Der ewige Göttername von Flordelis ================================================================================ Kapitel 7: Suzume Motou ----------------------- Die nächsten sechs Tage verbrachte Nozomu wieder allein in der Schule und das meistens auf dem Dach derselben, so wie auch an diesem Tag. Seitdem sie das Wohnheim verlassen hatten, hatte Zetsu nicht mehr mit ihm gesprochen und Satsuki hatte ihn höflich darauf hingewiesen, dass sie seine Hilfe im Keller nicht mehr wünschte. Dabei hatte sie ihn mit seinem Nachnamen angesprochen. Er nutzte die Zeit, um über die Sache mit den Shinken und den Shinjuu nachzudenken. Das blonde Wesen, das anscheinend auch ein Shinjuu war, beobachtete ihn dabei immer aufmerksam und begleitete ihn fast überallhin. Er hätte gern gewusst wie ihr Name war, aber sie sprach nach wie vor nicht und war immer noch leicht transparent. Für alle anderen außer ihm war sie auch noch unsichtbar. Aber durch das Gespräch mit Salles wusste er zumindest, dass sie keine Wahnvorstellung war – und das beruhigte ihn ungemein. So wie er es sah gab es nur zwei Möglichkeiten, die mit seinem Wunsch konform gingen: Entweder ignorierte er all das und führte sein normales Leben weiter – und würde dafür über kurz oder lang mit Sicherheit sterben. Oder er beschloss, das normale Leben für eine Weile aufzugeben, sich Salles' Gruppe anzuschließen und für seinen Traum zu kämpfen. Und so sehr es ihm (oder besser: seinem Gewissen) auch missfiel, bislang überwogen alle Argumente dafür, dass er es ignorierte. Wenn er das den anderen mitteilen würde, würden sie bestimmt nie wieder mit ihm reden. Allerdings wusste er nicht, ob er das gut oder schlecht finden sollte. Einerseits mochte er die beiden, andererseits wollte er aber auch keine weiteren Probleme – und er wusste, dass es genau dazu kommen würde, wenn er mehr Zeit mit ihnen verbrachte. Seufzend legte er sich auf die Bank und starrte frustriert an den Himmel. Warum gab es nur niemanden, den man fragen konnte, wenn man Probleme hatte? Jemanden, der alles wusste und einem so optimal helfen konnte? „Das wäre die einfache Methode...“, sagte plötzlich eine Stimme neben ihm. „Aber bist du sicher, dass es so praktisch wäre?“ Erschrocken fuhr er wieder hoch und starrte das Mädchen an, das neben ihm stand. Es war nicht die Schwarzhaarige, die er sonst sah, sondern eine blonde Schülerin mit einem Haarschnitt, der dem von Nozomi ähnelte – und roten Augen. Noch nie zuvor hatte er jemanden mit solch dunkelroten Augen gesehen. Sie strahlte eine Aura der Ruhe und der Friedfertigkeit aus, auch wenn – oder gerade weil? - ihr blasses Gesicht kränklich und verletzlich aussah. Anhand der gelben Schleife erkannte Nozomu, dass sie in derselben Stufe wie Satsuki und Zetsu war. Dabei sah sie um einiges jünger aus. „Ähm, bitte?“ Sie räusperte sich. „Tut mir Leid, aber ich kam nicht umhin, dein Selbstgespräch mitanzuhören.“ Er seufzte leise. „Habe ich das schon wieder getan? Tut mir Leid, ich denke öfter mal laut, ohne es zu merken.“ „Schon in Ordnung, dafür musst du dich nicht entschuldigen. Darf ich mich neben dich setzen?“ Nozomu nickte. Sie setzte sich neben ihn, sah in die Entfernung und holte tief Luft. „Ich bin wirklich gern hier.“ „Ja, es ist... schön hier.“ „Der schönste Platz an dieser Schule.“ Beide schwiegen eine ganze Weile und starrten gemeinsam in die Entfernung. Nozomu dachte wieder an die Sache mit den Shinken und den Shinjuu zurück. Dabei fiel ihm auf, dass das kleine Wesen verschwunden war. Er fragte sich, wohin sie wohl ging, wenn sie verschwand und was sie dort machte. „Du bist also Nozomu Setoki?