Der ewige Göttername von Flordelis ================================================================================ Kapitel 3: Von der Vergangenheit verfolgt ----------------------------------------- Das Geräusch von klapperndem Geschirr erfüllte das Esszimmer des abgelegenen Schüler-Wohnheims im Minami-Bezirk. Aber außer einem einzigen Schüler war sonst niemand zu sehen, der etwas aß. Der grünhaarige Hausherr und die rothaarige Frau neben ihm, bestaunten den silberhaarigen Jungen, der das Essen vor sich hinunterschlang und bereits nach der dritten Portion fragte. Die Frau kicherte leise. „Mein lieber Schwan, hast du zu Hause nichts zu essen, Zetsu?“ Er erwiderte etwas mit vollem Mund, worauf der Mann am Tisch genervt die Augen hinter seiner Brille schloss und leise seufzte. Zetsu schluckte hastig und wiederholte seine Worte: „Nicht wirklich. Entweder bin ich pleite oder ich habe keine Zeit zu essen, wegen meinen ganzen Jobs und den nächtlichen Rundgängen.“ „Wenn du im Wohnheim wohnen würdest, hättest du mehr Zeit“, erinnerte sie ihn. Aufgrund der folgenden Stille war zu schließen, dass sie dieses Gespräch schon oft gehabt hatten und immer hatte es die gleiche Antwort gegeben: „Nein, danke.“ Zetsu senkte den Kopf wieder und aß gierig weiter, als ob er befürchtete, gleich aus dem Haus geworfen zu werden, ohne vorher satt werden zu können. Der Mann seufzte. „Jatzieta, lass es.“ „Aber Salles...!“ Er schüttelte den Kopf, um ihr das Wort abzuschneiden. „Er will nicht, also lass ihn. Er muss selbst sehen, wie er mit seinem Leben klarkommt.“ Sie nickte widerwillig und sah wieder Zetsu an. „Also mein Junge, was hast du uns zu erzählen? Du bist doch nicht nur zum Essen gekommen, oder?“ Wieder setzte er an, um etwas mit vollem Mund zu sagen, konnte sich aber rechtzeitig bremsen, als Salles die Hand hob. „Bitte... schlucke erst mal hinunter.“ Wie befohlen schluckte er, nahm anschließend einen großen Schluck aus dem Wasserglas und antwortete anschließend: „Wir haben einen neuen Schüler bekommen – und er wird euch bestimmt interessieren.“ Salles und Jatzieta warfen sich skeptische Blicke zu. „Wie heißt er denn?“, fragte der Mann. „Nozomu Setoki.“ Die von Zetsu erwartete und erhoffte Reaktion blieb aus. Stattdessen schienen die beiden darüber nachzudenken, woher sie den Namen kannten. Doch als Zetsu es schon aufklären wollte, erschien der Funke des Wiedererkennens in Salles' Augen. „Ah, das ist doch er, oder?“ Jatzietas Gesicht wurde zur Leichenbittermiene. „Oh, dessen Eltern...“ Salles und Zetsu nickten gleichzeitig. „Genau der.“ Der Mann runzelte seine Stirn. „Wenn wir ihn dazu bringen könnten, sich uns anzuschließen, würden wir einen unschätzbaren Vorteil erhalten.“ „Aber wie sollen wir das anstellen?“, fragte Jatzieta. „Wir können ihn ja schlecht niederschlagen, hierher schleppen und dann solange auf ihn einreden, bis er sich uns anschließt. Das hat vielleicht bei Zetsu funktioniert, aber bestimmt nicht bei einem weiterem.“ Der Silberhaarige griff sich brummelnd an den Hinterkopf. „Seitdem habe ich regelmäßig Migräne, vielen Dank auch.“ Jatzieta lachte. „He, es hat doch funktioniert, oder? Du gehörst jetzt zu uns. Und hast immer genug zu essen.“ Er schnitt ihr eine Grimasse und aß weiter. Salles seufzte. „Nein, bei ihm müssen wir das subtiler machen, damit nicht die Gefahr besteht, dass er sich doch gegen uns stellt. Zetsu, wie wäre es, wenn du dich mit ihm anfreundest?“ Der Silberhaarige hielt abrupt inne und bedachte Salles mit einem ungläubigen Blick. „Wie bitte?“ „Du sollst dich mit ihm anfreunden und ihn damit überzeugen, sich uns anzuschließen, sobald er erwacht ist. So schwer ist das doch nicht, oder?“ „Es zerstört meinen guten Ruf“, klagte Zetsu. „So eine Mauer der Unnahbarkeit baut sich nicht von alleine auf.“ Salles' Blick verriet seine Ungeduld. „Stell dich nicht so an. Denk daran, wofür wir kämpfen und dass du dieses Ziel ebenfalls verfolgst! Du wirst doch wohl für ein paar Wochen jemandem Freundschaft vorgaukeln können.