ständig eskaliert!« »Na ja, fairerweise muss ich sagen … Er wollte die ganze Zeit dazwischen gehen, aber wir haben ihm gar keine Chance dazu gelassen. Und ehrlich gesagt kann ich auch verstehen, warum er sauer ist. Eigentlich will er ja nur Zeit mit seinen Freunden verbringen.« Moira verschränkte erneut die Arme. »Kann er ja, niemand verbietet ihm das. Aber er muss endlich kapieren, dass ihr zwei euch einfach nicht grün werdet, findest du nicht?« Wieder zuckte Stellar mit den Schultern und strich sich den Pony zurück, senkte den Blick und zupfte an der Bettdecke herum. »Ihm liegt eben viel daran, dass Dylan und ich uns gut verstehen. Er meinte zu mir, dass er sich nicht immer zwischen mir und Dylan entscheiden möchte, sondern lieber die Zeit mit uns gemeinsam verbringen will.« »Schätzchen, das ist alles gut und schön. Aber wenn es nicht geht, dann geht es eben nicht. Sowas muss auch dein Chris akzeptieren.« Stellar ignorierte ihren abfälligen Tonfall. »Ich weiß. Im Grunde ist es aber doch so: Wir sind beide seine Freunde. Wir hätten doch alle drei was davon, wenn wir es hinkriegen würden, uns einen Nachmittag lang zusammenzureißen. Ich meine, wir reden hier von einem Nachmittag. Das sollte doch eigentlich machbar sein.« Moira seufzte, bemühte sich nicht einmal, ihre Verzweiflung darin zu unterdrücken. »Schätzchen, du hast es doch schon X-Mal versucht und jedes Mal ist es schiefgegangen.« »Ich weiß, aber -« »Das führt doch zu nichts! Guck dich doch an: Du sitzt schon wieder hier und heulst. Schon wieder!« »Ich weiß -« »Du machst dich doch nur selbst unglücklich damit.« Nachdem Stellar nicht zu Wort zu kommen schien, schwieg sie resigniert und spielte weiter an der Bettdecke herum. »Außerdem, dachte ich, willst du doch gar nicht nur ’ne Freundin sein. Du willst doch mehr, oder nicht?« Nun wandte sie ihren Blick wieder zu Moira. »Ja, schon, aber –« »Was soll denn dann das ganze Affentheater? Sag ihm endlich, was du für ihn empfindest! Sonst kommst du nie aus der Friendzone raus.« Fing das etwa schon wieder an? »Du weißt ganz genau, warum ich ihm nichts sage.« »Und du weißt, dass ich das für Schwachsinn halte. Fakt ist: Solange du dich wie eine gute Freundin verhältst, wirst du immer eine gute Freundin bleiben. Punkt. Und wenn du das ändern willst, musst du ihm sagen, was Phase ist.« Stellar hatte gerade keinen Nerv für Grundsatzdiskussionen, deshalb lenkte sie das Gespräch wieder zurück zum Ursprungsthema: »… Jedenfalls ist Chris jetzt total sauer deswegen und ich habe eben Angst, dass er sich vorerst mit keinem von uns treffen will, solange wir uns nicht wieder vertragen haben.« Moira runzelte die Stirn. »Deswegen hast du geweint?« Nein. »Ja.« »Sorry Schätzchen, ich weiß du hörst das nicht gerne. Aber wenn er das echt durchzieht, dann spinnt der Typ für mich komplett.« Stellar seufzte nur, antwortete nicht. Sie wusste, dass Moira kein Fan von ihm war, trotzdem gefiel es ihr nicht, wenn sie so abfällig über ihn sprach. Das hatte er nicht verdient.   Chris war kein schlechter Mensch. Nach dem Einsatz im alten Friseursalon hatte er ihr bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle geholfen, ihr für jedes Mal Haareschneiden die Hälfte des Preises als Trinkgeld gegeben und er hatte in der Überbrückungszeit, in der sie als mobile Friseurin gearbeitet hatte, bis zur Neuanstellung jede Menge seiner Kollegen zu ihr geschickt. Dadurch hatte er ihr nicht nur finanziell geholfen, sondern ihr auch eine feste Stammkundschaft beschert. Ihrer Meinung nach sollte sie ihn schon allein deshalb wie einen Helden feiern, wie sie es selbst tat.   »Hast du denn noch mal mit ihm darüber geredet?« Stellar schüttelte den Kopf. »Wir haben seit gestern Nachmittag nichts mehr miteinander gesprochen, nicht mal geschrieben.« Diesmal war es Moira, die seufzte. »Gut, das ist ja nicht so ungewöhnlich, oder? Du hast ja mal erzählt, dass er sein Handy in den Spint sperrt, wenn er arbeitet.« »Schon, aber … eigentlich hätte er heute frei.« »Ach so …« Und das war es, was sie so bedrückte: Normalerweise verbrachten sie viele seiner freien Tage zusammen. Doch heute hatte sie so oft auf ihr Handy sehen können, wie sie wollte – von Chris war weder eine Nachricht noch ein Anruf eingegangen. Er hatte nicht einmal nachgefragt, wie es ihr überhaupt ginge. Stellar ließ endlich die Decke in Ruhe, zog die Beine an, umschlang sie mit ihren Armen und legte ihr Kinn darauf ab. »Ich habe einfach Angst, dass wenn ich das mit Dylan nicht auf die Reihe kriege, unsere Freundschaft deswegen kaputt geht …« Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen und Stellar rechnete damit, dass es gleich die nächste Kritik von Moira hagelte. Aber die kam nicht. Stattdessen schloss sie sie schwer seufzend in die Arme. »Ach Süße … Was soll ich nur mit dir machen?« Stellar war ihr so unendlich dankbar, dass sie nicht mehr dazu sagte. Dass sie ihr lediglich schweigend übers Haar strich, sie fest an sich drückte und sanft hin und her wiegte. Genau das war es, was sie jetzt brauchte. Keine Moralpredigt. Kein Du-du und auch keine Kritik an Chris. Nur eines fehlte noch … »Was hältst du davon, wenn wir uns ins Wohnzimmer auf die Couch verziehen, hm? Ich mache uns Tee, hole die Kuscheldecke raus und dann schauen wir uns einen Film an, okay? Und natürlich Eis. Eis hilft bei sowas immer. Wie klingt das?« Als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Schoko-Karamell mit Streuseln?« Sofort löste Moira die Umarmung und sah sie eindringlich an. »Hat es bei mir schon mal Schoko-Karamell-Eis ohne Streuseln gegeben?« Lächelnd schüttelte Stellar den Kopf. »Na also. Am besten gehst du schon mal vor, ich mach den Rest.« Stellar nickte. Das war das Schönste an ihrer Freundschaft: Zwischen ihnen konnte es noch so heftig krachen – sie waren trotzdem immer füreinander da. Nachdem Moira den Tee gekocht, das Eis portioniert und einen Film eingelegt hatte, machten sie es sich im Wohnzimmer auf der Couch bequem: Sie kuschelten sich aneinander, legten sich die wollige Fernsehdecke über die Beine und löffelten das Eis in sich hinein. Stellar sah zwar zum Fernseher, bekam allerdings nicht viel mit. Ihre Gedanken kreisten längst wieder um ihr unfreiwilliges Bad im See. Sie hatte wirklich Todesangst gehabt. Dieser Moment unter Wasser, während sie nach Luft rang und stattdessen nur noch mehr Wasser schluckte; während sie versuchte, sich an die Oberfläche zu kämpfen, und stattdessen nur noch tiefer sank. Sie hatte einen Moment lang tatsächlich geglaubt: Das war’s.   BRRR-BRRR. Vom Vibrationsalarm aus den Gedanken gerissen zog sie das Handy aus der Hosentasche, öffnete die eingegangene SMS und begann zu lesen:     Hi Sternchen. ;) Geht’s dir gut? Hat sich Dylan bei dir schon entschuldigt? Ich will es für ihn hoffen, sonst gibt’s Ärger … Ich hätte am Sonntag wieder frei. Lust auf einen Kaffee im Franco? Dylan ist nicht dabei, versprochen. :) Chris     Oh. Chris war also doch nicht böse. So, wie sich die SMS las, wollte er Dylan den Tag über nur Zeit geben, sich bei ihr zu entschuldigen. Gott, war das eine Erleichterung. Sofort erfüllte eine innere Wärme ihren Brustkorb. War da etwa auch einen Funken Sorge herauszulesen?     Hey :) Keine Sorge, mir geht’s gut. Und ja, er hat sich entschuldigt. Bin ihm auch nicht mehr sauer, also alles gut. ;) Ja klar, sehr gern! Sag mir wann und wo und ich bin da ;) Freu mich auf Sonntag! Sternchen     Wow. Sie beide, ganz allein. Und das sogar garantiert! »Hat dir Chris einen Heiratsantrag gemacht oder woher kommt das Grinsen?«, fragte Moira und guckte sie verwundert an. Stellar schürzte die Lippen. »Sehr witzig … Nein, er hat mir gerade eine SMS geschrieben und mich gefragt, ob wir uns Sonntag sehen können. Er hat nämlich frei und will mit mir einen Kaffee trinken gehen. Ganz allein, ohne Dylan.« Diese Nachricht hellte Moiras Gesicht auf. »Na siehst du, er lernt ja doch dazu! Hast dir also vollkommen umsonst die Kulleraugen aus dem Kopf geweint.« Wenn sie nur wüsste … Stellar lächelte ihr schweigend zu. »Ach Mensch, ich wollte dich ja noch etwas fragen«, bemerkte Moira und damit war die Kuschelrunde vorbei. Sie wandte sich mit ihrem Körper zu ihr, zog die Beine in den Schneidersitz. »Du erinnerst dich doch sicher noch an Duke, oder?« Stellar stöberte in ihrem Namensgedächtnis. »Ist das nicht der Pianist bei euch?« »Genau! Na ja, er war es. Johnny hat ihn ja vor ein paar Tagen aus der Bar geschmissen.« Da war sie baff. »Ihr habt doch ewig nach einem anständigen Pianisten gesucht. Warum wirft er ihn denn gleich wieder raus?« »Johnny hat ihn ja im Endeffekt nur aus der Not heraus eingestellt und ihn nie wirklich für gut befunden. Eigentlich hat er nur den Zeitpunkt abgewartet, bis er einen besseren Pianisten als Duke findet. Er wäre demnach so oder so geflogen. Aber jetzt pass auf: Johnny hat mir heute erzählt, dass der Neue schon nächste Woche Montag anfangen soll.« »Okay. Klingt doch super! Und wo ist da jetzt die Frage versteckt?« »Na ja … es wäre echt toll, wenn du dann zur ersten Probe mitkommen würdest.« Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. »Ähm … Okay. Und was soll ich da?« Moira verdrehte die Augen. »Na im Publikum sitzen und ihn für mich ein bisschen abchecken! Wenn ich mit ihm auf der Bühne stehe und er mir mit der Klimperschüssel im Rücken sitzt, komme ich ja nicht dazu.« Schmunzelnd griff sie nach ihrem Tee. »Du meinst, ich soll die Beziehungskriterien für dich abchecken, bevor du dich ihm an den Hals schmeißt? Ob er einen Ehering trägt und so?« Und da war es wieder, das Grinsen inklusive Zahnlücke. »Ich stehe nun mal auf Musiker.« Amüsiert schüttelte Stellar den Kopf, trank einen großen Schluck aus der Tasse und stellte sie gleich wieder auf den Wohnzimmertisch ab. »Für dich ist aber auch wirklich jeder, der singen oder ein Instrument spielen kann, ein potenzieller Beziehungspartner, oder?« »Na und? Ich habe im Gegensatz zu dir weder Zeit noch Lust, auf den Richtigen zu warten. Dafür habe ich keine Geduld.« Touché. Dieser Punkt ging an sie. Stellar streckte ihr die Zunge raus und Moira antwortete ihr auf gleiche Weise. »Also was ist? Kommst du mit?« »Habe ich denn eine Wahl?«, fragte sie und zwinkerte ihr zu. Ruckartig fiel ihr Moira um den Hals und quiekte freudig. »Du bist einfach die Beste!« Kichernd drückte sie sie an sich. »Sag dir das bei unserem nächsten Streit noch mal, in aller Deutlichkeit. In Ordnung?« Anstatt etwas darauf zu erwidern, schenkte ihr Moira einen dicken Schmatzer auf die Wange. »Du hast was gut bei mir, ehrlich.« »Ach was. Sagen wir, wir sind quitt, wegen dem Eis.« Einen Moment lang schien sie darüber nachzudenken, dann nickte sie zufrieden. »Auch gut.« Dann drehte sie sich wieder um und schaute zurück auf das Fernsehbild. Auch Stellar versuchte sich auf den Film zu konzentrieren, verlor sich nach wenigen Minuten aber erneut in ihren Gedanken. Zurück zu Chris’ SMS. Noch einmal las sie den Nachrichtenverlauf und spürte, dass sie nicht aufhören konnte zu grinsen. Schon seltsam. Sie wusste, dass dem nicht so war, dennoch war da ein Stimmchen in ihrem Innern, dass ihr immer wieder sagte: Eigentlich klang das fast nach einem Date. Warum war der Sonntag noch so weit weg? Kapitel 6: Der "Aha"-Moment --------------------------- Gemahlener Kaffee lag in der Luft und ritt auf einer Karamellspur durch den Raum. Ihr Weg führte direkt an Chris’ Nase vorbei. Jedes Mal, wenn ihn der Duft streifte und er ihn einsog, legte sich der Geschmack dieses braunen Gebräus auf seine Zunge und schenkte ihm eine Vorstellung davon, wie er schmecken könnte. Einen Kaffee mit Karamellaroma hatte er zwar noch nie getrunken, aber allein der Geruch war appetitanregend. Trotz der vielen anderen Gäste, die sich angeregt unterhielten, hörte man den ruhigen, entspannenden Jazz ganz deutlich aus den Lautsprechern tönen. Während er also versuchte, sich den Geschmack eines solchen Kaffees vorzustellen, lauschte er mit geschlossenen Augen Louis Armstrongs Version von La Vie En Rose und schwenkte den Kopf zum Takt hin und her. Damals, als er sich das allererste Mal, direkt nach ihrem Kennenlernen mit Stellar getroffen hatte, hatten sie es auch gespielt. Das war ein wundervoller Tag gewesen.   Sie hatten so viel miteinander geredet und gelacht, dass sie die Zeit völlig aus den Augen verloren hatten und gar nicht bemerkten, dass sie die letzten Gäste waren. Erst nach mehrmaligem „unauffälligen“ Husten seitens des Personals war ihnen aufgefallen, dass sie nur auf ihr Gehen gewartet hatten, um abschließen zu können. Eine von vielen schönen Erinnerungen, die in diesen vier Wänden verborgen lag.   Er befürchtete nur, dass diese gelassene Stimmung von damals heute nicht vorherrschen würde. Immerhin schuldete er Stellar noch eine Entschuldigung und an der feilte er gedanklich schon seit einer Woche. Ein Ergebnis hatte er allerdings nicht erzielt. Er hatte wirklich keine Ahnung, wie er sie formulieren sollte. Ehrlich sollte er dabei sein, das stand völlig außer Frage. Aber er wollte auf keinen Fall plump daherreden oder es gar so formulieren, dass man etwas Falsches hineininterpretieren könnte. Auf jedem Fall war klar, dass er es persönlich machen wollte und ein »Ich war mit der Situation überfordert« nicht ausreichte. Plötzlich polterte es neben ihm und Chris schreckte hoch, riss die Augen auf und entdeckte Stellar, die wohl gerade ihre Tasche auf die Eckbank direkt gegenüber fallen gelassen hatte. »Ups … Habe ich dich erschreckt?« Immer, wenn man am wenigsten damit rechnet. »Nein, nein. Schon gut. Ich war nur in Gedanken.« Sofort stand er auf und umarmte sie zur Begrüßung. »Hi erstmal.« »Hi.« Sie erwiderte die Umarmung, bevor sie sie gleich wieder löste. »Eigentlich wollte ich dich anrufen und dir Bescheid sagen, dass ich etwas länger brauche, aber ich habe heute Morgen vergessen, die Musik abzustellen und jetzt ist mein Handy tot.« »Schon okay, jetzt bist du ja hier«, entgegnete er. »Ich war zwar etwas überrascht, dass ich mal auf dich warten muss, aber ich glaube, das darf auch mal sein.« »Das bringt immerhin ein bisschen Abwechslung rein.« Sie setzten sich an den Tisch und Stellar atmete einmal tief durch, ehe sie nach der Speisekarte griff. »Hast du schon etwas bestellt?« »Noch nicht, ich wollte auf dich warten.« »Oh, wie lieb von dir«, säuselte sie und lächelte ihn dankbar an. Dann warf sie einen Blick in die Karte. Chris lächelte zwar zurück, ihre Laune kam ihm allerdings komisch vor. War sie gar nicht sauer auf ihn? Oder enttäuscht? Er versuchte, das Misstrauen zu ignorieren und griff nach der zweiten Speisekarte blätterte direkt zu den Desserts. Etwas Süßes wäre jetzt genau das richtige. Die karamellisierte Birne mit heißem Stachelbeerkompott klang schon richtig lecker, genauso wie der hausgemachte Apfelstrudel mit Vanillesoße. Seine Aufmerksamkeit lag allerdings bei einem mit „NEU!“ deklarierten Nachtisch:   „Franco’s Eisbombe“ – mit Früchten der Saison, Naturjoghurt, Schokoladensoße, einem Sahnehäubchen und verschiedenen Eissorten: Vanille, Joghurt, Kokos und Stracciatella.   Der Name des Eisbechers lag ihm wie ein Stein im Magen und drückte ihn fester in den Stuhl. Vorsichtig lugte er über die Karte hinweg zu Stellar. Sie hatte ihre schon beiseitegelegt. »Weißt du schon, was du nimmst?« »Ja, eine heiße Schokolade.« »Nichts zum Essen?« Stellar schüttelte den Kopf. »Gestern hast du noch gemeint, dass wir später eh noch zu dir gehen und was Schönes kochen. Oder klappt das jetzt nicht mehr?« Ach ja, richtig. »Doch doch, ich habe gerade nur nicht mehr dran gedacht.« Dann hatte sie wohl das neue Dessert gar nicht gesehen ... Nein, er konnte das nicht einfach unausgesprochen lassen. Er musste das klären und sich bei ihr entschuldigen. »Ist alles okay bei dir?« »Hm?« Er hob den Kopf und sah in ihr verwundertes Gesicht. »Du bist irgendwie komisch heute.« »Wieso komisch?« »Keine Ahnung, du wirkst irgendwie zerstreut.« Chris wollte gar nicht erst versuchen, sich in Ausreden zu flüchten. Das würde schlichtweg in einer Katastrophe enden und Stellar am Ende wütender machen, als sie es vielleicht so schon war. Außerdem bot sie ihm gerade die perfekte Vorlage, um sein Gewissen zu bereinigen, also sollte er sie auch nutzen. Weil er schon seit einer Woche keine richtige Formulierung für seine Entschuldigung gefunden hatte, sagte er es jetzt einfach so, wie es ihm durch den Kopf ging: »Na ja, also … Ich wollte mich bei dir für letzte Woche entschuldigen.« Stellar runzelte die Stirn. »Wieso? Was war da?« Hatte sie das etwa schon vergessen? Kurz zögerte er, sprach es dann aber doch aus. »Na ja … wegen der Sache mit dir und Dylan im Park und weil ich dir nicht geholfen habe, wie ich es eigentlich hätte tun sollen.« Augenblicklich schoss ihr die Röte in die Ohren. »Oh Mann, Chris …«  Schnell legte sie sich ihre Hände aufs Gesicht, um die Röte zu verdecken, die genau dorthin zu wandern begann. »Eigentlich wollte ich die Sache vergessen und nie wieder darüber reden.« Oh je. Dabei hatte er es für eine so gut Idee gehalten. »Tut … mir Leid, ich dachte, dass du auf eine Entschuldigung von mir wartest.« »Nein, tue ich nicht. Das heißt … Doch, irgendwie schon, aber …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende, nahm die Hände vom Gesicht und atmete erneut tief durch, ehe sie ihn vorwurfsvoll ansah. »Ich war enttäuscht von dir, verstehst du? Du hast direkt neben ihm gestanden und du hast nichts gesagt! Du hast mir nicht einmal geholfen!« Autsch. Ihre Worte trafen messerscharf und präzise. Wäre wohl doch besser gewesen, hätte er einfach den Mund gehalten. »Ich weiß und das tut mir auch leid. Ich war einfach nur mit der Situation überfordert.« In Gedanken gab er sich eine Ohrfeige nach der anderen. Genau den Satz, den du nicht sagen wolltest, knallst du ihr an den Kopf. »Ah, ach so. Und was war dann ich deiner Meinung nach?« »So meinte ich das nicht.« »Sondern?« Ihr Ton wurde schärfer. »Ich … Ich wusste nicht, worauf ich zuerst reagieren sollte. Als ich vom Klo wiedergekommen bin, hat es so ausgesehen, als ob er dir an die Wäsche wollte. Bevor ich aber auch nur eine Frage stellen konnte, bis du auch schon auf und davon und er dir hinterher.« »Denkst du etwa, ich bleibe noch an Ort und Stelle, um das Ganze in Ruhe auszudiskutieren? Ganz bestimmt nicht!« »Das hätte ich doch auch gar nicht von dir verlangt.« »Und überhaupt: warum bist du ihm nicht hinterher, wenn du schon glaubst, dass er mir an die Wäsche wollte?« Das war die sprichwörtliche Pistole auf der Brust, die er eine Woche lang gefürchtet hatte. Er sah ihr an, dass sein Handeln für sie keinen Sinn machte. Genauso wenig seine Gedankengänge. Genau, wie er es erwartet hatte. »Ich weiß, dass er so nicht ist. Ich kenne ihn seit wir acht Jahre alt waren. Ich bin mit ihm zusammen zur Schule gegangen, in dieselbe Klasse. Ich weiß, dass er viel Blödsinn macht, aber so etwas ganz bestimmt nicht.« Stellar wich nun seinem Blick aus, strich sich ihren Pony zurück. »Das beantwortet mir aber meine Frage nicht.« »Ich …« Irgendwie hatte er das Gefühl, dass alles, was er sagte, für sie weder schlüssig, noch das Richtige war. »Ich dachte, es wäre besser, wenn ihr das untereinander klärt und ich mich einmal nicht einmische.« Schweigen dehnte die Kluft, die zwischen ihnen lag und schnürte ihm die Kehle zu. »Hast du ihm deswegen meine Handynummer gegeben?«, fragte sie nach einer Weile, mit deutlich ruhigerer Stimme. Chris nickte. »Als er ohne dich zurückgekommen ist, habe ich von ihm gleich eine Erklärung verlangt und er hat mir hoch und heilig geschworen, dass das keine Absicht war. Und ich glaube ihm das. Er wollte das alles selbst wieder regeln und hat mich deshalb auch nach deiner Nummer gefragt. Ich wollte ihm die Chance nicht nehmen.« Stellar erwiderte nichts darauf. Sie seufzte lediglich und senkte erneut den Blick. Chris tat es ihr gleich. Er hatte es geschafft, die Stimmung in den Keller zu verfrachten, bevor sie überhaupt einen Aufschwung erleben durfte. Ganz toll gemacht. Seinem Empfinden nach zu urteilen war es jetzt egal, was er dazu noch zu sagen hatte. Also warf er das letzte Bisschen, das ihm noch auf der Seele brannte, einfach als Schlusssatz in den Raum: »Vielleicht habe ich auch einfach nur gehofft, dass er es tatsächlich allein wieder hinkriegt und dass ihr euch vielleicht danach … zumindest ein bisschen besser versteht.« Unsicher sah sie ihn von unten herauf an. »Tun wir tatsächlich«, murmelte sie. Hatte er sich da verhört? »Ehrlich?« »M-hm. Er hat sich ganz schön ins Zeug gelegt, um es wieder gut zu machen, das muss ich ihm echt lassen. Wenn er etwas macht, dann mit vollem Einsatz.« Wow. Das ausgerechnet von ihr zu hören freute ihn so sehr, dass er von einem Ohr zum anderen grinste. »Das bedeutet aber trotzdem nicht, dass wir jetzt immer als Dreiergespann rumlaufen, okay?«, wandte sie sofort ein. »Ich will auch Zeit mit dir allein verbringen können.« »Ja, natürlich!« So naiv war selbst er nicht. Nach diesem Fiasko war das Chris absolut klar gewesen. »Und das nächste Mal fragst du mich bitte vorher, bevor du jemandem meine Handynummer gibst. Oder sag mir zumindest Bescheid.« »Geht klar.« »Versprochen?« »Fest versprochen.« »Auch die Zeit zu zweit?« »Auch die Zeit zu zweit.« Endlich. Ihr Lächeln war wieder da. »Okay, dann ist die Sache jetzt vergessen und wir reden nie wieder darüber. Das ist einfach nie passiert.« »Was ist nie passiert?« Chris zuckte zusammen. Zum einen, weil er die Stimme erkannte, die diese Frage gestellt hatte, zum anderen, weil dieser jemand ihn an den Schultern griff und so kräftig zupackte, dass es direkt schmerzte. »Habt ihr etwa Geheimnisse vor mir?« Stellar entfleuchte ein abfälliges Schnauben und verdrehte die Augen, stützte ihren Kopf in die Hand und wandte das Gesicht ab. »Hallo Dylan.« »Ich habe dich gar nicht kommen sehen«, presste Chris heraus und rieb sich eine der Schultern, als Dylan sie endlich losgelassen hatte. »Tja«, sagte er, schnappte sich vom Nachbartisch einen Stuhl und positionierte ihn an die Tischseite genau zwischen Stellar und Chris. Dann setzte er sich so darauf, dass er die Stuhllehne vor sich hatte und seine Arme darauf ablegen konnte.  »Ich habe euch ja gerufen, aber ihr wart ja in euer geheimes Gespräch so vertieft, dass ihr mich nicht gehört habt.« »Daran ist nichts geheim.« »Dann könnt ihr mir ja sagen, was nie passiert ist.« »Ich gehe pullern«, brummte Stellar und stand dabei auch schon auf. »Bestellst du mir einen Cappuccino mit, wenn in der Zwischenzeit die Bedienung auftaucht?« Chris sah ihr an, dass sie sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte, aber eine ihrer Augenbrauen spielte nicht mit. Die zuckte unkontrolliert, vermutlich vor Wut. »Sicher, mache ich.« »Ach, ihr habt noch gar nicht bestellt? Cool. Ich habe eh noch ein bisschen Zeit, dann leiste ich euch mit einem Kaffee ein bisschen Gesellschaft.« Schon griff Dylan nach der Speisekarte, die vor Chris lag und schlug sie auf. Chris wartete lieber noch, bis Stellar außer Hörweite war. Ihr Zähneknirschen konnte er diesmal zwar nicht hören, aber ihre Kaumuskeln hatten es zu erkennen gegeben. »Also, dann erzähl mal. Was ist nie passiert?« »Dylan, was genau machst du hier?« Ungläubig blickte er auf. »Darf ich jetzt nicht mal mehr öffentliche Cafés besuchen, oder wie?« »Doch, aber das hier war eigentlich ein Treffen zwischen mir und Stellar. Und um ganz ehrlich zu sein, würde ich gerne vermeiden, dass das wieder so eskaliert wie letztes Mal, nur weil du hier zufällig aufgetaucht bist. Bestimmt glaubt sie jetzt, ich hätte dich ohne ihr Einverständnis einfach hier eingeladen.« »Wow Moment! Warte, warte, warte: Wie letztes Mal?« Dylan schlug die Karte zu, schob sie von sich weg. »Sag mal, wie oft muss man eigentlich bei euch zu Kreuze kriechen, damit einem mal vergeben wird?« Mit Zornesfalte auf der Stirn tippte er mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Dass es so eskaliert ist, wie du sagst, war erstens keine Absicht und das habe ich jetzt wirklich oft genug gesagt. Und zweitens habe ich für meinen Fehler gerade gestanden, sogar wortwörtlich dafür bezahlt.« Chris war von seiner plötzlichen Aggression überrascht und verwirrt zugleich. »So meinte ich das nicht.« »Aber ich! Wie sieht’s denn bei dir aus, hm? Kannst du denn was Besseres vorweisen?« »Wie, was Besseres vorweisen? Was meinst du?« Nun zeigte Dylan mit dem Finger direkt in Chris’ Gesicht. »Du schaffst es ja nicht mal deiner Freundin zu helfen, wenn sie halbnackt mitten in Clayton steht. Für 'nen sogenannten besten Freund ist das ’ne ganz schön schwache Nummer.« Seine Worte schockierten ihn. Wo kam diese Wut denn auf einmal her? »Sag mal, spinnst du eigentlich? Wer war denn überhaupt Schuld daran, dass ihr das passiert ist? Ich oder du? Außerdem habe ich mich eben bei ihr entschuldigt! Kurz bevor du aufgetaucht bist, war alles wieder in Ordnung!« »Oh ja, natürlich. Jetzt, wo du dich entschuldigt hast, ist alles wieder in Ordnung. Und wer hat die Sache wieder ausgebügelt? Ich oder du?« »Sag mal …« Chris fiel wirklich nichts mehr darauf ein. Er war sprachlos, konnte noch nicht einmal definieren, wie diese kurze Unterhaltung gleich so explosionsartig außer Kontrolle geraten konnte. »Ist doch wahr, Mann! Während du sie angeglotzt hast, habe ich im Gegensatz zu dir noch versucht, ihr zu helfen und sie zurückzuholen. Da war ich ja noch mehr Freund als du.« »Oh, verstehe. Du bist jetzt also ihr Freund, ja?« »Ja, bin ich!« Chris wollte gerade etwas darauf erwidern, als ihm das Resultat dieses Gesprächs ins Bewusstsein drang. Ein Gedanke schoss ihm unweigerlich durch den Kopf und sorgte für Bauchschmerzen. » … im ernst jetzt?« »Ja!« »Du und Stellar?« »Ja!« Er konnte es gar nicht begreifen. »Ihr seid echt zusammen?« Für einen Augenblick wich Dylan seinem Blick aus, kratzte sich im Nacken und sah ihn dann erneut mit ernstem Gesichtsausdruck an. »… ja.« »Du verarscht mich.« Dylan schwieg und verschränkte die Arme, seine Miene aber blieb weiterhin ernst. Konnte das wahr sein? Eigentlich passte das hinten und vorne nicht zusammen. Stellars Reaktion, seine Aussage … »Wir wollten es dir eigentlich nicht sagen, weil wir nicht wussten, wie du reagieren würdest, aber wenn du jetzt schon so direkt fragst …« »Aha.« Chris rang nach Fassung. Ihm kam das absolut paradox vor. Zuerst hassen sie sich, streiten miteinander bis zur Eskalation und zum Schluss sollte daraus eine Beziehung entstanden sein? Je länger er versuchte, sich diesen Tathergang bildhaft vorzustellen, desto ungläubiger wurde er. »Das kommt ziemlich … unerwartet.« »Stell dir vor, wir haben das auch nicht geplant.« Schließlich stand Dylan auf und stellte den Stuhl an seinen rechtmäßigen Platz zurück. »Ich verdrück mich jetzt besser. Wir wollen ja nicht, dass die Situation wieder „eskaliert“.« Chris wusste gar nicht, womit er zuerst fertig werden sollte: Mit der Information, dass Stellar in einer Beziehung mit Dylan sein sollte, oder mit dessen spitzen Zunge. »Jetzt warte mal. Du weißt ganz genau, dass ich das so nicht gemeint habe.« »Ja, das weiß ich. Aber ich bin es Leid, mich ständig entschuldigen oder rechtfertigen zu müssen. Eigentlich solltest gerade du das am besten wissen. Wir sehen uns.« Mit diesen Worten klopfte er ihm noch einmal auf die Schulter, drehte sich um und ließ Chris allein am Tisch zurück. Super. Genau so hatte er sich seinen freien Tag vorgestellt. Stress an beiden Fronten. Eigentlich sollte der heutige Tag ein ruhiger Tag werden. Stattdessen hatte er das Gefühl, als ob er in einem mit Haarspray verpesteten Raum ein Feuerzeug angezündet hätte. Und das, wo er doch eigentlich nur das Richtige tun wollte. Und ausgerechnet jetzt kam auch noch die Bedienung. Dabei wusste er noch nicht einmal, ob es überhaupt noch Sinn machte, etwas zu bestellen. Aktuell wollte er am liebsten gehen. Mit breitem Zahnspangenlächeln stellte sie sich direkt an den Tisch. »Willkommen im Café Franco’s. Ich bin Jessie und heute eure Bedienung. Schon etwas in der Karte gefunden?« Aus ihrem Servicegürtel zückte sie Notizblock und Stift hervor, bereit um alles aufzuschreiben. »Ja, also … Einen Latte Macchiato mit Karamellaroma und einen Cappuccino zum Mitnehmen bitte.« »Oh, bleibt ihr gar nicht hier?« »Nein, wir haben heute leider nicht so viel Zeit.« »Schade. Dann aber beim nächsten Mal, hm?« Jessie zwinkerte ihm zu und Chris rang sich ein Lächeln ab. »Ganz bestimmt.« »Schön. Ich bringe euch gleich die Bestellung, ja?« Mit einem freundlichen Grinsen steckte Jessie Stift und Block auch schon wieder weg, drehte sich um und schlenderte zur Theke. Genau dann, als Jessie weg war, setzte sich Stellar auf ihren Platz, fast wie ein fliegender Wechsel. »Hey.« »Hey.« Eigentlich wollte er auch Stellar ein Lächeln schenken, aber irgendwie brachte er keines zustande. Seine Stimmung war schon durch den Reißwolf gezogen worden. »Ist Dylan etwa schon wieder weg?« »Ja. Ich habe ihn gebeten zu gehen.« Stellar sah ihn überrascht an. »Wirklich? Wegen mir?« »Ja. Unseren Kaffee habe ich übrigens zum Mitnehmen bestellt. Ich will nach Hause.« »Wieso denn das?« Ihre Stimme klang besorgt. »Was ist los? Habt ihr euch etwa gestritten deswegen?« »Kann man so sagen.« Nun stand Chris auf und schob den Stuhl an den Tisch ran. »Zieh dich doch schon mal an, damit wir gleich los können. Ich hole uns in der Zwischenzeit den Kaffee.« »O-okay …« Schon marschierte Chris zu Jessie an die Theke, die gerade den Deckel auf den zweiten Pappbecher aufsetzte. Er wusste, dass Stellar nicht direkt für den Streit zwischen ihm und Dylan verantwortlich war, allerdings konnte er aktuell nicht sehr gut verbergen, dass er sich auch über ihr Verhalten in gewisser Weise ärgerte. Wenn das stimmte, was Dylan behauptet hatte, warum hatte sie ihm vorhin nicht einfach erzählt, dass sie zusammen waren? Warum sollte das Geheimnis bleiben? Und die für ihn wesentlichste Frage war: Stimmte das überhaupt? Um das herauszufinden, würde er Stellar auf den Zahn fühlen, so viel stand fest. So viele Fragen, wie ihm jetzt durch den Kopf schwirrten, brauchte er dringend auf einige davon Antworten. Und zwar heute noch. Außerdem wäre ein bisschen Bewegung gegen die Bauchschmerzen nicht schlecht. Chris bezahlte, griff nach den Pappbechern und atmete noch einmal tief durch, bevor er den Ausgang ansteuerte. Kapitel 7: Fragen über Fragen ----------------------------- Chris drückte die Klinge mit so viel unnötiger Kraft in die einzelnen Zwiebelschichten, dass der Saft in dicken Tränen herausfloss. Sie einfach nur zu schneiden war ihm gerade nicht anstrengend genug.   Dylans Kritik an ihm arbeitete wie ein schlecht geöltes Maschinenwerk in seinem Kopf, das unter hochfrequentem Quietschen beharrlich weiterlief. Natürlich war ihm klar gewesen, dass er falsch reagiert hatte, deshalb hatte er sich ja auch bei Stellar entschuldigt. Aber war man wirklich gleich ein schlechter Freund, weil man überfordert gewesen war? »Aua!« Blitzartig zog er den Finger unter dem Messer hervor und nahm ihn in den Mund. »Verdammt!« »Geschnitten?« »Ja, bin abgerutscht.