“ Ihre Frage riss ihn wieder aus seinen Gedanken. Er nickte. „Ja, bin ich.“ „Ich bin Suzume Motou“, stellte sie sich ungefragt vor. „Aha...“ Wieder versanken sie in Schweigen, bevor sie eine weitere Frage stellte: „Du kennst Ikaruga und Akatsuki, stimmts?“ „Na ja... mehr oder weniger.“ Sie holte ihre Lunchbox hervor. „Willst du etwas?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Ich habe keinen Hunger.“ „Habe ich auch nur selten“, antwortete sie leicht lächelnd, während sie die Box öffnete. „Aber mein Arzt hat mir aufgetragen, zu jeder Mahlzeit zumindest eine Kleinigkeit zu essen.“ Nozomu musterte sie noch einmal. Also hatte er sich das mit dem kränklich nicht eingebildet. „Was hast du denn?“ „Oh, es ist mehr was Psychisches. Sie sagen, der Tod meiner Eltern hätte mich traumatisiert – aber ich erinnere mich nicht daran.“ Er horchte auf. Ihr war dasselbe passiert wie ihm. „Wann war denn das?“ Gleichgültig zuckte sie mit den Schultern. „Lange her. Vor fünf Jahren oder so.“ Sogar die Zeit stimmte genau mit dem Tod seiner Eltern überein. Konnte das ein Zufall sein? Nein, bestimmt hing das irgendwie zusammen! Wenn er nur herausfinden könnte wie. Aber sie schien das ganze Thema nicht weiter zu interessieren. Er sah auf das Innere ihrer Lunchbox. Das Essen war appetitanregend drapiert und musste sich vor dem von Nozomi in keinster Weise verstecken. „Hast du das gemacht?“ Sie nickte. „Ja. Musste ich wohl. Willst du doch etwas?“ Einladend hielt sie ihm die Lunchbox hin. „Aber nur wenn ich dir nichts wegesse.“ „Nein, keine Sorge, es ist okay.“ Er lächelte leicht. „Danke.“ Schweigend saßen sie nebeneinander, aßen ihr Mittagessen und starrten in die Entfernung. Das näherkommende Schulfest zwang Nozomi nach der Schule dazu, zu einer Bandprobe zu gehen. Auch wenn er immer noch nicht in die ganze Sache involviert war, fragte er sich, wie es wohl werden würde. Und wie er es schaffen würde, das ganze zu umgehen. Wenn Zetsu und Satsuki bis dahin immer noch nicht mit ihm reden würde, würde er bestimmt nicht hingehen. „Setoki, gehst du schon nach Hause?“ Suzume trat neben ihn. Er nickte. „Ja. Ich bin in keinem Club.“ „Wollen wir zusammen gehen? Mein Club trifft sich heute nicht.“ Zetsu lief an ihnen vorbei, ohne einen von ihnen auch nur eines Blickes zu würdigen. Satsuki war wahrscheinlich wieder im Keller beschäftigt. Nozomu seufzte innerlich, dann nickte er. „Klar.“ Sie lächelte leicht und ging gemeinsam mit ihm los. „Ich dachte, du wärst mit Akatsuki befreundet“, sagte sie plötzlich. „Aber er hat dich heute gar nicht beachtet.“ Er seufzte. „Wenn das der einzige Grund ist, warum du dich mit mir abgibst, muss ich dir sagen, dass zwischen uns gerade eine Art Eiszeit herrscht.“ Bestimmend, aber keineswegs überhastet oder rechtfertigend, schüttelte sie ihren Kopf. „Darum geht es mir auch gar nicht. Ich habe kein Interesse daran, mich über andere Leute bei den beiden einzuschleimen. Aber du... du hast etwas Interessantes an dir.“ „Mach dich nicht über mich lustig“, maulte er. Ernst sah sie ihn an. „Du hast einige Probleme mit deinem Selbstbewusstsein, oder? Ich meine es ernst. Ich bin kein Mensch, der sich bei anderen einschleimt – das habe ich schon einmal erwähnt.