Der ewige Göttername von Flordelis ================================================================================ Kapitel 4: Sind wir jetzt Freunde? ---------------------------------- Trotz seiner wachsenden Abneigung gegen seine Mitschüler und den seltsamen Annäherungsversuchen von Zetsu, überwand Nozomu sich jeden Tag aufs Neue in die Schule zu gehen. Seine Tabletten, die er fast schon als Ersatz für Nahrung zu sich nahm, gingen dementsprechend schnell zur Neige. Wie sollte er nur ein normales Leben führen, wenn er nicht einmal den Schulbesuch hinbekam? Vielleicht war es eine dumme Idee gewesen, in den alten Bezirk zurück zu kommen. Vielleicht wäre es woanders aber genauso abgelaufen. Für seinen Geschmack waren es zu viele Vielleichts und zu wenig Bestimmts. Aber ändern konnte und wollte er an dieser Situation nun vorläufig auch erst einmal nichts. Er war sich sicher, dass bei seinem nächsten Arztbesuch dieser die notwendigen Schritte einleiten und ihn wieder aus der Schule und dem normalen Leben entfernen würde. Er müsste dann zwar wieder in das weiße Zimmer zurück und zu den anderen Schülern, die alle wirklich psychisch krank waren, aber er wäre immerhin weg von dieser Schule. Und damit auch von Nozomi, die sich so sehr über seine Rückkehr gefreut hatte. Könnte er ihr das wirklich antun? Warum fragte er sich das überhaupt selbst? Natürlich konnte er. Sie bedeutete ihm nichts, niemand bedeutete ihm etwas. Es schien ihm selbst als wäre er tot und hätte es nur noch nicht gemerkt, doch es störte ihn nicht, im Gegenteil. Etwas unsagbar Finsteres in ihm genoss diese Situation und kostete sie bis zum Äußersten aus, wagte immer wieder einen Vorstoß, um die endgültige Kontrolle über seinen Körper zu bekommen. Doch soweit ließ Nozomu es nicht kommen. Dieser Körper gehörte ihm und das würde bis zu seinem Ableben auch so bleiben, dafür würde er sorgen. Nozomi schien langsam ebenfalls von der Kälte in seinem Inneren überzeugt zu werden und verbrachte in der Schule immer weniger Zeit mit ihm, was ihm ganz recht war, da er so Zeit für sich selbst hatte und tun konnte, was er wollte. Da Zetsu aber das erstaunliche Talent besaß, ihn immer und überall zu finden, begab Nozomu sich zur Abwechslung auf das Dach der Schule. Ein leichter, aber warmer, Windhauch empfing ihn, als er die Tür öffnete und sich umsah. Der gesamte Rand war umzäunt, scheinbar um jemanden vor einem Sturz – oder einem Sprung – zu bewahren. Doch Nozomus Interesse galt ohnehin eher der Bank, die jemand dort aufgestellt hatte. Offensichtlich flüchteten sich öfter Schüler nach dort oben, um allen anderen auszuweichen, aber an diesem Tag war niemand da, was Nozomu nur recht war. Er brauchte keine Gesellschaft und niemand wollte seine, also war alles gut so wie es war. Zufrieden setzte er sich auf die Bank und starrte auf den Himmel und die Hochhäuser, die sich davor erstreckten. Er fragte sich, wie es wohl war, in einem Büro zu arbeiten und ob er das eines Tages auch schaffen würde. Einen ganz normalen Job in einem kleinen Büro, am besten in einem, wo der Chef sich nicht einmal seinen Namen merken könnte. Das war sein Traum. Wovon hatte er eigentlich früher geträumt? Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, also war es wohl unwichtig. Während er in Gedanken versunken dasaß, hörte er plötzlich ein leises Seufzen. „Ist es hier nicht schön?