« Sofort ließ sie alles stehen und liegen, nahm seine Hand und sah sich seinen Finger an. »Normalerweise schneide ich mir doch immer in den Finger«, murmelte sie lächelte ihn keck an. »Komm, ich mach dir ein Pflaster drum.« Seine Hand fest im Griff zog sie ihn mit ins Bad. Aus dem Badezimmerschränkchen griff sie sich eine Erste-Hilfe-Tasche und nahm ein Paar Einweghandschuhe und ein Einwegpflaster heraus. »So, jetzt zeig mal her.« Die Wunde war nicht besonders tief. Zudem hatte er sich so schräg eingeschnitten, dass sie nur mit viel Druckeinwirkung auf den Finger zu Bluten begann. »Ein Pflaster ist eigentlich nicht nötig.« Stellar hob mit schiefem Grinsen eine Augenbraue. »Mag schon sein, aber ich klebe dir trotzdem eins drauf. Nur zur Sicherheit.« Nachdem sie sich die Einweghandschuhe übergezogen hatte, brachte sie mit höchster Sorgfalt das Pflaster an. Chris beobachtete sie dabei. Gerade eben hörte sie sich nicht nur so an wie er, sie verarztete ihn auch noch auf dieselbe Weise, wie er es sonst bei ihr tat. Wenn es in ihm nicht so brodeln würde, hätte er vermutlich über diesen Moment geschmunzelt.   »Du, sag mal … kann es sein, dass du sauer auf mich bist?« Die Frage traf ihn unvorbereitet. »Ähm … Wie kommst du darauf?« »Na ja …«, fing sie an und wühlte erneut in der Erste-Hilfe-Tasche herum. »Ich habe gesehen, wie du die Zwiebel malträtiert hast. Außerdem hast du den ganzen Weg hierher bis gerade eben kein einziges Wort mit mir geredet und vorhin im Franco’s warst du auch schon so komisch …« Sie fand, was sie gesucht hatte, und stülpte ihm zu guter Letzt noch den Fingerhandschuh über. »Weißt du, wenn ich irgendetwas falsch gemacht habe, dann sag’s mir einfach, aber strafe mich nicht mit Schweigen. Weil … da macht es einfach keinen Sinn, dass ich hier bin. Dann geh ich besser nach Hause.« Chris seufzte. Manchmal war ihm gar nicht bewusst, wie intensiv er teilweise seinen Gedanken nachhängen konnte und um sich herum alles vergaß. »Nein, ich bin nicht sauer auf dich, ich habe heute nur ein paar Dinge gehört, die mich ziemlich aus der Fassung gebracht haben. Das beschäftigt mich eben.« »Und was war das?« Mit einer schwungvollen Bewegung fasste er sämtliche Verpackungsreste, zerknüllte sie in der Hand und warf sie in den Mülleimer direkt neben dem Waschbecken. Dann verschloss er die Erste-Hilfe-Tasche und räumte sie wieder in den Schrank. »Findest du, ich bin ein schlechter Freund?« Stellar riss die Augenbrauen nach oben. »Was? Wer sagt das denn?« »Dylan. Er meinte, dass ich dir kein guter Freund gewesen bin und ich frage mich, ob da was dran ist. Und ob ich das vielleicht schon öfter nicht gewesen bin.« »Nein, nein! Um Gottes Willen!« Sie griff nach seinen Schultern und wandte ihn zu sich, sah ihn eindringlich an. »Du bist kein schlechter Freund, hörst du? Wir waren alle an dem Tag mit der Situation überfordert. Lass dir doch nicht so einen Schwachsinn einreden!« »Und wie soll ich deine Enttäuschung über mich dann interpretieren?« Stellar verdrehte die Augen. »Mamma mia ... Jeder macht mal Fehler. Das ist menschlich. Ein guter Freund zu sein bedeutet nicht, unfehlbar zu sein. Hast du selbst einmal gesagt.« »Ja schon –« »Außerdem haben wir das vorhin geklärt und damit ist die Sache abgehakt. Und überhaupt ist Dylan sowieso der Letzte, der sein Maul so weit aufreißen sollte und über andere urteilen darf. Das alles ist ja immerhin seine Schuld, wegen ihm hatten wir den Schlamassel ja erst.« Chris musste sich über Stellars Haltung zu Dylan recht wundern. Übernahm man nicht automatisch die Meinung des Partners, wenn man einen hatte? »Vergiss bitte, was er gesagt hat.« »Du sagst das so, als ob es selbstverständlich wäre.« Stellar strich sich ihren Pony aus dem Gesicht. »Weil es das ist! Du nimmst dir seine Worte viel zu sehr zu Herzen.« »Ja, weil …« Er hatte Mühe, die richtigen Worte zu finden. »Irgendetwas in mir sagt mir, dass er Recht hat. Und wenn ich mich auf etwas verlassen kann, dann auf mein Bauchgefühl.« »Dann täuscht sich eben dein Bauchgefühl. Es stimmt einfach nicht, was Dylan sagt. Von uns allen kann ich ja wohl am besten beurteilen, ob du für mich ein guter Freund bist oder nicht.« »Dann erklär mir, warum ich das Gefühl nicht loswerde, dass das stimmt, was er sagt.« »Nur weil du ein schlechtes Gewissen hast, bedeutet das noch lange nicht, dass er automatisch Recht hat.« Sie kam einen Schritt näher auf ihn zu, sah ihn noch eindringlicher an als vorher. »Glaube mir: Wenn es so wäre, dann wäre ich jetzt bestimmt nicht hier, sondern wäre jetzt zu Hause und hätte in den nächsten zwei Wochen jeden Anruf und jede SMS von dir ignoriert.« Chris senkte den Blick und dachte darüber nach. Eigentlich hatte sie Recht. Sie konnte immer noch am besten beurteilen, was für ein Freund er für sie war und die Entscheidung darüber oblag immer noch ihr ganz allein. Und so eisern, wie sie darauf bestand, dass er ein guter Freund für sie sei, begann er ihren Worten Glauben zu schenken. »Okay.« Seine Antwort war wohl ausreichend, denn nun lächelte sie mild und trat wieder einen Schritt zurück. »Versprichst du mir trotzdem etwas?« Er ging lieber auf Nummer sicher. »Was denn?« »Wenn irgendwann mal der Tag kommt, an dem ich dir ein echt beschissener Freund bin, egal in welcher Situation, sag es mir bitte.« Stellar verdrehte die Augen, lächelte aber dabei. »Mach ich, versprochen.«   Gemeinsam gingen sie in der Küche wieder zurück ans Werk und obwohl er im Vergleich zu vorher mit den Zwiebeln geradezu liebevoll umging, war er immer noch nicht ganz bei der Sache. Ihm standen noch zu viele Fragen im Raum, vor allem um eine kreiste sein Verstand wie ein Geier um das Aas: Wann – und vor allem wie – hatten Stellar und Dylan zueinander gefunden? Innerhalb einer Woche von abgrundtiefem Hass schlagartig auf innigste Liebe umzustellen erschien ihm unrealistisch und nicht umsetzbar, für alle beide nicht. Wie zur Hölle hatten sie das also angestellt? Nicht, dass er sich nicht freuen würde, er freute sich – er bemühte sich jedenfalls. Ihm würde es nur deutlich leichter fallen, hätte er eine logisch klingende Erklärung darauf. »… Kann ich dich noch etwas fragen? Etwas Persönlicheres?« »Nur zu.« Tja, wenn er nur wüsste, wie … Er wollte nicht unsensibel klingen oder sie gar dabei verletzen, aber er wollte das letzte Bisschen Zweifel vernichtet wissen und dafür brauchte er eine Antwort darauf. Und plötzlich kam ihm eine Idee. Er legte erneut das Messer beiseite, wandte sich zu ihr und stützte sich dabei an der Küchenarbeitsplatte ab. Die Formulierung der Frage hatte er sich ganz genau überlegt: »Du und Dylan … wie kam das?«   Stellar versteinerte in ihrer Schneidebewegung. Die Farbe wich ihr aus dem Gesicht, schoss aber sogleich als Errötung in Wangen und Ohren. Kein Atemgeräusch war von ihr zu hören. Interessante Reaktion. »Versteh mich bitte nicht falsch, ich freue mich für euch, aber … wie kam es dazu, dass ihr jetzt ein Paar seid? Ich würde es einfach nur gern verstehen.« Sie räusperte sich und schnitt die Kartoffel weiter in Würfel, wenn auch deutlich langsamer als vorher. »Nun ja … Das ist ein bisschen kompliziert und auch schwer zu erklären.« Sein Atem stockte und er spürte, wie ihm das Blut in den Magen sackte. Das war nicht die Reaktion, die er erwartet hatte. Wo war der explosionsartige Wutanfall, der Schimpftornado darüber, was Dylan da einfach so behauptete? Warum blieb all das aus? »... Würdest du es vielleicht trotzdem versuchen?«   »Ich … ich weiß nicht, wie ich das erklären soll.« Ihm schwoll die Kehle an. Dylan hatte also wirklich nicht gelogen oder versucht ihn zu verarschen? Aber warum wich sie ihm dann aus oder kam ihm das nur so vor? »Versuch’s einfach.« Ein schwerer Seufzer entwich ihr. Immerhin atmete sie wieder. »Na gut … Also das war so: Er hat mir am Sonntag noch einmal eine SMS geschrieben und mich zur Wiedergutmachung zum Shoppen eingeladen. Na ja, und dann sind wir eben shoppen gegangen und das war eigentlich ganz okay. Er hat sich mir nicht so aufgedrängt wie sonst und er war allgemein irgendwie … anders zu mir.« Chris runzelte die Stirn. »Was meinst du mit „anders“?« »Keine Ahnung.« Hilflos zuckte sie mit den Schultern. »Er hat mir eben Komplimente gemacht, hat gesagt, dass ich eine hübsche Frau bin, ohne irgendeinen sarkastischen Unterton.« Seine Stirn schlug noch tiefere Falten. Wie oft hatte er sich von Dylan anhören dürfen, dass er Stellar nicht ausstehen könne, dass er ihre Humorlosigkeit kaum ertrage. Dass ihm ihr divenhaftes Gehabe aufrege und er nicht verstehen könne, wie Chris mit so einem schwierigen Menschen befreundet sein könne. Und jetzt machte er ausgerechnet dieser Person Komplimente, stürzte sich mit ihr in eine Beziehung? Von diesen ganzen Neuigkeiten bekam er allmählich Kopfschmerzen. »Das ist aber nicht alles gewesen, oder?« Mit beiden Händen schaufelte sie Kartoffelwürfel auf und warf sie in den Topf. »Nein, natürlich nicht. Wir … haben uns auch unterhalten, wie zwei ganz normale Menschen. Ganz ohne einen Streit anzufangen.« »Okay …« Nachdenklich kratzte er sich über seinen Drei-Tage-Bart. Nach aufgekommener, heißer, inniger Liebe klang das aber nicht. »Und … was habt ihr da so geredet?« Stellar schwieg. Nur das Zähneknirschen verriet ihm, dass ihr das Gespräch allmählich zuwider wurde. »Mich geht das natürlich nichts an«, wandte er schnell ein. »Aber wie gesagt, ich will es einfach nur verstehen. Ich meine, ein paar Komplimente und ein bisschen reden können ja wohl kaum zu einer Beziehung geführt haben.« »Hat es auch nicht.« Sie nahm den bis zur Hälfte mit Kartoffelwürfel gefüllten Topf, knallte ihn auf den Herd und ging anschließend an die Küchenschränke. Dort holte sie zwei Teller heraus. Hatte er sie verärgert? »Ich will dir damit natürlich nicht zu nahetreten, aber es ist für mich einfach nur … schwer zu begreifen, verstehst du?« »Ja, merke ich.« Die Teller warf sie fast schon auf den kleinen Zwei-Personen-Esstisch, während sie ihm in harschem Tonfall antwortete: »Wenn du’s unbedingt wissen willst: Wir sind nach dem Shoppen zum See gegangen, haben uns dort ein bisschen abgekühlt und dabei eben über ein paar … persönlichere Dinge geredet. Bis wir dann gar nicht mehr geredet haben und … er mir einfach nur lange in die Augen gesehen hat.« Sie wurde immer ruhiger und leiser. »Er hat mich lange angesehen, hat sich dann über mich gebeugt und … mich geküsst.« Chris durchfuhr ein reißender Schmerz, der von der Brust in den Magen schoss. So schnell wie es da war, war es auch wieder vorbei. Okay, was war das gerade? So hatte sie noch nie über Dylan gesprochen. Nicht ein einziges Mal. In ihrer Stimme lag etwas, das er so von ihr noch nie wahrgenommen hatte. Als hätte sie sich diesen Moment immer schon gewünscht. »Das klingt echt … romantisch.« »Ja. War es auch«, murrte sie mit Nachdruck. Die Härte war in ihrer Miene zurück. »Ist dir das so unangenehm, davon zu erzählen?« »Ja ist es! Weil –« Sie unterbrach sich selbst. Sie hatte wohl selbst gemerkt, dass sie im Begriff war ihn anzuschreien. Zuerst atmete sie einmal tief durch, dann setzte sie deutlich ruhiger neu an: »Ich habe dir vorhin im Franco’s schon gesagt, dass ich nicht möchte, dass es ständig nur um ihn geht, oder so wie jetzt um unsere Beziehung, wenn wir Zeit miteinander verbringen. Wir beide sind auch Freunde und ich möchte, dass das auch so bleibt. Ich habe keine Lust, dass Dylan und ich ab jetzt das einzige Thema sind, worüber wir uns unterhalten können.« Das Wort „Beziehung“ fühlte sich aus ihrem Mund an wie dreihundert Kilogramm, die ungebremst auf seinen Brustkorb schmetterten. Verdammt noch mal, warum freute er sich einfach nicht? »… Wie gesagt, ich wollte dir nicht zu nahetreten, ich wollte es nur verstehen.« Langsam wandte er sich von ihr ab, nahm das Messer in die Hand und widmete sich wieder den Zwiebeln. Seine Kopfschmerzen, die sich während des Gesprächs zum Bleiben entschlossen hatten, wanderten ohne Unterlass von einer Schläfe zur anderen. Nichts von dem, was Stellar erzählt hatte, half ihm dabei zu verstehen, was genau ihm bei den beiden entgangen war. Eigentlich war er noch verwirrter als vorher. Schon allein die Vorstellung, Dylan sei ein Romantiker … Nein, so kannte er ihn einfach nicht. Das war nicht er – zumindest war er bis eben fest davon überzeugt gewesen. Kannte er seinen besten Freund wirklich so schlecht? »Ich hole uns mal ’ne Flasche Wein«, verkündete sie, riss ihn damit aus seinen Gedanken. »Ich glaube, wir können beide ein Glas davon vertragen.« »Ist gut.« Auch Chris glaubte, dass zur Rettung des heutigen Abends Alkohol ganz hilfreich war, wenn es nicht sogar das einzige war, das helfen konnte. »Ich glaube, ich habe in der Mini-Bar im Wohnzimmer noch einen offenen Rotwein stehen.« »Gut, ich sehe mal nach.« Chris wartete mit seinem lauten Seufzer, bis das Schlurfgeräusch aus der Küche verklungen war. Es war nur eine kleine Antwort auf eine ihn quälende Frage, die er gesucht hatte, mehr nicht. Er wollte doch deswegen nicht gleich die Stimmung kaputt machen. Vielleicht war es besser, die Sache hinzunehmen und sich auf das Essen konzentrieren. Am Ende verwürzte er noch alles und der Abend wäre dann komplett für den Arsch.   Die Zwiebelwürfel schabte er vom Brett direkt in die Schüssel mit Hackfleisch und Eiern, würzte das Ganze mit Salz, Pfeffer und Paprika und schnitt mit einer Schere ein frisches Bündel Petersilie hinein. Dann hörte er plötzlich Stellar aus dem Wohnzimmer hell auflachen. »Das ist ja ein geiles Foto! Ist das neu?« »Welches meinst du?« »Na das hier!« Chris ahnte, welches Bild sie meinte und konnte daher ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Noch bevor er zu ihr ins Wohnzimmer kommen konnte, stand sie bereits hinter ihm und hielt es ihm kichernd unter die Nase. Seine Vermutung war richtig. »Ah ja, das ist neu.« Schwungvoll warf er sich das Handtuch über die Schulter und nahm es selbst in die Hand. »Gerade mal drei Tage alt.« »Ist das deine Schwester?«, fragte sie und tippte dabei auf die schielende junge Frau im Bild, die Chris mit zwei Fingern die Mundwinkel auseinanderzog. Grinsend nickte er. »Ja, das ist Lex. Sie ist diese Woche spontan zu Besuch gekommen und wollte unbedingt ein Foto machen.« Stellars amüsiertes Lächeln wurde warmherzig. »Wirklich süßes Bild. Gibt’s es etwas Neues von ihr?« Chris zuckte nichtwissend die Schultern. »Erstaunlicherweise nicht. Sie hat nach wie vor ihre Ausbildung, sie lernt brav und fleißig, hat lange nichts Dummes mehr angestellt ... Gesagt hat sie jedenfalls nichts. Wenn es Probleme geben würde, hätte sie sich mir sofort anvertraut, das weiß ich.« Er bemühte sich, es nicht allzu offen zu zeigen, aber die Sorgen um Lex waren auch trotz der guten Nachrichten immer da. Nur weil es aktuell keine Vorkommnisse gab, bedeutete das nicht, dass sie sich deshalb in Luft auflösten. Wie sollte er sich jemals auch keine Sorgen um sie machen? Als vor zehn Jahren ihr Vater plötzlich gestorben war, hatte es von allen in der Familie die kleine, sechs-jährige Lex am härtesten getroffen. Chris sah sich als großer Bruder daher in der Pflicht, die fehlende Vaterfigur zumindest ansatzweise auszugleichen. Für ihn bedeutete das nicht nur auf sie aufzupassen und sie auf den richtigen Weg zu leiten, sondern auch für sie da zu sein, wenn sie ihn brauchte. »Denkst du, sie hat die Kurve also endlich gekriegt?« Chris ging ins Wohnzimmer und stellte seinen Gedanken nachhängend das Foto wieder an seinen Platz zurück. »Ich hoffe es jedenfalls. Im Moment sieht es zumindest danach aus.« Er hoffte nur, dass das noch eine gute Weile so bleiben würde ... »Darauf stoßen wir an.« Stellar, die eben noch am Türrahmen lehnte, steuerte nun zielstrebig die Minibar an und holte die angefangene Rotweinflasche und zwei Gläser heraus. »Sowas muss doch gefeiert werden, findest du nicht?« Chris wusste genau, was sie damit bezwecken wollte. Er wusste es schon, als sie nach Neuigkeiten von Lex gefragt hatte: Sie wollte von sich und Dylan ablenken, sich auf Lex versteifen, damit er keine weiteren, für sie unangenehmen Fragen mehr stellte. Um die Stimmung mit dem Thema nicht weiter zu strapazieren, ließ er sich darauf ein: »Anstoßen klingt gut.«   Während sie das Kochen fortsetzten, erzählten sie einander von den Erlebnissen der vergangenen Tage. Stellar plauderte über diverse Farb- und Haarschnittdesaster, die sie gerettet hatte, während Chris von seinen teils schockierenden, teils amüsanten Einsatzfahrten berichtete. Sie erzählte aber auch von den Neuigkeiten über Moira. Dass sie einen neuen, wohl auch fest angestellten Pianisten für die Bar bekommen würde und dass sie sie bei der ersten Probe begleitete, um für sie in Erfahrung zu bringen, ob er ein potentieller Partner für Moira wäre. Chris hörte aufmerksam zu und je länger er das tat, desto schwerer drückte ihm die nächste Frage auf seinen Appetit. Er war sich sicher, dass sie ihr wieder unangenehm sein würde und bemühte sich deshalb, ihr keinerlei Bedeutung beizumessen.   Als das eigens kreierte Festmahl schließlich angerichtet war, stocherte Chris im Essen nur herum. Die Bohnen hatte er auf den Tellerrand geschoben, vom Hacksteak fehlte gerade mal eine kleine Ecke und sein Kartoffelpüree sah inzwischen aus wie ein eingerollter, gelber Igel. Sogar den Wein ließ er unberührt, seit sie auf Lex angestoßen hatten. »Warum isst du denn nichts? Schmeckt’s dir nicht?«, fragte sie mit vollem Mund. Resignierend senkte er die Gabel. »Doch, mir fehlt nur ein wenig der Appetit.« »Hast dich wohl satt gekocht und heimlich genascht, was?«, scherzte sie und trank einen Schluck aus ihrem Weinglas. Chris konnte nicht länger an sich halten. »Wann genau wolltest du mir eigentlich sagen, dass ihr zusammen seid? Oder hast du das nie vorgehabt?« Wie ertappt blickte sie ihn an und hörte zu kauen auf, senkte den Blick und strich sich ihren Pony aus dem Gesicht. Die Zeit, bis sie den Brocken Fleisch heruntergeschluckt hatte, kam ihm vor wie eine Ewigkeit. »Ich wusste nicht, wie ich das machen sollte, und wann.« Schon wieder durchfuhr ihn dieser harte Schmerz, als barste etwas in ihm und splitterte in die Nachbarorgane. Was ist das immer? »Vorhin im Franco’s wäre doch ein guter Moment gewesen.« Stellar legte die Gabel beiseite. »Um ehrlich zu sein habe mich einfach nicht getraut, weil … Dylan ist doch dein bester Freund und ich hatte irgendwie Angst, dass sich was an unserer Freundschaft verändert. An deiner und meiner, und eben auch an deiner mit Dylan. Ich wollte einfach keine Freundschaft gefährden.« »Natürlich verändert sich das. Es wäre doch unlogisch, wenn sich nichts verändern würde, aber damit gefährdest du doch keine Freundschaft. Eigentlich ist es sogar wichtig, dass ich davon weiß. Immerhin muss ich ja wissen, wie ich mit euch umgehen soll.« Schweigen war ihre einzige Antwort, den beschämten Blick fest auf ihre Hände im Schoß gerichtet. Seufzend legte auch Chris die Gabel weg. »Hör zu. Ihr beide seid jetzt ein Paar. Das ist doch schön … Das toppt alles, was ich wollte. Aber es enttäuscht mich, dass du es mir nicht erzählt hast oder erzählen wolltest, wie auch immer. Ich meine, du erzählst mir alles über Moira. Warum dann nicht auch von dir und Dylan? Und ohne es böse zu meinen: Das interessiert mich bei Weitem mehr als Moira und ihre verzweifelten Versuche, krampfhaft einen Freund zu finden.« »Ich wusste eben nicht, wie ich das anstellen sollte und da habe ich mir eben gedacht, ich behalte es erst einmal für mich. Bis ich mir sicher bin, wie ich es dir sagen soll.« »Du hättest es mir also irgendwann gesagt?« Endlich sah sie ihn wieder an, sogar mit einem kleinen, entschuldigenden Lächeln. »Natürlich hätte ich es dir gesagt. Du bist mir nur zuvorgekommen.« »Wohl eher Dylan.« Als Dylans Name fiel, wurde Stellars Miene augenblicklich hart. »Ich rede mit ihm. So sollte das jedenfalls nicht ablaufen und ich bin mir ganz sicher, Dylan wollte das eigentlich auch nicht.« Ihn durchfuhr immer noch ein unangenehmes Schaudern, wenn sie so über Dylan sprach. Daran würde er sich jetzt wohl gewöhnen müssen. »Lass ihn aber noch ganz, okay?« »Keine Sorge. Aber eine Standpauke wird er sich trotzdem anhören dürfen. Warum nimmst du ihn jetzt auf einmal in Schutz? Vorhin hat er noch an dir als Freund gezweifelt.« »Schon, aber eben weil ich ihn kenne, weiß ich, dass seine Zunge in manchen Situationen schneller ist als sein Hirn. Das war schon immer sein Problem.« »Na und? Es schadet ihm schon nicht, wenn ich ihm mal als seine Freundin die Ohren langziehe.« »Wenn du das regelmäßig machst, bleibt er dir aber nicht lange.« »Hey. Er hat sich das selbst ausgesucht, also muss er auch damit klarkommen. Ich werde jedenfalls nicht vor ihm das brave Frauchen mimen, nur weil ich jetzt seine Freundin bin. Da hat er sich die Falsche ausgesucht.« Chris und Stellar sahen einander an, sagten kein weiteres Wort mehr. Sie schmunzelten nur. Kapitel 8: Der erlösende Einfall -------------------------------- Spätabends saß Chris im Wohnzimmer auf seinem Sofa – allein. Stellar hatte es für besser gehalten, direkt nach dem Essen zu gehen und den üblichen DVD-Abend auf ein andermal zu verschieben. Bestimmt hatte sie sich wegen ihm und seinen vielen Fragen unwohl gefühlt und deshalb die Flucht ergriffen. Übelnehmen konnte er es ihr nicht. Trotzdem war er irgendwie froh darüber, allein zu sein. Nur mit der Stille, die seither von den Wänden widerhallte, wusste er nicht umzugehen. Genauer genommen zerfetzte sie ihm nach zwei Stunden beinahe das Trommelfell, so sehr erdrückte sie ihn. Und seine Gedanken machten es nicht erträglicher.   Es ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Ja, Stellar hatte ihm Antworten auf seine Fragen geliefert, aber zufriedengestellt hatten sie ihn nicht. Das lag nicht an den Antworten selbst, sondern an einer einzigen, simplen Tatsache: Es störte ihn. Die amouröse Beziehung zwischen Stellar und Dylan störte ihn und er konnte weder sich noch anderen erklären, warum. Die Tatsache an sich war jedoch unbestreitbar. Auch dieses seltsame Gefühl, das immer wieder aufkam, bestätigte es ihm; als ob es ihm sagen wollte, dass das absolut keine gute Idee war. Und so wirklich glauben konnte er es ihnen immer noch nicht. Er wollte es nicht glauben. Als die Stille nun auch anfing, ihm die Kehle zuzuschnüren, griff er sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.   »– Wir von e-love.com bieten Ihnen die Möglichkeit, online den Traumpartner zu finden, dem Sie auf offener Straße nie begegnet wären! Melden Sie sich jetzt an und finden Sie heute noch Ihren –«   Chris schaltete den Fernseher direkt wieder aus, pfefferte die Fernbedienung in die hinterste Ecke der Couch und warf den Kopf in den Nacken. Warum zum Teufel beschäftigte ihn das so? Warum störte ihn das so sehr? Jeder normale Mensch würde sich für seine Freunde freuen, nur er nicht. Warum? Vielleicht brauchte er noch ein Glas Wein, um sich zu entspannen. Beim Essen hatte es ja auch funktioniert, zumindest ein bisschen. Er hievte sich auf und steuerte geradewegs die Küche an, als ihm das Foto von sich und seiner Schwester ins Auge fiel und er abrupt stehen blieb. Natürlich, Lex! Prompt zog er sein Smartphone aus der Hosentasche, entriegelte den Sperrbildschirm und wählte ihre Nummer. Wenn ihn einer ablenken konnte, dann war es Lex. Jedenfalls konnte sie das mit ihren zahlreichen Dummheiten besser, als jedes Glas Wein der Welt. Nach zwei Freizeichen hob sie ab. »Hallo?« »Hi Lex, hier ist Chris.« »Brüderchen!« Die Freude darüber war deutlich zu hören. »Alles bestens, keine Sorge. Was gibt’s denn?« Ähm … Scheiße. Die Frage hatte ihn kalt erwischt. Jetzt wo er genauer darüber nachdachte, gab es eigentlich: nichts. Zumindest nichts, was zu einem längeren Gespräch mit ihr hätte führen können. Beklommen fuhr er sich über den Nacken. »Och, eigentlich wollte ich nur fragen, ob bei dir alles in Ordnung ist.« Einen Moment lang war nichts zu hören. »Das ist alles? Mehr nicht?« »… Ja.« »Echt jetzt? Ich war doch erst vor ein paar Tagen bei dir. Wenn’s ein Problem geben würde, hätte ich’s dir schon gesagt.« Chris schloss einen Moment die Augen. Natürlich hätte sie das. Sie hätte sich ihm anvertraut und ihn um Hilfe gebeten, wie sie es immer getan hatte. Am liebsten würde er sich gerade ein Stück Holz ins Gesicht donnern. »Spionierst du mir jetzt nach, oder was?« »Nein! Ich wollte einfach nur noch mal sicher gehen.« »Aha.« Er wusste, dass in diesem „Aha“ mehr steckte; Sie war ihm beleidigt, wollte es aber nicht direkt aussprechen. »Dann kann ich ja jetzt auflegen.« Super. Heute schien wohl der Tag zu sein, an dem er eine Frau nach der anderen verärgerte. »Sieht so aus.« »… Oder gibt’s doch noch was?«, hakte sie nach. »Nein, schon gut. Ist nicht so wichtig.« »Sicher?« Der Nachdruck in ihrer Stimme nahm weiter zu. »Du bist nämlich heute komisch ...« »Wieso?« War es ihm so deutlich anzumerken? »Ähm … Du hast mich gerade nur deswegen angerufen, um mich zu fragen, ob alles in Ordnung ist. Das machst du doch sonst nicht.« Tja, das war nicht abzustreiten. Anscheinend war es ihm deutlicher anzumerken, als er dachte. »Tut mir leid, ich bin einfach nur ein bisschen durcheinander.« Plötzlich war der Nachdruck verschwunden. »Ja, das merkt man … Was ist denn los mit dir? So kenne ich dich gar nicht.« Chris schwieg und strich sich erneut über den Nacken, schlich im Wohnzimmer auf und ab. Er wollte seine kleine Schwester eigentlich nicht mit seinen Problemen belasten. Erstens war er der große Bruder, der auf sie aufpasste und nicht andersrum. Und zweitens war das aktuelle Problem kein Problem, sondern absurd und dumm – genau wie dieser impulsive Anruf. »Komm schon, rede mit mir. Was ist los?« Eigentlich würde er sich lieber selbst mit einem stumpfen Plastikmesser für Spielzeugknete die Zunge rausschneiden, als dass er Lex davon erzählte. Doch emotional stand er mit dem Rücken zur Wand. Der Drang, mit jemanden darüber zu reden, war einfach zu groß und drohte ihn aufzufressen, wenn er es nicht tat. Es führte also kein Weg daran vorbei, er musste mit ihr reden. »Also gut. Ich habe dir doch schon einiges über Dylan und Stellar erzählt, richtig?« »Dass sie sich hassen, meinst du?« Gut, so hart hätte er es nicht ausgedrückt, aber wenn sie es so nennen wollte … »Unter anderem.« »Was ist mit den beiden? Haben die sich wieder in Haare gekriegt?« »Nicht ganz.« Chris fuhr sich übers Gesicht und holte tief Luft, ehe er es aussprach: »Die zwei sind jetzt zusammen.« Stille bohrte sich durch die Leitung. »Du verarscht mich gerade, oder?« Glaube mir, ich wünschte, es wäre so. Als sie von ihm keine Antwort vernahm, lachte sie ungläubig auf. »Nee, Mann. Du kannst mir ja viel erzählen, aber das glaube ich dir nicht.« Sofort wurde er hellhörig. »Wie meinst du das?« »Ähm, hallo? Hast du dir Dylan mal angeschaut? Der Typ kann so ziemlich jede haben, die er will und dann soll er sich ausgerechnet die nehmen? Die, die immer so scheiße zu ihm ist? Nee Mann, auf gar keinen Fall. Nie im Leben. Da habe ja sogar ich noch bessere Chancen.« »Hey, Vorsicht. Das ist immer noch meine beste Freundin.« »Was denn? Es ist doch so!« Genervt massierte er sich die Nasenwurzel. Ganz bestimmt würde er sich jetzt nicht auf eine Grundsatzdiskussion einlassen, das führte nur zu Streit. Dennoch: Es beruhigte ihn ungemein, dass er nicht der einzige mit diesen Fragen war.  »Woher willst du das eigentlich wissen, hä? Hast du sie in flagranti erwischt? Hast du sie gesehen?« »Nein. Dylan hat es mir erzählt.« »Äh, was? Warte, warte, warte: Das hat dir Dylan erzählt?« Durch ihre Fassungslosigkeit schrie sie ihn fast an. »Ja.« Vermutlich war das der erste und einzige Moment, wo er Lex sprachlos erleben durfte. »Genauer gesagt hat er es mir einfach ins Gesicht geballert, bevor er dann sauer abgehauen ist.« »Wieso denn abgehauen? Habt ihr euch gestritten?« Chris winkte ab. »Lange Geschichte.« Lex schwieg eine Zeit lang, schien über das Gesagte nachzudenken, ehe sie ihre nächste Frage stellte: »Und du bist dir wirklich sicher, dass er dich nicht einfach nur verarschen wollte?« »Ganz sicher. Wir waren beide nicht zum Scherzen aufgelegt und Stellar hat mir das Ganze auch bestätigt, als ich sie darauf angesprochen habe.« »Oh, okay. Dann ist das … ’ne echt krasse Nummer.« »Kann man wohl sagen.« »Hat sie auch gesagt, wie es dazu gekommen ist? Also, dass sie jetzt zusammen sind?« »Anscheinend haben sich die zwei getroffen, ausgesprochen und dabei festgestellt, dass sie sich mögen. Oder eben mehr als nur mögen.« »Okay …« Ihre Antwort hing unangenehm in der Luft – Ein Zeichen, dass sie gerade dabei war, sich ihre Meinung dazu zu verkneifen. »Und wie lange läuft da schon was?« Das hatte er Stellar gar nicht gefragt, fiel ihm auf. »Seit Anfang der Woche, schätze ich. Genau weiß ich es nicht.« »Heftig … Dann sind die beiden wirklich zusammen?« »Ja.« Wie oft musste er das eigentlich noch bestätigen? »Verdammt! Echt schade.« »Was?« »Dass er jetzt vergeben ist.« In ihrer Stimme schwang eine gewisse Laszivität mit, die ihm übel aufstieß. Das habe ich jetzt einfach mal nicht gehört. »Aber gut«, warf sie schnell ein. »Jetzt kannst du immerhin deine Freizeit mit beiden gleichzeitig verbringen, genau wie du’s wolltest.« Stimmt. Nur in dieser Form wollte er das irgendwie nicht. »Ja ... eigentlich schon.« »Na das klingt ja sehr begeistert.« »Ich … Ich weiß einfach nicht so recht, was ich davon halten soll.« »Also, was ich davon halte, weiß ich.« Der Sarkasmus war nicht zu überhören, doch Chris ignorierte es. »Eigentlich solltest du dich doch freuen. Du hast doch immer gewollt, dass sie sich besser verstehen.« »Klar wollte ich das. Ich freue mich ja auch für sie, aber …« Sein Körper sprach eine völlig andere Sprache: Der Bauchschmerz war wieder da und er durchzuckte ihn mehrmals hintereinander. Wie sollte er Lex sein Problem begreiflich machen, wenn er es sich selbst nicht einmal erklären konnte? »Bist du eifersüchtig?« Wie bitte? »Nein?! Es ist nur … Die ganze Zeit keifen sie sich gegenseitig an und urplötzlich, von einem Tag auf den anderen, sind sie ein Pärchen. Das kommt mir einfach komisch vor.« »Ey, klar bist du eifersüchtig!« Sie klang direkt aufgeregt ihr Kichern schmerzte in den Ohren. Irgendwie bereute er jetzt, dass er ihr davon erzählt hatte. Er hätte wissen müssen – und in seinem Innern hatte er es gewusst –, dass sie für derartige Gespräche noch zu jung war. »Ich glaube, ich gehe besser ins Bett, bin ziemlich müde.« »Ach jetzt komm schon! Verstehst du keinen Spaß?« Nun wurde er energisch: »Nein Lex, das tue ich nicht, weil ich das überhaupt nicht lustig finde! Verstehst du das nicht?« »Okay, okay. Tut mir leid«, erwiderte sie kleinlaut. Inzwischen hatte er während des Telefonats drei Mal den Wohnzimmertisch umkreist und in seinen Teppich einen sichtbaren Marschierpfad eingetrampelt. Er setzte noch einmal ruhiger an: »Ich bin nicht eifersüchtig, okay? Ich mache mir einfach nur Sorgen.« »Über was denn?« Resigniert zuckte er mit den Schultern, auch wenn sie es nicht sehen konnte. »Ich weiß es nicht.« »Hast du Schiss, dass du jetzt außen vor bleibst und die zwei nur noch Pärchensachen machen, oder wie?« »Nee, das nicht.