“ Schweigen kehrte wieder zwischen ihnen ein. Mit ausdruckslosen Gesichtern sahen sie geradeaus, auf den Weg, der vor ihnen lag. Nozomu versank wieder in Gedanken. Etwas an Suzumes Verhalten irritierte ihn. Besonders seit er bemerkt hatte, dass sie eine Mischung aus ihm und Nozomi zu sein schien – und immer wenn sie auftauchte, verschwand das kleine Wesen, das ihn sonst umschwirrte. Außerdem verstörte ihn ihr stets neutrales und oft desinteressiert erscheinendes Wesen. Wirkte er etwa auch so auf andere Menschen? Andererseits war gerade diese Ähnlichkeit zu ihm das, was er an ihr mochte und ihn eine Verbundenheit zu ihr spüren ließ. Mehr als zu Zetsu, Nozomi oder Satsuki. Menschen mit den gleichen Gedanken wie seinen traf man immerhin nicht oft. Aber als Voraussetzung, dass das nicht abriss, musste er verhindern, dass sie genervt von ihm war. „Wahrscheinlich hast du recht“, antwortete er schließlich. „Aber ich bin den Umgang mit Menschen nicht mehr so sehr gewöhnt.“ Sie lächelte mild. „Schon in Ordnung. Ich weiß, wie es dir geht. Vergiss nicht, im Prinzip bin ich in derselben Situation wie du.“ „Wann bist du eigentlich wieder rausgekommen?“, fragte er interessiert. „Vor einem Jahr, also zu Beginn meiner Zeit an der Monobe-Akademie. Aber ich musste das ganze letzte Jahr nach der Schule zu einer ambulanten Therapie.“ Die Erinnerung daran verbreitete eine düstere Aura und ließ ihr Gesicht verschlossen wirken. „Ich verstehe.“ Er beschloss hastig, das Thema zu wechseln. „In was für einem Club bist du eigentlich?“ „Nun, hilft es dir, wenn ich sage, dass ich dafür einen Fotoapparat brauche?“ Erstaunt blickte er sie an. „Du bist wirklich im Fotografie-Club?“ Sie nickte lächelnd. „Jap. Ich liebe es, besondere Momente auf Bildern festzuhalten.“ Ein Hauch von Glück und Freude umgab sie, als sie diesen Satz aussprach. Nozomu beneidete sie darum, dass sie das gefunden hatte, was ihr Freude machte. Ob er so etwas auch einmal finden würde? „Wofür interessierst du dich, Setoki?“ Lange musste er für seine Antwort nicht überlegen: „Ich weiß nicht. Ich habe bislang noch nicht so wirklich darüber nachgedacht. Aber ich mag Manga, Anime und Videospiele.“ „Da gibt es bestimmt auch einen Club, der dich interessieren könnte.“ Er zuckte mit den Schultern. „Eigentlich ist es mir egal. Auch wenn ich keinem Club beitrete, bin ich zufrieden.“ Wortlos nickte sie. Vor dem Haus der Nagamines blieben sie schließlich wieder stehen. Suzume musterte das Haus. „Nett hast du es hier.“ „Mhm, ja.“ „Ist jedenfalls was ganz anderes als mein kleines Apartment. Mit wem wohnst du hier?“ „Mit Nozomi und ihren Eltern.“ Sie nickte verstehend. Ein Schimmer von Neid schlich sich in ihre Augen. Er wusste instinktiv, was es bedeutete: Sie lebte allein und das nicht einmal gern. „Setoki, kann ich deine Handynummer haben?“ Überrascht sah er sie an. Sie antwortete ihm, bevor er seine Frage stellen konnte: „Nur für den Fall der Fälle. Du hast doch ein Handy, oder?“ Der Fall der Fälle? Was könnte sie meinen? Er nickte und sagte ihr die Nummer, die sie mit erstaunlicher Schnelligkeit in ihr Handy eingab. Schließlich steckte sie es wieder ein und lächelte. „Vielen Dank. Wir sehen uns.“ Ein letzter Gruß, dann ging sie davon und verschwand schon bald hinter der nächsten Ecke. Hatte er heute etwa eine neue Freundschaft geschlossen? Das war ja gar nicht so schwer wie er früher immer gedacht hatte. Zufrieden ging er hinein, um mit den Hausaufgaben anzufangen. „Wie... wie kannst du so etwas von mir verlangen?