Der ewige Göttername von Flordelis ================================================================================ Kapitel 37: Noch am Leben ------------------------- Selbst Rehmes Ruf schaffte es nicht, ihm einen Einfall zu geben, der ihn aus dieser Situation retten könnte. In Gedanken begann er bereits, sich von seinem Leben zu verabschieden, überlegte, was er bereute und was er gern noch getan hätte und stellte unzufrieden fest, dass er tatsächlich als Jungfrau sterben würde. So hatte er sich sein Leben und dessen Ende mit Sicherheit nicht vorgestellt. Aber wer stellte sich schon so sein Ende vor? Doch plötzlich – ganz unvermittelt, weswegen er zuerst an Einbildung glaubte – hörte er zwischen dem erwartungsvollen Murmeln und dem Donnern des Zuges eine bekannte Stimme: „Setoki!“ Irritiert wandte er den Kopf und entdeckte, noch bevor er das Gesicht erblickte, eine ihm entgegengestreckte Hand, die seine letzte Rettung zu sein versprach. Ihm blieb keine Zeit mehr, sicherzustellen, dass die Person ihm freundlich gesinnt war oder festzustellen, wer sie überhaupt war. Stattdessen ergriff er sofort die Hand und ließ sich auf den Bahnsteig ziehen, wo er direkt wieder auf den Boden stürzte. Hinter ihm fuhr mit einem lauten Dröhnen der Zug ein und kam mit quietschenden Bremsen zum Halten. Nozomu atmete schwer, während ihm die anderen Wartenden enttäuscht schienen und ihre Handys wieder einpackten, ohne die gewünschten Aufnahmen bekommen zu haben. Er verfluchte diese Leute kurz in Gedanken, dann hob er den Blick, um den herbeigeeilten Schaffner zu beruhigen. „Mir geht es gut, mein Bein tut nur ein wenig weh... Nein, ich brauche keinen Arzt.“ Er wehrte das Angebot ab, noch bevor der Schaffner es machen konnte, aber das erleichterte Aufatmen, dass ihm mit dieser Antwort der Papierkram erspart blieb, entging Nozomu keineswegs. Noch einmal stellte der Schaffner sicher, dass es ihm gutging, dann fuhr er herum, um wieder in den Zug einzusteigen, da die ersten Fahrgäste in einem der Abteile bereits lautstark ein genervtes Räuspern von sich gaben. Erst als der Zug den Bahnhof wieder verließ, wurde Nozomu wirklich bewusst, dass er überlebt hatte – und dass er seinem Retter noch dafür danken müsste. Er sah zur Seite und erkannte die Person, worauf ihm geradewegs die Luft wegblieb, so dass er nichts mehr sagen konnte. Leana seufzte leise. „Da rettet man dir einmal das Leben und du bedankst dich nicht einmal. Wie unhöflich.“ „Tut mir Leid. Ich war jetzt nur ein wenig überrascht... ich werde nicht oft beinahe von einem Zug überfahren.“ Sie hob eine Augenbraue. „Man spielt auch nicht auf den Gleisen, das solltest du wissen.“ Er war zu erschöpft, um sich über diese Aussage und vor allem den spöttischen Unterton davon, aufzuregen, deswegen seufzte er. „Ich weiß. Ich habe das auch nicht freiwillig gemacht, ich wurde von jemandem geschubst.“ „Von wem?“ „Ich weiß nicht.“ Immerhin hatte er niemanden gesehen und Rehme offenbar auch nicht, sonst hätte sie ihn ja gewarnt. Er tendierte bereits dazu, es als Einbildung abzutun – aber weswegen hätte er dann auf den Gleisen landen sollen? Nein, es musste irgendetwas geschehen sein. Vielleicht war es ein Shinjuu... Der Gedanke durchzuckte ihn eiskalt und ließ ihn trotz der Hitze frösteln. Um sein normales Leben zu schützen, hatte er sich entschlossen, in den Kampf zu ziehen und nun musste er quasi immer damit rechnen, dass eines dieser Wesen, das für normale Menschen nicht existierte, versuchte, ihm das Leben zu nehmen – und es auch noch wie einen Unfall aussehen zu lassen. Da lief doch etwas gehörig schief, wenn er sich das genau betrachtete. Leana saß schweigend neben ihm und sah ihn ausdruckslos an, anscheinend wartete sie immer noch auf einen Dank oder eine weitere Erklärung, letzteres wollte er ihr aber nicht geben. „Danke“, sagte er dafür, was ihren Gesichtsausdruck ein wenig weicher werden ließ. „Wenn du nicht gewesen wärst, könnte man mich in Teilen von den Schienen aufsammeln.