« Allmählich wurde er müde. Von dem Tag und von diesem Telefonat. Er verließ seinen Trampelpfad, schlug ins Schlafzimmer ein und ließ sich schwermütig, ohne das Licht einzuschalten, auf der Bettkante nieder. »Keine Ahnung, ich kann’s dir echt nicht sagen. Bisher hatte ich noch nicht viel Zeit, um darüber nachzudenken. Ich weiß nur, dass mir mein Bauchgefühl sagt, dass das nicht gut ist.« »Dann weiß ich ehrlich gesagt auch nicht, wie ich dir noch helfen soll, wenn du noch nicht mal weißt, was genau dein Problem ist.« Du sagst es. Erneut seufzte er. »Vielleicht ist es besser, wenn ich wirklich mal ’ne Nacht drüber schlafe, um das Ganze mal sacken zu – « »Rede doch einfach noch mal mit Dylan darüber!« Hä? »Wie meinst du das?« »Na, du hast doch gesagt, dass ihr euch gestritten habt, oder? Ich habe zwar keine Ahnung, worum es dabei ging, aber vielleicht kann er dir nach einem versöhnenden Gespräch mehr über die Beziehung mit Stellar sagen.« Chris dachte darüber nach. Das könnte ihm tatsächlich helfen. Unfassbar, dass er nicht selbst darauf gekommen war. »Keine schlechte Idee.« Lex kicherte, offenbar froh darüber, dass er ihren Einfall umsetzen wollte. »Bestell ihm einen schönen Gruß von mir, wenn du ihn triffst, ja?« Schon wieder diese Laszivität. »… Mach ich.« Aber ganz bestimmt nicht so, wie du dir das vorstellst. Beiläufig schaltete er das Licht auf dem Nachttisch ein. »Sorry, dass ich dich so spät noch mit so einem Blödsinn belästigt habe.« »Ach was, doch nicht dafür. Du bist doch auch immer für mich da, wenn ich Hilfe brauche. Jetzt konnte ich endlich mal für dich da sein.« Chris schmunzelte. »Gut, ich gehe jetzt aber trotzdem ins Bett. Benimm dich weiterhin anständig, okay?« »Ja, ja. Mach ich schon. Halt du mich dafür auf dem Laufenden mit den beiden, verstanden?« »Natürlich. Gute Nacht, Lex. Ich hab dich –« »Gute Nacht, bis dann!« Tut. Tut. Tut.   Grinsend sah er auf das Display, dann legte er sein Handy beiseite. Typisch Teenager. So peinlich war ein "Ich hab dich lieb" zwischen Geschwistern nun auch wieder nicht. Ihr Ratschlag hingegen war wirklich nicht übel, schon allein aus zwei Gründen: Erstens könnte er von Dylan weitaus mehr über dessen Beweggründe erfahren als von Stellar. Und zweitens war er vermutlich deutlich gewillter darüber zu sprechen als sie es war. Die Frage war nur noch: Wann und wie sollte er das anstellen? Morgen war sein letzter freier Tag. Sein Blick verweilte eine Zeit lang auf seinem Handy, dann nahm er es in die Hand und schrieb Dylan eine SMS:     Hi Dylan, Morgen Zeit und Lust zum Joggen? Chris     Er drückte auf Senden und die Nachricht war draußen. Hoffentlich ging Dylan darauf ein. Kapitel 9: Unter Männern ------------------------ »Warte … warte mal«, keuchte Chris und blieb schließlich stehen. Völlig außer Atem stützte er seine Hände auf den Knien ab und schnappte nach Luft. »Lass uns … kurz ’ne Pause machen.« »Wie, jetzt schon?« Dylan wurde langsamer. »Normalerweise jammerst du erst nach ’ner dreiviertel Stunde, dass du ’ne Pause brauchst.« »Normalerweise rennst du auch nicht wie’n Irrer.« Nach mehrmaligem Schnaufen sah er zu ihm auf. »Nur kurz.« »Na schön.« Dylan wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, ehe er sich auf die nächstgelegene Parkbank setzte. Chris hatte ganz vergessen, was für ein Tempo Dylan beim Joggen zulegen konnte. Schon seit einer viertel Stunde hatte er Schwierigkeiten mit ihm schrittzuhalten. Ihm war es fast so vorgekommen, als wollte er vor ihm davonrennen, ihn geradezu abhängen – oder aber es war die peinliche Stille, die er loswerden wollte. Neben ihrer angestrengten Atmung war das das Einzige, was man von ihnen hören konnte. Keiner sagte mehr als nötig, sie sahen einander nicht einmal an. Und je länger diese Stille anhielt, desto größer wurde auch der Abstand zwischen ihnen. Chris ließ sich neben ihm auf die Parkbank fallen, die Arme auf den Knien liegend, den Kopf hängend und immer noch schnaufend. Immerhin redeten sie wieder miteinander, auch wenn es nicht viel war. Jetzt musste er das Gespräch nur noch am Laufen halten, sobald er wieder Luft bekam. »Ich soll dir übrigens schöne Grüße von Lex ausrichten«, japste er. »Wir haben gestern miteinander telefoniert.« »Oh, danke. Wie geht’s denn der kleinen Prinzessin?« Nenn sie nicht so. »Ganz gut. Sie konzentriert sich endlich auf’s Wesentliche.« »Macht ihren Bruder also stolz, ja?« Dylan grinste schief und klopfte Chris unangenehm auf die Schulter. »Ja.« »Wie alt ist sie jetzt?« »Sechszehn.« »Wahnsinn, so alt schon? Dann hat sie doch bestimmt schon einen Freund, oder?« Normalerweise würde Chris diese Frage erleichtert mit „Nein“ beantworten, doch irgendwie würde er sich gerade wohler fühlen, wenn er „Ja“ sagen könnte. »Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Nachdem sie nichts erwähnt hat, denke ich nicht.« »Echt nicht? Das wundert mich.« »Wieso?« »Na ja, in dem Alter dafür wäre sie ja jetzt, oder nicht?« Daran wollte Chris noch nicht einmal denken. »Sie ist sechszehn.« »Na eben, sag ich ja. Wird doch langsam Zeit dafür, oder? Mich würde es jedenfalls nicht wundern, wenn sie nicht schon einige Herzen gebrochen hat. Hübsch genug dafür wäre sie ja.« »Wie gesagt, von einem Freund weiß ich nichts.« »Hm, schade.« Dylan kicherte dunkel. »Schon Wahnsinn, was aus ihr geworden ist. Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie noch ein richtig süßes, kleines Pummelchen …« »Da war sie auch erst sechs Jahre alt. Sowas verwächst sich in der Regel.« »Bei ihr definitiv an den richtigen Stellen.« In Chris keimte eine neue Form von Wut auf, die Lex bereits am Vorabend gesät hatte. Besser, er kam schnell zu dem Thema, das ihn wirklich beschäftigte. »Apropos … Ich wollte dich eigentlich noch etwas –« »Ich weiß schon«, unterbrach er ihn. Überrascht, sah Chris zu ihm auf. »Es geht um Stellar, stimmt’s?« Chris nickte stumm. »Was willst du wissen?« Augenblicklich schossen ihm tausend Fragen durch den Kopf. Mit welcher sollte er nur anfangen? »Ich … Wie kam’s dazu? Ich versteh’s nicht so ganz.« Dylan zuckte mit den Schultern. »Da kann man nicht wirklich viel verstehen. Das hat sich einfach so ergeben.« »Okay, und wie?« Erneutes Zucken. »Spontan. Wir waren shoppen, haben uns dann hier im Park am See abgekühlt und dann hat’s einfach gefunkt.« Genau dasselbe hatte ihm Stellar auch erzählt. Das letzte Bisschen Hoffnung in seiner Brust trat mit wehenden Fahnen den Rückzug an. Damit war es klar: Er musste es akzeptieren, und zwar jetzt und endgültig. »Woher kommt das auf einmal?« »Hm?« Dylan schien verwirrt. »Du hast doch die ganze Zeit über Stellar geschimpft, ihr habt euch die Augen ausgekratzt und jetzt … Wo kommt bei dir dieser Sinneswandel her?« Zuerst senkte Dylan den Blick, dann grinste er. »Keine Ahnung. Vielleicht, weil ich sie vorher falsch eingeschätzt habe.« Chris runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?« »So, wie ich es sage. Ich kenne sie ja nur als humorlose, verklemmte Zicke. Aber an dem Tag habe ich Seiten an ihr entdeckt, die kannte ich noch nicht. Ich hätte es zwar nicht gedacht, aber da steckt tatsächlich ein kleines, tollpatschiges, schüchternes Mädchen in dieser Frau.« Was zum Teufel war hier eigentlich los? War Chris wirklich der Einzige, dem das alles viel zu schnell ging? Der nicht Imstande war zu begreifen, was diese zwei Streithähne aus dem Nichts heraus miteinander verband? Natürlich hatte er mit einer derartigen Antwort gerechnet, trotzdem fühlte sie sich an wie ein Stiefel im Gesicht. »Das ist alles?« Dylan lachte. »Ja, stell dir vor.« Chris konnte es immer noch nicht fassen. Das sollte die allumfassende Erklärung sein? »Ich kann’s mir ja auch nicht erklären. Du weißt doch, wie das ist. Wenn’s funkt, dann funkt’s, so ist das nun mal. Oder warst du noch nie verliebt?« Ein Kälteschauer fraß sich durch seinen Magen und trieb ihn wieder auf die Beine. »Wir sollten weiterlaufen.« Auch Dylan stand auf, sah ihn fragend an. »Was stört dich denn daran?« »Es stört mich nicht.« »Oh, bitte.« Verächtlich schnaubend verdrehte er die Augen. »Ich habe dir gestern schon angesehen, dass dir das stinkt.« »Stimmt doch gar nicht! Ich mache mir nur Sorgen.« »Aha. Und worüber?« »Zum Beispiel … « Ihm musste schnell etwas einfallen. »Wenn ihr euch streitet, zum Beispiel. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich da jetzt verhalten soll.« Dylan verschränkte die Arme. »Du tust gerade so, als ob das was Neues wäre. Du hast das doch bisher auch gewusst.« »So meine ich das nicht.« Wie sollte er das nur erklären? »Jetzt, wo ihr zusammen seid, streitet ihr auf einer ganz anderen Basis. Da sind jetzt echte Gefühle im Spiel.« Erwartungsvoll hob er die Augenbrauen. »… und?« »Und? Hast du dir denn noch gar keine Gedanken darüber gemacht, was ist, wenn ihr euch zum Beispiel trennt?« Empörung spiegelte sich in Dylans Miene wider. »Alter. Wir sind noch nicht mal eine Woche zusammen und ich soll mir jetzt schon Gedanken machen, was ist, wenn wir uns trennen? Was stimmt nicht mit dir?!« »Ich will damit nur sagen, dass sich das auch auf unsere Freundschaft auswirken kann. Wenn ihr im Streit auseinander geht, dann trifft mich das genauso, weil ich dann ständig zwischen euch hin und her springen muss.« Dylan presste die Kiefer aufeinander, schüttelte den Kopf. »Weißt du was? Eigentlich hast du recht. Ich mache gleich heute mit ihr Schluss, dann kann so was gar nicht erst passieren.« »So war das jetzt auch nicht gemeint.« »Ach, was du nicht sagst. Macht es dir eigentlich Spaß, dir irgendwelche Worst-Case-Szenarien auszuspinnen, bevor überhaupt was passiert ist?« Chris wusste nichts darauf zu erwidern. Was meinte er damit? Dylan atmete tief durch und seine Gesichtszüge milderten sich. Dann ballte er seine Hand zur Faust und boxte sie sachte gegen seinen Brustkorb. »Mann, entspann dich mal. Das ist für uns alle Neuland, nicht nur für dich. Wir haben genauso Schiss, wie du.« Wie jetzt? »… du und Schiss?« »Tz.« Er grinste ihn schief an, steckte die Hände in die Hosentaschen. »Klar, Mann. Stellar hat schon ein nasses Höschen gehabt, bevor es überhaupt ausgesprochen war. Warum denkst du, haben wir das bisher geheim gehalten, hm?« Es war Ironie, aber Dylans Worte beruhigten ihn tatsächlich. »Verstehe.« »Die Beziehung hat doch gerade erst angefangen. Lass es uns doch zumindest mal versuchen und schauen, was passiert. Wenn’s schief geht, kannst du immer noch sagen: „Ich hab’s euch ja gesagt“, aber bis dahin wollen wir das erst mal ausprobieren.« Er gab es ungern zu, aber Dylan hatte recht. Sie waren nicht mal eine Woche zusammen und ihm gingen schon die Nerven durch, obwohl er nicht einmal Teil der Beziehung war. Er musste sich entspannen, dringend. »Laufen wir weiter?« Dylans zuckte lediglich mit Kopf zur Seite, dann liefen sie gemeinsam nebeneinander her.   Chris’ Herz hämmerte fleißig gegen seinen Brustkorb und pumpte das Blut dorthin, wo es gebraucht wurde. Von Meter zu Meter wurde seine Atmung flacher, sein Herzschlag schneller. Nach kurzer Zeit schlug sein Herz so kraftvoll, dass er seinen Puls direkt hören und passend zu seinem Schlagrhythmus laufen konnte. Langsam begann sich die Hitze in seinem Körper zu stauen, der Schweiß tropfte ihm aus jeder Pore. Es fühlte sich verdammt gut an. So auf sich selbst konzentriert hatten seine Gedanken keine Zeit, sich zu formen. Sie zerfielen, ehe sie sich zu etwas Klarem bilden konnten und wurden mit dem Schweiß aus dem Körper geschwemmt. Zarte Windböen zogen vorbei, sorgten hin und wieder für ein wenig Abkühlung. Sie trugen den Geruch von frisch gemähtem Gras mit sich und den einzigartigen Duft der Nadelbäume, die ihren Weg säumten. Ebenso wie das Lachen der Kinder, die sich am weiter entfernten Spielplatz austobten, zusammen mit dem Gebrüll der Hobbysportler, wenn sie wieder einen siegreichen Spielzug durchgeführt hatten. Endlich. Endlich war er befreit von all dem Unsinn, der sich seit gestern wie ein Parasit in seinen Kopf festgesetzt hatte. Er war wieder in der Lage, sich und seine Umgebung wahrzunehmen, sich auf das hier und jetzt zu besinnen. Als sie schließlich nach einer halben Stunde am See angekommen waren und ihn einmal umrundet hatten, endete ihre Joggingstrecke. Völlig nass geschwitzt und außer Atem lagen sie im Gras, röchelten um die Wette und sahen in den wolkenlosen Himmel. Keiner von beiden sagte etwas, das mussten sie auch nicht. Die Stille zwischen ihnen war nicht länger unangenehm, sie war genießbar. Chris fühlte sich jetzt viel besser. Sich mit Dylan zum Joggen zu verabreden war vermutlich die klügste Entscheidung gewesen, die er gestern hätte treffen können. Leider war dieses Gefühl nur von kurzer Dauer. Je mehr er sich vom Laufen erholte, desto zahlreicher prasselten die Gedanken und Fragen auf ihn nieder und erkämpften sich seine Aufmerksamkeit zurück. Als hätten sie nur darauf gewartet. Chris hatte keine Lust mehr darauf. Er wollte sie ein für alle Mal loswerden – und er wollte Antworten. »Sag mal, wieso eigentlich Shoppen? Ich dachte, du hasst shoppen.« Dylan lachte leise und legte sich zum Schutz vor der Sonne einen Arm über die Augen. »So habe ich das nie gesagt. Ich hasse es, ohne Ziel shoppen zu gehen. Das musste ich schon als Kind mit meiner Mutter machen und das ist einfach nur die Hölle. Stellar hat aber einen neuen BH gebraucht und wenn ich ihren alten schon kaputt mache, dann bezahle ich wenigstens den neuen.« Ein sanftes Lächeln breitete sich aus. »Hat sogar ein bisschen Spaß gemacht.« Für Chris war es schwer sich vorzustellen, wie die beiden vor dem mit Büstenhaltern behängten Regal standen und gemeinsam darüber diskutierten, welcher ihr neuer werden sollte. »Hast du sie eigentlich schon mal in ’nem Kleid gesehen?«, fragte er und hob den Arm an, um zu ihm herüber zu schielen. »Äh, nein.« Und plötzlich verwandelte sich sein sanftes Lächeln in ein verschmitztes Grinsen. »Ich schon. Mit und ohne.« Chris’ Herzschlag setzte aus. Wie, ohne? Das Grinsen wurde breiter. »Die Umkleide war nicht ganz zu und ich habe mir mal einen kleinen Blick erlaubt.« Erst jetzt merkte er, dass er die Luft angehalten hatte. Gott sei Dank war es nicht das, was ihm gerade durch den Kopf geschossen war. Moment mal. »Stellar hat ein Kleid angezogen?« »Ja, habe ich ihr rausgesucht.« »Du?« Und wieder hatte er das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben. »Ich dachte, sie mag keine Kleider.« »Es hat auch ’ne ganze Weile gedauert, bis sie es anprobiert hat, aber zum Schluss hat es ihr so gut gefallen, dass sie es gekauft hat. Oder ich, besser gesagt.« Dylan richtete sich auf die Ellenbogen auf. »Du hättest sie echt mal darin sehen müssen! Sie sah so gut darin aus. Richtig attraktiv, sexy … wie eine richtige Frau eben.« Ob das wohl einer der Momente gewesen war, wo Dylan ihr Komplimente gemacht hatte? Vielleicht sogar genau diese? Richtig attraktiv, sexy … wie eine richtige Frau eben. Irgendwie gefiel ihm das nicht. Weder die Komplimente, noch was er mit seiner besten Freundin anstellte. Stellar brauchte kein Kleid, um gut auszusehen. Das tat sie auch in ihrer Latzhose und die gehörte zu ihr, wie ihr Muttermal rechts unter der Lippe. So wie sie war, war sie in seinen Augen vollkommen in Ordnung. Irgendwie stimmte ihn diese Beziehung und das, was damit einherging, trübsinnig und ein innerlicher Druck machte sich breit. »Muss ich bei ihr eigentlich irgendwas beachten?« Beachten? »Inwiefern?« »Na, gibt es zum Beispiel irgendwas, was ich überhaupt nicht tun darf oder worauf ich besonders achten muss?« Damit war die innere Ruhe endgültig verpufft. Jetzt sollte er ihm auch noch Beziehungstipps geben? »Ich denke, du machst schon mal einen guten Anfang, wenn du dich nicht mehr so benimmst, wie vor eurer Beziehung.« Dylan verzog den Mund. »Sehr witzig, das ist mir auch klar.« Na immerhin. Schulterzuckend sog er sich irgendetwas aus den Fingern. »Du solltest sie nicht noch weiter provozieren, wenn sie anfängt, auf Italienisch zu fluchen. Dann ist sie nämlich richtig sauer und da kann es schon passieren, dass du ohne Vorwarnung fünf Finger im Gesicht hast.« Dylan runzelte die Stirn, seine Mundwinkel zogen sich dennoch amüsiert nach oben. »Die hatte ich schon mehrmals im Gesicht, ohne dass sie vorher auf Italienisch geflucht hat. Sonst noch etwas?« Sollte dir eigentlich zu denken geben und nicht dich bespaßen. Chris seufzte innerlich. Wie um alles in der Welt sollte er jetzt alles über Stellar aufzählen? »Solltest du sie das nicht am besten selbst fragen?« »Eigentlich schon, aber ich will nicht wieder direkt ins Fettnäpfchen treten, verstehst du?« Ja, leider. »Habt ihr darüber nicht gesprochen?« »Nicht wirklich. Wir haben eher über belangloseres Zeug geredet, aber darüber nicht.« »Verstehe.« Chris’ Innerstes sträubte sich trotzdem, wehrte sich mit aller Macht. Es war Stellars Aufgabe, von sich zu erzählen, nicht seine. Er wusste doch nicht einmal, ob er das, was er erzählen könnte, überhaupt erzählen durfte. »Komm schon, hab dich nicht so. Hilf mir ein bisschen. Ich will’s richtig machen und dafür könnte ich ein paar Tipps wirklich gut gebrauchen.« Genau da machte es bei ihm „Klick“. Was war er eigentlich für ein Egoist? Dylan gab sich hier sichtlich Mühe, die Beziehung ernst zu nehmen und alles dafür zu tun, damit sie funktionierte, und was tat er? Er dachte nur an sich. Daran, was sich für ihn selbst dadurch änderte, wie sehr ihm die Beziehung missfiel und was aus seiner Freundschaft zu ihnen werden würde, sollten sie sich früher oder später einmal trennen. Nicht ein einziges Mal hatte er an sie gedacht oder daran, ihnen dabei zu helfen, eine intakte Beziehung zu führen. Eigentlich hatte Dylan Recht gehabt. Er war wirklich ein schlechter Freund. Es wurde wirklich Zeit, dass er sich änderte. Jetzt wäre ein perfekter Zeitpunkt dafür. »Würde es dir helfen, wenn ich dir einfach ein paar Dinge über sie erzähle?« »Na klar, nur raus damit.« Es war ein riesiger Knoten, den er hinter den Kehlkopf in den Magen zwang. »Gut, also … Vielleicht das Interessanteste für dich zuerst: Am liebsten hört sie Jazzmusik. Manchmal sogar Monate lang ein und dasselbe Lied, bis zum Erbrechen.« Dylan wirkte sichtlich überrascht. »Jazz in Dauerschleife also … Und welche Richtung davon?« »Schwierig zu sagen. Ihr gefällt ziemlich viel, also kann man das nicht wirklich einschränken. Aber soweit ich weiß, ist sie ein großer Fan von Eartha Kitt.« »Das ist doch schon mal ein Anfang. Hat sie noch andere Hobbies?« Chris dachte nach. »Na ja … Sie liest ’ne Menge Bücher und tanzt gerne, aber eher Gesellschaftstänze … Oh, und sie ist eine echt furchtbare Köchin. Sie behauptet zwar, dass sie es kann, aber glaube mir: Wenn sie alleine kocht, kannst du das Essen direkt in den Müll schmeißen. Außerdem schafft sie es mindestens einmal, sich dabei in den Finger zu schneiden.« Dylan lachte dreckig. »Echt so schlimm, ja?« »Glaube mir, es ist wirklich so.« »Wenn’s eh scheiße schmeckt, warum kochst du dann überhaupt mit ihr?« Endlich kam auch Chris ein Lächeln über die Lippen. »Weil es trotzdem Spaß macht, mit ihr in der Küche zu stehen und dabei ein Glas Wein zu trinken.« Sein Tonfall wurde neckisch. »Ja, ja. Gib’s zu: Eigentlich freust du dich nur, dass du bei ihr ständig den Paramedic raushängen lassen kannst.« Ein kleines Bisschen? »Nein, nicht wirklich. Sie ist einfach eine tolle Gesellschaft, mit der man viel Lachen und Spaß haben kann und nachdem wir dasselbe Hobby haben, können wir das auch zusammen machen. Solange ich auch ein Auge auf das Essen habe, schmeckt’s am Ende auch.« »Schon klar.« Dylans rechter Mundwinkel zuckte ein Stück weiter nach oben. »Was?« »Nichts. Ich finde es nur witzig, dass unsere Kratzfurie einfach nicht kochen kann.« Chris schmunzelte. »Tja, hat eben nicht jeder die Begabung dazu.« Stellar hatte wirklich kein Talent dafür. Jeder, der schon einmal von ihrem Selbstgekochten oder Selbstgebackenen probiert hatte, konnte es danach selbst feststellen. Trotzdem hörte sie nie damit auf. Ob es ihre Sturheit war oder ihr Ehrgeiz – er wusste es nicht, aber es beeindruckte ihn. Genau wie all die anderen Eigenarten, die er Dylan gerade anvertraut hatte. Es waren Eigenarten, die sie in seinen Augen als Person ausmachten, ihren Charakter beschrieben. Ihm fielen sogar noch mehr ein, doch er wollte nicht allzu viel ausplaudern. So ausgelassen die Stimmung gerade war – Sorgen machte sich Chris nach wie vor. Dass sie sich auf einmal Kleider kaufte, beunruhigte ihn. Dass Dylan sie dazu überredet hatte, noch viel mehr. Am meisten beunruhigte ihn aber Dylan selbst. Bisher hatte er nie verlauten lassen, dass in seinem Leben Beziehungen eine Rollen spielten. Ungebundenheit und Freiheit waren ihm viel wichtiger, allen voran der Spaß dabei. Ich will mein Leben so leben, dass ich nichts bereue. Das hatte er ihm einmal gesagt. Die Frage war nur: wie weit würde er dafür gehen? Chris setzte sich auf, rupfte mit zwei Fingern einige Grashalme aus der Erde und dachte darüber nach, ob und wie er ihn darauf ansprechen sollte. Es war immerhin ein sensibles Thema. Schließlich fasste er sich ein Herz und überwand sich: »Du meinst das wirklich ernst mit ihr, oder?« Dylan setzte sich ebenfalls auf, sah ihn verwundert an. »Na klar, merkt man das nicht?« »Doch, aber … Ich wollte nur noch mal sicher gehen. Stellar ist meine beste Freundin und ich will nicht, dass sie verletzt wird.« »Dann haben wir ja dasselbe Ziel.« »Gut. Dann versprich mir, dass du ihr nicht wehtust.« Verdutzt zog Dylan die Augenbrauen zusammen und den Kopf zurück. »Wie soll ich das denn machen? So einfach lässt sich das nicht verhindern. Irgendwann werden wir uns auch mal streiten und irgendwann werden wir uns so heftig streiten, dass sie anfängt zu heulen. Das weiß ich jetzt schon, da gebe ich dir Brief und Siegel drauf. Wir waren vorher schon so und so schnell ändert sich das bestimmt nicht.« »Das ist mir auch klar, davon rede ich ja auch gar nicht. Aber sollte ich mitbekommen, dass du ihr absichtlich wehtust, dann haben wir beide ein echtes Problem.« Beide fixierten die Augen des anderen, sagten kein Wort. Der Augenblick war wie eingefroren. Erst, als Dylan schief zu grinsen begann, war er vorbei. »Verstehe. Wir haben uns also für eine Seite entschieden, wenn’s drauf ankommt, hm?« Chris Miene erhärtete sich. Auf seinen provokanten Kommentar wollte er nicht eingehen. Stattdessen streckte er ihm entschlossen die Hand entgegen. »Versprich es mir.« Dylan schnaubte auf, schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf, trotzdem ergriff er seine Hand. »Versprochen.« »Ich meine das wirklich ernst«, sagte er mit Nachdruck und packte fester zu. Er wollte sich ganz sicher sein, dass er das verstanden hatte. Dylans Grinsen verfestigte sich, doch die Belustigung dahinter war verschwunden. »Ich auch.« Unter langanhaltendem Blickkontakt lösten sie langsam den Handschlag, dann wandten sie sich gleichzeitig voneinander ab. »Gut, nachdem das ja jetzt geklärt ist: Was fangen wir mit dem restlichen Vormittag an? Gehen wir zum Ice-Dealer?« »Du willst jetzt ein Eis?« »Was? Nein! Ich brauche jetzt dringend ’nen Kaffee. Oder ein Eiskaffee, ich weiß noch nicht.« Typisch Dylan. Er machte sich nie lange Gedanken über etwas. Weder vorher, noch nachher. Ein Charakterzug, den Chris meist verfluchte, in diesem Moment aber war er dankbar dafür. »Okay, gut. Meinetwegen.« »Cool.« Mit einem Satz war Dylan wieder auf den Beinen und diesmal reichte er Chris seine Hand. »Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich weiß, was ich tue.« »Das hoffe ich«, erwiderte er und ließ sich von ihm aufhelfen. »Übrigens, deine Schuhe sind offen«, bemerkte er und deutete mit dem Finger auf seine Füße. Dylan stöhnte gelangweilt auf. »Ja, ich weiß schon. Mir sind die Socken ausgegangen und wenn ich keine anhabe, rutschen die Schuhbänder immer wieder raus.« »Soll ich dir –« »Ey, vergiss es!« Sofort schnellte seine Hand nach oben und er tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. »Spinnst du, ich bin ein erwachsener Mann!« »Schon gut, war nur gut gemeint.« »Bis zum Ice-Dealer schaff ich das schon. Ist ja nicht weit.« Geradezu halbherzig stopfte er das erste Paar Schnürsenkel in den Turnschuh. »Bist du sicher? Nicht, dass du noch auf die Fresse fliegst.« »Ach was. Selbst wenn, wär’s auch nicht das erste Mal.« »Wie du willst.« Chris wollte sich nicht weiter aufdrängen. Bis zum Ice-Dealer waren es zehn Minuten Fußweg. Gejoggt schafften sie es in der Hälfte der Zeit. Weit war es also wirklich nicht. »Lauf schon mal voraus, ich komme gleich nach«, sagte Dylan und zog mit den kleinen Fingern die Schnürung enger. Chris tat ihm den Gefallen ohne große Widerworte. Er war erleichtert, dass die Sache keinen Keil zwischen sie getrieben hatte. Das war seine größte Sorge gewesen. Dylan hätte ihm nämlich sein Verhalten auch noch länger übelnehmen können, doch stattdessen half er ihm dabei, es zu verstehen. Jedenfalls ein bisschen. Er hatte zumindest von ihm mehr über die Beziehung erfahren als von Stellar. Auch das Gespräch im Ganzen betrachtet war eigentlich gar nicht so übel gelaufen. Es hätte deutlich schlimmer sein können. Und es hatte ihm die Augen geöffnet. Er war viel zu egoistisch an die Sache rangegangen. Er hätte viel verständnisvoller regieren, viel aufgeschlossener sein müssen, auch wenn es ihn nach wie vor störte. Das änderte jedoch nichts daran, dass es seine Freunde waren. Plötzlich riss ihn einen dumpfer Knall aus den Gedanken, als hätte etwas Hartes auf einen Topfdeckel eingeschlagen. Erschrocken drehte er sich um. Was er sah, würde er so schnell nicht wieder vergessen: Da lag er nun, sein einen Meter neunzig großer, bester Freund. Direkt unter dem Metallmülleimer und mit der Hand am Hinterkopf. Sein von Schmerz verzerrtes Gesicht war ihm Antwort genug. Chris konnte nicht anders als diesen Anblick zu belächeln. Er machte eine Kehrtwende und kam zu ihm, kniete sich zu ihm herunter. »Wie hast du das denn hingekriegt?« »Frag nicht so blöd!«, ächzte er. »Bin auf die Schuhbänder getreten, gestolpert und habe mir den Schädel angehauen.« Nun war es Chris, der dreckig auflachte. »Ich will ja nichts sagen aber: Ich hab’s dir ja gesagt.« »Danke, Mom.« Sein Tonfall klang weit weniger beleidigend als frustriert. Chris ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken, im Gegenteil. Das machte die Situation für ihn nur noch lustiger. »Weißt du, ich glaube, wenn ihr euch so gut kennt, wie ich euch kenne, dann stehen die Chancen gar nicht mal so schlecht, dass das mit euch funktioniert.« »Ach, findest du? Und woran machst du das fest?« Chris nickte belustigt. »Ihr seid euch ähnlicher, als ihr denkt.« Kapitel 10: Der Pianist ----------------------- Montag. Der wohl unbeliebteste Tag der Woche. Nicht nur, weil er das Wochenende verabschiedete, sondern weil er zudem noch eine neue Arbeitswoche einläutete. Für Moira war dieser Montag jedoch besonders schlimm: Heute lernte sie ihren neuen Arbeitskollegen kennen – und sie war darauf überhaupt nicht vorbereitet.   Sie hatte es völlig vergessen. Erst gestern, kurz vorm Schlafengehen war ihr dieser Termin wieder eingefallen. Wie hatte sie sich nur so von Stellars Männerproblemen ablenken und vereinnahmen lassen können, dass sie einen so wichtigen Termin vergaß? An Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken. Vollgepumpt mit Euphorie und Panik versuchte sie die ganze Nacht, sich auf das Aufeinandertreffen mit ihrem neuen musikalischen Partner einzustellen und vorzubereiten: Sie überlegte, wie sie sich am besten selbst vorstellte, malte sich im Kopf alle möglichen Gesprächsverläufe aus, um immer eine passende Antwort parat zu haben, und vor ihrem inneren Auge durchforstete sie ihren Kleiderschrank, um das perfekte Outfit zusammenzustellen. Gleichzeitig aber versuchte sie mittels Schäfchen zählen und warmer Milch mit Honig dem nächtlichen Treiben in ihrem Kopf ein Ende zu bereiten, um endlich einzuschlafen. Denn auch das perfekteste Outfit und die beste Vorbereitung konnte ihr nicht helfen, wenn sie wegen Schlafmangel so gesellig war wie die Gorgo Medusa höchstpersönlich. Im schlimmsten Fall sah sie mit ihrer explodierten Haarpracht und ihren schluchtentiefen Augenringen unter den geröteten Augen auch noch so aus … Unglücklicherweise war sie letztendlich an beiden Vorhaben gescheitert.   Und nicht nur das. Das Scheitern zog sich diesen Montagmorgen auch noch weiter fort. Wie von ihr befürchtet gab ihr prall gefüllter Kleiderschrank nichts zum Anziehen her, die Lockenmähne ließ sich nur schwer bändigen und das Make-Up wollte auch beim dritten Anlauf weder sitzen, noch ihre Augenringe abdecken. Inzwischen völlig gestresst und frustriert über ihren eigenen Anblick schmierte sich Moira mit zittriger Hand die Wimpern mit Mascara ein und tuschte dabei Augenlider und Nasenrücken gleich mit.  »Mann, ey! Verdammte Scheiße!« Was hatte sie nur getan, dass ihr das Schicksal so übel mitspielte? »Was ist denn los?« »Ach nichts«, maulte sie und warf Stellar durch den Spiegel hindurch einen genervten Blick zu, ehe sie mit dem Schminken fortfuhr. »Der Tag fängt einfach schon scheiße an.« Stellar stand direkt hinter ihr, die Hände in den Hosentaschen. »Warum denn? Ich dachte du freust dich auf heute.« »Tu ich ja auch. Hab nur kein bisschen geschlafen vor lauter Aufregung.« »Wieso denn das? Ist doch nicht das erste Mal, dass du einen neuen Pianisten bekommst.« Moira deutete zuerst auf ihr Gesicht, dann auf ihre Haare und schließlich auf den restlichen Körper. »Guck mich doch mal an, wie ich aussehe! Wie ein explodierter Handbesen, den mein Kleiderschrank vorgewürgt und ausgekotzt hat.« Stellar kicherte. »Bist du etwa nervös?« »Natürlich bin ich nervös, was denkst du denn?« Gott sei Dank kannten sie sich lange und gut genug, dass Stellar wusste, dass der pampige Tonfall nicht ihr galt. »Ich meine … Was ist, wenn ich mich total blamiere? Was ist, wenn er mich nicht mag? Was ist –« »Und was ist, wenn du ihn nicht magst?« Von hinten schlang Stellar ihre Arme um sie, legte ihr Kinn auf ihre Schulter ab und sah ihr über den Spiegel in die Augen. »Jetzt atmest du erst einmal tief durch und schminkst dich in Ruhe fertig. So schlimm wird’s schon nicht werden. Außerdem bin ich ja auch noch da.« »Ich weiß«, murmelte sie kleinlaut. »Ich will nur einen guten Eindruck machen.« »Du machst das schon, davon bin ich überzeugt. Sei einfach du selbst, dann kann nichts schief gehen.« Moira schürzte die Lippen. »Der Spruch war schon im Mittelalter ziemlich lausig, das weißt du, oder?« »Aber er ist wahr. Außerdem knallst du mir den auch regelmäßig vor’n Latz.« Grinsend schenkte sie ihr einen Kuss auf die Schläfe. »Ich hole dir mal eben ein Wattestäbchen.« Und damit war Stellar auch schon im angrenzenden Bad verschwunden. Pf. Die stellte sich das vielleicht einfach vor. So wie sie gerade drauf war, wollte Moira alles andere sein als sie selbst. Dennoch beherzigte sie Stellars Tipp und atmete einmal ganz tief durch. Und noch einmal. Und noch einmal. Sie fühlte sich dadurch zwar nicht unbedingt besser, aber ein wenig ruhiger. So ruhig, dass sie diese Kindergartenschmiererei in ihrem Gesicht in etwas Vernünftiges verwandeln konnte. Kurz darauf hielt ihr Stellar das Wattestäbchen unter die Nase. »Hier.