“ Ihre Stirn ruhte auf dem Spiegel. Das kühle Glas fühlte sich gut auf ihrer heißen Stirn an, schaffte es aber nicht, ihr Zittern zu stoppen. „Wie kannst du nur?“ Der Spiegel reflektierte nicht ihre Gestalt, sondern die einer Frau mit kurzem hellgrünen Haar, einer Augenbinde und einem langen Mantel mit Pelzbesatz. Sie legte ihre Hand an die Stelle, an der der Kopf des Mädchens ruhte und tat so als würde sie über deren Haar streichen. „Ganz ruhig, Suzume. Ich kann das für dich erledigen, wenn du willst. Du musst mir nur deinen Körper zur Verfügung stellen.“ Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht tun. Er ist...“ ... wie ich. „Du hast dich nur auf mein Geheiß mit ihm angefreundet, um das zu tun. Also red dich nicht raus.“ Schmerzen zuckten durch Suzumes Körper, breiteten sich bis in ihren letzten Muskel aus und wurden langsam stärker. „O-okay! Okay!“ Die Schmerzen verschwanden so schnell wie sie gekommen waren. Erschöpft ging Suzume auf die Knie. „Es tut so weh, es tut so weh...“ „Und jetzt tust du, was ich sage.“ „Ja... Mitosemarl...“ Da er nie zuvor angerufen worden war, dauerte es eine ganze Weile, bis er bemerkte, dass es sein Handy war, das die störenden Geräusche in regelmäßigen Abständen von sich gab und da es nur vier Personen gab, die seine Nummer hatten (und drei davon befanden sich mit ihm im Haus), konnte es nur eine sein. Warum hatte er eigentlich Zetsu nie seine Nummer gegeben? Wahrscheinlich weil er einfach nicht gefragt worden war. Doch statt eines Anrufs war es eine SMS – von Suzume, wie er erwartet hatte. Triff mich in 15 Minuten auf dem Sportplatz im Park. Nozomu erinnerte sich an den Park in dem er früher sehr oft gespielt hatte. Seit seiner Rückkehr war er allerdings nicht mehr dort gewesen. Nachdenklich betrachtete er das Display. Was will sie um diese Zeit von mir? Und vor allem auf dem Sportplatz? Für einen Moment regte sich Zweifel in ihm, genährt von den Bedenken und dem Verbot, das Satsuki an seinem ersten Schultag ausgesprochen hatte. Doch dann fiel ihm etwas anderes ein: Suzume war dann auch allein unterwegs. Was, wenn ihr etwas geschehen würde? Sie war doch viel hilfloser als er. Dieser Gedanke bestärkte seinen Entschluss. Noch mit Schuluniform schlich er sich nach unten, das Wesen folgte ihm wieder neugierig. Ohne etwas zu sagen zog er seine Schuhe an und verließ das Haus vorsichtig, in der Hoffnung, dass niemand merken würde, dass er weg war. Es dauerte nicht lange, bis er den Park und schließlich den Sportplatz wiedergefunden hatte. Allerdings war er stark verwundert darüber, dass außer ihm sonst niemand unterwegs zu schien. Der Park war völlig verlassen – abgesehen von ihm und Suzume, die er dort fand. „Ah, da bist du ja“, sagte er und ging auf sie zu. Ein plötzlicher Impuls ließ ihn inne halten. Etwas an ihrer Haltung irritierte ihn, ihre Aura versprühte Kälte und Hass. „Suzume?“, fragte er sicherheitshalber. Sie hob den Kopf. Ihre Augen wirkten leer und ausdruckslos. Sein Blick wurde von einem Gegenstand in ihrer rechten Hand angezogen. Es war eine Peitsche mit einem langen Stiel und vier Lederriemen. Er hatte diese Waffe schon einmal gesehen und auch das dunkle Glühen, das sie verbreitete. Aber wo nur? „Suzume?“, fragte er noch einmal. Sie öffnete ihren Mund. Die Worte, die sie sprach, wurden nicht nur von ihrer Stimme, sondern auch von einer völlig fremden Stimme ausgesprochen und raubten Nozomu fast die Luft zum Atmen: „Du stirbst hier, Nozomu Setoki.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)