“ Er schreckte auf. Sein Blick fiel auf eine schwarzhaarige Schülerin – dieselbe, die er an seinem ersten Tag am Bahnhof gesehen hatte. Lächelnd fuhr sie zu ihm herum. „Was sagst du dazu?“ „Es ist... ganz nett. Gehst du in dieselbe Klasse wie Akatsuki?“ Sie antwortete nicht, sondern lächelte nur weiter. „Argh, warum rede ich überhaupt mit dir? Du bist doch nur eine weitere Wahnvorstellung... oder?“ Nachdenklich legte sie den Kopf schräg. „Was denkst du denn?“ Er seufzte. „Ich denke, du bist eine.“ „Dann aber hoffentlich eine angenehme.“ „Nicht wirklich.“ Sie schnaubte und wandte sich wieder dem Zaun zu, um nach unten zu sehen. Nozomu stand auf und stellte sich neben sie. Er konnte ihren Geruch wahrnehmen – war sie also doch keine Wahnvorstellung? „Findest du es nicht auch deprimierend, die Welt durch diesen Zaun zu beobachten?“ Er ließ sich einen Moment Zeit mit der Antwort, um über die Frage nachzudenken, zuckte aber doch nur mit den Schultern. „Darüber habe ich nicht nachgedacht.“ Sie seufzte leise. „Du bist schon ein wenig seltsam.“ Noch einmal zuckte er mit den Schultern. Plötzlich verschwand der Geruch. Als er sich suchend umsah, entdeckte er, dass das Mädchen ebenfalls verschwunden war. War sie dann etwa doch eine Wahnvorstellung gewesen? Wenn er wieder zur Untersuchung bei seinem Arzt war, musste er diesem unbedingt davon erzählen. Was er wohl dazu sagen würde? Bestimmt nichts Gutes. Aber immerhin erhöhte das die Chance, dass er wieder aus dieser Stadt herauskam. Denn inzwischen war er sich sicher, dass es ein Fehler gewesen war, hierher zurück zu kommen. Hier könnte er nie ein normales Leben führen. Nachdenklich strich er am Zaun entlang, bis er tatsächlich zu einer Stelle kam, die nicht umzäunt war. Ungehindert konnte er von hier aus über den Schulhof und den Sportplatz sehen, wo die Leichtathletikmannschaft sich gerade zu einer Besprechung zu treffen schien. In wenigen Wochen – so hatte Nozomu mitbekommen – sollte es ein Schulfest geben, an dem alle Clubs für interessierte Besucher zugänglich sein sollten. Er war allerdings in keiner Aktivität eingeplant, weswegen es ihn nicht weiter interessierte. Ein Windhauch hinter ihm unterbrach erneut seine Gedanken. Nozomu fuhr herum und zuckte zusammen. Direkt vor ihm stand wieder die Onryō, ihr Gesicht zu einer Grimasse verzogen. „Was zum...!?“ So lange hatte er die Onryō direkt vor sich haben wollen, aber nun wusste er nicht, was er tun sollte. Er wollte weglaufen, aber seine Füße waren wie festgewachsen und verweigerten ihm den Dienst. Sie griff nach seiner Schulter, aber statt ihn zu ergreifen, wie er befürchtete, schubste sie ihn von sich. Er taumelte rückwärts und stieß mit dem Fuß gegen die erhöhte Kante des Dachs. Panik breitete sich in ihm aus, als er spürte, wie er den Halt zu verlieren begann und langsam rückwärts stürzte. Verzweifelt ruderte er mit den Armen, um sein Gleichgewicht wieder zu gewinnen. „Nozomu!“ Ein seltsamer Lichtblitz ließ den Geist verschwinden, im nächsten Moment griff jemand nach seiner Hand – der Fall stoppte abrupt. „Keine Sorge, ich hab dich.“ Mit Hilfe der anderen Person gewann er sein Gleichgewicht wieder und ging direkt in die Knie. Sein ganzer Körper zitterte. Oh mein... was da beinahe passiert wäre... sie wollte mich runterschubsen... aber... das bedeutet ja, dass sie keine Einbildung war! Die Onryō existiert tatsächlich! Sein Retter kniete sich vor ihn. „Alles in Ordnung?