« Dankend nahm sie es entgegen und rieb die überschüssige Mascara von Augenlidern und Nasenrücken. »Können wir dann los?« »Ich weiß nicht …« »Wo ist das Problem?« Moira sah an sich herunter und zupfte ihren viel zu großen, pfirsichfarbenen Angora-Pullover zurecht, sodass der Ausschnitt nicht ihr Dekolleté, sondern ihre rechte Schulter freilegte. Dann wandte sie sich mit fragenden Blick zu Stellar. »Soll ich mich besser noch mal umziehen?« »… kommt drauf an, ob du ihn gleich heute mit nach Hause nehmen willst oder nicht.« Denselben Gedanken hatte Moira auch. Ein Angora-Pullover, kurze Jeans und High Heels waren kein Outfit, mit dem man Männer aufreißen ging. Vielleicht doch lieber ein Kleid? »Willst du meine ehrliche Meinung hören?« »Klar.« »Bleib so, wie du jetzt bist und schau ihn dir lieber erstmal an, bevor du ihm schöne Augen machst. Du siehst ihn sowieso noch oft genug, hast also noch etliche Chancen, um ihn dir zu angeln, wenn du das willst. Du musst das nicht übers Knie brechen, das funktioniert sowieso in den allerseltensten Fällen. Also lass uns losgehen.« Stimmt auch wieder. Genug gegrübelt und infrage gestellt! Sie warf im Bad das Wattestäbchen in den kleinen Mülleimer unter dem Waschbecken, besprühte Hals und Haare großzügig mit ihrem Kokosnussparfum und schlüpfte in ihre weißen Sandaletten. Dann schulterte sie sich ihre Handtasche, öffnete die Tür und verließ mit Stellar die Wohnung.   Der Weg zum Jazz-Club dauerte zu Fuß eigentlich keine Viertelstunde, aber heute kam er ihr länger vor als üblich. Genauer gesagt kam es ihr so vor, als würden sie mit jedem Schritt vorwärts mindestens zwei zurück gehen und niemals dort ankommen. Auch der Anflug von Selbstsicherheit war nach ein paar Schritten genauso plötzlich verschwunden, wie er gekommen war. Was sollte sie nur tun, wenn er sie wirklich nicht mochte? Oder wenn sie ihn nicht mochte? Sie arbeiteten immerhin sechs Tage die Woche zusammen. Natürlich könnte sie professionell sein und ihren Job von ihrem Privatleben trennen, wenn sie es wöllte. Schöner aber wäre es, wenn sie das gar nicht müsste. Und ohne Frage lastete ihre bis zum Platzen angeschwollene Neugier zusätzlich auf ihr, die gemeinsam mit ihren Sorgen jeden Schritt mühsamer machten. »Was meinst du, wie sieht er aus?«, fragte Stellar und brach damit die Stille. Das hatte sie sich auch schon gefragt. Moira zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich hoffe zumindest auf „gut“.« »Gar keine Vorstellung?« »Doch schon … aber zum Schluss kommt immer wieder derselbe Typ raus.« Stellar lachte. »Du meinst den großen, mit Waschbrettbauch gesegneten, langhaarigen Musiker …« »Ja, genau der.« Beide begannen zu lachen. Moira war ihrer Freundin dankbar, dass sie ihr mit dem Lachen und den richtigen Fragen ihre Nervosität linderte. »Und du bist dir sicher, dass so ein Traumtyp dein neuer Arbeitskollege wird?« »Sicher bin ich mir nicht«, entgegnete sie. »Aber hoffen darf man ja wohl noch.« »Wie heißt er eigentlich, weißt du das?« »Johnny hat mal was erwähnt, aber ich bin mir nicht mehr sicher …« Angestrengt dachte sie nach, viel kam dabei allerdings nicht heraus: »Ich glaube, es war irgendetwas mit A …« »Mit A … Andy?« »Nein, auf gar keinen Fall.« »Anthony?« »Nein … Ich glaube, das war Alan oder so.« Während sie angeregt über weitere mögliche Namen rätselten, kam das Swingy’s bereits in Sichtweite. Unruhe machte sich wieder breit. Mit jedem Schritt, den sie näherkamen, erkämpfte sich die Nervosität den Raum in Moiras Brust zurück. Eigentlich konnte sie sich gar nicht erklären, warum sie so nervös war. Wie Stellar bereits gesagt hatte: Es war nicht das erste Mal, dass sie einen neuen Arbeitskollegen kennenlernte. Als sie schließlich vor dem Swingy’s standen, umfasste Moira den großen, hölzernen Griff der Eingangstür und verharrte. Ihr Herz raste. »So nervös?« Moira nickte stumm. »Warum denn?« »Keine Ahnung.« Sanft strich Stellar ihr über den Rücken und legte ihre Hand über Moiras – und wieder war ihr Moira für diese Unterstützung dankbar. Gemeinsam wuchteten sie die Türe auf, stiegen durch den schlichten, aber schweren, purpurfarbenen Vorhang, der als Windfang diente, und betraten den Jazz-Club.   Stimmungsvolles, gedämpftes Licht. Dunkler, knarzender Dielenboden. Musik, die leise und aus jeder Ecke zu ihnen vordrang – aber komischerweise war außer ihnen niemand da, der diesen Flair in dem mächtigen Raum genoss. »Sieht wohl so aus, als wären wir die ersten.« Moira war erleichtert und irritiert zugleich. »Kann eigentlich nicht sein, sonst wäre noch abgesperrt.« Während sie sich umsah, steuerte sie die Bar an, legte ihre Handtasche auf einem Barhocker ab und ging hinter die Theke. »Willst du was trinken?« Stellar schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist Johnny ja unten im Lager?« Das war gut möglich. »Ich schau mal nach. Du kannst dich ja schon mal irgendwo hinsetzen.« Mit diesen Worten ließ sie Stellar allein, ging links an der Bar vorbei und stieg eine steinerne Wendeltreppe hinunter. Fünf Türen boten sich ihr an, nur aus dem Pausen- und Besprechungsraum kämpfte sich ein Lichtstrahl den Flur hinaus; die Tür war nur angelehnt. Da war er also. Bestimmt bereitete er den Vertrag für den neuen Pianisten vor. Moira marschierte zielstrebig den dunklen Flur entlang und drückte die Tür weiter auf – und schrak zurück. Es war nicht Johnny, den sie dort antraf, sondern ein Riese von bestimmt zwei Metern, mit dem Rücken zu ihr gewandt. Das war dann wohl der Neue. Von ihm noch unbemerkt nutzte sie die Gelegenheit, um sich grob ein Bild von ihm zu machen. Er wirkte für sie irgendwie fehl am Platz. Jemanden mit einer Baseball-Cap, die er mit dem Schirm im Nacken trug, zerrissenen Jeans und einem knittrigen Tank-Top hatte sie sich nicht vorgestellt. Aber gut, er musste ja auch nur Klavier spielen und nicht die Modewelt neu erfinden. »Ähm … Entschuldigung?« Er warf einen fragenden Blick über die Schulter. »Ah, hi!«, stieß er aus, drehte sich um und lächelte sie freundlich an. »Du musst Moira sein, richtig?« Moira wurde aschfahl, brachte nicht einen Ton heraus. Stocksteif stand sie da, glotzte auf die riesige Narbe in seinem Gesicht und versuchte diesen Augenblick zu begreifen. Ohne ihn zu kennen erkannte sie ihn sofort. Scheiße. »… alles okay?« Ob alles okay war? Dass er nicht ihren Vorstellungen von einem Musiker entsprach, war eine Sache, aber das hier setzte dem Ganzen die bizarrste Krone auf, die sie je gesehen hatte. Nie im Leben hätte sie bei ihrem neuen Arbeitskollegen an ihn gedacht. Sie musste mit Johnny reden, auf der Stelle! »Äh, ja. Hi … Wo ist Johnny?« »Der ist nur kurz im Lager verschwunden. Sucht was Passendes zum Anstoßen.« Verdammt! Er hatte also den Vertrag schon unterschrieben. Verdammt, verdammt, verdammt! »Ach so, sorry«, sagte er und zog seine Hand aus der Hosentasche, hielt sie ihr bereitwillig hin. »Ich bin Dylan.« »Ja, ich weiß … «, seufzte sie und wünschte sich, sie würde seinen Namen und alles, was sie über ihn wusste, nicht wissen. Wo waren Alan, Andy und Anthony, wenn man sie wirklich brauchte? »O-kay … « Sichtlich verunsichert zog er seine Hand zurück und schob sie wieder in die Hosentasche. »… kennen wir uns irgendwoher?« Moira verschränkte die Arme und sah ihn so finster an, wie sie nur konnte, immer darauf achtend, ihm nicht in die Augen zu sehen. Von Stellar wusste sie, dass sie einen sehr verwirren konnten. »Nein, aber du kennst dafür jemand anderen: Meine beste Freundin.« Ihre Stimme war trockener als eine Hand voll Sand. Und er schien eine verdammt lange Leitung zu haben, denn sein fragender Gesichtsausdruck blieb unverändert. »Die, die du die ganze Zeit fertig machst. Klingelt’s da vielleicht?« Die Reaktion blieb dieselbe. Genervt verdrehte sie die Augen. Unfassbar, dass sie ihm ernsthaft auf die Sprünge helfen musste. »Vielleicht sagt dir ja der Name Stellar was …? Hm?« Augenblicklich schloss er die Augen, stöhnte hörbar auf und rieb sich die Nasenwurzel. »Oh Mann …« »Oh scheiße trifft’s da wohl eher.« Sie schloss leise hinter sich die Tür und sah dann mit Zornesfalten auf der Stirn wieder zu ihm auf. »Eigentlich trifft es sich echt gut, dass wir uns endlich mal begegnen. Kannst du mir mal bitte verraten, was dir einfällt, so mit meiner Freundin umzuspringen? Ist dir eigentlich klar, was du ihr damit antust?« »Das geht dich nichts an.« Sein Blick fiel streng auf sie herab. »Ach, wirklich? Ich finde nämlich schon, immerhin bin ich diejenige, die sie trösten muss, wenn sie sich wegen dir wieder mal die Augen ausheult! Warum bist du so arschig zu ihr? Hat sie dir irgendwas getan oder hast du einfach nur keinen Funken Anstand im Leib?« »Bist du ihr Anstands-Wau-Wau, oder was? Stellar kann ihre Angelegenheiten bestimmt auch alleine regeln, da braucht sie keinen Giftzwerg wie dich dazu.« Verdattert riss sie die Augenbrauen nach oben. »Wie hast du mich gerade genannt?« Plötzlich schoss mit ordentlich viel Schwung die Tür wieder auf. »Ach, ihr habt euch also schon kennengelernt, sehr schön.« Johnny stellte eine große Flasche Schampus auf den Tisch und strahlte in die Runde. »Holst du gleich mal drei Gläser? Wir müssen doch auf unseren neuen Teamkollegen anstoßen.« Damit meinte er natürlich Moira. Ihm zuliebe, aber mit viel Überwindung neutralisierte sie ihren Gesichtsausdruck und kam schweigend seiner Bitte nach. Aus dem Hängeschrank über der Spüle nahm sie sich drei Sektgläser, spülte sie mit Wasser aus und stellte sie in einer Reihe auf dem Esstisch auf. Sie musste sich zusammenreißen, sie nicht einfach auf die Tischplatte zu knallen. »Also, ihr habt heute den ganzen Tag Zeit, euch besser kennenzulernen und euch aufeinander einzustimmen«, plauderte Johnny und zwirbelte die Verschlusskappe von der Flasche. »Das Swingy’s bleibt deswegen heute auch geschlossen. Du musst dich ja sicher auch noch an den Flügel gewöhnen und Moira sich mit dir eingrooven …« »Verstehe.« »Klingt doch gut, oder?« Wieder meinte Johnny sie und strahlte sie dabei an. »Ja, super. Ich freu mich.« Sie rang sich ein Lächeln ab, das sich jedoch eher wie ein Schlaganfall anfühlte. »Ich bin mir sicher, ihr beide werdet ein tolles Duo.« Moira konnte die Euphorie und Begeisterung ihres Chefs nicht teilen. Stattdessen fragte sie sich, wie sie das Stellar erklären sollte. Sechs Tage die Woche würde sie ihn sehen und mit ihm zusammenarbeiten müssen. Aktuell konnte sie nicht sagen, wer von ihnen es mit ihm schlimmer getroffen hatte. Dafür wurde ihr zumindest klar, warum sie den ganzen Morgen über schon so nervös gewesen war. Irgendwie musste sie es im Gefühl gehabt haben, dass der neue Pianist alles andere als ihren Wünschen entsprach. Wahrscheinlich waren ihr Spiegelbild und das Schminkfiasko sogar Zeichen, dass sie besser daheim geblieben wäre.  PENG! – Und der Korken sprang quer durch das Zimmer. Hastig schnappte sich Moira eines der Gläser und hielt es an die Flasche – genau wie Dylan. Klirrend trafen ihre Gläser aufeinander und fingen den Perlschaum auf, der aus dem Flaschenhals überlief. Flüchtig tauschten sie Blicke aus, nur um auf dieselbe Weise wieder auszuweichen. Idiot. Zu Moiras Enttäuschung bekam Johnny von dem sichtbaren Zwist nichts mit. Schon vorher schien er blind für die negative Stimmung zwischen ihnen gewesen zu sein und jetzt forderte der überquellende Champagner seine gesamte Aufmerksamkeit, so dass es ihm immer noch nicht auffiel. Eigentlich hätte ihr das auch klar sein müssen. Sie kannte Johnny schon lange und wusste, dass er oft nur das sah, was er sehen wollte. Als schließlich jeder ein gefülltes Glas in Händen hielt, stießen sie zusammen „auf eine gute Zusammenarbeit“ an – Moira mehr widerwillig als glücklich – und die noblen Herren kippten sich den gesamten Inhalt in den Rachen. Moira hingegen nippte nur kurz daran, dann stellte sie ihr Getränk auch schon wieder weg. »So. Jetzt aber genug gefeiert, jetzt wird gearbeitet! Oder gibt es noch irgendwelche Fragen von deiner Seite?« Dylan schüttelte den Kopf. »Nein, alles bestens.« Alles bestens? Das sah aber auch nur er so. »Wunderbar! Wenn doch noch mal die ein oder andere Frage auftauchen sollte, frag mich einfach. Oder Moira, die kann dir auch helfen.« Für diese Bemerkung hätte sie Johnny am liebsten an seinem grau melierten Pferdeschwanz gepackt und mit dem Gesicht am Boden einmal quer durch den ganzen Laden geschliffen. Und wenn sie es tatsächlich gewollt hätte, hätte sie es geschafft, obwohl er fast genauso groß wie Dylan war. Doch sie riss sich zusammen und verkniff sich den Protest, gab sich Mühe, diesmal ein glaubwürdigeres Lächeln aufzusetzen. »Gut, dann lasse ich euch jetzt mal allein. Wenn ihr was braucht, sagt einfach bescheid.« Ein letztes Mal schenkte er Moira sein zufriedenstes Grinsen und zwinkerte ihr zu, tätschelte sogar ihre Schulter beim Vorbeigehen. »Ach ähm, wärst du dann noch so lieb und stellst die Flasche in den Kühlschrank?« Moira kam sich vor wie seine Bedienstete. »Ja, mache ich.« »Danke!« Und mit einem – KLACK – war die Türe zu und er aus dem Zimmer verschwunden. Stille füllte nun den Raum. Alle beide standen da, als wäre ihnen der Bus vor der Nase weggefahren, machten keinen Mucks, sahen einander nicht an. Vielen Dank, Johnny, dachte Moira. Erst reinplatzen, dann Schampus schlürfen und direkt danach einfach stehen lassen und abhauen. Echt lässiger Auftritt. Sie wusste, dass sie übertrieb, aber es war nun mal Dylan und nicht irgendwer sonst. Resigniert und genervt verschränkte sie die Arme und setzte sich an die Tischkante. Wenn das hier Karma war, hätte sie zu gern gewusst, was sie so Schreckliches angestellt hatte, um so bestraft zu werden. Wie sollte sie das nur Stellar erklären? Die arme saß da oben, dachte bestimmt an nichts Böses und würde gleich ohne Vorwarnung mit der Tatsache konfrontiert werden, dass er Moiras neuer Kollege war. Zudem saß Moira selbst in der Zwickmühle. Sie wollte Stellar selbstverständlich aus Solidarität den Rücken stärken und sich gar nicht großartig auf ihn einlassen, allerdings musste sie mit ihm zusammenarbeiten, egal wie. Daran führte kein Weg vorbei, sein Arbeitsvertrag war unterschrieben. Nach langem Hin und Her überwand Moira schließlich ihren Schweinehund. Sie entschied sich, einfach professionell zu sein und Arbeit von Privatem zu trennen. Es musste sein, ob es ihr passte oder nicht. »… du spielst also Klavier?« Eigentlich eine überflüssige Frage, aber sie wusste nicht anders anzusetzen. »Mhm«, stimmte er brummend zu, sah dabei stur auf seine Füße. »Wie lange schon?« Moira schaute ebenfalls nach unten und fixierte den pfirsichfarbenen Nagellack auf ihren Zehen. »Kann ich nicht genau sagen. Sehr lange auf jeden Fall.« »Aha. Und was spielst du so?« Sie gab sich Mühe, doch den passiv-aggressiven Ton konnte sie einfach nicht abstellen. »Ich improvisiere meistens.« »Ah, du improvisierst.« »Problem damit?« »Pf.« Mehr hatte sie für seine Provokation nicht übrig. »Wie sieht’s mit Bühnenerfahrung aus?« »Habe ich schon gemacht, ja.« »Verstehst du eigentlich was von Jazz?« »Wäre ich sonst hier?« Allmählich wurde auch bei ihm der Unmut hörbar. Moira schwieg nun. So kamen sie nicht weiter. Auch wenn es ihr nicht gefiel: Sie brauchten eine Basis, auf der sie miteinander arbeiten konnten. Andernfalls würde es auf Dauer hässlich werden, für beide Seiten. »Trinkst du dein Glas noch?« Moira drehte sich um und sah auf das Glas, dann blickte sie wieder nach vorn und schüttelte den Kopf. »Eher nicht.« Dylan griff sich das Glas und stürzte sich wie vorhin den Inhalt in den Rachen, schluckte ihn hörbar mit einem Mal herunter. Dann richtete er sich auf, sammelte alle Gläser ein und stellte sie in die Spüle. Gut. Da der erste Versuch nicht unbedingt von Erfolg gekrönt war, gab sie sich einen Ruck für Versuch Nummer zwei. »Okay, hör zu: Ich habe eigentlich echt keinen Bock, mit dir zusammen zu arbeiten. Da ich aber kaum eine andere Wahl habe, bin ich trotzdem nicht sonderlich scharf drauf, mich die ganze Zeit mit dir zu streiten.« Dylan erwiderte nichts, stattdessen riss er sich ein wenig Küchenpapier von der Rolle, die in einer Halterung stand, ging in die Hocke und begann den am Boden verteilten Alkohol aufzuwischen. Ignorierte er sie gerade? »… oder wie siehst du das?«, fragte sie und versuchte ihn so zu einer Antwort zu zwingen. »Ja, klingt erstaunlich vernünftig.« Ganz langsam stand Dylan auf, den Blick dabei fest auf Moiras gerichtet, und warf das vollgesogene Küchenpapier in den Mülleimer neben der Tür. »Wenn du mir dann endlich mal eine Chance geben würdest, anstatt mich ununterbrochen anzupissen, könnte das auch glatt funktionieren.« Moira war nicht in der Lage darauf sofort zu kontern. Gänsehaut kroch ihre Arme hinauf und in ihrem Bauch breitete sich Wärme aus. Zwei verschiedene Augenfarben? Stellar hatte ihr zwar davon erzählt, doch darüber, wie schön sie waren, hatte sie kein Wort verloren. Die ganze Zeit hatte sie es erfolgreich vermieden, ihm direkt in die Augen zu sehen. Doch jetzt, wo er keine zwei Schritte von ihr entfernt stand, war es unvermeidbar. Krass, echt abgefahren. Es brauchte viel Mühe, um für einen kurzen Moment die Augen zu schließen und sich von ihnen loszureißen, die Faszination dafür zu unterdrücken und sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Aha, und wie genau stellst du dir das vor?« »Wenn dich wirklich meine Meinung interessiert … So wie ich das sehe, können wir voneinander profitieren«, meinte er, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Küchenarbeitsplatte und verschränkte die Arme, sah weiterhin geringschätzig auf sie nieder. »Ach wirklich?« Moira tat es ihm gleich, konzentrierte sich allerdings auf seine vernarbte Augenbraue im Gesicht. »Ja, wirklich. Nüchtern betrachtet ist die Sache nämlich ziemlich simpel: Ich brauche diesen Job und du brauchst einen Pianisten. Von daher könnten wir unsere Zusammenarbeit als … reinen Nutzen sehen. Wir müssen weder Freunde werden noch Feinde sein.« Das war keine schlechte Idee. Diese nüchterne Sichtweise gefiel ihr. Sie hatte sich zwar ein herzlicheres Miteinander gewünscht, aber da das nun mal nicht möglich war … »Okay, einverstanden.« »Gut, dann gehe ich schon mal nach oben und spiele mich warm, wenn’s recht ist.« Warmspielen? Moira runzelte die Stirn. »… machst du das immer?« »Na klar. Das lockert die Finger und hilft dabei, Krämpfe zu vermeiden.« »Okay … und wie lange machst du das, dieses warmspielen?« »Ziemlich unterschiedlich, aber meist an die zehn Minuten, Viertelstunde.« »Okay … Dann lass dich von mir nicht aufhalten.« Ohne etwas darauf zu erwidern drehte sich Dylan um und verließ den Sozialraum. Moira sah ihm hinterher. Sie gab es wirklich ungern zu, aber das beeindruckte sie jetzt. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sich Duke mal warmgespielt, geschweige denn sich jemals auf eine Probe vorbereitet hätte. Ihr war flau im Magen. Sie wusste ihn nicht so recht einzuschätzen. Einerseits hielt sie ganz klar zu Stellar und hasste ihn dafür, was er ihr ständig antat. Andererseits ließ er gerade ein winziges Bisschen Sympathie in ihr aufglimmen. Hilfesuchend ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und blieb an der Schampusflasche hängen, die noch immer offen auf dem Tisch stand. Alkohol war jetzt für niemanden in der Sache eine große Hilfe, aber wenn er schon mal offen war … Beherzigt packte sie sie am Hals und nahm sie mit aus dem Zimmer und die steinernen Stufen mit nach oben. Vielleicht war es besser, ihn erst einmal überhaupt nicht einzuschätzen. Vielleicht war es besser, die aktuelle Situation fürs Erste hinzunehmen, sie zu beobachten und abzuwarten, was noch auf sie zukommen würde. Ja, genau. Vermutlich war das die momentan beste Entscheidung. Immerhin hatte sie, wie Stellar schon sagte, noch genug Gelegenheiten, um das zu tun. Ihr würde sie gleich dasselbe ans Herz legen – und ein großes Glas Sekt. Kapitel 11: Gefühlsausbrüche ---------------------------- Tick, tack. Tick, tack. Tick, tack.   Gelangweilt sah Stellar dabei zu, wie der Sekundenzeiger über dem Ziffernblatt seine Runden drehte. Gab es da unten etwa – neben Lager, Toiletten und Sozialraum – noch mehr Räume zu durchforsten oder warum brauchte Moira so lange? Johnny konnte doch nicht so schwer zu finden sein …   Tick, tack. Tick, tack. Tick, tack …   Genug. Bevor sie sich vor lauter Warten noch den Hintern wund saß, tat sie lieber etwas Sinnvolles; ihren späteren Sitzplatz aussuchen zum Beispiel. Sie stieg vom Barhocker herunter, vergrub ihre Hände in den Hosentaschen und schlenderte mit prüfendem Blick zwischen den Tischen umher. Bei fünfzehn Tischen und freier Platzwahl fiel es ihr schwer, sich zu entscheiden, denn ohne die Anwesenheit anderer Gäste hätte sie von überall einen guten Blick auf die Bühne. Am besten wäre natürlich ein Platz, von dem sie den neuen Pianisten bestens beobachten, aber von ihm nicht gesehen werden konnte. Schließlich sollte er ja nicht merken, dass er von ihr genauestens unter die Lupe genommen würde. Ihre Wahl fiel daher auf einen der Tische links außen, direkt neben der Bar. Von dort aus konnte sie zwar sein Gesicht nicht sehen, aber ihm dafür genau auf die Finger gucken. Wie er wohl sein würde? Stellar hoffte ja auf einen eher ruhigen, ausgeglichenen Typ. Jemand mit Humor, der auch ein wenig kultiviert war. Vor allem aber sollte er ein Teamplayer sein und flexibel – in etwa wie Chris, sozusagen. Ja, genau. Dieser Jemand wäre die perfekte Ergänzung zu Moira. In der Vergangenheit hatte es nämlich schon genug narzisstische, divenhafte Egomanen in ihrem Leben gegeben, sowohl privat, als auch beruflich. Noch einen würden sie beide vermutlich nicht verkraften. BRRR – BRRR. Der Vibrationsalarm ihres Handys riss sie aus den Gedanken. Nachdem sie sich auf ihren Zuschauerplatz gesetzt hatte, fischte sie es aus ihrer Hosentasche, löste die Tastensperre und öffnete die Nachricht.   Hey Sternchen! ;) Na, wie geht’s? Noch ein schönes Restwochenende gehabt? Was treibst du gerade? Chris   Unglaublich. Nur einen klitzekleinen Moment hatte sie an ihn gedacht und schon trudelte eine SMS von ihm herein. Und zu ihrem Glück wollte er gar nicht über ihren gemeinsamen Abend reden, als wäre er nie passiert. Schnell tippte sie eine Antwort ein und ließ dabei bewusst das Wochenende außen vor:   Hey Chris ;) Alles super und selbst? Sitz gerade im Swingy’s. Moiras neuen Arbeitskollegen für sie abchecken ;) Sie ist ganz schön nervös ;D Sternchen     Moira und nervös? Kann ich mir gar nicht vorstellen. Sie ist doch sonst so selbstbewusst … Wo ist das Problem?   Stellar grinste auf ihren Bildschirm und ließ ihre Daumen die Arbeit machen:   Keine Ahnung. Ich glaube, das weiß sie selbst nicht mal :D Heute Morgen hab ich gedacht, sie sticht sich gleich mit der Wimperntusche das Auge aus, so gezittert hat sie :D     Au weia, gleich so schlimm? Dann muss sie wirklich nervös sein. Ich drück ihr die Daumen, dass alles gut geht!   Ihr Grinsen wurde breiter. Das schätzte sie wirklich sehr an Chris. Trotz so viel Antipathie zwischen ihm und Moira brachte er für sie immer wieder Anteilnahme und Mitgefühl auf.   Ich erzähl dir dann, wie’s war ;)     Mach das, bin gespannt! ;) Übrigens: Ich habe Mittwoch und Donnerstag wieder meine freien Schichttage. Zeit und Lust, den DVD-Abend nachzuholen? Diesmal entscheidest du über die Filme ;) Oder hast du mit Dylan schon andere Pläne?   Und sofort knallten ihr die Mundwinkel wieder nach unten. Dieser Name. Dieser Kerl! Seinetwegen war sie irgendwann reif für die Klapse, da war sie sich sicher. Und das, wo sie eigentlich dabei gewesen war, ihn ein bisschen zu mögen.   Nö nö, ich hab Zeit :) Dylan und ich können uns öfter sehen als du und   Mitten unterm Schreiben hielt Stellar plötzlich inne. Schwere Schritte hallten von der steinernen Wendeltreppe hinauf und wurden lauter, je näher sie kamen. Na endlich. Sie wandte sich um, um gleich mit ihrer Beschwerde über die lange Wartezeit anzusetzen – doch als sie den Urheber erkannte, blieb sie ihr im Hals stecken und ihr Magen schrumpelte sich von jetzt auf gleich zu einer Rosine zusammen. Was zur Hölle hatte denn Dylan hier zu suchen? Chris war doch gar nicht da, nicht mal mit ihr im Swingy’s verabredet, was ihr sein Auftauchen erklären würde. Spionierte er ihr etwa heimlich nach …? In ihrem Nacken rollte sich die Gänsehaut nach unten aus.   Nein. Nein, nein, nein. Das war Unsinn. Offenbar ging schon die Fantasie mit ihr durch. Rein hypothetisch wäre es ihm ja zuzutrauen, aber … Nein. Aber … Wenn er nicht wegen ihr hier war, dann bedeutete das doch … Völlig perplex gaffte sie ihn an – wogegen er sie mit nicht mehr als einem flüchtigen Blick aus dem Augenwinkel würdigte –, während er wortlos an ihr vorbei auf die Bühne ging und sich an den schwarzen Flügel setzte, so als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Er war der neue Pianist? Ernsthaft? Das sollte doch wohl ein Scherz sein! Ein Fake, eine gemeiner Streich! Dieser Typ schaffte es nicht mal sich selbst die Schuhe zuzubinden und ausgerechnet er sollte die pianistische Begleitung für Moira sein? Ich glaube das einfach nicht … »Da«, blaffte Moira und erschreckte Stellar fast zu Tode, als sie plötzlich neben ihr stand und eine große Schampusflasche auf den Tisch knallte. »Trink das. Wenn ich nicht noch singen müsste, würde ich sie mir ganz allein hinter die Birne kippen.« Stellar steckte ihr Handy zurück in die Hosentasche und sah Moira vorwurfsvoll an. »Du hast gesagt, er heißt irgendwas mit „A“.« »Ja, habe ich auch gedacht«, murmelte sie reumütig. »Und wenn man es genau betrachtet, dann … na ja … streng genommen ist in „Dylan“ auch ein „A“ drin.« Stellar seufzte. »Super.« »Hey, ich bin auch nicht sonderlich begeistert davon, mit ihm zusammenzuarbeiten.« »Er ist also wirklich der neue Pianist, ja?« Noch hatte sie ein bisschen Hoffnung auf eine überraschende Kehrtwende. »Ja, leider. Er hat den Vertrag schon unterschrieben gehabt, bevor ich überhaupt etwas verhindern konnte.« Puff - und die Hoffnung war zu Staub zerfallen. »Verdammt …« »Eigentlich brauchst du dich gar nicht beschweren. Dir geht er wenigstens nur einmal die Woche auf den Sack, wenn’s hochkommt. Ich habe ihn fast rund um die Uhr am Arsch kleben und muss nett zu ihm sein, also hast du es eh noch gut.« Moira bemühte sich nicht, ihren Unmut und den Neid darüber zu verbergen. Schwerfällig ließ sie sich auf den gegenüberliegenden Stuhl fallen und stützte ihren Kopf mit der Hand ab. »Ich weiß gar nicht, wie ich das anstellen soll. Unten musste ich mit ihm und Johnny sogar schon anstoßen und meine Freude über sein Dasein heucheln, obwohl er mich innerhalb von zwei Minuten schon beleidigt hat.« Stellar verzog mitleidig das Gesicht. Dylans Verhalten war ihr nur allzu vertraut. »Deswegen der Schampus?« »Japp.« »Oh, Mann … Aber dann verstehst du jetzt vielleicht meine Situation mit ihm?« »Nein, ehrlich gesagt nicht. Für mich sind das zwei Paar Stiefel. Ich muss nett zu ihm sein, weil ich mit ihm zusammenarbeiten muss und weil das mein Job von mir verlangt. Du bist nett zu ihm, weil du Chris einen Gefallen tun willst und das ist in meinen Augen nach wie vor Blödsinn.« Stellar seufzte und entschied sich, das Thema genauso schnell zu beenden, wie sie es angefangen hatte. »Was hat Johnny eigentlich dazu gesagt?« »Johnny?« Moira schnaubte auf. »Vergiss es. Der ist so in seinen neuen Schützling verliebt … Er hat ihm sogar noch meine Hilfe angeboten, falls er doch noch ein paar Fragen haben sollte.« Spätestens jetzt gestand sich Stellar ein, dass ihre Freundin es wirklich schlimmer getroffen hatte, als sie. »Und was willst du jetzt machen?« »Keine Ahnung. Es hinnehmen und das Beste draus machen, schätze ich. Was anderes bleibt mir eh nicht übrig.« Da hatte sie wohl Recht, leider. »Ich würde dir gern sagen, dass es gar nicht so schlimm werden wird, aber … du weißt ja, ich habe auch meine Kämpfe mit ihm.« Moira erwiderte ihr bitteres Lächeln und strich ihr dankbar über den Arm. »Ich weiß, Schätzchen. Ich weiß … Ich muss aber versuchen, mit ihm auszukommen. Wir sind jetzt Kollegen, ob ich will oder nicht, und ein Krieg mit ihm wird daran auch nichts ändern.« Stellar verstand, was sie meinte. Streitereien mit Dylan waren nicht ohne. Ihr selbst schlugen sie oft auf den Magen, brachten sie sogar zum Weinen und dass Moira darauf verzichten wollte, war nur verständlich. »Warten wir erstmal ab, vielleicht wird es ja wirklich nicht so schlimm.« »Hoffen wir’s …«, sagte Moira und seufzte schwer. Dann plötzlich wurde ihre Miene hart und Entschlossenheit blitzte in ihren Augen auf. »Aber das eine sage ich dir: Wenn er sich wieder über dich lustig macht, mach ich ihn persönlich zur Schnecke, das schwör ich dir!« Stellar schmunzelte. Es war ungemein beruhigend, dass Moira trotz der neuen Umstände sich nicht entmutigen ließ und ihr auch weiterhin den Rücken stärkte. »Aber weißt du«, murmelte sie und schwenkte ihren Kopf zu Dylan. »Gespannt bin ich ja schon, ob er wirklich so gut ist, wie Johnny sagt. Er hat ganz schön mit ihm angegeben.« Stellar tat es ihr gleich. Er saß immer noch reglos vor dem Flügel, die Hände auf den Tasten liegend. »Musst du nicht zu ihm rauf?« Moira zuckte mit den Schultern. »Er hat gesagt, er will sich erst Warmspielen.« Stellar hob skeptisch eine Augenbraue. »Muss man dafür nicht auch … na ja … eben spielen?« Wie auf Kommando erklang der Flügel. Helle, zarte Töne stiegen aus ihm empor, harmonierten ineinander und fügten sich zu einer ruhigen, melodischen Einheit zusammen. Diese Melodie … Keine zehn Töne hatte sie gebraucht, um sie wiederzuerkennen: Die Filmmusik aus „Amélie“. Ein Kälteschauer überrannte sie, bis in die Haarspitzen. Seine Version war dicht an Yann Tiersens Originalkomposition dran. Lediglich die winzigen, improvisatorischen Elemente, die er hier und da einstreute, machten den feinen, aber entscheidenden Unterschied. Stellar schloss die Augen und atmete tief durch. Dylan dabei zuzusehen, wie er am Flügel dieses Stück spielte … Es war faszinierend und gruselig zugleich. „Amélie“ gehörte zu ihren Lieblingsfilmen und auch Moira zählte ihn zu ihren persönlichen Favoriten. Ein wirklich … fieser Zufall, wie sie fand. Auf der ganzen Welt waren inzwischen Milliarden Lieder geschrieben und abertausende von Klavierstücken komponiert worden, die er in diesem Moment an dessen Stelle hätte spielen können. Und er suchte sich ausgerechnet dieses Stück aus. In ihrem Hals schwoll ein abnorm großer Kloß an, der unangenehm gegen ihren Kehlkopf drückte. Obwohl die Musik sie so berührte, dass sie Gänsehaut davon bekam, war ihr diese Situation und das ganze Drumherum unheimlich, mischte einen giftigen Beigeschmack unter jede gespielte Note. Und es machte sie nervös … Der Höhepunkt des Stücks war erreicht und Stellar öffnete instinktiv die Augen. Sein Oberkörper wog mit der Musik mit, wie sie es schon mal bei Pianisten im Fernsehen gesehen hatte. Ein wirklich befremdliches Bild. Es kam ihr beinahe so vor, als spielte er die Musik nicht, sondern fühlte sie … Schließlich wurde sein Spiel langsamer, leiser, bis der letzte Akkord verstummte. »… warm genug gespielt?