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Hmm, das wäre sehr unschön geworden, du bist schon in einem Stück kaum zu ertragen.“ „War das Sarkasmus?“, fragte er ehrlich verwundert und ratlos, da ihre trockene Art es nicht leicht machte, zu sagen, wann sie etwas ernst meinte und wann sie scherzte. Zu seinem großen Erstaunen lächelte sie daraufhin, wenngleich es kein wirkliches Lächeln war. Ihre Augen blieben davon unberührt, sie blickten weiterhin so distanziert und unbeteiligt als gehörten sie gar nicht zum Rest ihres Gesichts. Aber er war doch überrascht, dass ihre Mundwinkel ein Lächeln zustande brachten. „Ja, war es“, antwortete sie. „Aber wenn du nachfragen musst, sollte ich es vielleicht noch einmal üben.“ „Du könntest bei Zetsu in die Lehre gehen.“ Doch sein Vorschlag legte nicht nur auf sein, sondern auch auf ihr Gesicht einen Schatten. Wie auf eine stumme Einigung hin, ging keiner von beiden weiter auf Zetsu ein, sondern wechselten das Thema. „Du hast Glück, dass ich gerade vorbeigekommen bin“, sagte Leana. „Eigentlich wollte ich ganz woanders sein und bin nur zu spät dran.“ „Ich schätze, dann sollte ich dich nicht aufhalten, was?“ Sie nickte bestätigend, blieb aber dennoch sitzen. „Soll ich dich noch irgendwo hinbringen?“ Er musste sich beherrschen, sie zu fragen, was denn mit ihr los sei, da er sie gar nicht so freundlich kannte, aber vielleicht hatte sie einen Helferkomplex? „Danke, es geht schon“, wehrte er ihr Angebot ab, obwohl er sein Bein immer noch nicht bewegen konnte. „Ich werde Jatzieta anrufen, damit sie mich abholt. Du solltest dich lieber beeilen.“ Sie verabschiedete sich knapp von ihm und ging dann hastig davon. Er blickte ihr nach, bis sie verschwunden war, dann richtete er sich vorsichtig auf und humpelte zu einer der Bänke. Sein Bein schmerzte noch immer und ließ sich kaum bewegen, er musste seinen Plan, diese Adresse aufzusuchen, wohl erst einmal auf den nächsten Tag verschieben. Mit Sicherheit würde Jatzieta ihn wieder hinkriegen. Doch noch während er in seiner Tasche nach seinem Handy wühlte und auch noch während er darauf wartete, dass sie den Anruf annahm, gingen ihm zwei Fragen nicht aus den Kopf: 1.: Wer hatte ihn auf die Gleise geschubst? Und 2.: Warum war Leana wirklich dagewesen? „Bist du sicher, dass es gut war, dich einzumischen?“ Isoldes besorgte Stimme erklang, noch bevor das Shinjuu neben der eilig laufenden Leana erschien. Diese änderte ihren Gesichtsausdruck nicht. „Ich kann nicht einfach zusehen, wie jemand stirbt, selbst wenn es sich dabei nur um Nozomu handelt.“ Sie hatte es wirklich und wahrhaftig versucht, aber ihr innerer Drang zu helfen, war wesentlich stärker gewesen als der Wunsch, einen Konkurrenten weniger zu haben im Kampf um den Götternamen. „Meinst du nicht, dass du dich dann im falschen Komitee befindest?“ Diese plötzlich erklingende Stimme ließ Leana innehalten als wäre sie festgefroren. Es war nicht Shun, diesem hätte sie einfach einen Fausthieb verpasst, damit er ruhig war. Stattdessen sah sie plötzlich Medario vor sich, der sie so ausdruckslos wie eh und je ansah. Leana schluckte schwer. Gegen Shun konnte sie sich wehren, kein Problem, Nathanael war hauptsächlich nervig, aber Medario war anders. Er war eine Bestie, im wahrsten Sinne des Wortes, immerhin hatte sie ihn einmal bereits kämpfen gesehen. In ihrem jetzigen Zustand, allein, mit einem Shinken der unteren Ränge, hatte sie nicht den Hauch einer Chance gegen ihn, das musste sie zähneknirschend anerkennen. Also war es besser, es sich nicht mit ihm zu verscherzen. „Also?