“ Nozomu hob den Kopf. „Akatsuki...“ Zetsu nickte lächelnd. „Zum Glück habe ich dich gerade rechtzeitig gefunden. Das wäre ein ganz schön schmerzhafter Aufprall auf dem Boden gewesen.“ „D-danke. Aber woher wusstest du, dass ich hier bin?“ „Mhm, es war eine Eingebung, nichts weiter.“ „Hast du diesen Geist gesehen?“, fragte Nozomu. Zetsu zögerte einen Moment, bevor er mit dem Kopf schüttelte. „Nein, da war nichts...“ Nozomu atmete tief durch, während er versuchte, sein rasendes Herz zu beruhigen. Wenn Zetsu nicht gekommen wäre und ihm geholfen hätte, wäre er jetzt höchstwahrscheinlich tot. Wenn dessen seltsame Annäherungsversuche also nicht gewesen wäre... Dafür schuldete Nozomu ihm wohl etwas. Nein, noch mehr, er wollte ihm unbedingt einen Gefallen tun, also warum sollte er es nicht mit dieser Freundschaftssache versuchen? Zetsu schien seine Gedanken zu erahnen und stellte gleich die Frage, die ihn interessierte: „Sind wir jetzt Freunde?“ Mit dieser Frage geriet Nozomus Entschluss bereits wieder ins Wanken. „Ich weiß nicht...“ Der Gedanke daran, eine normale Freundschaft aufzubauen, machte Nozomu Angst, obwohl er nicht einmal wusste, weswegen eigentlich. „I-ich glaube, ich muss darüber erst noch einmal nachdenken.“ Zetsu unterdrückte ein Seufzen und nickte. „Natürlich. Wie wärs, treffen wir uns heute Abend im Einkaufscenter?“ „A-aber was ist mit der Ausgangssperre?“ Zetsu wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. „Mach dir keine Sorgen deswegen. Satsuki-senpai und ich dürfen nachts rausgehen. Sollte man dich aufgreifen, sag einfach, dass ich dir die Erlaubnis gegeben habe.“ „Warum dürft ihr das?“ Zetsu grinste wieder. „Verrat ich dir nicht. „Also, heute Abend im Einkaufscenter im Café, okay?“ Nozomu nickte und stand wieder auf. „Gut, einverstanden. Ich geh jetzt wieder in mein Klassenzimmer.“ Da sind meine Beruhigungstabletten. Zetsu verabschiedete ihn und sah Nozomu hinterher. Kaum hatte er gehört, wie sich die Tür schloss, wurde das Gesicht des Silberhaarigen ernst. „Nanashi.“ Das puppenartige Wesen mit dem fliederfarbenen Haar erschien neben ihm. „Ja, Meister?“ „Dieser Geist, war das ein Shinjuu?“ Nanashi nickte. „Jawohl. Ein Shinjuu von der Onryō-Sorte. Noch dazu ein äußerst rachsüchtiges. Es scheint es auf Setoki abgesehen zu haben.“ „Weswegen?“, fragte Zetsu. Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Es ist kein sehr gesprächiges Shinjuu.“ Er seufzte. „In Ordnung. Versuch ein wenig was darüber herauszufinden. Für heute brauche ich dich wahrscheinlich ohnehin nicht mehr.“ Sie nickte und verschwand wieder. Zetsu sah auf die Stelle, an der vorhin noch der Geist gestanden hatte. Wenn sein Shinken Gyouten dieses Shinjuu nicht gespürt hätte, dann hätte er Nozomu nicht retten können und somit hätte er diese Gelegenheit verpasst, eine neue realistische Chance auf eine Freundschaft zu bekommen. Hmmm, ich bin gespannt, ob Nozomu heute wirklich kommt. Es hatte ihn einiges an Überzeugungsarbeit geleistet, aber schließlich hatten die Nagamines ihn gehen lassen. Er hatte sogar Nozomi überredet, daheim zu bleiben und ihr versichert, dass er den Weg allein finden würde. Angst hatte er keine. Die Dunkelheit erschreckte ihn nicht und diese Vorfälle interessierten ihn schlichtweg nicht, also warum sollte er Angst haben? Was immer da nachts umherging, konnte ihm keine Furcht einjagen. Er