« Stellar schreckte innerlich auf und sah irritiert zu Moira. Sie hatte gar nicht mitbekommen, dass sie aufgestanden und vor zur Bühne gegangen war. »Eigentlich nicht«, entgegnete er, nahm die Hände von den Tasten. »Nach meiner Uhr sind die zehn Minuten noch nicht rum.« »Ja, mag sein. Ich möchte trotzdem jetzt mit dem Proben anfangen.« Stellar kicherte leise, aber boshaft. Gut so, Moira. Zeig’s ihm nur. »Na schön … Also, was soll’s sein?« Moira ließ sich Zeit mit ihrer Antwort, stieg gemächlich auf die Bühne und stützte sich am anderen Ende des Flügels mit den Unterarmen darauf ab. »Was kannst du denn?« »Bestimmt mehr, als du mir zutraust.« »Aha …« Wahrscheinlich hätte Stellar auch nicht mehr dazu gesagt. »Na ja, wenn das so ist … dann spiel mal los.« »… und was?« »Keine Ahnung, such dir was aus. Du bist doch der Meister-Improvisierer.« »Improvisateur.« »Wie auch immer …« Seine Schultern hoben und senkten sich – ein Seufzen. »… völlig egal was?« »Na, es sollte zumindest etwas sein, worauf ich singen kann.« Dylan schwieg nun und kratzte sich am Kinnbart, schien nachzudenken. Moiras und Stellars Blicke trafen sich. Ein kurzes, beiderseitiges Nicken und alles war gesagt: Wollen wir doch mal sehen, ob er wirklich so gut ist, wie Johnny behauptet. »Wie wär’s damit?«, fragte er, zog damit die Aufmerksamkeit zurück auf sich und klimperte auch schon drauflos, diesmal einhändig im tieftönigen Bereich. Zuerst klang es ein wenig zusammenhangslos, vor allem sein arrhythmisches Schnipsen dazu war irritierend – bis Stellar an den Wiederholungen schließlich erkannte, was er spielte. Ist das etwa …? Ihr Herz blieb stehen und fiel aus ihrem Brustkorb wie verdorbenes Fallobst aus der Baumkrone. Das konnte kein Zufall sein, das konnte es einfach nicht. Eartha Kitt war eine begnadete Jazzmusikerin, aber sie war in der heutigen Zeit weder so bekannt wie beispielsweise Frank Sinatra oder Louis Armstrong, noch war das ihr bekanntester Song. »Ist das „My Discarded Men“?«, fragte Moira und war ebenfalls sichtlich überrascht, als sie den Song erkannte. Dylan grinste nur. »Wusste ich doch, dass du ihn kennst. Dann kannst du ja auch dazu singen.« Stellar spürte, wie ihr die Farbe aus dem Gesicht wich. Der Geschmack von Galle überzog filmartig ihre Zunge. Woher? Woher kannte er dieses Lied? Hilfesuchend sah sie zu Moira – nur um festzustellen, dass diese ihr nicht helfen konnte. In ihrem Gesicht tanzte ein riesengroßes, bleiches Fragenzeichen. Dann verstummte abrupt der Flügel. »Hallo? Ich dachte, du wolltest dazu singen. Ich spiele hier nicht für mich alleine.« Moiras Kopf schnellte zu ihm zurück. »Was?« »Wenn du nicht singst, bringt das ganze Proben nichts, da kann ich auch alleine auftreten.« Moira zog die Augenbrauen zusammen und machte ein finsteres Gesicht. »Entschuldige mal bitte, aber zufälligerweise war ich noch nicht soweit! Außerdem ist Eartha Kitt nicht gerade einfach. Die schüttelt man sich gesanglich nicht mal eben aus dem Ärmel, nur weil jemandem gerade danach ist.« »Heißt das, du kannst es nicht oder willst du nur nicht?« »Natürlich kann ich?!« »Na dann los! Du wolltest proben, also sing auch, wenn dein Einsatz kommt.« Stellar rutschte tiefer in ihren Stuhl und versuchte sich so unauffällig wie möglich die Ohren zuzuhalten. Panik fraß sich quer durch ihre Eingeweide und eine kalte Schweißperle rann ihre Schläfe hinunter. Sie wollte gar nicht hören, wie sie zusammen klängen. Bei seiner Variation von Amélies Soundtrack hatte sie schon nicht gewusst, wie sie damit umgehen sollte und die Tatsache, dass es sich gleich um einen Song von Eartha Kitt, ihrer persönlichen Queen des Jazz handelte, jagte ihr eine Heidenangst ein. Er jagte ihr eine Heidenangst ein und er tat es mit einer Gelassenheit, als wäre es so harmlos wie Zähneputzen. Am liebsten würde sie dort hochsteigen, ihm die Klaviaturklappe auf die Finger knallen und einfach abhauen, dann wäre Dylan außer Gefecht gesetzt und der Spuk vorbei. Nur wirklich nützen würde es nichts. Zum einen stünde ihre beste Freundin wieder ohne Pianisten da und zum anderen hätte sie bestimmt noch eine Schmerzensgeld- und Schadensersatzklage von Dylan am Hals. Folglich war beides Grund genug, es nicht zu tun. Gott, wenn sie gewusst hätte, was sie heute erwarten würde … Sie wäre im Bett geblieben, hätte sich die Decke über den Kopf gezogen und auf den nächsten Tag gewartet. Die Zeigefinger in den Ohren halfen überhaupt nicht. Sein Spiel und seine Schnipserei waren trotzdem zu hören, nicht mal ihr rasender, lautstarker Puls übertönte es. Wenn Moira gleich noch anfangen würde zu singen, dann –   I'd like to tell a little story that's been told time and time again About the foolish men who chased me My discarded men …    Stellars Magen krampfte. Es hatte keinen Sinn. Resigniert nahm sie die Finger aus den Ohren und ließ ihre Hände auf den Schoß sinken. »Ha! Ich wusste es, die beiden sind großartig zusammen!« Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen. War sie heute wirklich so schreckhaft oder schlichen sich die Leute an sie ran? Erst Moira, jetzt Johnny … Wenn das so weiterging, kam sie heute noch unter die Erde. »Unten im Lager hat es ja schon gut geklungen, aber hier oben ist es fantastisch, ein Traum! Genau so jemanden hat meine kleine Moira gebraucht.«   They used to tell me they loved me But I knew better than them I'd find them looking around the corner My discarded men …   Gleich wurde ihr speiübel. Als sie zu Johnny rüber sah, entdeckte sie im Augenwinkel die Sektflasche. Sie hätte Moiras Ratschlag beherzigen sollen, als sie noch eine bessere Gelegenheit dazu gehabt hatte, aber die Situation war, wie sie war. »Johnny, bringst du mir ein Glas?« Doch Johnny rührte sich nicht, musterte sie stattdessen besorgt. »Ist alles okay mit dir?« »Alles prima. Bring mir einfach nur ein Glas.« Er zögerte, doch er kam ihrer „Bitte“ nach, brachte es sogar mit Inhalt. »Hier, ein Wasser. So blass, wie du aussiehst, kannst du das eher vertragen.« Wenn er doch nur wüsste … Was soll’s. Beherzt griff sie nach dem Glas und trank das Wasser in einem Zug leer. Dann schnappte sie sich die Flasche am Hals und füllte mit Schampus nach. »… und du bist dir sicher, dass das eine gute Idee ist?« Stellar war Johnnys lieb gemeinte Ermahnung egal. Sie war eine erwachsene Frau und brauchte jetzt etwas, das ihr ordentlich die Sinne matschig machte, anders ertrug sie das hier sonst nicht. Und dieser Sekt hatte die Eigenschaft, genau das zu tun. An den Lippen angedockt schüttete sie sich so viel davon in den Mund, dass sie Pausbacken machen musste, um alles drin zu behalten. Ein wenig hoffte sie ja darauf, dass sie Schluck für Schluck durch das beißende Prickeln den lästigen Kloß im Rachen loswurde, der inzwischen schmerzhaft ihren Kehlkopf massierte; was nicht geschah. Natürlich nicht. Warum sollte sie heute auch nur in einer einzigen Sache Glück haben? Schlimmer konnte es wirklich nicht mehr werden. »Ich glaube, die zwei werden ein gutes Team.« »Ach ja? Und was macht dich da so sicher?« »Schau dir die Zwei doch mal an. Besser könnte es nicht laufen.« Stellar kam seiner Aufforderung nach und sah zur Bühne auf. Sie verstand erst nicht, was er ihr sagen wollte, doch als Moira ihren Kopf zu Dylan nach hinten drehte, sah sie es auch: Sie lächelten einander an. Was zum …? »Sieht so aus, als ob sie sich mögen.« Von wegen. Mit Mögen hatte das ganz und gar nichts zu tun. Stellar kannte Moiras Lächeln und wusste sie auch in ihren Bedeutungen zu unterscheiden. Dieses Lächeln, das sie ihm gerade zuwarf, hatte nichts von mögen. Seine Bedeutung war viel erschreckender: Sie … flirtete mit ihm. Und er erwiderte es. Sofort wandte sich Stellar wieder ihrem Glas zu und schüttete nach. »Hey, hey, hey! Mach mal langsam, Mädchen!« »Johnny, lass mich einfach, okay?« »Ehrlich, ich glaube nicht, dass das so gut ist.« Anstatt ihm zu antworten kippte sie sich auch von diesem Glas wie zuvor so viel wie möglich auf einmal in den Mund.   You think you can win me And be my special friend Just take a tip from the others Hrrr ...   Der letzte Schluck war teuflisch. Während sie sich die Flüssigkeit die Kehle hinabzwang, stieg gleichzeitig die Kohlensäure wieder auf – und forderte, wovor Johnny sie wahrscheinlich warnen wollte. Mit der Hand auf dem Mund gepresst hechtete sie aus dem Sitz, stürmte die Wendeltreppe hinunter direkt in die Damentoilette, beugte sich über das Waschbecken und erbrach, was eben erst in den Magen gefunden hatte. In eine der Kabinen hätte sie es beim besten Willen nicht mehr geschafft. Sie konnte von Glück reden, dass sie ihre Haare samt dem Pony noch rechtzeitig aus dem Gesicht halten konnte. Der säuerliche Gestank, der ihr in die Nase stieg, war absolut ekelhaft. Galle gemischt mit Kohlensäure, die im Porzellan nachprickelte … Bevor es noch einen weiteren Brechreiz auslöste, drehte sie den Wasserhahn auf und spülte den Rest im Becken davon. Um gleich noch den Geschmack loszuwerden, nahm sie aus dem Wasserstrahl einen Mund voll Leitungswasser, gurgelte es ausgiebig und spuckte es wieder aus. Dann drehte sie den Hahn wieder zu. Schlecht war ihr immer noch und das nicht nur wegen dem Sekt. Die beiden Musikgenies da oben trugen auch ihren Teil dazu bei. War vorhin nicht von „miteinander auskommen“ die Rede gewesen? Ihrer Meinung nach zählte „miteinander flirten“ nicht dazu. Und dann war er da. Der Gedanke, der sie mehr ängstigte, als alles andere. In ihren Ohren begann es zu dröhnen, rechts kündigte sich ein Tinnitus an. Was, wenn es nicht beim Flirten blieb? Was, wenn sie … Jetzt war ihr richtig schlecht. Egal, ob Freundschaft, Freundschaft Plus oder Beziehung. In welche Richtung es auch ging, alle drei Varianten hatten zur Folge, dass sie Dylan rund um die Uhr ertragen musste, auch bei sich zuhause. Ihrem letzten Rückzugsort. Und noch schlimmer: Sie müsste sich dann nicht nur mit ihm um Chris, sondern auch um Moira streiten. Ihr Magen rumorte wie ein zum Leben erweckter Vulkan, drohte auch als ein solcher wieder auszubrechen. Der Kerl reißt sich systematisch meine ganzen Freunde unter den Nagel … Mit lautem Quietschen öffnete sich langsam die Tür zur Damentoilette. »Hey. Ist … alles in Ordnung bei dir?« Na toll. Dieser Tag entpuppte sich wirklich zum schlimmsten in ihrem ganzen Leben. Hing ihr ein Zettel am Arsch, auf dem „quäl mich“ stand, oder warum war Dylan hier? Er war der Letzte, den sie jetzt sehen wollte. »Lasciami in pace.« »Äh, okay … Klingt wohl nicht so danach.« »Fuori!« Langsam kam er ihr näher. »Kann ich dir irgendwie helfen?« Schlagartig verwandelte sich ihre Angst in Zorn und die Lunte brannte bereits. »Stai zitto e vattene!«, fauchte sie und sah ihn so böse an, wie sie nur konnte. Dylan blieb stehen, zog unsicher den Kopf etwas zurück – aber mehr auch nicht. Stellars Synapsen knallten durch. Vor Wut schnaubend kam sie auf ihn zu, stellte sich vor ihm auf die Zehenspitzen und ließ einen derartigen Schrei in sein Gesicht los, dass selbst seine Haare zurückwichen. »STRONZO! STAI ZITTO E VATTENE!« Ihre Worte waberten einige Sekunden als Echo durch den Raum, dann war es mit einem Mal mucksmäuschenstill. »Puh, okay … Weißt du … nur weil du lauter wirst, bedeutet das noch lange nicht, dass ich dich besser verstehe.« »OOOH DIO!« Stellar raufte sich wie wild geworden die Haare. »NON PUOI NEMMENO IMMAGINARE QUANTO TI ODIO!« »Hör doch mal mit deinem italienischen Gequatsche auf und sag mir, was du willst, Mann! Und zwar so, dass ich es auch verstehe!« »Was ich von dir will?« Stellar holte aus und schubste ihn Richtung Ausgang. »Hey!« »Verschwinde endlich, verstanden?« Tränen rannen ihr Gesicht herunter, von denen sie nicht einmal gemerkt hatte, dass sie da waren; es war ihr egal. »Du! Du bist an allem schuld, okay? Du mit deinen vollkommen verblödeten Ideen machst einfach alles kaputt! Alles, was mir wichtig ist, nimmst du mir weg! Du zerstörst mein Leben und checkst es nicht mal! Nee, dir macht es auch noch Spaß!« Fahrig wischte sie sich mit dem Unterarm die Wangen trocken. »Gott, du hast echt keine Ahnung, wie sehr ich dich hasse, ehrlich …« Dylan stand da, schwieg und sah auf sie herunter. Verwirrung lag in seinem Gesicht, doch in seinen Augen spiegelte sich Mitleid wider. Kein Entsetzen, keine Reue. Nur Mitleid; das, was sie von ihm am wenigsten haben wollte. »VERDAMMT NOCHMAL, JETZT HAU ENDLICH AB!«, brüllte sie und schubste ihn erneut. Doch während er einen Schritt nach hinten taumelte, packte er sie blitzschnell an den Handgelenken und hielt sie fest. »Okay, stopp. Auszeit.« »LASS MICH LOS!« Sie riss an ihren Armen, zog und zerrte daran, doch an dem Griff lockerte sich nichts, im Gegenteil. Er packte nur noch fester zu. »Du tust mir weh, verdammt!« »Dann hör auf dich zu wehren und es tut nicht mehr weh.« Sie dachte gar nicht daran. »Lass los!« »Nein, jetzt hörst du mir mal zu!« Er riss ihre Arme nach oben, kam ihr mit seinem Gesicht ganz nah und sah ihr tief in die Augen. »Was ist bitte los mit dir? Ich habe dir nichts getan und du führst dich hier gerade auf wie ein tollwütiges Rumpelstilzchen! Wegen nichts!« Stellar drehte den Kopf weg, hörte auf sich zu wehren. Der leichte Alkoholgeruch, der ihr aus seinem Mund entgegenwehte, verstärkte ihre Übelkeit und ihre Gegenwehr machte es noch schlimmer. Es hatte keinen Sinn ihm zu erklären, warum sie weinte, warum sie wütend war und Angst hatte. Er würde es eh nicht verstehen. »Was machst du hier überhaupt?« »Es gibt hier Leute, die sich Sorgen um dich machen, mich eingeschlossen.« Pff, na klar. Er machte sich Sorgen? Den Mist konnte er jemand anderem erzählen. »So, wie du auf einmal abgehauen bist … Ich dachte, es ist besser, wenn ich nachschaue, ob bei dir alles in Ordnung ist.« Stellar schnaubte verächtlich auf. »Ausgerechnet du.« »… Hä?« »Du bist doch erst schuld daran!« »Häh? Wovon redest du bitte?« »Es gibt in Clayton was weiß ich wie viele Bars, wo du arbeiten kannst! Warum musst du das ausgerechnet hier –« Sie stockte, sog scharf die Luft ein und hielt sie an. Die Magensäure hatte überraschend die Barriere zur Speiseröhre überwunden und kroch nun unaufhaltsam höher und höher. »Was …? Oh, shit!« Dylan bemerkte es zu Stellars Erleichterung gerade noch rechtzeitig und schaffte sie zu den Waschbecken, bevor sie sich selbst vollspie. Es war zwar nicht viel, was sie hervorwürgte, aber das Bisschen war genug, um diesen Streit fürs Erste auszusetzen. »Das war knapp …«, sagte er und atmete erleichtert auf. Stellar antwortete ihm nicht. Ihr war zu schlecht, um sich einen geistreichen Konter zu überlegen. Hektische Schritte hallten vom Flur zu ihnen vor, Moiras Schritte. Als einzige unter ihnen mit High-Heels erkannte sie sie gleich. Nicht auch noch du … Bestimmt war sie von der Schreierei beunruhigt und dachte, sie bräuchte Hilfe. Als Moira die Damentoilette erreicht hatte und im Türrahmen stand, musste Stellar nicht hinsehen um zu wissen, dass sich auch in ihrem Gesicht Mitleid widerspiegelte. Das anzutreffende Szenario war ja auch überhaupt nicht demütigend: Sie selbst, wie sie reiernd über dem Waschbecken hing und Dylan, der neben ihr stand und ihre Haare zusammengefasst nach oben hielt. Mit zittriger Hand drehte sie den Wasserhahn auf und spülte Mund und Waschbecken mit Wasser aus, den Blick dabei fest auf den Abfluss fixiert. Auch, als Moira zu ihr kam und ihr tröstend über den Rücken strich, traute sie sich nicht, sie anzusehen. Die ganze Sache war ihr nur noch peinlich. In dieser Form im Mittelpunkt aller Anwesenden zu stehen war nicht der Plan gewesen. »Moira? Was hältst du davon, wenn wir die Probe verschieben? Ich würde sie gern nach Hause bringen.« Nach Hause bringen? Er? Nein, auf gar keinen Fall! »Ich habe gerade dasselbe gedacht. Ich sag nur schnell Johnny Bescheid.« Wie bitte? Seit wann entschieden andere Leute über ihren Kopf hinweg, was mit ihr passieren sollte? »Nein!«, warf Stellar ein und drehte sich hastig um. »Nein. Ehrlich, das muss wirklich nicht sein. Mir geht’s gut.« »Du hast mir fast vor die Füße gekotzt«, entgegnete Dylan, hob eine Augenbraue und sah sie ungläubig an. »Ja, schon. Aber … jetzt geht’s wieder.« »Red doch keinen Quatsch. Pack deine Sachen, ich bringe dich nach Hause«, befahl Moira und zog an ihrem Arm Richtung Ausgang. Stellar aber schaffte es sich herauszuwinden. »Ernsthaft, niemand muss mich nach Hause bringen. Außerdem habe ich versprochen, dass ich mitkomme und dich heute unterstütze, und–« »Du bist mir aber keine Hilfe, wenn du hier unten nur über der Schüssel hängst! Also hör jetzt mit dem Kindergarten auf und pack zusammen! Wir gehen nach Hause.« Das hatte gesessen. Ihr jetzt noch zu widersprechen würde Moira nur wütend machen, aber nichts helfen. »Kannst du laufen?« Dylan erntete für diese Frage einen düsteren Seitenblick. »Mir fehlt kein Bein?!« »Nee, das vielleicht nicht, aber dein Frühstück auf jeden Fall.« Hätte sie es ihm doch nur über seine weißen Sneakers verteilt …   Stellar hatte geahnt, dass Johnny alles andere als begeistert sein würde, wenn er erfuhr, dass die Probe wegen ihr und ihrem schlechten Zustand verschoben werden sollte. So vorwurfsvoll, wie er sie dabei ansah, führte er ihn vermutlich auf ihren fragwürdigen Umgang mit dem Alkohol zurück und dass er dafür kein Verständnis aufbringen wollte, war für sie vollkommen nachvollziehbar. Trotzdem musste er zugeben, dass es keinen Sinn machte von einer Probe zu sprechen, wenn Stellar währenddessen von der Hälfte der Beteiligten nach Hause begleitet wurde. Deshalb vertagte er zähneknirschend die Probe auf morgen und wünschte ihr eine gute Besserung. Stellar fühlte sich furchtbar. Die Probe war versaut, Johnny sauer und Dylan konnte sie dafür noch nicht mal die Schuld geben. Dieses Resultat war ganz allein ihr Verdienst und so fest, wie Moira sie am Arm packte und aus dem Jazz‑Club führte – mit Dylan im Gefolge -, musste sie wohl ähnlich denken. Ansehen ließ sie sich das jedoch nicht; ihr Gesicht war das perfekte Pokerface. »Danke nochmal, dass du dich um sie gekümmert hast«, sagte sie und schüttelte Dylan die Hand. »… hätte ich dir gar nicht zugetraut.« »Ja, das hör ich öfter.« Irgs. Sein lasziver Unterton und sein dämliches Grinsen waren genauso widerlich wie Moiras pubertäres Kichern. »Schafft ihr das denn allein, zu zweit?« »Ja, ich denke schon. Wir wohnen ja nicht weit weg. Maximal eine Viertelstunde die Straße runter«, erklärte sie und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Ach so? Ist ja witzig, meine Bushaltestelle liegt auch auf dem Weg.« Auch das noch … Stellar schloss die Augen und bettelte im Stillen um einen Gnadenschuss. Konnte ihr bitte jemand diesen Wunsch erfüllen? Sie hielt diesen Typen einfach nicht mehr aus, von dem Gesäusel zwischen den beiden ganz zu schweigen. Ihr Magen gurgelte, diesmal aber so heftig, dass es direkt schmerzte. Sie wollte weg von Dylan, weg von der Quelle, die ihren Zustand erst verursacht hatte und hin zu ihrer Wohnung, ihrem Zimmer. Zu ihrem Ort der Sicherheit, solange es das noch war. „Nach Hause“ klang auf einmal so schön … Sie wand sich erneut aus Moiras Griff und setzte sich einfach in Bewegung. »Hey, warte mal–« »Ist schon okay, Moira. Ich schaff das schon«, keuchte sie und schleppte sich nach vorn gekrümmt und mit einer Hand auf dem Bauch den Heimweg entlang. Moira musste sie vorher wirklich gut abgestützt haben, so wie sie dabei rumeierte. Nach nicht mal fünfzehn Schritten musste sie stehenbleiben und sich an einer Laterne abstützen, weil ihre puddingweichen Knie sie nicht mehr sicher tragen konnten. »Ich habe doch gesagt, du sollst warten«, mahnte Moira ernsthaft besorgt und kam schon zu ihr geeilt. »Ich stütz dich doch.« »Ich krieg das aber auch alleine hin.« »Ja, das sieht man, ganz eindeutig«, bemerkte Dylan abfällig und schloss zu ihnen auf. Während er verständnislos den Kopf schüttelte, stellte er sich vor sie, wandte ihr den Rücken zu und ging in die Hocke. »Na komm, spring auf.« Stellar sah ihm nur ratlos auf den Rücken. Was sollte das werden? »Na los, spring auf. Ich trag dich.« Was?! »N-nee nee, schon gut. Das muss wirklich nicht–« »Jetzt mach schon, sei nicht so stur! Du kommst doch alleine keinen Meter weit.« Auch Dylan sah sie über die Schulter hinweg auffordernd an. Stellar gab es wirklich ungern zu, doch Moira hatte recht. Ohne Hilfe schaffte sie es nicht mal mehr bis zur nächsten Straßenseite und Dylan war der einzige von ihnen, der die nötige Kraft und Ausdauer hatte, sie bis nach Hause zu tragen. Es kostete sie enorme Überwindung, auf Dylans Rücken zu klettern, doch sie tat es. Jetzt auf ihren Stolz zu hören, wäre vielleicht eine Entscheidung gewesen, die sie später bereut hätte. Das hoffte sie zumindest. »Gut festhalten.« Zögerlich schlang sie ihre Arme um seinen Hals und Dylan stand vorsichtig, mit ihr als Mensch gewordenen Rucksack wieder auf. »Eins muss man dir wirklich lassen: Mit dir wird es nie langweilig.« Stellar fand es besser, nichts darauf zu sagen. Ihr war nicht nach Scherzen zumute und davon abgesehen hatte sie gerade ganz andere Probleme. Während des gesamten Nachhausewegs sprachen weder Moira noch Dylan je ein Wort mit ihr. Vielmehr unterhielten sie sich untereinander, tauschten ihre musikalischen Erfahrungen aus und überlegten, welche Stücke sie gemeinsam am besten performen könnten. Frieden lag in der Luft. Frieden und für Stellar noch etwas anderes. So dicht an seinem Hals drängte sich ihr unweigerlich Dylans Aftershave auf. Oder war es sein Parfum? Es roch jedenfalls angenehm nach Kernseife, nach Milch und einer Spur Orange. Ein wahrer Segen für ihre Nase. Sie hatte schon befürchtet, dass sich der Geruch von Erbrochenem in ihre Nasenschleimhaut eingebrannt hatte und sie nie wieder losließ. Noch besser aber war, dass sich selbst ihr Magen davon zu erholen schien, auch die Übelkeit hatte nachgelassen. Vielleicht lag es auch einfach an der frischen Luft. Was es auch immer war, sie war froh, dass es ihr besser ging. »So, wir sind da.« Huch? Waren sie etwa gesprintet? Sie blickte an Dylans Kopf vorbei und tatsächlich: Sie standen vor ihrer Haustür. Getragen zu werden musste irgendwie das Zeitgefühl täuschen. Dylan ging langsam in die Hocke, setzte Stellar vorsichtig ab. »Bei dir alles okay?« Stellar nickte nur, strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und huschte zu Moira, die gerade die Tür aufsperrte. Eigentlich verlangte es der Anstand, dass sie sich jetzt bei ihm bedankte. Das wusste sie auch, aber sie bekam die Zähne nicht auseinander. Nicht mal Moiras rügender Blick brachte sie dazu, den Mund aufzumachen. »… na gut, dann werd’ ich mal. Wir sehen uns ja dann morgen, oder?« Von Moira war nur ein enttäuschter Seufzer zu vernehmen, ehe sie sich zu ihm umdrehte: »Können wir dir vielleicht einen Kaffee anbieten oder einen Tee? So als kleines Dankeschön.« Stellar riss die Augen auf und sah Moira entsetzt an. Doch entgegen ihrer Erwartung verzog Dylan zweifelnd das Gesicht. »Hmm, ich weiß nicht. Mein Bus kommt bestimmt gleich und Stellar sieht auch nicht gerade begeistert aus.« »Ach, jetzt komm schon. Gib uns ’ne Chance, uns bei dir zu revanchieren. Außerdem geht Stellar bestimmt eh gleich ins Bett. Stimmt’s?« Oh ja, diesen aggressiven Unterton kannte sie nur zu gut. Moira war definitiv sauer – und sie hatte recht: Besser, sie stünde nicht länger als nötig in seiner Schuld. »Also«, krächzte sie heiser und räusperte sich, bevor sie weitersprach. »I-ist schon okay. Ich wollte eh gleich ins Bett und … wie gesagt, ist kein Problem.« Dylan musterte sie skeptisch, hob seine vernarbte Augenbraue. »Okay …« »Sehr schön. So gefällt mir das«, sagte Moira und stieß die Haustür auf. »Dann mal rein in die gute Stube.« Stellar kam als Erste ihrer Aufforderung nach und folgte ihr ins Treppenhaus, Dylan als Letzter. Gemeinsam ließen sie sie die Briefkästen hinter sich, stiegen die wenigen Stufen ins Hochparterre hinauf und kaum stand die Tür zu ihrem Zuhause offen, verschenkte Stellar nicht eine Sekunde. Sie drängte sich an Moira vorbei, murmelte noch ein schwer verständliches »Gute Nacht« vor sich hin und steuerte direkt auf ihr Zimmer zu. Sie wollte weg. Weg von ihm, von ihr und dieser abstrusen Situation. »Soll ich dir auch einen Tee machen oder–« »Nee, danke. Gute Nacht.«   Klack.   Dieses vertraute Geräusch einer sich schließenden Tür … Stellar lehnte sich mit dem Rücken dagegen und schloss die Augen. Endlich. Endlich war sie sicher. Sicher vor dem Narbengesicht und seinen irritierenden, zwei unterschiedlich farbigen Augen. Sicher vor dem Rotschopf und seiner passiven Aggressivität in jedem Satz. Sie war hier drin, alles andere draußen. Je öfter ihr diese Tatsache durch den Kopf ging, desto tiefer bohrte es sich in ihr Bewusstsein und mit jedem Mal fiel eine tonnenschwere Last von ihr ab. Endlich hatte ihr Brustkorb wieder Platz und weitete sich, Luft strömte in ihre sauerstoffdurstigen Lungen und sie atmete. Sie atmete tief ein und aus, bis auch ihr Herz verstand, dass es keinen Grund mehr gab, so schnell zu schlagen. Was war das bloß für ein grausamer Tag … Kapitel 12: Alles auf Anfang ---------------------------- Dunkle, schwere Wolken zogen über den Dächern hinweg, verschluckten erbarmungslos jeden Sonnenstrahl und tauchten das sonst so farbenfrohe Clayton in ein tristes, schattenloses Grau. Bäume warfen ihr Blätterdach hin und her, der Wind pfiff durch Tür- und Fensterritzen und brachte so die Kälte ins Haus. Noch regnete es nicht. Doch das bedrohliche Grollen, das aus der Ferne immer näher rückte, machte unmissverständlich klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die düstere Wolkendecke aufriss und sich über der Stadt ergoss. Stellar konnte das nahende Unwetter schon riechen – jedenfalls so lange, bis der Duft von frisch aufgebrühtem Kamillentee ihn übertünchte, der den Weg aus der nahegelegenen Küche in ihr Zimmer gefunden hatte. Durch den hauchdünnen Spalt zwischen Tür und Rahmen schlüpfte er hindurch, quetschte sich durchs Schlüsselloch; genau wie das dumpfe, verwaschene Geschwätz der beiden anderen. Seit mehr als einer Stunde schon hörte sie Dylan und Moira bei ihrem vergnüglichen Kaffeekränzchen zu, auch wenn sie nicht ein Wort von dem verstand, was sie sagten – musste sie auch gar nicht. Oft genug wurde es durch feuchtfröhliches Gegacker unterbrochen und machte ihr auch so deutlich, dass sie sich prächtig amüsierten. Schwer seufzend wandte sie sich vom Fenster ab und schloss die Augen, presste das Kopfkissen fester an sich und vergrub ihr Gesicht darin. Eigentlich müsste es ihr längst besser gehen. Immerhin war ihre Übelkeit vollständig verklungen, ihre Panik endlich verpufft – doch nun bohrten sich unzählige, messerscharfe Krallen quälend langsam in ihr Gewissen und drohten es in Stücke zu reißen. Nach dem Warum brauchte sie nicht zu fragen, sie kannte die Antwort bereits. Zeit, um sich darüber im Klaren zu werden, hatte sie schließlich genug gehabt. Und eben jene Antwort darauf war auch der Grund, warum sie sich nicht mehr aus dem Zimmer traute.   Es war nicht Dylan, der diesen Vormittag in einen Albtraum verwandelt hatte. Sie war es gewesen, sie ganz allein. Und das nur, weil sie lieber paranoiden Hirngespinsten Glauben schenkte, anstatt die Situation nüchtern zu betrachten. So viel Angst, so viel Panik – wegen nichts. Inzwischen hatte sie für alles eine plausible Erklärung gefunden, selbst für den Song von Eartha Kitt. Jetzt, wo sie die Situationen und Gedanken im Einzelnen näher betrachtete … Hätte sie das mal besser vorher getan. Ihr wäre wesentlich früher in den Sinn gekommen, dass Dylan Eartha Kitt höchstwahrscheinlich deswegen kannte, weil er verdammt nochmal in einem Jazz-Club arbeitete. Selbst sie wusste, dass ein gewisses Knowhow unerlässlich war, wenn man in solch einem Schuppen wie dem Swingy’s als Pianist arbeiten wollte. Bühnenerfahrung musste vorhanden sein, Wissen über das Genre selbst, Talent natürlich auch, die Beherrschung des Instruments … Johnny hatte all das sicher genauestens überprüft. Sie kannte ihn zwar nicht sonderlich gut, aber dass er furchtbar wählerisch und penibel sorgfältig in der Auswahl seines Personals war, das wusste sie durch Moira allemal. Dylan musste ihn von sich und seinem Talent überzeugt haben. Zweiteres stand ja auch außer Zweifel. Wenn man all dies berücksichtigte, war der Gedanke, dass er sich ihretwegen für „My Discarded Men“ entschieden haben könnte, völlig absurd und fernab jeder Realität. Woher hätte er denn von ihrer Vorliebe zu der Jazz-Ikone wissen sollen? Sie hatten nie darüber gesprochen und bei dem bisherigen Missstand zwischen ihnen wäre sie auch niemals auf die Idee gekommen, es ihm zu erzählen. Und genau deshalb, weil sie trotzdem zu dieser Schlussfolgerung gekommen war, schämte sie sich bis in die Steinzeit zurück. Aber diese Angelegenheit war nur ein winziger Tropfen der schwarzen Tinte, die ihr so rein geglaubtes Gewissen besudelte. Was nach ihrer Flucht zum Klo passiert war, war der eigentliche, tonnenschwere Stein im Innern, der sie zusammen mit Vorwürfen und Selbstzweifeln im Tintenglas ertränkte. Dylan war gar nicht auf Schikane aus gewesen. Er hatte ihr nur helfen wollen – und sie hatte es dank ihrer dummen Paranoia weder erkannt, noch wirklich zugelassen. Er fragte nach ihrem Wohlbefinden; sie griff ihn tätlich an und beschimpfte ihn aufs Übelste. Er hielt ihr die Haare zurück, als ihr Essen und Trinken aus dem Gesicht fielen; sie wünschte ihm die Pest an den Hals. Und als ob das nicht genug gewesen wäre, trug er sie schlussendlich noch nach Hause, weil sie es allein nicht mehr schaffte; und sie? Sie brachte dafür noch nicht mal ein „Danke“ zwischen den Zähnen hervor.   Wie gern würde sie gerade bei ihnen in der Küche stehen, ihnen versuchen alles zu erklären. Dass sie niemals solch ein Drama verursachen wollte, dass sie einfach mit der Situation überfordert gewesen war. Sie würde sogar versuchen, sich bei ihm für seine Hilfe zu bedanken und sich für alles Gesagte zu entschuldigen. Vor ein paar Wochen hätte sie das, was sie ihm heute an den Kopf geworfen hatte, noch ernst gemeint. Aber jetzt … Jetzt lag sie feige zusammengekauert auf ihrem Bett, mit dem Kopfkissen als Kuscheltierersatz und wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können. Für sie stand nun fest, wer von ihnen beiden wirklich ein hässlicher Mensch war. Hässlich im Umgang mit anderen. Hässlich im Charakter; es brauchte keine große Überlegung, zumal der heutige Vormittag gar kein anderes Resultat zuließ. Sie war es ja, die ihm in mehreren Sprachen an den Kopf warf, wie sehr sie ihn hasste. Sie war es, die ihn beleidigte und schubste. Sie war es, die es nicht fertigbrachte, sich für seine Hilfe zu bedanken. Und sie war es auch, die es nicht einmal jetzt schaffte, sich zu überwinden. Es gab keinen Zweifel: Sie war dieser hässliche Mensch, nicht er. Und genau das war der Grund, warum ihr Gewissen keine Ruhe gab und sie in ihrem Zimmer gefangen hielt.   