“, fragte er. „Meinst du nicht, dass du dich im falschen Komitee befindest?“ Da Leanas Antwort so viel Zeit in Anspruch nahm, wollte Isolde bereits vortreten und das übernehmen, doch Leana gebot ihr mit einer Handbewegung, zu schweigen. „Ich bin aus freiem Willen dem Zerstörungskomitee beigetreten und ich bin mir dessen Konsequenzen vollkommen bewusst. Lass das also nur meine Sorge sein.“ Er nickte wohlwollend über ihre Antwort. Es war nicht leicht, in das Zerstörungskomitee zu kommen und dort nicht unterzugehen, ein normaler Mensch würde es mit Sicherheit nicht einmal eine Woche darin aushalten. Leana schaffte es bereits seit mehreren Monaten und langsam gewann sie den Eindruck, dass sie tatsächlich ihre Menschlichkeit schon vor Langem eingebüßt hatte, genau wie alle anderen Mitglieder. „Magst du mir dennoch erklären, warum du 'Reimeis' Meister gerettet hast?“ Sie biss sich auf die Unterlippe. Eigentlich hatte sie gehofft, ihr würde noch ein wenig Zeit bleiben, ehe sie eine Erklärung finden müsste, die auch die drei obersten Mitglieder zufriedenstellte, aber nun würde sie improvisieren müssen: „Mir war nicht bewusst, dass es sich bei ihm um einen Feind handelt. Ich war zwar bei manchen Kämpfen anwesend, aber seinen Auftritt muss ich dabei immer verpasst haben.“ Da jeder darauf verzichtet hatte, ihr einen Kurs zu geben, was ihr Feinde betraf, war sie davon überzeugt, dass Medario ihr das abkaufen würde – und tatsächlich tat er das. „Ich verstehe. Fortan solltest du aber aufhören damit, diesem Jungen helfen.“ Sie nickte. „Okay, verstanden.“ Er lächelte auf eine Art und Weise, die Leana verriet, dass er sie am Liebsten direkt in Stücke gerissen hätte, doch stattdessen ließ er sie ganz und verschwand wieder. „Er war es, der Setoki geschubst hat, oder?“ „Es war Nerida“, antwortete Isolde. „Aber das kommt wohl auf dasselbe heraus.“ Leana stieß ein Seufzen aus und legte den Kopf in den Nacken. „Ich wünschte, es wäre schon vorbei...“ Jatzieta ignorierte die neidischen Blicke der umstehenden Bahnhofsbesucher, während sie vorsichtig Nozomus Bein abtastete. Er dagegen fühlte sich unbehaglich, es kam nur selten vor, dass er so viel Aufmerksamkeit auf sich zog und dass er gleichzeitig brennende Eifersucht in den Augen der Wartenden erkennen konnte, machte die Sache nicht besser. „Also verletzt ist das Bein nicht“, stellte Jatzieta fest. „Aber es kann sein, dass es geprellt ist. Kannst du es immer noch nicht bewegen?“ „Doch, es geht inzwischen wieder.“ Zwar schmerzte es noch immer, aber immerhin spürte er langsam wieder etwas und konnte das Bein auch wieder bewegen, ohne vor Schmerzen wieder in sich zusammenzusinken. Er hatte schon fast bereut, Jatzieta angerufen zu haben, aber sie war überraschend schnell gekommen – oder zu seiner Hilfe geeilt, wie sie es nannte. „Wollen wir uns dann auf den Rückweg machen?“ Er konnte sie schlecht dazu überreden, gemeinsam mit ihm die Adresse aufzusuchen, die Satsuki ihm genannt hatte, deswegen nickte er zustimmend. „Ja, gehen wir.“ Sie half ihm, aufzustehen und ging dann gemeinsam mit ihm davon, ohne die enttäuschten Blicke der anderen Wartenden zu beachten. „Solltest du nicht eigentlich in der Schule sein?“ Er runzelte die Stirn. „Ja, aber unser Nachhilfelehrer hat mich gewissermaßen... verunsichert.“ „Oh? Wie heißt er denn? Vielleicht kenne ich ihn und kann ihn dann ein wenig tadeln.“ Sie zwinkerte ihm zu, was dazu führte, dass er vorbehaltlos antwortete: „Nathanael Voss.“ Doch im selben Moment bereute er bereits, das getan zu haben, denn ihr Blick verdüsterte sich augenblicklich. Er wusste sofort, dass sie ihn kannte und keine positiven Erinnerungen mit ihm verband – und er wusste, dass sie Salles davon erzählen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)