erreichte das Einkaufscenter wie er erwartet hatte ohne Probleme. Das Gebäude war hell erleuchtet, Erwachsene und Schüler von anderen Schulen befanden sich im Inneren, liefen geschäftig umher oder unterhielten sich lachend. Hauptsächlich standen Schülerinnen in grünen Uniformen herum. Nozomu wusste von dem Direktor der Monobe-Akademie, dass es im Minami-Bezirk neben der Akademie auch noch eine reine Mädchenschule gab. Sie hieß Subeta-High oder so ähnlich, Nozomu hatte es sich nicht wirklich gemerkt, da es ihn gar nicht interessiert hatte. Eine Schülerin mit langem blonden Haar stach besonders heraus. Ihre Augen wirkten leblos, selbst während sie mit den anderen redete, ihre Stimme war monoton. Was war wohl geschehen? Nein, es interessierte ihn eigentlich gar nicht, also wandte er den Blick von ihr ab. Er schlug den Weg zu dem einzigen Café des gesamten Centers ein und betrat es. Eigentlich hatte er erwartet, Zetsu bereits an einem Tisch sitzen und auf ihn warten zu sehen – aber dass der Silberhaarige in einer Kellneruniform zwischen den Tischen umher huschte, Bestellungen aufnahm und Kaffee und Kuchen verteilte, verschlug Nozomu doch die Sprache. Zetsu hielt plötzlich inne, als er Nozomu sah. „Oh, willkommen. Setz dich doch schon mal, ich hab gleich Pause und bin dann für dich da.“ Verwirrt und voller Fragen setzte er sich an einen freien Tisch. Die Sessel waren wirklich bequem, aber die Zierdecken auf dem kleinen Tisch wirkten übermäßig kitschig. Als Nozomu sich umsah, merkte er, dass hauptsächlich Mädchen anwesend war. Das lag mit Sicherheit auch an Zetsu – und dem Mief von Kitsch. Nach wenigen Minuten setzte Zetsu sich zu ihm an den Tisch. Er stellte einen Eistee vor Nozomu und einen vor sich. „So, jetzt hab ich Zeit. Während meiner Schicht ist immer ziemlich viel los.“ „Das kann ich mir vorstellen...“ Ob Zetsu wohl der Mädchenmagnet für dieses Café war? „Du arbeitest hier?“, fragte Nozomu noch einmal, um sicherzugehen. Der Silberhaarige nickte. „Mittwochs, Freitags und Sonntags.“ „Und du kriegst Geld dafür?“ „Sicher, sonst würde ich das ja nicht machen.“ „Aber ist das nicht verboten?“ Zetsu sah sich hektisch nach allen Seiten um und senkte verschwörerisch die Stimme. „Offiziell arbeite ich hier natürlich nicht und wenn jemand fragt springe ich nur für meinen Onkel ein, verstanden?“ Nozomu nickte sofort. Hat er überhaupt einen Onkel? Zetsu räusperte sich. „Also, hast du es dir überlegt? Sind wir jetzt Freunde?“ Er schwieg. Der Silberhaarige schmunzelte nervös. „Ist fast so, als würde ich darauf warten, ob du mir sagst, dass du mich liebst.“ Nozomu seufzte. „Solche Aussagen helfen mir nicht gerade.“ „Oh, tut mir Leid, aber ich konnte nicht widerstehen.“ Erwartungsvoll sah Zetsu ihn an. Nozomu hielt den Kopf halb gesenkt. Er wollte ein normales Leben und für ein normales Leben brauchte man Freunde, das war ihm klar. Und da Zetsu bislang der einzige war, der ihm diese geradezu aufzwang und ihm sogar das Leben gerettet hatte... warum sollte er es nicht einfach probieren? Vielleicht würde er es am Ende bereuen, vielleicht spielte Zetsu nur ein grausames Spiel mit ihm – aber zumindest im Moment würde er dieses Risiko mit Freuden eingehen. Vielleicht würde er sogar so etwas wie Spaß daran haben. Er hob den Blick und sah Zetsu direkt an, als er nickte. „Ja, wir sind Freunde.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)