Ein Blitz, ein ohrenbetäubendes Krachen und dann ein fieses, nachträgliches Donnergrollen. Zum Schluss leises Trommeln gegen die Fensterscheiben – es regnete. Endlich. Sie hatte schon darauf gewartet. Denn dieses Geräusch, das sie so liebte, war dazu in der Lage, ihr innere Ruhe zu verschaffen und ihren Kopf von unliebsamen Gedanken zu befreien. Mit etwas Glück brachte es das auch jetzt fertig. Vielleicht konnte es ja – »Stellar?« Stellar riss vor Schreck die Augen auf und ihren Kopf aus dem Kissen. Gott … So zart das Klopfen an ihrer Tür auch gewesen war: bei der Stille im Raum und im Vergleich zum Regen kam es einem Signalhorn beim Football gleich. »Schläfst du noch?« Hastig setzte sie sich auf. »N-nein …« Die Tür ging auf und Dylan kam herein, in seiner Hand eine Tasse balancierend. Der Dampf, der von ihr aufstieg, intensivierte den Kamilleduft im Zimmer. »Hey.« »Hey …« »Darf ich reinkommen?« Stellar nickte, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und knautschte das Kopfkissen fester an ihre Brust. Langsam schritt er näher und stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab. »Geht es dir besser?« Sie zuckte mit den Schultern, dann nickte sie wieder. »Schön. Ja, manchmal hilft einfach nur ’ne Mütze Schlaf.« »Ich … hab nicht geschlafen.« »Oh.« Damit stockte kurzzeitig das Gespräch. »Na ja, ich hab dir jedenfalls ’ne Tasse Kamillentee mitgebracht. Beruhigt den Magen.« Stellar strich sich über den Arm, antwortete ihm nicht. Ihr fiel nichts ein, was sie darauf hätte sagen sollen, zumal sie sich in seiner Anwesenheit noch mehr schämte als ohnehin schon. Also nickte sie nur, um irgendeine Reaktion zu zeigen, sah dabei aber weder ihn, noch die Tasse an. Für Dylan schien das Antwort genug zu sein. Er drehte sich um, ging zur Tür – »Dylan …?« – und blieb stehen. Scheiße. So schnell, wie sie der Mut gepackt hatte ihn anzusprechen, so schnell war er auch wieder verflogen. Sie wollte es doch sagen. Sie wollte es sagen und damit das Richtige tun. Nicht nur, um ihr Gewissen zu erleichtern, sondern auch, weil er es wirklich verdient hatte. Aber ihre Zunge lag wie ein lebloses Stück Fleisch im Mund, unfähig, sich zu bewegen. Egal ob sie ein „Sorry“ oder ein „Danke“ losbringen wollte, egal wie viel Mühe sie sich gab: Ihren Lippen blieben versiegelt. »Was ist?« »Ä-ähm, also …« Nicht mal der neue Ansatz half ihr dabei, das Siegel zu brechen. Irgendwie ging sowas per SMS wesentlich einfacher … Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln. Sie sollte zumindest irgendwas sagen, immerhin stand er gerade da wie bestellt und nicht abgeholt. »Du … Du hast wirklich gut gespielt.« Dylan schwieg, blieb dort stehen, wo er war. Er sah lediglich über die linke Schulter hinweg zu ihr. Seine Miene war unergründlich. Aus ihr war nicht herauszulesen, ob er wütend war, enttäuscht oder überrascht. Dafür fing ihre Haut immer stärker zu schmerzen an, je länger sein Blick auf ihr ruhte. Sie glaubte regelrecht spüren zu können, wie sich überall Brandblasen bildeten – und ohne ein Wort zu sagen wandte er sich wieder von ihr ab, ging zur Tür und verließ den Raum. Super. Das war also ihre große Entschuldigung. Du hast wirklich gut gespielt. Was für ein dummer Satz. Sie hätte ihm genauso gut auch vom Paarungsakt der Weinbergschnecke erzählen können. Das Hochwasser stieg an und das Wegblinzeln fiel nun deutlich schwerer. Sie konnte verstehen, dass er sie einfach so sitzenließ. Wahrscheinlich hätte sie sich an seiner Stelle nicht mal zugehört, geschweige denn Tee vorbeigebracht. Ein weiterer Felsbrocken auf dem Turm seiner Nettigkeiten, der ihr Gewissen unter sich begrub. Vielleicht sollte sie einfach – »Ehrlich jetzt?« Stellar zuckte zusammen. Herrgott noch mal, wie oft wollten sie sie denn noch erschrecken?! Intuitiv setzte sie zum Lospoltern an – als sie ihn im Türrahmen stehen sah. In seiner Hand hielt er, so vermutete sie, seine eigene Tasse, abgestützt auf seinem Unterarm. »Dir hat’s echt gefallen?« Von seiner Rückkehr immer noch überrumpelt und von seinem Blick eingeschüchtert brachte sie nur ein zögerliches Nicken zustande. Unglaublich, er war zurückgekommen. Sie bekam also eine zweite Chance, sich richtig zu entschuldigen. Die musste sie jetzt auf jeden Fall nutzen, sie durfte es nicht vermasseln! Nur wie setzte sie am besten dafür an? Nervös strich sie sich ihren Pony hinters Ohr. »Ich … hab gar nicht gewusst, dass du Klavier spielen kannst.« »Wir haben bisher auch nicht darüber gesprochen.« Genau, du dumme Nuss. Was faselte sie da nur für einen Blödsinn? »Und … spielst du schon lange?« Dylan zuckte mit den Schultern. »’Ne ganze Weile auf jeden Fall, ja.« »Hört man«, murmelte sie und räusperte sich; ihre Kehle war furztrocken. »Es klingt jedenfalls sehr professionell.«  »… Vielen Dank.« Stille kam auf und verdickte den Sauerstoff in der Luft, sodass sie kaum atmen konnte. Sich mit ihm weiterhin über seine Klavierkünste zu unterhalten würde nichts helfen, außerdem machte sie sich damit nur lächerlich. Sie musste endlich den Mund aufkriegen, sonst erstickte sie noch daran. Während sie nervös ihre Finger knetete bis es knackte, kratzte sie mühevoll ihren ganzen Mut zusammen. »… Dylan?« Sie bekam von ihm keine Antwort, dafür aber einen fragenden Blick zugeworfen. In ihrer Kehle verknoteten sich die Stimmbänder und klangen geradezu jämmerlich, als sie weiter zu ihm sprach: »I-ich glaube, ich hab vorhin … ganz schön überreagiert … oder?« Schon wieder standen ihr die Tränen in den Augen, jederzeit bereit, ihre Wangen hinabzulaufen. Doch anstatt sie bitterböse anzusehen und anzuschreien, wie sie es erwartete, tat Dylan etwas, mit dem sie im Leben nicht gerechnet hätte: Er lächelte. »Ach, na ja«, seufzte er und griff sich mit der freien Hand ihren Bürostuhl, rollte ihn vom Schreibtisch zu ihr und setzte sich ihr direkt gegenüber. »’n bisschen vielleicht.« Ihr Herz klopfte wie wild. Er war ihr so nah – ihr wurde direkt flau im Magen. Prompt presste sie sich das Kissen so fest sie nur konnte an den Bauch. Auf eine neue Runde Kotzerei hatte sie wirklich keinen Bock. Verdammt, was war daran nur so schwer? Es waren drei kleine Worte, die sie sonst auch ohne Probleme aussprechen konnte. Komm schon, Mädchen. Reiß dich mal zusammen! Noch einmal atmete sie tief durch. Du schaffst das! Es ist ein ganz simpler Satz, eben nur drei kleine Worte. »T-tut mir leid.« Ein Hauch, gerade so ein Flüstern. Genuschelt, ohne ihn dabei ansehen zu können. Mehr war es nicht. Ein echtes Armutszeugnis. »Hey«, raunte er, lächelte sie tröstend an, nachdem er seine Tasse zur anderen auf dem Nachttisch gestellt hatte. »Ist doch schon längst ums Eck. Alles halb so wild.« Stellar hörte einige Sekunden auf zu atmen. Halb so wild? Wie konnte er das einfach so abtun? Gerade er müsste doch wissen, dass es eben nicht so harmlos gewesen war. Auf der Suche nach einer Erklärung sprangen ihre Augen wild durchs Zimmer. »Aber … Ich hab dich doch angeschrien, dich beschimpft –« »Stellar –« »– dich geschubst –« »Stellar –« »– dir gesagt, dass ich dich hasse!« »Stellar!« »I-ich hab dir sogar fast vor die Füße gekotzt –« »Hey, Stellar, Stellar!« Ohne Vorwarnung packte er sie kräftig an den Armen, rüttelte sie einmal kurz und sie verstummte, starrte erschrocken abwechselnd in sein linkes und rechtes Auge. Dylan starrte zurück und mit dem ersten Wimpernschlag ließ er sie ganz langsam wieder los. »Ganz ruhig. Es ist alles okay, ich bin nicht sauer oder so.« »… w-warum nicht?« Ihre Stimme zitterte. Es war ihr unbegreiflich. Wieso war er nicht wütend auf sie? Verdient hätte sie es doch. »Weil ich dich verstehen kann.« Ein Seufzer entwich ihm, dann stand er langsam auf und setzte sich mit etwas Abstand neben sie aufs Bett. Zunächst sagte er nichts, sah nur auf den hellgrauen Laminatboden und wirkte dabei sehr betrübt, fast schon beschämt. Dann, kurz bevor das Schweigen unangenehm werden konnte, erzählte er: »Weißt du, dieses ganze Beziehungsdings … Ich hab das nicht geplant. Das ist spontan im Streit entstanden. Chris hat mir mit seiner Frage, ob ich jetzt dein Freund wäre, das Ganze in den Mund gelegt und ich habe ihm einfach nicht widersprochen. Und, um ganz ehrlich zu sein, wollte ich ihm auch nicht widersprechen.« Stellar blieb der Atem weg. Sie wusste zwar nicht, was genau er damit meinte, dennoch hatte sie mit solch einem Schuldeingeständnis nicht gerechnet und mit diesem Inhalt gleich zweimal nicht. »Ich war so unglaublich wütend, verstehst du? Andauernd darf ich mir dieselben Fehler vorhalten lassen, obwohl ich mich schon X-Mal dafür entschuldigt habe. Im Franco’s war’s auch wieder so. Ich bin das inzwischen einfach leid.« Stellar kratzte sich am Unterarm, sah ihn nicht länger an. Auch wenn ihr Name nie gefallen war, so fühlte sie sich trotzdem angesprochen und unweigerlich keimte in ihr das Gefühl auf, ihn nicht nur heute, sondern generell unfair behandelt zu haben. Dass sie schon viel früher hässlich zu ihm gewesen war. »Also«, ihre Stimme war immer noch ein heiseres Krächzen, im Vergleich zu vorhin jedoch schon etwas kräftiger, »hast du mich deswegen im Franco’s vom Klo abgefangen und gesagt, ich soll so tun, als –« »– wären wir zusammen. Ja.« Erneut seufzte er schwer. »Ich wollte eigentlich kein großes Ding daraus machen. Ich wollte ihm nur eins reinwürgen, damit er endlich mit dieser Scheiße aufhört. Aber bevor ich realisieren konnte, was das für einen Rattenschwanz nach sich zieht, war’s schon zu spät. Dich hatte ich schon mit reingezogen, klarstellen konnte ich’s also nicht mehr.« »… wieso nicht?« »Na ja, ich hätte dich automatisch mit ans Messer geliefert und das wollte ich nicht. Das wäre nicht fair gewesen. Immerhin kannst du ja nichts dafür.« Ein bitteres Lächeln huschte über sein Gesicht. Stellars Herz machte unvermutet einen gewaltigen Satz nach vorn. Sie schaffte es nicht, irgendeine Art von Lächeln zu erwidern, starrte ihn stattdessen einfach nur an. Er hielt diese Lüge wegen ihr aufrecht? Nur um sie zu schützen? Sie war sprachlos und das war sie nicht gerade oft. Dieses Gespräch war auf bizarre Weise unheimlich. Es krempelte ihr ganzes Denken um. Wo sie vorher noch fest davon überzeugt gewesen war, dass er sich mit Vorliebe und zu jeder Gelegenheit wie der größte Arsch benahm, war sie sich jetzt gar nicht mehr so sicher. Ebenso hätte sie noch vor ein paar Tagen felsenfest behauptet, dass er ein Mensch ohne Empathie und Skrupel war – und in diesem Augenblick bewies er ihr das komplette Gegenteil. Hatte sie ihn wirklich so falsch eingeschätzt? »Aber weißt du … Um ganz ehrlich zu sein, war ich schon ziemlich überrascht, dass du einfach so mitgemacht hast.« Wenigstens darauf wusste sie eine Antwort. »Na ja, ich … dachte, das gehört zu unserem Deal dazu. Du hast ja gesagt, ich muss dir vertrauen.« Dylan Kopf schnellte in ihre Richtung. » … nicht dein ernst?« Stellar wich verunsichert mit dem Kopf ein Stück zurück. »D-doch, eigentlich schon.«  Dylan stöhnte hörbar auf. »Oh Mann … Das war doch nicht so gemeint! Du solltest mir nur ’ne echte Chance geben und nicht blindlings alles tun, was ich dir sage.« Oh. Noch ein Missverständnis. Allmählich war sie von so vielen aufgedeckten Missverständnissen überfordert. »Und wie … hast du dir vorgestellt, soll’s jetzt weitergehen?« Dylan senkte wieder den Kopf, strich sich über den Nacken, zuckte anschließend mit den Schultern. »Keine Ahnung. Frag mich was leichteres.« Stellars Augen ruhten noch eine Weile auf ihm, ehe sie gedankenverloren die Holzmaserung des Fußbodens nachfuhr. Ihn so niedergeschlagen zu sehen … das berührte sie. Noch nie hatte er sich ihr gegenüber derart verletzlich gezeigt. Sie bezweifelte daher auch nicht, dass das, was er ihr eben erzählt hatte, auch die Wahrheit war. Und zum ersten Mal empfand sie aufrichtiges Mitleid für ihn. »Weiß Chris eigentlich, dass du jetzt als Pianist im Swingy’s arbeitest?« Dylan schüttelte den Kopf. »Ich war mir nicht sicher, ob ich tatsächlich dort anfangen soll und wollte ihm erst davon erzählen, wenn ich den Vertrag unterschrieben habe.« »Verstehe.« Das klang logisch. Vermutlich hätte sie dasselbe getan. »Dir wär’s wahrscheinlich lieber, wenn ich gleich wieder kündige, oder?« Irritiert runzelte sie die Stirn. »Wieso?« »Na ja, so wie du auf dem Klo ausgerastet bist …« Oh je. Da war er. Der unterschwellige Vorwurf, von dem sie gehofft hatte, ihm entgehen zu können. Ob es ihm bewusst war oder nicht: Mit diesem Satz hielt er ihr verbal die Pistole ins Gesicht. »N-nein, vergiss das, das … war nicht so gemeint.« »Nicht so gemeint?« Dylan hob sichtlich überrascht die Augenbrauen. »Das hat auf mich aber einen ganz anderen Eindruck gemacht.« »I-ich weiß, aber …« Verlegen strich sie sich den Pony aus dem Gesicht, knetete ihre Finger. Kurz wagte sie einen Blick zu ihm – und bereute es sofort. Mann, scheiße! Er fragte zwar nicht danach, aber er wollte eine Erklärung haben, das sah sie ihm an. Ihm, seiner in Falten gelegten Stirn und seiner vernarbten Augenbraue, die die zweite eben in die Knie gezwungen hatte. Sie kam nicht mehr drum herum; es war Zeit auszupacken. »Weißt du … Du bist einfach wie aus dem Nichts im Swingy’s aufgetaucht, spielst die Melodie von „Amélie“, meinem Lieblingsfilm, dann noch was von Eartha Kitt … I-ich konnte mir einfach keinen Reim darauf machen.« »… und?« Sein fordernder Unterton verlieh seiner Augenbraue eine solche Bedrohlichkeit, dass ihr mühsam zusammengekratzter Mut in sich zusammenschrumpfte. Mann, wieso konnte er es nicht einfach dabei belassen? Sie schämte sich doch schon, auch ohne sein Zutun. »Bitte, versprich mir, dass du nicht ausrastest.« Nun lag Skepsis in seiner Miene. »Okay …« Er wird ausrasten, und wie er ausrasten wird … »Also … I-ich habe eben gedacht, dass du mir heimlich nachstellst.« »… wie bitte?!« Genau diese Reaktion hatte sie erwartet: Völliges Unverständnis, gepaart mit absolutem Entsetzen. »Es tut mir leid, ich … Ich dachte, das wäre irgendeine Masche, um mich leichter fertig zu machen, aber mittlerweile weiß ich ja, dass das totaler Bullshit ist. Ehrlich, ich schäme mich dafür, dass ich so von dir gedacht habe, aber mir hat das alles einfach total Angst gemacht! Für mich war’s die einzig mögliche –« Stellar sprach nicht weiter, als sie sah, wie Dylan sein Gesicht in den Händen vergrub und sich laut aufstöhnend rückwärts aufs Bett fallen ließ. »Jetzt wird mir so Einiges klar.« Sie hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Sollte sie sich jetzt darüber freuen oder musste sie sich in Acht nehmen? »Wie kommst du bitte auf so kranke Ideen?« Seine Stimme war unerwartet ruhig. »Keine Ahnung, es ist eben … Eartha Kitt kennt nun mal nicht jeder und ich liebe Eartha Kitt und als du ihren Song gespielt hast, da … ich weiß auch nicht, ich –« »Chris hat’s mir erzählt.« Stellar verstummte, guckte ihn bedröppelt an. »Chris hat mir erzählt, dass du auf Eartha Kitt stehst«, wiederholte er, ebenso ruhig wie zuvor. Ihr Herz knallte mit enormer Wucht in die Körpermitte. Chris. Die Antwort auf diese quälende Frage war also Chris. Die ganze Zeit. Gott, wie sehr sie sich jetzt schämte, noch schlimmer als bisher. Die ganze Zeit war die Antwort da gewesen, ritt Rodeo direkt vor ihren Augen – und sie bemerkte es nicht. Am liebsten hätte sie sich ihr Kissen ins Gesicht gedrückt, bis sie keine Luft mehr bekam. »Ich habe mich gestern Morgen mit ihm zum Joggen getroffen und ihn ein wenig ausgehorcht. Da hat er’s mir erzählt. Danach habe ich mir ein paar Songs von ihr angehört und sie nachgespielt.« Okay, das erklärte die Frage nach dem Wie. Die bedeutend wichtigere Frage aber war: »Warum …?« »Um zu üben.« Dylan nahm die Hände vom Gesicht und dasselbe bittere Lächeln, das zuvor schon mal da gewesen war, kam zum Vorschein. »Weißt du, als ich dich im Publikum sitzen sehen habe, da … Ich wollte diese Chance unbedingt nutzen. Ich habe die ganze Zeit verzweifelt darüber nachgedacht, wie ich dieses Pärchendings wiedergutmachen kann und als mir dann Moira die Wahl über den nächsten Song gelassen hat … Ich dachte, das wäre die perfekte Gelegenheit und die beste Art, sich für den Mist zu entschuldigen.« Stellar war sprachlos. Diesmal sogar so schlimm, dass sie sich instinktiv die Hand vor den Mund hielt. Sie hatte ja das über ihr schwebende Fallbeil der Guillotine, das über ihren Seelenfrieden richten sollte, längst bemerkt. Die Angst, dass er den Henkersspruch gegen sie aussprach, war allgegenwärtig, noch bevor er je dieses Zimmer betreten hatte. Dass aber das Seil von selbst riss und die scharfe Schneide ihr ohne Vorwarnung den Verstand spaltete – das hatte sie nicht erwartet. Was war sie nur für ein hässlicher Mensch. Sie dachte so schäbig von ihm, so böse. Dabei handelte er wie ein unschuldiger, kleiner Junge, der einem anderen Kind das Spielzeug kaputt gemacht hatte und glaubte, es mit ein wenig Kaugummi wieder zusammenflicken zu können. Nein. Nichts, was sie hätte sagen wollen, hätte diese Reinheit in seinem Denken und seinem Tun aufwiegen können. Schlagartig wurde ihr nun klar, warum er Chris’ bester Freund war. Dylans dunkles Kichern zerschnitt die vorherrschende Stille. »Tja. War dann wohl eher zum Kotzen.« Fast automatisch zogen sich ihre Mundwinkel ein kleines Stück nach oben. Sie schmunzelte, gegen ihren Willen. Wie machte er das nur? Er hatte nichts gesagt, was darauf hindeutete, dass er ihr verzieh und trotzdem fühlte sie sich allein durch diese stupide Bemerkung um ein Vielfaches besser. »Als du zur Toilette gerannt bist, bin ich dir hinterher, um mit dir über alles zu reden, aber –« »Es war nicht zum Kotzen«, unterbrach sie ihn und ließ dabei ihre Hand sinken, presste das Kissen wieder enger an sich und legte ihr Kinn darauf ab. Sie ertrug kein weiteres Wort mehr, das ihr noch besser verdeutlichte, wie unfair sie zu ihm gewesen war. Sie wollte wiedergut machen, es besser machen – ab jetzt. »Du und Moira … Ihr wart wirklich toll zusammen.« »Dir hat’s also echt gefallen?« Da war er wieder, der kleine Junge. Stellar nickte und schloss die Augen. »Mag vielleicht nicht so ausgesehen haben, aber … es war echt schön.« Sie meinte es ernst. Jetzt, wo sie imstande war, den Vormittag und die Probe frei von Angst und Panik zu reflektieren, war es ihr gar nicht mehr möglich, ein anderes Fazit zu ziehen. Es war wunderschön und sie wünschte sich, es noch einmal hören zu dürfen, nur um es diesmal genießen zu können … »… danke«, sagte er und gleichzeitig spürte sie einen sanften Druck auf ihrem Rücken, von dem eine enorme Hitze ausging. »Das bedeutet mir sehr viel.« Stellar überrannte die Gänsehaut. Trotz ihres Tops und den Hosenträgern der Latzhose brannte jeder einzelne Finger seiner Hand, als lägen sie direkt auf der Haut, so glühend heiß waren sie. Seine Hand war riesig; sie war fast so groß wie ihre obere Rückenpartie breit war. Dank ihr traute sie sich, über die Schulter hinweg zu ihm zu sehen – und blickte direkt in sein Lächeln. Ein Lächeln, das sie dazu brachte, es zu erwidern. Die Zeit schien für den Moment wie stehengeblieben. Obwohl es niemand aussprach, war es dennoch spürbar und geradezu offensichtlich: Es war vorbei. Keiner von beiden war länger von schlechtem Gewissen geplagt. Keiner von beiden hegte länger einen Groll gegen den anderen. Keiner von beiden wollte länger Krieg gegen den anderen führen. Endlich. Es war endlich vorbei.   BRRR – BRRR. Stellar schreckte hoch, fasste sich instinktiv an ihre Hosentasche, aus der das Geräusch kam. Stimmt, da war ja noch was. Durch die Aufregung hatte sie ihr Handy und die Nachricht, die sie Chris schicken wollte, total vergessen. »Entschuldige, ich …« »Schon gut. Schau ruhig nach«, entgegnete er, nahm seine Hand vom Rücken und schwang sich nach vorn. Dann schnappte er sich seine Tasse vom Nachttisch und setzte sich wieder auf den Schreibtischstuhl. Stellar dankte ihm mit einem scheuen Lächeln und strich sich eine vorgerutschte Haarsträhne zurück hinters Ohr, dann löste sie die Tastensperre und öffnete die Nachricht.   Alles in Ordnung bei dir?   Ach herrje. Chris machte sich offenbar Sorgen. In ihrer Eingabezeile sah sie noch die angefangene Antwort stehen. Die jetzt noch abzuschicken würde bestimmt seltsam wirken, zumal sie sie noch zu Ende schreiben musste. Ein Seufzer entwich ihr und sie löschte ihre eingegebene Antwort. »Alles in Ordnung?« »Hm?« Stellar sah zu Dylan auf. »Ach, ähm … Chris hat mir eine Nachricht geschickt.« »Okay. Schlechte Nachrichten?« »Nein, nicht direkt. Glaub ich … Keine Ahnung, um ehrlich zu sein.« »Darf ich mal sehen?«, fragte er und hielt ihr seine Hand offen hin. Sie wusste zwar nicht wieso, doch sie legte ihm – wenn auch zögerlich - das Handy hinein und wartete, bis er Chris’ Nachrichten gelesen hatte. »Klingt doch gut. Was willst du ihm antworten?« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Eigentlich möchte ich wirklich gern Zeit mit ihm verbringen, aber ich will keine komischen Fragen mehr beantworten müssen, von denen ich nicht mal weiß, wie ich sie beantworten soll.« Wieder seufzte sie und zupfte am Zipfel vom Kopfkissen herum. »Irgendwie hat dieses Pärchending alles nur komplizierter gemacht.« Sein spöttisches Kichern ließ sie aufschauen und sie sah ihn mit gekräuselter Stirn an. »Wieso lachst du?« »Weil es nicht kompliziert ist, sondern total einfach. Eifersüchtig ist er, unser Freizeitdoktor.« Eifersüchtig? Stellar sah ihn ungläubig an und schüttelte den Kopf. »… Nee. Sorry, aber das glaube ich nicht. Kann ich mir nicht vorstellen. Chris war noch nie eifersüchtig.« »Na ja, hat ja auch nie ’nen Grund gegeben, wenn wir mal ehrlich sind.« Gut, damit konnte er Recht haben, ihre Zweifel an seiner Theorie waren deswegen aber noch lange nicht ausgelöscht. »Ich weiß nicht … Für mich klingt das nicht so wirklich überzeugend.« Dylan stellte seine Tasse ohne daraus getrunken zu haben zurück auf den Nachttisch, lehnte sich anschließend im Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Erinnerst du dich noch daran, was ich dir bei unserer Shopping-Tour gesagt habe?« Sie konnte sich sogar noch ganz genau erinnern, vor allem an die Komplimente, die er ihr gemacht hatte. Allerdings glaubte sie nicht, dass er die gerade meinte. »Was davon genau?« »Ich hab dir doch gesagt, dass du ihm zeigen sollst, dass du eine Frau bist und kein Kumpel, richtig?« Stellar war irritiert. »Was hat das jetzt damit zu tun?« Dylan verdrehte die Augen. »Also manchmal habe ich echt das Gefühl, du fährst mit angezogener Handbremse durchs Leben.« »Hey!« Fing das etwa wieder von vorne an? »Überleg doch mal: Seit Chris denkt, dass wir beide zusammen sind, benimmt er sich doch komisch, oder nicht? Ich wette, dass du ihm dadurch endlich aufgefallen bist. Und zwar als Frau, nicht als Kumpel.« Jetzt fiel schließlich auch bei ihr der Groschen. Wenn das wirklich so wäre, dann … Ja, damit wäre es wirklich denkbar! Chris könnte wirklich eifersüchtig sein! Ihr Herz gab vor Aufregung endlich wieder ein Lebenszeichen von sich. »Meinst du echt?« »Warum nicht? Meiner Meinung nach wär’s gut möglich.« Erneut hüpfte es in ihrer Brust. »Okay, und was antworte ich ihm jetzt?« Dylan reichte ihr ihr Handy zurück. »Tja, das kommt jetzt eben drauf an.« Oh. »Und worauf?«  »Ob du die Fake-Beziehung aufrecht halten willst oder nicht.« Wollte er etwa sagen …? »Du hast nichts dagegen, wenn alles auffliegt?« »Was heißt „nichts dagegen haben“: Wenn du aussteigen willst, muss ich damit leben und auch damit rechnen, dass du’s auffliegen lässt.« Stellar schwieg, senkte den Kopf und dachte nach. Eigentlich müsste sie schon aus moralischer Sicht Chris die Wahrheit sagen. Er hasste Lügen mehr als alles andere, das wusste sie ganz genau. Oft genug hatte er sich bei ihr darüber ausgelassen, wie wütend es ihn machte, wenn ihn Patienten bei der Frage nach der Unfallursache anlogen und dadurch ihre Gesundheit, teilweise auch ihr Leben aufs Spiel setzten. Nur, um einer unangenehmen oder peinlichen Situation zu entgehen, obwohl ihnen so oft weit besser und schneller geholfen wäre, wenn sie von Anfang an die Wahrheit gesagt hätten. In Punkto Freundschaften reagierte er mit allergrößter Sicherheit nicht viel anders. Und dennoch – Irgendwie fühlte es sich falsch an, Dylan an Chris zu verpfeifen und ihn als Lügner hinzustellen, auch wenn es tatsächlich so war. Freilich war das Märchen von ihrer Beziehung weder klug, noch wohl überlegt gewesen – was er auch selbst zugab – und dass er sie mit in die Geschichte hineingezogen hatte, zeugte auch nicht gerade von einem Gentleman. Dennoch konnte sie verstehen, warum er es getan hatte. Verletzter Stolz war eine schmerzhafte Wunde im Fleisch. Wegen ihm tat man viele, dumme Dinge, die man oft erst nach der Tat als solche realisierte und im Anschluss auch bitterlich bereute … Nein, petzen kam nicht infrage. Schon gar nicht jetzt, wo ihre Neugier Blut geleckt hatte. Wenn an Dylans Theorie etwas dran war, dann wollte sie es wissen, unbedingt. Und wenn diese Fake-Beziehung der Schlüssel dazu war, dann würde sie einen Teufel tun und diesen einfach so wegwerfen. Außerdem – um fair zu bleiben – hatte er ihn nicht als einziger belogen. Sie selbst hatte ja auch mitgemacht und wenn Chris die Wahrheit erfuhr, war sein Kopf nicht der einzige, der rollte. »Nein, wir ziehen das durch.« »… ernsthaft? Ohne Scheiß?« In seiner Stimme lag eine hörbare Spur Begeisterung. »Ja. Aber nur unter einer Bedingung!« »… und die wäre?« »Wenn wir das wirklich glaubhaft durchziehen wollen, müssen wir beide immer dasselbe erzählen, egal was er uns fragt. Das heißt, wir müssen uns ab jetzt immer absprechen.« »Kein Problem.« »Gut.« »Sonst nichts?« Stellar kniff die Augen zusammen und atmete tief durch, ehe sie ihn wieder ansah. Doch, genau eine Sache war da noch. Dieser Gedanke war ihr den letzten Tagen bereits mehrmals durch den Kopf gewummert und er war ihr so zuwider, dass es sie einiges an Überwindung kostete, um ihn auszusprechen. »Ich schätze mal, immer nur getrennt mit Chris Zeit zu verbringen und nur darüber zu reden, wie toll die Beziehung läuft, wirkt für ihn auf Dauer bestimmt unglaubwürdig.« Dylan stimmte brummend zu. »Gut möglich, ja.« »Deswegen sollten wir damit rechnen, dass wir uns irgendwann vor Chris als Liebespaar präsentieren müssen.« Dylan kratzte sich im Nacken. »Ja, daran habe ich auch schon gedacht …« Immerhin war das nicht nur für sie ein unangenehmer Gedanke. »Bis es soweit ist, hätte ich gern schon mal was vorweg klargestellt: Nur weil wir das glücklichste Pärchen aller Zeiten vorgaukeln müssen, bedeutet das nicht, dass du mich ständig begrabbeln, betatschen oder küssen kannst, wie’s dir gerade passt. Verstanden?« Dylan beugte sich langsam nach vorn, bot ihr seine Hand zum Handschlag an. »Es passiert nicht mehr als nötig.« Wow. So schnell waren sie sich noch nie einig geworden. Ein Hauch Skepsis umwehte ihre Gedanken, doch sie ignorierte ihn, bewusst. Sie ergriff seine Hand und beide drückten zu. Damit war es also beschlossene Sache. »Okay. Also, was antworte ich ihm jetzt?« Dylan grinste und griff nach den Tassen, reichte ihr ihre. »Nichts.« Überrascht davon nahm sie sie nur zögerlich entgegen. »Wie ‚nichts‘? Was meinst du mit ‚nichts‘?« »Einfach nichts eben.« »Aber … Wieso?« »Du bist in einer Beziehung. Am Anfang einer Beziehung hat man immer wenig Zeit für seine Freunde, oder nicht?« Hm, da mochte was dran sein. »Aber eigentlich macht er sich doch nur Sorgen.« »Er wird schon nicht gleich die Polizei rufen und eine Großfahndung einleiten, nur weil du ihm mal nicht antwortest.« Da war auch etwas dran. Stellar fühlte sich trotzdem unwohl. Keine Antwort senden, gestellte Fragen einfach offenlassen. Etwas, was sie genauso in den Wahnsinn trieb. Und jetzt sollte sie genau das selbst tun? Stellar fühlte sich nicht wohl dabei. Nachdenklich nahm sie ihr Handy in die Hand, öffnete den Chat und las die SMS noch einmal.   Alles in Ordnung bei dir?   »Vertrau mir. Es reicht nicht, nur von einer Beziehung zu reden. Er muss schon auch spüren, dass sich was bei dir geändert hat. Und so hat er zumindest einen Grund, um um deine Aufmerksamkeit zu buhlen.« Dylan hatte Recht. Es war besser, ihm nicht zu antworten. Scheiße fühlte es sich trotzdem an. Schweren Herzens schloss sie den Chat und landete im SMS-Menü – wo ihr ein anderer Gesprächsverlauf entgegenlachte. Mit einem Fingertipp darauf öffnete er sich. Die Gespräche mit Dylan via SMS – ihre Verabredung zum Shoppen ausgenommen – verliefen recht einseitig.   DU VERMALEDEITER PENNER! ICH MUSSTE GERADE MEINEN BESTEN FREUND ANLÜGEN, IST DIR DAS KLAR?! ICH HOFFE, DASS DU EINE GUTE ERKLÄRUNG DAFÜR HAST, ANSONSTEN HAST DU EIN RIESENGROẞES PROBLEM AM ARSCH!!!   Schmunzelnd aktivierte sie wieder die Tastensperre und legte ihr Handy beiseite. »Nur mal aus reiner Neugier ... Mag auch sein, dass ich mich täusche, aber irgendetwas sagt mir, du bringst dich ganz schön oft in solche ... verzwickten Situationen, kann das sein?« Dylan zuckte mit den Schultern. »Schon möglich.« Nun tat es Dylan ihr gleich. »Weißt du ... Vielleicht wäre es ganz hilfreich, wenn du hin und wieder –« »– darüber nachdenkst, bevor du etwas machst, ich weiß. Chris predigt mir das auch ständig.« Nun mussten beide lachen. Stellar genoss es, mit ihm zu lachen. So oft, wie sie sich seit ihrem Kennenlernen gestritten hatten, war das eine ausgesprochen willkommene Abwechslung. »Er meint es wirklich nur gut.« Und ich irgendwie auch. »Ich weiß, aber ... Ich bin eben so, ich kann nicht anders.« Noch einmal zuckte er mit den Schultern, dann stand er auf. »Na ja. Ich denke, ich werde langsam gehen. Wollte ja eigentlich nur auf einen Kaffee bleiben und wenn morgen die Probe ist, will ich mich noch ein bisschen vorbereiten.« Stellar nickte verstehend. »Diesmal bin ich aber nicht dabei, versprochen. Wenn’s in die Hose geht, ist es dann wenigstens nicht meine Schuld.« Dylan kicherte. »Ach was. Eigentlich finde ich es ganz gut so, wie es gekommen ist. So hatten wir wenigstens mal die Gelegenheit, miteinander zu reden.« Wie Recht er hatte. Und für dieses Gespräch war sie ihm unsagbar dankbar. »Ich bring dich noch zur Tür.« »Geht’s dir denn soweit wieder gut?« Stellar lächelte aufrichtig. »Schon lange, keine Sorge.« Gemeinsam standen sie auf und verließen ihr Zimmer. Nachdem er mühselig in seine noch verknoteten Chucks geschlüpft war – worüber sich Stellar im Stillen köstlich amüsierte –, ging er anschließend in die Küche und verabschiedete sich mit einer Umarmung von Moira. Dann begleitete Stellar ihn zur Tür. »Ruh dich am besten noch ein wenig aus. Sahst vorhin ganz schön übel aus.« »Oh, wie nett. Danke. Das mit den Komplimenten konntest du aber schon mal besser.« Wieder lachten sie zusammen. Dann tauchte wie aus dem Nichts peinliche Stille auf. Er schien wohl genauso unschlüssig über die richtige Verabschiedung zu sein wie sie. Zögerlich reichte er ihr seine Hand. »Wir sehen uns.« Stellar hingegen zögerte kein bisschen. Beherzt ergriff sie seine Hand und sah ihm frei von jedem Unwohlsein in die Augen. »Danke. Für alles.« Erleichterung spiegelte sich in seinem Lächeln wider. »Gern geschehen.« Gerade wollte sie ihre Hand zurückziehen, als er noch einmal kräftiger zupackte. »… Freunde?« Ähm, was? Stellar erstarrte. Diese Frage traf sie völlig unerwartet. Aus seinen Augen versuchte sie herauszulesen, warum er sie das fragte, hilfreich waren sie dabei jedoch nicht. Im Gegenteil: Die verschiedenen Farben sorgten nur wieder für Verwirrung, so wie sonst auch immer. Und während sie sich wie wild den Kopf darüber zerbrach, breitete sich in ihrer Brust unkontrolliert Wärme aus. Sie brauchte unglaublich lange, bis ihr klar war, was das zu bedeuten hatte. Sanft drückte sie ebenfalls etwas fester zu und lächelte ihn an. »Freunde.« Sie lösten den Handschlag, dann wandte sich Dylan von ihr ab und stieg die wenigen Stufen im Treppenhaus herunter. Stellar sah ihm nach. Der ganze Tag zog wie ein Film vor ihrem inneren Auge vorbei. All die Angst und Panik. Die Übelkeit und der Schwindel. Der Hass und die Schuldgefühle. Die Erleichterung und der Frieden. Zu guter Letzt ihre neu gewonnene Freundschaft. Eine Freundschaft mit Dylan. Und er hatte Recht: Wäre dieser Tag anders verlaufen, hätten sie sich wohl nie ausgesprochen. »Ach, Dylan?« Abrupt blieb er stehen, drehte sich zu ihr um. »Eine Frage noch, bevor du gehst: Hättest du wirklich wegen mir gekündigt?« Entrüstet schüttelte er den Kopf. »Pf, wo denkst du hin? Da muss schon mehr passieren.« Ein Zwinkern, dann ein schmutziges, schiefes Lächeln. Das, was sie bei ihm so hasste. »Bis dann, Süße.« »Bis dann, Stronzo«, murmelte sie und grinste ebenso schief zurück. Kapitel 13: Irgendwas ist anders -------------------------------- Ohne jede Vorwarnung schoss ihr ein schmerzhaft greller Piepton ins Ohr und feuerte sie aus der Matratze. Sofort tastete sie blind und hektisch um sich, bekam ihr Handy zu fassen und drückte alles, was sich drücken ließ – Und dann, ganz plötzlich, war es still … Sie verharrte noch einen Moment, versicherte sich, dass diese Stille anhielt – ehe ihr ein mächtiger Seufzer entwich und mit ihm auch die Anspannung aus ihrem Körper. Was für ein grauenvoller Start in den Tag … Augenblick mal, Tag? Stellar öffnete die Augen und sah auf das Display ihres Handys. Bei ihrer anfänglich verschwommenen Sicht dauerte es eine Weile, bis sie etwas erkannte: Es war Dienstagmorgen, 07:02 Uhr. Nun wusste sie auch, warum ihr Handy-Wecker geklingelt hatte. Es war Zeit, sich für die Arbeit fertig zu machen. Verdammt. Stellar war gar nicht darauf eingestellt. Für sie war es gefühlt immer noch Montagnachmittag und eben erst hatte sie sich noch von Dylan verabschiedet. Wann war sie nur eingeschlafen? Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, ins Bett gegangen zu sein … Einen Filmriss konnte sie wohl kaum haben, dafür hatte sie zu wenig getrunken. Genau genommen hätte das Bisschen nicht mal für einen Schwips gereicht. Wie auch, wenn sie mehr als die Hälfte des Alkohols wieder ausgespien hatte? Resigniert legte sie ihr Handy beiseite und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, rieb sich die Augen. Was soll’s. Sie hatte jetzt keine Zeit, um sich weitere Gedanken darüber zu machen. Die Arbeit rief, ob sie nun darauf eingestellt war, oder nicht. Träge und auf seltsame Weise erschöpft stieg sie aus dem Bett, steuerte ihren Kleiderschrank an und suchte sich routiniert ihre Klamotten zusammen: Unterwäsche und Socken, eine Latzhose und ein schwarzes Polo-Shirt, bedruckt mit dem Logo des Friseursalons, in dem sie arbeitete – und mit einem Mal glommen ihr bruchstückhaft die Erinnerungen auf. Ach ja, richtig. Sie hatte sich nach der Verabschiedung von Dylan ein wenig hingelegt. Ein kleines Nickerchen zur Erholung, bevor sie mit Moira sprechen wollte. Allerdings sollte dieses „Nickerchen“ maximal zwei Stunden dauern und keine ganze Nacht lang. Moiras Laune konnte sie sich deshalb bildlich vorstellen. Bestimmt dachte sie, sie hätte sie vergessen oder gar absichtlich nicht mit ihr geredet. »Na? Gut geschlafen?« Stellar zuckte zusammen und drehte sich in die Richtung, aus der der bissige Ton kam. In der Tat, glücklich sah Moira ganz und gar nicht aus. Mit eng zusammengezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen lehnte sie am Türrahmen zu ihrem Zimmer. »Ich an deiner Stelle hätte jedenfalls enorme Einschlafschwierigkeiten.« »Guten Morgen«, murmelte Stellar, wandte sich ihr zu. »Dass du schon wach bist …?« »Natürlich bin ich wach! Die Probe ist heute schon in vier Stunden, da muss ich früh genug aufstehen und mich darauf vorbereiten. Außerdem schuldest du mir noch was.« Richtig. Die Entschuldigung. Hätte sie eine Wahl gehabt, hätte sie das Gespräch auf heute Abend verschoben. Bestimmt herrschte dann eine weitaus bessere Stimmung zwischen ihnen als jetzt. Dann, wenn sie beide völlig erschöpft von der Arbeit zuhause auf der Couch saßen, sich die bestellte Familienpizza teilten und viel zu müde waren, um sich zu streiten. Das hatte sie jedenfalls ihre Erfahrung gelehrt. »Hoffentlich hast du dich gestern wenigstens bei Dylan entschuldigt, wenn du’s bei mir schon nicht für nötig hältst.« Diese Wahl hatte sie nur leider nicht. Nicht mehr. Stellar strich sich ihren zerzausten Pony aus dem Gesicht, schloss den Kleiderschrank. »Ja, hab ich. Wir haben uns sogar ausgesprochen. Hör mal, ich –« »Wie, ausgesprochen? Wie meinst du das?«, fragte sie und kniff skeptisch die Augen enger zusammen. »Ähm … Na ja, ausgesprochen eben.« »Inwiefern?« Stellar war verwirrt. Ihre Zimmertür hatte doch sperrangelweit offen gestanden. Moira hätte sich nicht einmal anstrengen müssen, um ihr Gespräch mit Dylan zu belauschen. »Wir … haben eben unsere Differenzen beigelegt.« »Ach so ist das. Wow.« Sie applaudierte ein-, zweimal, allerdings nicht aus Begeisterung. »Eure „Differenzen beigelegt“. Sehr hübsch ausgedrückt, Schätzchen, aber ich hätte gerne richtige Informationen, mit denen ich auch etwas anfangen kann.« »Hast du uns nicht gehört?« »Wie denn, bitte schön?« »Meine Tür stand die ganze Zeit offen.« »Und ich hab in der Küche gesessen und Musik gehört.« Oh. Das erklärte natürlich alles. Moira hörte Musik nie ohne Kopfhörer und meistens in einer derartigen Lautstärke, dass jeder, der mit ihr den Raum teilte, auch was davon hatte. So könne sie die Musik nicht nur hören, sondern auch fühlen, was ihr immer ausgesprochen wichtig war. Stellar warf kurz einen Blick auf die Wanduhr über der Tür, ehe sie sich wieder Moira zuwandte. Wenn sie vor der Arbeit noch duschen wollte, musste sie sich beeilen. Andernfalls kam sie zu spät. »Können wir das vielleicht heute Abend bereden? Ich erzähl dir auch alles bis ins kleinste Detail, ich muss jetzt nur los und mich fertig machen.« Moira stöhnte genervt auf, verdrehte die Augen und wandte ihren Blick von ihr ab, sagte aber nichts. Was für ein sturer Bock sie manchmal sein konnte … Langsam kam Stellar auf sie zu und legte ihre Hand auf ihren Arm. »Es tut mir leid, dass die Probe meinetwegen abgebrochen wurde. Das war wirklich keine Absicht und eigentlich wollte ich dir das gestern schon sagen, nachdem Dylan weg war. Ich wollte mich vorher nur kurz hinlegen, weil ich so fertig war und hab dann länger gepennt, als ich wollte.« Moira schwieg immer noch. Wirklich, ein richtig sturer Bock. »Ehrlich. Ich wollte dir die Probe nicht versauen.« »Weiß ich doch …«, sagte sie und sah sie endlich an, diesmal mit wesentlich milderer Miene. »Ich war einfach nur so enttäuscht und genervt, weil es echt gut gelaufen ist.« »Ich weiß.« Stellar strich ihr tröstend über den Arm. »Pass auf, was hältst du davon, wenn wir uns heute Abend eine Pizza bestellen und darüber quatschen, hm? Dann haben wir auch genug Zeit dafür.« »… okay. Aber mit doppelt Käse.« »Na klar. So wie immer eben.« »… und scharfer Salami?« Die Frage klang wie die von einem Kind, das kurz vor dem Essen noch ein Stück Schokolade naschen wollte. »Sogar mit Peperoni, wenn du magst«, antwortete Stellar und grinste. Jetzt endlich tauchte auch in Moiras Gesicht ihr mit Zahnlücke geschmücktes Lächeln auf. »Okay, abgemacht.« Endlich. Der Unfrieden war beiseite geschafft und damit das Schlimmste überstanden. »Sag mir einfach, wenn du auf dem Weg nach Hause bist, dann bestell ich uns was.« Moira nickte und sah auf ihre Armbanduhr. »Ich denke mal ich bin spätestens um – Oh, musst du nicht in einer Dreiviertelstunde in der Arbeit sein?« Was?! »Scheiße!« Duschen und Haarewaschen musste jetzt im Schnellverfahren vonstatten gehen, um den Bus pünktlich zu erwischen. Schnell drückte sie Moira einen Kuss auf die Stirn, dann eilte sie an ihr vorbei und direkt in Richtung Bad. »Schreib mir einfach, wenn du’s weißt!«   Dienstage waren im Lisa’s Hair Salon rein zeitlich betrachtet die entspanntesten Arbeitstage von allen, da durch die wenigen Termine gern der ein oder andere Leerlauf entstand. Nervlich jedoch erreichte man oft und schnell seine Belastungsgrenze. Denn die wenigen Kunden, die an diesem Tag in den Salon kamen, waren entweder schwierig im Umgang oder unmöglich zufriedenzustellen. Auch dieser Dienstag war wieder einmal mit menschgewordenen Herausforderungen gespickt und Stellar hatte direkt zu Beginn überaus starke Nerven und engelhafte Geduld beweisen müssen. Allein ihre erste Kundin – ein kleines Mädchen im Kindergartenalter, das schon weinte, bevor es auch nur den Laden betreten hatte – verlangte ihr alles ab. Offenbar war sie von den Perücken auf den Styropor-Köpfen im Schaufenster derart verängstigt, dass sie von ihrer Mutter unter lautstarkem Protest geradezu hineingezerrt werden musste, nur um Pony und Spitzen ihrer schulterlangen Haare kürzen zu lassen. Erst nach fünf Bestechungs-Bonbons, dem andauernden Zureden der Mutter und Stellars Indianer-Ehrenwort, dass keines ihrer Haare auf einem Puppenkopf landete, war sie bereit gewesen, sich auf den Stuhl zu setzen und Stellar ihre Arbeit machen zu lassen. Auch Mr. Schroeder, ein langjähriger Stammkunde, glich eine wandelnden Geduldsprobe. An sich war er ein netter Mann in den Vierzigern, würde er seine Vorliebe für unglaublich schlechte Blondinenwitze und sein für die heutige Zeit fragwürdiges Frauenbild ablegen. Die „Witze“ machten Stellar als gefärbte Blondine persönlich wenig aus, doch seine chauvinistischen Sprüche störten sie dafür umso mehr und es grenzte an ein Wunder, dass sie bisher noch kein einziges Mal die Beherrschung verloren und ihm vor Wut seinen Pferdeschwanz abgeschnitten hatte. Schon allein die Aussage, sie könne sich glücklich schätzen alleinstehend zu sein, da sie so ihren Mann nicht zu fragen brauche, ob sie arbeiten gehen dürfe, brachte sie zum Kochen; innerlich wohlgemerkt. Nach außen hin verzog sie keine Miene und ließ jedes seiner Worte in dieser Richtung unkommentiert, was sie auch nur deswegen schaffte, weil sie sich selbst fast die Zunge abbiss. So kräftezehrend dieser Vormittag auch gewesen war: Die Tatsache, dass sie gerade ihre letzte Kundin für heute frisierte, tröstete sie ungemein. Nicht etwa wegen des darauffolgenden Feierabends, sondern wegen der Kundin selbst. »Heute sehen Sie irgendwie anders aus.« »So? Finden Sie?« »Ja … Irgendwie jünger, wenn ich das so sagen darf.« Stellar sah über den Spiegel zu ihr und lächelte ihr entgegen. »Vielen Dank, aber eigentlich habe ich nichts verändert. Die Haare, das Make Up … alles so wie immer.« »Hmm … Aber irgendetwas ist heute anders an Ihnen …« In Gedanken gab Stellar ihr Recht. Es war etwas anders. Noch wollte ihr nicht so ganz in den Kopf, dass sie und Dylan jetzt Freunde sein sollten, doch ihre Versöhnung hingegen hatte längst damit begonnen, sich in ihrem Unterbewusstsein zu entfalten. Es war, als wäre jeder Frust und jeder Groll, den sie seinetwegen jemals gehabt hatte, vollständig ausradiert und durch eine Art inneren Frieden ersetzt worden, der nun an seiner statt in jeden Teil ihres Körpers strahlte. So als hätte es diese Streitigkeiten nie gegeben. Und da sie deshalb keinen Ärger mit sich herumtrug, schenkte ihr dieser innere Frieden die nötige Kraft, die sie brauchte, um solche Dienstage zu überstehen. Eigentlich müsste sie ihm fast dafür danken. »Hat das vielleicht was mit einem Mann zu tun?« Ihr Herz blieb stehen. »Wie kommen Sie denn darauf?« »Kommen Sie schon. Ich bin es, Ihre Barbara Jenkins. Mir können Sie es doch sagen.« Stellar sah von den Lockenwicklern zu ihr auf. »Ich weiß leider nicht, was Sie meinen.« »Also ehrlich. Ich bin nun schon wirklich lange Ihre Stammkundin und ich glaube, wir beide haben diesen einen Tag noch sehr gut in Erinnerung. Erzählen Sie mir also nicht, dass Sie nicht wüssten, was ich meine. Ich bin bestimmt nicht die Einzige, die sich an einen gewissen Paramedic sehr gut erinnern kann.« Natürlich konnte sich Mrs. Jenkins noch an Chris erinnern. Wer sonst, wenn nicht sie? Immerhin hatte er sie an jenem Tag medizinisch erstversorgt und ins Krankenhaus gefahren. »Also? Ist dieser überaus gutaussehende, junge Mann nun schuld daran, dass Sie über das ganze Gesicht strahlen oder …?« Verlegen lächelte sie. »Nicht direkt«, gab sie ehrlich zu. »Eigentlich mehr sein bester Freund.« »Ach, dann ist er also der Glückliche?« »Was? Nein?!« Stellar wusste nicht, wovon sie mehr entsetzt war. Die fast schon selbstverständlich herbeigeführte Schlussfolgerung von Mrs. Jenkins oder ihr eigener, zickiger Tonfall. »Entschuldigen Sie bitte … Was ist sagen wollte ist: Wir haben nichts miteinander. Im Gegenteil, eigentlich konnten wir einander nicht mal ausstehen, aber gestern haben wir uns über einige Dinge ausgesprochen und uns ein wenig besser kennengelernt.« »Ah, verstehe.« Sie spannte den Gummi über die aufgewickelten Haare und nahm sich den nächsten Lockenwickler von ihrem Materialwagen. »Ich glaube, wir könnten mal wirklich gute Freunde werden. Nicht die allerbesten, fürchte ich, aber der Anfang war nicht übel.« »Das wäre Ihnen sehr zu wünschen.« Einen Moment lang sahen sich die beiden Frauen an, dann fuhr Stellar schmunzelnd mit der Arbeit fort. Das Thema war noch nicht durch. »Und … Sie und dieser Paramedic …?« Typisch Mrs. Jenkins. Solange sie nicht das zu hören bekam, was sie hören wollte, ließ sie einfach nicht locker. »Wir sind inzwischen eng befreundet.« »Befreundet?« »Ja.« »So, so. Verstehe.« Ihr war anzusehen, dass ihr die Information nicht gefiel. »Und … Sie sind zufrieden damit?« »Ich denke schon, ja.« »Ich denke schon?« Mrs. Jenkins seufzte. Sie war es ganz offensichtlich nicht. »Engelchen, so wird das doch nichts. Sie müssen ihn sich schon schnappen, wenn Sie ihn haben wollen. Männer seines Kalibers sind heiß begehrt und selten Single. Die gibt es nicht lange auf dem Markt. Wenn Sie sich nicht beeilen, hat ihn sich schon ’ne andere unter den Nagel gerissen, bevor Sie überhaupt bis drei gezählt haben.« Normalerweise wäre Stellar beschämt und auch peinlich berührt darüber, derartige Ratschläge von Älteren erteilt zu bekommen. Doch bei Mrs. Jenkins nahm sie es gelassen und mit Humor. »Wer sagt denn, dass ich ihn als Partner möchte?« Nun wurde ihre Miene mütterlich streng. »Engelchen … Mir können Sie nichts vormachen. Ich an ihrer Stelle hätte längst die Finger nach diesem Prachtexemplar ausgestreckt. Jung, medizinisch erfahren, charmant, wohl erzogen … Was wollen Sie denn mehr? Solch eine Partie finden Sie heutzutage nicht mehr oft. Ich weiß, wovon ich rede, ich bekomme ja die Partnerwahl meiner Enkelin regelmäßig mit. Inzwischen können Sie froh sein, wenn Sie da draußen einen Mann finden, der zumindest einen Job hat.« Sie machte eine kleine Pause, seufzte dramatisch auf. »Wenn Gott mir noch einmal die Chance geben würde, in Ihrem Alter zu sein, dann schwöre ich bei seinem Namen, würde er seine Uniform bestimmt nicht lange anbehalten, das glauben Sie mir mal.« »Mrs. Jenkins!« Da fiel ihr glatt der Lockenwickler aus der Hand und Mrs. Jenkins begann zu lachen. »Was würde Ihr Mann dazu sagen?« »Ach, machen Sie sich mal um den keine Sorgen. Schließlich muss dafür schon ein Wunder geschehen und außerdem geht es hier nicht um mich, sondern um Sie.« Bei dieser Frau gab es wirklich kein Entrinnen. Und Recht hatte sie obendrein, ihr konnte sie wirklich nichts vormachen. »Wissen Sie … Ich schätze, es ist in Ordnung, dass wir Freunde sind. Ein enges Verhältnis haben wir ja trotzdem.« »Warum geben Sie sich nur mit der Hälfte zufrieden, wenn Sie das große Ganze haben könnten? Oder wollen Sie das etwa gar nicht?« Natürlich wollte sie das. Aber nicht um jeden Preis. »Ich fürchte, dass die Ausgangslage dafür zu kompliziert ist.« »Wie meinen Sie das?« »Na ja, um überhaupt in die Richtung einer Beziehung gehen zu können, müssten auch Anzeichen dafür da sein, dass er daran Interesse hat und die sehe ich einfach nicht.« »Ach, so ein Quatsch«, winkte Mrs. Jenkins ab. »Männer sind völlig hilflos, wenn es um Gefühle geht. Nur die Wenigsten sind in der Lage, mit ihnen überhaupt etwas anzufangen. Sie müssen sich Gelegenheiten schaffen und ihm zeigen, was Sie für ihn empfinden. Von selbst wird er sicherlich nicht darauf kommen.« Und genau davor fürchtete sie sich. Sie wollte ihm nicht zeigen, was sie für ihn empfand. Ihr war das einfach zu gefährlich. Außerdem verfolgte sie zusammen mit Dylan sowieso eine ganz andere Strategie; auch wenn sie sich immer noch nicht zu hundert Prozent sicher war, dass sie später einmal Früchte tragen würde. Trotzdem: Mit dieser Strategie fühlte sie sich bedeutend wohler. »Ähm, Stellar?« Stellar drehte sich um und sah zu ihrer Kollegin am Empfangstresen, die in einer Hand das Telefon hielt und mit der anderen Hand die Sprechmuschel bedeckte. »Telefon für dich.« Ihr Blick huschte zurück zu Mrs. Jenkins. »Würden Sie mich einen Moment …?« »Natürlich, gehen Sie nur.« Sie schenkte ihr ein freundliches Lächeln, ehe sie Lockenwickler und Stielkamm beiseitelegte und am Tresen ans Telefon ging. »Lisa’s Hair Salon, Stellar am Apparat, was kann ich für Sie tun?« »Hi Sternchen.« Schlagartig verwandelten sich ihre Knie in Pudding. Auf diesem Planeten gab es nur einen einzigen Menschen, der sie „Sternchen“ nannte. Sie brauchte daher nicht zu fragen, wer am anderen Ende war. »H-hey.« »Schön, dass ich dich doch noch irgendwie erreiche. Was war denn gestern nur los?« »Oh. Ich, ähm …« Shit. »Ich hab total vergessen, dir zu antworten, oder?« Die Krallen ihres schlechten Gewissens bohrten sich tief durch ihren Brustkorb. »… sieht so aus.« »T-tut mir Leid.« Ihr Herz schlug ihr bis unter die Zunge. »Schon okay, ich hab … mir nur etwas Sorgen gemacht. Warum ich anrufe: Ich könnte mal wieder ’nen Haarschnitt vertragen.« »Okay …« »Hast du heute irgendwo noch eine halbe Stunde frei für mich oder sieht’s dafür eher schlecht aus?« Nervös und immer noch perplex von seinem Anruf strich sie sich ihren Pony aus dem Gesicht, dann fiel ihr Blick auf die aufgeschlagene Seite im Terminbuch. Moment mal. »Musst du denn gar nicht arbeiten? Ich dachte, deine freien Tage wären Mittwoch und Donnerstag?« »Ach so, ja. Eigentlich schon, aber ich habe meine Schicht mit einem Kollegen getauscht. Ich habe jetzt heute frei und muss dafür Donnerstag arbeiten.« Oh. Okay, das war neu. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte Chris bisher noch nie Schichten getauscht. Jedenfalls nicht so, dass er dadurch frei bekam … »Sieht nicht gut aus, oder?« Sie schüttelte ihre Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Telefonat. »Wenn ich mit meiner Kundin fertig bin, habe ich eh Feierabend, also … Danach würde es auf alle Fälle gehen.« »Also in zweieinhalb Stunden?« »Genau.« »Super, vielen Dank! Dann bin ich pünktlich da.« »Kein Problem. Dann … bis später?« »Ja. … nur noch eine Frage. Hättest du … danach auch Zeit und Lust, den DVD-Abend nachzuholen?« Wow. Das kam noch unerwarteter als sein Anruf. Ohne, dass es ihm bewusst sein konnte, manövrierte er sie emotional mit dem Rücken zur Wand. Sie hatte keine Ahnung, was das Ganze zu bedeuten hatte, ob es überhaupt etwas zu bedeuten hatte. Auch der sich automatisch aufdrängende Gedanke, dass er all das vielleicht nur ihretwegen und wegen der unbeantworteten SMS tat, war schön, presste sie aber nur noch fester gegen die steinerne Mauer. Denn selbst, wenn es so war: Den heutigen Abend hatte sie Moira versprochen. Sie jetzt wegen Chris hängen zu lassen, fühlte sich nicht nur falsch an, es wäre zudem äußerst egoistisch. Moira würde ihr das übelnehmen und das zurecht. Zum ersten Mal schien es so, als ob ihr nichts anderes übrigblieb, als ihm abzusagen. Und diese Erkenntnis fühlte sich richtig beschissen an. »… ist es okay, wenn wir später darüber reden? Ich … Meine Kundin wartet.« »Oh, na klar. Dann … bis später.« Schweren Herzens legte Stellar auf. So eine Scheiße. Ausgerechnet jetzt, wo allmählich Hoffnung aufkeimte, dass an Dylans Theorie etwas dran war … Geknickt stellte sie das Telefon in die Station und kam zu Mrs. Jenkins zurück, nahm den Stielkamm und einen Lockenwickler in die Hand und drehte schweigend eine neue Haarsträhne darauf auf. »Engelchen, warum denn das traurige Gesicht? Schlechte Nachrichten?«, fragte Mrs. Jenkins nach einer Weile und blickte über den Spiegel besorgt zu ihr. Stellar schüttelte den Kopf. »Nein, ganz und gar nicht. Ich bin nur ein wenig … enttäuscht, schätze ich.« »Worüber denn, wenn ich fragen darf?« Ob sie ihr davon erzählen sollte? Nun, ein Rat würde bestimmt nicht schaden. »Das eben am Telefon war Chris.« »Oh, Mr. Marvin?« Mrs. Jenkins klang sofort euphorisch. Interessant, dass sie sogar noch seinen Namen wusste. »Ja. Wenn man eben vom Teufel spricht … Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm heute Abend Zeit verbringen möchte, allerdings bin ich schon mit meiner besten Freundin verabredet.« »Ach herrje, das ist natürlich blöd«, raunte die alte Dame verständnisvoll. »Was haben Sie ihm geantwortet?« Stellar strich sich ihren Pony hinters Ohr. »Da er nach Ihnen sowieso zum Haare schneiden vorbeikommt, habe ich ihn mit meiner Antwort auf später vertröstet.« »Oh, dann bekomme ich ihn heute tatsächlich noch zu Gesicht?« Stellar lächelte. »Höchstwahrscheinlich schon, ja.« Ihrem Grinsen nach zu urteilen konnte es Mrs. Jenkins kaum erwarten. Dann aber verschwand es, genauso schnell wie es gekommen war. »Hat denn Ihre Freundin kein Verständnis dafür, wenn Sie ihr mal absagen?« Sie kannte eindeutig Moira nicht. »Grundsätzlich schon, aber … ich habe sie schon einmal sitzen gelassen.« »Verstehe …« Schweigen bestimmte eine Weile das Gespräch, bis Mrs. Jenkins nachdenklich aufbrummte. »Was würden Sie denn lieber tun?« Die Frage hätte nicht schwieriger sein können. Natürlich wollte sie am liebsten mit Chris sein komplettes DVD-Sortiment anschauen. Natürlich wollte sie mit ihm so viel Zeit wie möglich verbringen, aber die Abende mit Moira waren genauso wundervoll, vor allem aber auch wichtig für sie. Mit ihr konnte sie das tun, was sie mit Chris eben nicht konnte: Offen und sorglos über ihre Ängste und Gefühle zu ihm sprechen. Das konnte sie mit niemand anderem, auch nicht mit Dylan. »Ich würde mich schon gern mit ihm treffen, aber –« »Na also, sehen Sie. Dann fragen Sie sie doch einfach, ob Sie Ihre Verabredung nicht noch einmal verschieben könnten. Sie wird Sie schon nicht beißen.« Stellar schwieg. Ihr Magen begann unangenehm zu drücken. »Na los, geben Sie sich einen Ruck. Schreiben Sie ihr doch eine Nachricht und fragen Sie sie. Was meinen Sie, wie sie sich freuen wird, wenn sie erfährt, dass sie ausgerechnet heute zusammenfinden?« Das hielt Stellar für sehr unwahrscheinlich, trotzdem hatte Mrs. Jenkins gar nicht so Unrecht. Fragen kostete nichts und für den Fall, dass sie Moira damit verärgerte, bedeutete das maximal den Anschiss ihres Lebens und eine Extraportion Peperoni. »Würden Sie mich dann noch einmal …?« »Aber natürlich.« Diese Frau war wirklich die Güte selbst. Stellar bedankte sich ausgiebig und huschte in den Personalbereich, wo ihre Umhängetasche lag. Hastig wühlte sie ihr Handy hervor und – eine Nachricht leuchtete ihr entgegen.   Hey Mäuschen! Sry aber wir verschieben das mit der Pizza. Dylan hat mich gerade zu einer eingeladen. ;) Nicht traurig sein, wir verlegen unseren Mädelsabend auf  morgen, okay? Dann kann ich dir vielleicht auch ein bisschen was erzählen. ;) Hab dich lieb!   XO XO XO Moira   Hm. Eigentlich sollte sie sich jetzt freuen, oder? Tatsächlich aber hielt sich ihre Begeisterung stark in Grenzen. Sicher, sie konnte jetzt ohne Schuldgefühle den Abend mit Chris verbringen, aber diese Einladung auf eine Pizza … machte den Eindruck von einem Date. Einem Date zwischen Dylan und Moira. Und das gefiel ihr nicht. Da konnten sie und Dylan noch so enge Freunde sein. Sie musste mit Moira dringend darüber reden, sobald sie sie wieder zu Gesicht bekam. Dringend. Sie verstaute ihr Handy wieder in die Tasche und fuhr mit ihrer Arbeit bei Mrs. Jenkins fort. Um sich von dieser Nachricht und von Chris’ baldigem Besuch besser abzulenken, machte sich Stellar die Gesprächigkeit ihrer Kundin zunutze. Sie ließ sich sämtliche Neuigkeiten aus dem Leben der alten Dame berichten, während sie ihr die restlichen Lockenwickler ins Haar drehte, und bei dieser Frau war ständig etwas los. Selbst während der Zeit unter der Trockenhaube fanden die Erzählungen kein Ende. Erst, als die Frisur sich nach zwei Stunden allmählich der Vollendung näherte, ging ihr nach und nach der Gesprächsstoff aus. Leider. Genau jetzt hatte sie die Ablenkung eigentlich am nötigsten. Gerade schob sie den Stecker des Föhns in die Steckdose, als Mrs. Jenkins ihr aufgeregt auf die Hand klopfte. »Oh, sehen Sie mal! Ich glaube, ihr nächster Kunde ist gerade am Schaufenster vorbei.« Stellar zwang sich, sich nicht danach umzudrehen. Stattdessen nahm sie die Rundbürste vom Materialwagen, schaltete den Föhn ein und begann Mrs. Jenkins Haare zu föhnen. Sie brauchten noch Volumen. Und sie selbst noch mehr Zeit, um ihre Nerven zu beruhigen. Chris die Haare zu schneiden war für Stellar der intimste Moment, den sie mit ihm haben konnte. Seine Haare zu waschen, mehrmals mit Kamm und Fingern hindurch zu fahren, ihn am Kopf zu massieren … Bei dem Gedanken, dass ihr das gleich bevorstand, stieg ihr die Gänsehaut den Nacken auf. Das Windspiel an der Eingangstür schepperte und trotz des lauten Gebläses des Föhns vernahm sie eindeutig seine Stimme. Sie konnte nicht länger widerstehen. Über den Spiegel hinweg riskierte sie einen Blick. Lauren, die Empfangsdame des Salons, hatte sich seiner angenommen. Gott sei Dank. Das verschaffte ihr noch etwas Zeit. »Wollen Sie ihm gar nicht „Hallo“ sagen?«, fragte Mrs. Jenkins und runzelte die Stirn, wirkte schon fast empört. »Wir sind gleich fertig, dann dürfen Sie das für mich übernehmen«, entgegnete Stellar, zwinkerte ihr zu. Sie merkte schon, dass es die alte Dame langsam eilig hatte. Nachdem sie den Haaren Volumen geschenkt, die Frisur noch einmal durchgekämmt und mit Haarspray fixiert hatte, nahm sie ihr den Schneideumhang ab und gemeinsam gingen sie zum Empfangstresen, um zu zahlen. Das Geld wanderte aus dem Geldbeutel in die Kasse und noch bevor Stellar ihr einen schönen Tag wünschen konnte, drehte sich Mrs. Jenkins um, ging schnurstracks auf Chris zu und tippte ihm aufgeregt auf die Schulter. »Hallo, Mr. Marvin! Erinnern Sie sich noch an mich?« Stellar schmunzelte, verdrehte in einem unbeobachteten Moment die Augen. Sie hätte sie daran nicht hindern können, selbst wenn sie gewollt hätte. Chris sah von seiner Zeitschrift auf. »Oh, hallo Mrs. Jenkins!«, stieß er aus und schüttelte ihre Hand. »Natürlich erinnere ich mich noch an Sie. Gut sehen Sie aus!« »Oh, vielen Dank. Alles ihr Werk«, antwortete sie und zeigte dabei auf Stellar. Chris folgte der Richtung und unweigerlich trafen sich ihre Blicke. »Ich habe auch nichts anderes erwartet …« Ein Zucken; ein Zwinkern, gepaart mit seinem perfekten Lächeln. Stellar strich sich verlegen ihren Pony aus dem Gesicht. Gott, wie sie es hasste, in solchen Situationen zu stecken. Sie bekam dabei nie den Mund auf und lief rot an. Sie räusperte sich, presste peinlich berührt die Lippen aufeinander und atmete erst auf, als sich Chris wieder Mrs. Jenkins zuwandte. »Schön, dass Sie ihr weiterhin so treu bleiben.« »Ach was, das ist doch selbstverständlich. Hat ja keiner ahnen können, dass unser Haarfärbe-Experiment gleich so aus dem Ruder läuft«, plauderte sie und kicherte, schulterte ihre Handtasche. »Und, wie ich das sehe, sind Sie jetzt der Nächste, der in den Genuss ihrer magischen Hände kommt?« »Wegen nichts anderem bin ich hier«, sagte er und setzte dabei sein charmantestes Lächeln auf, wovon Mrs. Jenkins sichtlich angetan war. Breit grinsend zupfte sie sich in ihren Haaren herum. »Na, dann wünsche ich Ihnen ganz viel Spaß«, meinte sie, wandte sich dann aber mit erhobenem Zeigefinger zu Stellar. »Und Sie denken mir daran, was ich Ihnen gesagt habe, in Ordnung?« Stellar nickte. »Selbstverständlich.« »Sehr schön. Dann bis in zwei Wochen!« Ohne Chris und Stellar noch die Möglichkeit einer erwiderten Verabschiedung zu geben, öffnete sie die Tür und war eine Sekunde später aus dem Laden verschwunden. »Eine schrullige, alte Frau«, meinte Chris und grinste Stellar dabei an. Stellar grinste zurück. »Aber liebenswert und einfach die beste.« Sie lief um den Tresen herum und kam auf ihn zu, umarmte ihn. »Hi erstmal.« Er erwiderte die Umarmung, doch irgendwie fühlte sie sich anders an als sonst. Irgendwie fester und … intensiver. Stellar versuchte, dem keine Bedeutung beizumessen. »Wollen wir gleich anfangen?« »Klar.« Er nahm seine Baseball-Cap ab und setzte sich auch schon in den Frisierstuhl. Jetzt war es also soweit. Die letzte, aber ihre wohl auch schwerste Prüfung des Tages wartete sie in diesem Stuhl auf sie. Stellar nutzte beim Holen ihrer Utensilien noch einmal die Gelegenheit tief durchzuatmen. Dann machte sie sich ans Werk. Mit einer schwungvollen Bewegung legte sie ihm den Schneideumhang an und befestigte ihn eng um seinen Hals. »Ich nehme mal an, waschen auch?« »Das ist doch das Beste beim Friseur, oder nicht?« Sie hatte so gehofft, dass er das sagte. Nachdem sie ihn in seinem Stuhl zu den Waschbecken geschoben hatte, neigte sie das Becken in eine für ihn angenehme Position und drehte den Wasserhahn auf. Doch bevor sie mit dem Waschen begann, prüfte sie kurz mit ihrer Hand unter dem Wasserstrahl die Temperatur. Erst dann ließ sie das warme Wasser über seinen Scheitel laufen und fuhr ihm sanft mit den Fingern durchs Haar, immer und immer wieder. Vom Ansatz abwärts in die Spitzen. Stellar konnte nicht genug davon kriegen. Sein Haar war so unfassbar weich … Als ob ihr Seide durch die Finger glitt. Solch gesundes Haar, frei von Spliss und zerstörter Struktur, so satt und kräftig bekam sie nicht gerade oft in die Hände. Umso mehr genoss sie jede Sekunde, die sie damit arbeiten durfte. Als seine Mähne schließlich nass war, stellte sie den Wasserhahn ab und träufelte sich ein wenig vom hauseigenen Shampoo in die Hand, verrieb es in den Handflächen und mit gemächlichen, kreisenden Bewegungen massierte sie es in sein Haar ein. Der Duft von Lavendel breitete sich aus und gleichzeitig senkten sich seine Lider. Ein wohliges Seufzen war zu hören. »Darauf habe ich mich am meisten gefreut …« »Echt? Wieso das?« »Einfach … Ich weiß nicht. Es ist wirklich so, du hast magische Hände. Das tut so gut …« Stellar biss sich grinsend auf die Lippe, antwortete ihm nicht. Stattdessen ließ sie ihre Hände für sie sprechen. Mit sanftem Druck kreiste sie über seinen Hinterkopf, hinauf zum Scheitel, den Schläfen und von dort aus wieder zurück zum Hinterkopf. Seinen Nacken ließ sie dabei natürlich nicht aus. Nur mit den Fingerspitzen massierte sie ihm das Shampoo dort ein, entlockte ihm wieder einen wohligen Seufzer. »Oh Mann … Ehrlich, das ist besser als bei jeder Masseurin.« Kichernd intensivierte sie den Druck. »Sag das nicht. Bei einer Masseurin hättest du bedeutend länger was davon. Bei mir musst du dich mit maximal zehn Minuten zufriedengeben.« »Nee, vergiss es. Die bringt in der Stunde nicht das fertig, was du in zehn Minuten schaffst.« Ihr Herz schwoll auf die doppelte Größe an, badete regelrecht in seinen Worten. Wenn es ihr möglich wäre, würde sie das ihm zuliebe auch die nächsten drei Stunden noch tun. Doch so sehr sie beide es auch genossen: Irgendwann musste das Shampoo auch wieder herunter. Leider … Wieder prüfte sie vorab mit der Hand die Wassertemperatur, dann wusch sie ihm den Schaum vom Kopf, auf die selbige Weise, wie vorhin: Vom Ansatz abwärts bis in die Spitzen. Immer und immer wieder. Gleichmäßig, mit Sorgfalt und ohne Hast. Bis die Seife vollständig aus seinen Haaren in den Abfluss gelaufen war. Dann steckte sie den ausziehbaren Hahn zurück in seine Halterung, band ihm ein Handtuch um und schob ihn auf seinem Stuhl zurück zu seinem Platz. Seine letzte Massage folgte, während sie ihm mit dem Handtuch sanft die Haare trockenknetete. Dann legte sie es beiseite, bewaffnete sich mit Kamm und Schere. »So wie immer?« »Ja, bitte.« Zuerst teilte sie mit dem Kamm sein Haar in mehrere Bereiche, anschließend kämmte sie es in Strähnen zwischen die Finger und begann mit dem Haarschnitt. »Ähm … Wegen vorhin … Wie sieht’s denn jetzt eigentlich aus? Hättest du noch Zeit und Lust auf ’nen DVD-Abend?« Er klang so unsicher. Woher das wohl kam? Sonst fragte er sie doch auch direkt heraus? Egal. Es tat ihrer Freude keinen Abbruch, im Gegenteil. Innerlich sprang sie wie ein kleines Kind auf und ab. »Hast du noch Wein zuhause?« »Hab sogar extra welchen gekauft.« »Wegen mir?« »Ja. Allein trinke ich ja keinen.« Oh Mann. Wie süß konnte ein Mann nur sein? »Nun, wenn das so ist … Nachdem mir Moira für heute eh abgesagt hat, habe ich tatsächlich Zeit.« Ein kurzer, flüchtiger Blick über den Spiegel und sie sah direkt in seine blauen Augen. Die Begeisterung war eindeutig zu sehen, doch da funkelte noch etwas anderes darin. Oder bildete sie sich das nur ein? Kapitel 14: Sowas wie ein Date ------------------------------ Die Gabel schwebte vor ihrem offenen Mund, darauf einen Happen von Chris’ selbstgemachtem Tiramisu. »Der Typ hat sich mit einem Rasenmäher-Roboter die Zehen amputiert?!«, rief Stellar entsetzt aus und ihrem Gesicht nach zu urteilen wusste sie nicht, ob sie sich ekeln oder staunen sollte. »Er wollte ausprobieren, was passiert, wenn man seinen Fuß drunter hält«, erklärte er, den Mund selbst mit einem Bissen Nachtisch gefüllt. Stellar senkte die Gabel und legte sie auf den Teller ab. »Ist nicht dein Ernst!« »Doch, ist es«, entgegnete er schmunzelnd. »Ach Quatsch! So doof ist doch keiner?!« »Wenn ich’s dir aber sage ...« Sie schüttelte den Kopf. »Und der Typ war nüchtern?« »Jap, nüchtern. Kein Alkohol, keine Drogen. Reine Dummheit.« »Oh Gott«, keuchte sie und hielt sich die Hand vor Fassungslosigkeit an die Stirn. »Und dann? Was habt ihr dann gemacht?« Er schob sich abermals eine Gabel voll Tiramisu in den Mund, ehe er antwortete: »Na ja, viel machen kannst du in solchen Fällen nicht. Wir haben ihm einen Druckverband angelegt, ihm Schmerzmittel gegeben –« »– und ihn in die Klinik gefahren.« Chris schürzte die Lippen und wippte mit dem Kopf hin und her. »Jaaa ... aber nicht sofort. Dem werten Herren gingen schließlich noch die Zehen ab.« Nun legte sie endgültig die Gabel weg und ließ sich rückwärts in den Stuhl zurückfallen, rieb sich die Stirn. »Oh dio ...« »Eins muss man diesen Rasenmäher-Robotern echt lassen: Dafür, dass sie eher mittelprächtig mähen, haben sie eine heftige Fliehkraft. Die Zehen waren echt weit verstreut.« Stellar schüttelte es kurz, verzog erneut das Gesicht. »Bah. Wenn ich mir vorstelle, im Vorgarten rumzukriechen, nur um ... bah, nee. Ich könnte das nicht.« Die letzten Reste wanderten in Chris’ Mund und er sah ihr amüsiert zu, wie sie sich seinen Einsatz bildlich ausmalte. Keiner, dem er je von seiner Arbeit erzählt hatte, hing so gefesselt an seinen Lippen wie Stellar, und war es noch so ekelerregend. »Wie lange habt ihr dafür gebraucht?« »Puh, schwer zu sagen. Vielleicht fünf Minuten oder so?« »Ganze fünf Minuten?!« Und wieder platzte es aus ihr heraus. »Gott, der arme Kerl ...« Chris kicherte lautlos in sich hinein, schluckte hinunter. »Was heißt hier ‚armer Kerl‘? Wenn er nicht so dumm gewesen wäre, seinen Fuß da reinzuhalten, wäre das alles erst gar nicht passiert.« »Ja schon ... Aber wenn ich mir vorstelle: Du liegst da im Rettungswagen, deine Zehen von diesem Ding in deinem Vorgarten verstreut, hast Schmerzen ohne Ende und du kommst nur deswegen nicht los, weil sich dein kleiner Zeh nicht auffinden lässt ... Gott, das muss der absolute Horror sein.« »Steck deinen Fuß in keinen Mäh-Roboter, dann passiert dir sowas schon mal nicht.« Prompt verdrehte sie die Augen und stöhnte genervt auf »Du ...!« Plötzlich spürte ihn einen Schmerz am Unterschenkel. »Hey! Kein Grund mich gleich zu treten!« Stellar kniff die Augen zusammen und streckte ihm als Antwort die Zunge raus. Dann beugte sie sich wieder vor zum Tisch, nahm die Gabel und stocherte damit im Tiramisu herum. »Was macht man eigentlich mit ... abgetrennten Körperteilen? Kann mir nicht vorstellen, dass man die einfach so in die Hosentasche steckt.« Trotz des ernsten Themas kam beiden bei dem Bild ein kurzes Lachen aus. »Also, das Optimum wäre, wenn du sie in einen Gefrierbeutel packst. Dann nimmst du dir noch einen, legst dort Eiswürfel rein oder irgendwas, was die abgetrennten Körperteile kühlt – im Zweifel tut’s auch eine Packung Tiefkühlgemüse – und in diesen Beutel kommt der mit dem amputierten Körperteil. So kann kein Gefrierbrand durch den direkten Kontakt mit dem Eis oder der Kälte entstehen und die Chance, ihn wieder anzunähen, stehen so am besten. Und dann natürlich so schnell wie möglich ins Krankenhaus damit.« Stellar nickte verständnisvoll. »Habt ihr es bei ihm noch rechtzeitig in die Klinik geschafft?« »Ja klar. Er hat gute Chancen, dass er alle seine Zehen wieder angenäht kriegt. Ist ja heutzutage für Chirurgen kein Problem mehr.« Ihr Blick fiel auf ihren immer noch halb gefüllten Teller. »Ich glaube, es ist ganz gut, dass ich kein Paramedic bin. Wenn ich das hätte machen müssen ... ich glaube, ich hätte gekotzt. Mir hat damals die Sache mit Mrs. Jenkins schon vollkommen ausgereicht und ich glaube, das fällt noch in die Kategorie der eher harmloseren Einsätze.« Bei dem Gedanken an die alte Dame kam ihm ein Seufzer aus. »Ach ja, unsere Mrs. Jenkins ... War schön, sie mal wieder zu sehen.« Stellar grinste schief. »Ja ... sie war auch ganz begeistert.« Chris runzelte die Stirn und sah sie fragend an. War da ein sarkastischer Unterton? »Dir ist es echt nicht aufgefallen?« Offenbar war ihm da etwas entgangen. »Was denn?« Langsam beugte sie sich wieder nach vorn, grinste noch breiter. »Also manchmal frage ich mich wirklich, wo du mit deinen Gedanken bist. Alles um dich herum kriegt mit, wie heftig sie auf dich abfährt, nur du nicht.« »Auf mich?!« Völlig überrascht riss er die Augenbrauen in die Höhe. »Wieso auf mich? Wie kommst du darauf?« Ein Schulterzucken war ihre Antwort. »Da brauche ich nicht erst darauf kommen, das ist offensichtlich«, erklärte sie und griff nach ihrem Weinglas, trank einen Schluck daraus. »Außerdem gibt es keinen Tag, an dem sie dich nicht zum Thema macht. Hättest mal sehen sollen, wie hibbelig sie gleich gewesen ist, als sie erfahren hat, dass du heute in den Salon kommst. Da konnte es mit ihrem Styling gar nicht schnell genug gehen. Wenn ich nicht bei dem Telefonat selbst dabei gewesen wäre, hätte ich schwören können, du bist mit ihr verabredet.« Au weia. »Und ich dachte, sie freut sich einfach nur mich wiederzusehen.« Stellar lachte kurz auf. »Hat sie doch. Ganz außerordentlich sogar.« Dann redete sie in verstellter Stimme weiter: »Also wenn ich noch einmal in Ihrem Alter wäre, würde dieser Mann seine Uniform bestimmt nicht lange tragen. Das glauben Sie mal.« Eieiei ... Verlegen kratzte sich Chris im Nacken. Offenbar hatte die gute, alte Mrs. Jenkins seine Freundlichkeit völlig missverstanden. »Tja. Was soll ich sagen: Ich muss wohl umziehen.« Stellar lachte. »Ich glaube, so schlimm ist es dann doch nicht.« »Wollen wir’s mal hoffen. Andernfalls hätte ich dann das erste Mal einen Grund, vor einer Frau Angst zu haben.« »Angst? Vor Mrs. Jenkins?« Ungläubig hob sie eine Augenbraue. »Hast du mir nicht eben noch gesagt, sie will mir regelrecht die Klamotten runterreißen?« »Nur wenn du eine Uniform anhast«, entgegnete sie und zwinkerte ihm zu, ehe sie lachte. »Hm. Dann ist es wohl sinnvoller, wenn ich meinen Namen ändere und mir einen neuen Job suche, ohne Uniform.« »Ich glaube, dafür ist es auch schon zu spät. Wir reden hier immerhin von Mrs. Jenkins. Sie findet dich, wenn sie das will.« Chris seufzte gekünstelt dramatisch auf. »Es ist aber auch wirklich nicht leicht, so begehrt zu sein.« »Oh, bitte«, stöhnte Stellar und verdrehte schmunzelnd die Augen. »Was denn? Du hast damit angefangen«, erwiderte er und kicherte, zwinkerte ihr zu. Dann fiel sein Blick auf ihren Teller. »Sag mal ... Was ist eigentlich mit deinem Tiramisu? Schmeckt’s dir nicht?« Es sah fürchterlich aus, regelrecht durch die Gabel malträtiert. Hastig winkte sie ab. »Doch, nur ... So leid es mir tut, aber ich krieg nichts mehr runter«, erklärte sie und ließ sich erneut in die Lehne zurückfallen. »Du isst doch sonst auch immer zwei Portionen?« »Ja, schon. Aber ...« Sie schob ihm den Teller zu. »Ehrlich. Rein geschmacklich würde ich so lange essen, bis nichts mehr da ist, aber ... ich kann einfach nicht mehr.« Innerlich seufzend nahm er ihr den Teller ab und begutachtete den Igel-artig aussehenden Kakao-Mascarpone-Klumpen. Schade. Dabei hatte er ihn extra für sie gemacht. Irgendwie versetzte ihm das einen kleinen Stich. »Sicher?« Sie nickte und sah ihn bedauernd an. »Tut mir leid.« »Schon in Ordnung«, log er und brachte das Geschirr zur Spüle. Dort öffnete er die darunterliegende Schranktür und zog den Küchenabfalleimer hervor, schabte Stellars kulinarisches Horrorgebilde in den Abfall. Währenddessen registrierte er aus dem Augenwinkel, wie sie mitsamt dem restlichen Tiramisu zum Kühlschrank marschierte. »Was schauen wir uns heute eigentlich an?« Chris öffnete den Geschirrspüler und zog das oberste Fach heraus. »Mal ganz spontan gefragt: Was hältst du stattdessen von einem Mario Kart Battle? Haben wir schon ewig nicht mehr gemacht.« Ein diabolisches Kichern war zu hören, als sie das Tiramisu im Kühlschrank verstaute. »Und du bist dir sicher, dass du das auch wirklich willst?« »Wieso nicht?« »Weil ich dich die letzte Male auch schon abgezogen habe?« Chris schnaubte auf. »Nur weil ich dich gewinnen hab lassen.« »Stimmt doch gar nicht!« »Wollen wir wetten?« Plötzlich blinkte etwas neben der Spüle wie wild immer wieder auf. Es war Stellars Smartphone-Taschenlampe, die einen Anruf anzeigte. Er nahm es in die Hand, sah aufs Display – und seine Laune schlug augenblicklich um. Echt jetzt? »Stellar?« Diese schloss gerade den Kühlschrank und wandte sich anschließend zu ihm. »Hm?« Er reichte ihr ihr Handy. »Anruf für dich. Ist Dylan.« In seiner Stimme schwamm weitaus mehr Abneigung darin als gewollt. Hoffentlich hatte sie davon nichts bemerkt. Mit gerunzelter Stirn nahm sie ihm das Handy ab und mit einem Daumenwisch den Anruf entgegen. »Hallo?« Offenbar war sie davon selbst etwas irritiert. Doch dann hellte sich ihre Miene auf. »Oh hi!« Diese freudige Begrüßung bereitete ihm regelrecht Sodbrennen. »Nein, nein. Du störst nicht. Bin gerade bei Chris. Was gibt’s denn?« Ach, wie schön. Bis vor kurzem war Dylan noch wahnsinnig lästig und jetzt kam es ihm so vor, als wäre das niemals Thema gewesen. Wann genau das passiert war, hatte er wohl auch verpasst. »Am Wochenende?« Ihr Blick wanderte einige Sekunden lang zu ihm, dann aber wieder gen Boden. »Oh, okay.  ... Kannst du das denn?« Zu gern hätte er gewusst, worüber sich die beiden unterhielten. Leider ging ihn das nur nichts an. Chris wandte ihr deshalb den Rücken zu und versuchte, seine volle Aufmerksamkeit dem Geschirrspüler zu widmen. Er schob den obersten Schubladen zurück und zog den Nächsten hervor. »Also ich weiß nicht ...« Ob er sie wohl zum Sport überreden wollte? Oder versuchte er gerade, einen seiner Tipps umzusetzen? Zu raten wäre es ihm. Ihnen beiden. Nur warum stieß ihm selbst dieser Gedanke so sauer auf? Er wagte einen Blick zu Stellar. Sie wirkte ein wenig verunsichert, zumindest machte ihre Spielerei an ihren Haaren den Eindruck. »Na gut, meinetwegen. Aber ich muss Samstag arbeiten.« Sie ließ sich darauf ein? So schnell? Wenn er versuchte, sie von etwas zu überzeugen, redete er gefühlt Stunden auf sie ein. Aber bei Dylan ... Muss ja was ganz was Besonderes sein ... Er schüttelte den Kopf. Dieses Gespräch war nicht für ihn bestimmt. Zähneknirschend drehte er den Wasserhahn voll auf und hielt sämtliches Kochgeschirr unter laufendes Wasser, bevor er es unsanft in die Spülmaschine stopfte. »Und was ist mit Moira und der Probe?« Sofort hielt er für einen Moment inne. Wie – er kannte Moira? Was zum Teufel lief hier eigentlich?! Wut kroch allmählich in ihm hoch. »Na schön. Dann sehen wir uns Samstag?« Dann sehen wir uns Samstag, äffte er sie in Gedanken nach und drückte immer rabiater das restliche Geschirr in die Maschine. Gott. Er hatte keine Ahnung, was genau sein Problem war, aber er wünschte sich nichts mehr, als dass dieses Telefonat endlich sein Ende fand. »Ich schreibe dir rechtzeitig, wenn meine letzte Kundin da ist«, erklärte Stellar und grinste dabei; es war unüberhörbar. Inzwischen spürte er die Kraft, mit der er die Kochutensilien in Körbchen und Halterungen presste, in seiner Hand schmerzlich widerhallen. Eigentlich war es absurd. Sie waren ein Paar. So, wie sie miteinander umgingen, war es richtig. Und trotzdem – dieses ‚richtig‘ fühlte sich für ihn einfach falsch an. Aktuell war er davon hochgradig genervt. Ein kurzes Lachen war von ihr zu hören. Ist okay. Ihr seht euch ja am Samstag, könnt ihr eure Liebeleien nicht dort fortsetzen?! »Ist gut, mache ich. Bis dann!« Sie nahm das Smartphone vom Ohr und grinste das Display an. Na endlich. Mit mehr Schwung als nötig knallte er die Tür des Geschirrspülers zu, so dass der Inhalt nachschepperte. Stellar sah zu ihm, strich sich ihren Pony aus dem Gesicht und legte das Handy beiseite – und schwieg. Von selbst würde sie wohl nicht erzählen, was es mit diesem Anruf auf sich hatte. »Und ...? Was wollte er?«, fragte er und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Küchenarbeitsplatte. Sie winkte sofort ab. »Er will wohl so etwas wie eine Überraschung am Wochenende für mich organisieren oder so. Keine Ahnung. Ist auch nicht so wichtig.« »Okay.« So, so. Nicht so wichtig, ja? Netter Versuch. Ihm war durchaus bewusst, dass es ihm nicht zustand, so nachzubohren. Dennoch wollte er sich nicht so einfach abspeisen lassen. »Ich weiß, das geht mich im Grunde nichts an, aber ... Habe ich das richtig verstanden? Er kennt Moira?« Stellars Hand schnellte in ihr Gesicht und strich erneut ihren Pony hinters Ohr, der sich seit eben nicht von der Stelle bewegt hatte. »J-ja, das stimmt.« »Okay. Und ... du weißt nicht zufällig, wie das kommt?« Prompt wich sie seinem Blick aus und schwieg, presste die Lippen aufeinander. »Ich meine, nicht mal ich kenne Moira persönlich und wir beide kennen uns schon ein bisschen länger als du und Dylan.« Sie haderte mit sich, das sah er ihr an. Sie knetete bereits ihre Finger, bis sie knackten. Schließlich seufzte sie laut auf und lehnte sich gegen den Esstisch. »Du weißt es aber nicht von mir.  Er wollte es dir selbst sagen.« Aha? Na da war er aber gespannt. »Dylan hat in der Jazzbar, in der Moira arbeitet, einen Job als Pianist angenommen. Eventuell kellnert er dort auch, so wie sie. Sicher bin ich mir da jetzt allerdings nicht ...« Einen Moment lang sah sie nachdenklich in die Luft, schüttelte dann aber den Kopf. »Na ja, jedenfalls arbeiten die beiden seit gestern deshalb zusammen.« Chris wusste darauf nichts zu sagen. War das zu fassen? Von allen Bars in dieser Stadt suchte er sich ausgerechnet in der Bar einen Job, in der Stellars beste Freundin arbeitete. »Das war übrigens auch der Grund, warum ich dir auf die SMS nicht mehr geantwortet habe. Ich habe selbst nicht damit gerechnet und war mit der Situation auch ziemlich überfordert.« »Ach, dir hat er auch nichts davon erzählt?« Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich bin ich ja auch wegen Moira mitgegangen, um für sie den neuen Kollegen abzuchecken. Ich habe ja auch nicht damit gerechnet, dass dann Dylan vor mir steht.« Das konnte er sich lebhaft vorstellen. »Und die beiden verstehen sich?« »Lustigerweise sind die zwei ein Herz und eine Seele. Die beiden verstehen sich bestens, als wären sie schon jahrelang befreundet.« Es war ihm ein Rätsel. Wie stellte der Kerl das bloß an? Auch wenn er Moira nicht persönlich kannte: Diese Frau war ihm vom Hörensagen schon zu viel. Ständig dieses Drama, diese krampfhafte Suche nach einem Partner ... Und dann ihre spitze Zunge, die sie gern und ungefragt zu benutzen schien. Wenn er sich vorstellte, dass sich Dylan selbst mit ihr blendend verstand ... Vermutlich war es das Beste, nicht weiter nachzufragen. Er bekam davon allmählich Kopfschmerzen. Innerlich seufzend senkte er den Blick. Diese Entwicklung mit den beiden ging ihm einfach zu schnell. Genau genommen kam es ihm so vor, als irrte er als Einziger allein und hilflos umher, ohne zu wissen, wohin mit sich selbst. »Alles okay?«, fragte Stellar und sah ihn verunsichert an. Was sollte er darauf antworten? Eigentlich war gar nichts okay. Ihm stank es, dass sich die beiden so gut verstanden – was völlig absurd war, denn genau das war ja sein ursprüngliches Ziel gewesen. Nur eine Beziehung, die hatte er dabei nicht im Sinn gehabt. Auch, dass Dylan wieder mal ihre Zweisamkeit unterbrochen hatte, ging ihm gewaltig gegen den Strich; Moment. Nein. Die Tatsache, dass er überhaupt so empfand, war es. Es machte ihn geradezu rasend. Schließlich wäre es ihm ohne Stellar so nie in den Sinn gekommen, es als störend aufzufassen. Aber das, was ihn am allermeisten beschäftigte, war, dass Dylan keine Woche brauchte, um sich schneller in ihr Leben einzufügen als er. Was genau machte er falsch? »Ja, alles okay. Ich bin nur etwas überrascht davon.« »Kann ich mir vorstellen.« In ihren Augen stand pures Mitgefühl geschrieben. Dennoch bezweifelte er, dass sie sich auch nur im Ansatz ausmalen konnte, was gerade in ihm vorging. Er hatte ja selbst keine Ahnung. Stille kehrte zwischen ihnen ein, die unangenehm drückte. Dann aber klatschte sie energetisch in die Hände. »So, Vorschlag: Du baust im Wohnzimmer die Konsole auf und ich schenke uns noch Wein nach.« Chris quälte sich ein Lächeln ab. »Klingt nach einem guten Plan.« »Sehr gut. Dann mal los!« Sicher doch. Er löste die Arme, stieß sich von der Kante der Arbeitsplatte ab und ging ins Wohnzimmer, gab sich dabei alle Mühe, sein abgequältes Lächeln aufrecht zu halten. Er wollte sich nicht anmerken lassen, wie geknickt er tatsächlich war und dadurch dafür sorgen, dass dieser Abend ähnlich in die Hose ging wie der letzte. Aus dem TV-Sideboard holte er eine alte Spielekonsole und zwei klobige Controller hervor, während er versuchte, alles Gesagte zu verdrängen. Denn Fakt war nun mal: Er konnte an der Situation nichts ändern. Er musste sie hinnehmen, ob er wollte oder nicht. Seufzend setzte er sich im Schneidersitz auf den Boden, schaltete den Fernseher ein. Mit sanfter Gewalt, die es bei dem Gerät inzwischen brauchte, steckte er die Controlleranschlüsse in die Konsole und die Spielekassette in den dafür vorgesehenen Schlitz. Dann schob er den Schieberegler nach oben. Schon erschienen das Intro und das Startmenü des Spiels. Gerade als er einen der Controller nehmen wollte, tauchte vor seiner Nase ein Glas voll Wein auf. »Hier. Aber ich sage dir gleich: Wirklich helfen wird er dir beim Gewinnen auch nicht.« Ein Schmunzeln – diesmal ein ehrliches – kam ihm aus und er nahm ihr das Glas ab, stellte es neben sich auf dem Boden. »Das brauche ich auch nicht.« Stellar platzierte ihr Weinglas auf den Wohnzimmertisch, anschließend hockte sie sich ebenfalls im Schneidersitz neben ihn und griff sich den zweiten Controller. »Wirst schon sehen, dich mache ich ohne Mühe fertig.« »Ja, das zeig mir mal«, murmelte Chris und schmunzelte. Jeder von ihnen wählte sich durch das Menü und schnappte sich seinen üblichen Avataren, dann stellte Chris die Strecken zusammen und das Spiel begann.  Schon bei der ersten Strecke rauschte er kurz nach dem Start an ihr vorbei und übernahm die Führung. Stellar versuchte mit allen Mitteln, ihn einzuholen, doch die Mühe war vergebens. Mehr als zu einem kurzweiligen Vorsprung führte es nicht. Genau dasselbe spielte sich auf Strecke Nummer zwei ab. Dort schien er obendrein eine Art Glückssträhne zu haben, was die Actionfelder betraf. Entweder erhielt er rote Panzer oder Bananenschalen – und Stellar war die Leidtragende. »Ach komm schon!«, schimpfte sie lautstark, nachdem sie wieder einmal auf einer Banane ausgerutscht war. Schweigend, aber amüsiert grinsend lugte er aus dem Augenwinkel zu ihr rüber. Energisch ruderte sie mit dem Controller in die Kurven mit, teilweise legte sie sich mit dem gesamten Oberkörper hinein, in der Hoffnung, es nützte etwas. Typisch Stellar. Wenn sie einmal der Ehrgeiz packte ... Nachdem er sie bei der vierten Strecke umrundet hatte, drückte sie die Pause-Taste und funkelte ihn böse an. »Du schummelst doch?!« Er jedoch zuckte nur mit den Schultern. »Ich habe dir ja gesagt: Ich habe dich die letzten Male nur gewinnen lassen.« Trotzig schmiss Stellar den Controller zu Boden, verschränkte wie ein bockiges Kind die Arme. »Che merda! Das ist echt so unfair.« Chris hingegen grinste schadenfroh. »Was ist daran bitte unfair?« »Nur weil du mich die letzten Male angeschwindelt hast, fühle ich mich jetzt doof!« »Wieso denn angeschwindelt? Ich wollte dir lediglich auch mal einen Erfolg gönnen«, erwiderte er und legte den Controller beiseite. »Sowas fällt aber auch in die Kategorie ‚nicht ehrlich sein‘.« Beleidigt streckte sie ihm die Zunge raus. »Das nimmst du mir ernsthaft übel? Ich hab’s nur gut gemeint.« »Als ob.« Sie griff nach ihrem Wein und kippte sich den restlichen Inhalt in den Rachen. »Sternchen ... komm schon. Wenn du willst, gebe ich dir gern eine Chance auf Revanche.« Pausbäckig nickte sie und stellte ihr Glas beiseite. »Und wie ich die bekommen werde«, verkündete sie, nachdem sie alles hinuntergeschluckt hatte. »Gut, dann –« »Kann ich dich vorher noch etwas fragen?« Chris ahnte, was nun kommen würde. »Du willst lieber den Battle-Modus, oder?« »Nee, was anderes.« Verlegen verzog sie das Gesicht. Etwas anderes? Er sah sie erwartungsvoll an. »Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich eigentlich nicht so viel darüber reden möchte, aber ... Weißt du zufällig, woher Dylan so gut Klavierspielen kann?« Sein Hirn setzte für einen Moment aus. War das ihr ernst? Gerade als er dachte, mit dem Thema Dylan wären sie für heute durch, wärmte sie es wieder auf? Glücklicherweise hatte er seinen Körper so weit im Griff, dass er nicht genervt aufseufzte oder gar die Augen verdrehte. »... wie kommst du da jetzt drauf?« »Na ja ... Als ich gesehen habe, was er auf dem Kasten hat, war ich echt baff. Das war wirklich beeindruckend. Drum ...« Ürgs. Stellars Bewunderung für Dylan schmeckte ekliger als verkorkter Wein. »Dylans Vater ist Klavierbauer. Er hat ihm das Spielen beigebracht.« Verdutzt sah sie ihn an. »Oh, wow. Ich wusste gar nicht, dass es dafür einen speziellen Beruf braucht. Ich dachte immer, sowas wird industriell hergestellt.« Aktuell war es ihm ziemlich egal, ob Klaviere gebaut oder industriell hergestellt wurden. Er wollte einfach nicht länger über Dylan reden. »Sein Vater muss unglaublich stolz auf ihn sein.« Aber, da er ja musste ... »Kann schon sein. Sicher bin ich mir da nicht und ich glaube, er auch nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass sein Vater ihm das wirklich mal gesagt hätte. Ich glaube nicht mal bei unserem letzten Auftritt in der Schulaula.« »Warte, warte, warte – eurem Auftritt? Heißt das, ihr hattet eine Band oder so?« Oh Mann. Hätte er doch nur mit ‚ja‘ geantwortet. »Ja. Also, nein. Sozusagen. Wir haben eben zu zweit Musik gemacht. Er mit Gitarre oder Klavier, ich mit Gitarre und Gesang. Nichts Weltbewegendes.« »Du spielst Gitarre?« Ihre Augen wurden immer größer. Chris nickte. Ein kleiner Funken Freude glühte in ihm auf – »Und er auch?« – und erlosch. Wieder nickte er. »Wie gesagt, nichts Weltbewegendes.« Stellar lachte auf. »Von wegen! Ich wünschte, ich hätte das mal sehen können!« Er fühlte sich zunehmend unwohler. Vermutlich wäre es das Einfachste, wenn er sich darauf einließ. Mit etwas Geschick war die Sache so schneller ausgestanden, als wenn er sich dagegen wehrte. »Ich glaube, unser letzter Auftritt kursiert noch irgendwo im Archiv der Schulhomepage rum. Wenn du willst, kann ich ja mal schauen, ob ich das Video finde.« »Oh bitte, ja! Ich würde das echt zu gern sehen!« Der Pegel seiner Frustration schwappte immer höher. Spätestens jetzt wurde ihm bewusst, dass der Abend, so wie er ihn sich vorgestellt hatte, hier die Kurve machte. Leise seufzend stand er auf und ging zu seinem Schreibtisch, nahm seinen Laptop und setzte sich damit aufs Sofa. Stellar folgte ihm und platzierte sich direkt neben ihn. Nachdem er den Internetbrowser geöffnet hatte, gab er auf der Schulhomepage als Schlagwortsuche ‚The Outsiders‘ ein und war überrascht, dass besagtes Video sogar als erster Treffer angezeigt wurde. Mit einem kurzen Doppelklick öffnete es sich. »Ist das hier etwa Dylan?«, fragte Stellar belustigt und deutete auf den kleinen Jungen mit übergroßer Akustik-Gitarre im Arm, zerzaustem Haar und einer deutlich zu erkennenden Narbe im Gesicht, trotz schlechter Aufnahmequalität. Chris nickte stumm. »Gott, wie niedlich!« Seine Kiefer mahlten. »Meintest du nicht eben noch, dass du gesungen hast?« Er musste sich extra anstrengen, um die Zähne auseinanderzubekommen. »Überwiegend schon, ja. Dylan hat aber auch hin und wieder gesungen. Wir hatten keine wirklich feste Struktur. Wir haben einfach gemacht, wie und wonach uns der Sinn stand.« »Okay. Und wo ist das?« »In der Aula unserer alten Schule, wie gesagt. Kurz vor Weihnachten.« Mehr widerwillig startete er den Videoclip und gemeinsam sahen sie dabei zu, wie zwei Zehnjährige unter grellem Scheinwerferlicht ‚The Sound of Silence‘ performten. »Wow. Ich hätte nicht erwartet, dass er so gut singen kann.« Chris schielte heimlich zu Stellar hinüber. Wie gebannt starrte sie auf den Bildschirm. Seine Schultern wurden schwer. Als das Video vorbei war, schloss er den Browser. »Gibt es noch mehr Videos von euch?« Er schüttelte sofort den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Wenn du willst, kannst du ja mal Dylan fragen, ob er noch etwas hat, von dem ich nichts weiß.« Zuzutrauen wäre es ihm. Im selben Moment hasste er sich für diesen Gedanken. Denn eigentlich dachte er gern an diese Zeit zurück. Immerhin war das eine der schönsten und unbeschwertesten Zeiten in seinem Leben. Sie sich selbst und Dylan jetzt so mies zu reden ... Er schämte sich ein wenig dafür. »Dann werde ich ihn Samstag gleich mal fragen«, sagte sie und grinste ihn an. Chris lächelte nur kurz zurück, immer noch bemüht dabei, sich seinen Frust nicht anmerken zu lassen. »Okay, dann auf in die nächste Runde, ich will meine Revanche«, sagte sie und schwang sich aus der Couch. Er jedoch blieb sitzen und schloss langsam den Laptop. »Sei mir nicht böse, aber ... mir ist irgendwie nicht mehr so nach Mario Kart.« Verwundert sah sie ihn an. »Du hast mir doch eben noch eine Revanche angeboten?« »Ja schon, aber ... ich werde langsam müde, weißt du?« Oh Mann. Schon das dritte Mal, dass er sie heute anlog. Allmählich bekam er ein Gefühl dafür, warum Dylan hier und da gerne mal zur Notlüge griff ... »Okay ...« Nachdenklich den Mund spitzend sah sie sich im Zimmer um. »Dann also doch wie geplant DVDs gucken?« Er nickte erleichtert. »Such dir einfach aus, wonach dir der Sinn steht.« »Alles klar.« Sie machte erst einen Schritt nach vorn, drehte sich dann aber wieder zu ihm um. »Ist wirklich alles okay?« Schnell winkte er ab, schob ein kleines Lächeln hinterher. »Alles gut, wirklich. Wie gesagt, ich werde nur müde, ich schätze mal wegen dem Tiramisu. Macht immer ein bisschen träge.« Stellar lächelte sanft zurück, fragte nicht weiter nach und ging nun zielstrebig auf Chris‘ DVD-Sammlung zu. Offenbar gab sie sich mit seiner Antwort zufrieden. Gott sei Dank. Er hatte keine Ahnung, wie standhaft er auf weiteres Nachfragen bei seiner Lüge geblieben wäre. Hoffentlich gewöhnte er sich diese Notlügerei nicht an, so wie Dylan ... Da! Schon wieder! Dylan hier, Dylan da! Er wischte sich mit beiden Händen übers Gesicht und seufzte. Er musste dringend auf andere Gedanken kommen. Und zwar sofort. Mit einem Ruck hievte er sich aus der Couch und räumte seinen Laptop an seinen Platz zurück, dann sammelte er die Weingläser ein. »Willst du noch eins?«, fragte er und hob demonstrativ eines der Gläser in ihre Richtung. »Hm?« Sie drehte sich vom DVD-Regal zu ihm um und verzog nachdenklich das Gesicht. »Hm ... Nee, ich glaube nicht. Aber was zu Knabbern wäre nicht schlecht ...« »Ihr Wunsch ist mir Befehl«, antwortete er und machte eine übertrieben tiefe Verbeugung. Als er wieder aufrecht stand, lächelte sie ihn an. »Ich danke Euch, wehrter Herr«, nasalierte sie gekünstelt, neigte vornehm ihren Kopf und deutete einen Hofknicks an. Gut, sie nahm ihm die Scharade ab. Und lustigerweise stimmte ihn dieser Blödsinn auch etwas besser. Mit ehrlich erhellter Miene marschierte er in die Küche, wo er die Gläser in die Spüle stellte. Dann schloss er die Augen und atmete einmal kräftig durch. Es war alles in Ordnung. Es gab keinen Grund, sich seltsam zu fühlen. Sie war hier und nichts anderes zählte im Moment. Er griff zum Hochschrank, öffnete die Türen und holte eine Packung Chips heraus. Aus einer der Schubladen nahm er eine Schüssel und füllte die Chips hinein. Die leere Tüte warf er in den Mülleimer unter der Spüle. Schluss jetzt mit der Grübelei. Zum einen führte sie zu nichts und zum anderen tat er dadurch gerade so, als wäre das hier so was wie ein Date. Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, er sei eifersüchtig. Einen Moment lang durchfuhr ihn eine merkwürdige Wärme, die sich schlagartig in einen kalten Schauer verwandelte und abwärts sackte. Puh. Vielleicht war das doch etwas zu viel Alkohol für einen Abend ... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)