“ Der Silberhaarige schmunzelte. „Warum sagst du das nicht gleich? Vorgaukeln ist gut, das kann ich.“ „Gut, dann sind wir uns einig“, stellte Salles fest. „Und du fängst gleich morgen an.“ „Klar, Chef“, sagte Zetsu grinsend und stürzte sich wieder auf sein Essen. Fünf Tage nach seinem Schulantritt fühlte Nozomu sich zumindest nicht mehr allzu fremd an der Monobe-Akademie. Er hatte sie immer noch nicht als Teil seines neuen Lebens akzeptieren können, aber er fühlte auch nicht mehr das schleichende Unbehagen, wenn er nur an die Schule dachte. Allerdings fand er keinen Anschluss zu den anderen Schülern. Jeder einzelne schien ihm aus dem Weg zu gehen und zu meiden, wo er nur konnte. Nicht einmal einem der Clubs konnte er beitreten, da jeder Clubleiter ihn prinzipiell – meist aus nicht nachvollziehbaren Gründen – ablehnte. Normalerweise hätte es ihn nicht weiter gekümmert, aber es stand seinem Plan, ein normales Leben zu führen, im Weg. Inzwischen hatte er auch herausbekommen, dass Nozomi im Band-Club war und dort als Sängerin agierte und daher auch Satsuki so gut kannte. Da Senpai die meisten Dinge an der Schule (besonders Schulfeste) quasi im Alleingang organisierte, kannte sie jedes Band-Mitglied. Nozomi hatte ihm bereits vorgeschlagen, mit Satsuki über die Clubsache zu sprechen, aber das hatte er nicht gewollt. Der übertriebene Optimismus der Schülersprecherin und ihre offene Art erschienen ihm bedrohlich und jagten ihm auch Angst ein. Allein mit ihr in einem Raum? Niemals! An diesem Tag war es das erste Mal, dass er völlig allein durch die Gänge lief. Nozomi hatte zu einer „unaufschiebbaren Besprechung mit den anderen Mitgliedern der Band“ gehen müssen und ihn deswegen in der Mittagspause sich selbst überlassen. Es hatte ihn nicht weiter gestört, er hatte sich das erste Mal die Schule allein angesehen, ohne dabei irgendwelchen Erklärungen lauschen zu müssen oder an seinem Ärmel gezupft zu werden, wenn er gerade in seine Gedanken vertieft gewesen war. Aber der einsame Rundgang hatte ihm gefallen. Fast schon bedauerte er, dass die Pause sich dem Ende zuneigte, weswegen er wieder dem Klassenzimmer zustrebte. Die Schiebetür war leicht geöffnet, wodurch er deutlich Stimmen aus dem Inneren vernehmen konnte. Er wollte gerade die Tür öffnen, stutzte aber, als er seinen Namen hörte: „Setoki ist nicht da, oder?“ „Nein“, antwortete eines der Mädchen. „Er wird wahrscheinlich die Schule ausspionieren.“ Die Anwesenden lachten nervös. „Ernsthaft“, sagte ein Junge. „Was ist mit dem Kerl los? Seit seiner Vorstellung vor der Klasse hat er kein Wort mehr geredet, außer der Lehrer fragt ihn etwas.“ „Und habt ihr bemerkt, wie kalt er guckt?“ „Ich habe gehört, sogar Tiere und kleine Kinder haben Angst vor ihm“, sagte ein Mädchen mit zitternder Stimme. „Ich habe es auf jeden Fall.“ Jemand schien auf irgend etwas zu klettern und dann von einer erhöhten Position weiterzusprechen: „Das ist ja noch gar nichts! Wisst ihr, was ich gehört habe?“ Plötzlich hatte Nozomu wieder das Gefühl, dass ihm die Luft wegblieb. Er griff nach seinem Kragen und zog daran. Er hatte eine Ahnung, was nun kommen würde, er wollte weglaufen, sich die Ohren zuhalten und laut schreien – aber er blieb stehen und hörte sich an, was kam. „Ich habe gehört, er hat seine Eltern eigenhändig umgebracht – hat mit einem Messer so lange auf sie eingestochen, bis sie sich nicht mehr gerührt haben. Und danach hat er versucht, sich umzubringen. Hat aber nicht funktioniert, deswegen hat er die Schuld auf eine Onryō geschoben – und darum hat man ihn in die Irrenanstalt gesperrt.“ Ein erschrockenes Raunen ging durch die Klasse. Nozomu hatte das Gefühl, dass etwas in ihm zerbrach. Erneut sah er seine Eltern in ihrem eigenen Blut auf dem Boden liegen. Vor den beiden sah er die Onryō, den rachsüchtigen Geist, mit einem vor Blut glänzenden Messer in der Hand. Der weiße Kimono, ebenfalls mit roten Flecken beschmiert, das schwarze Haar wirr und das weiß-blau geschminkte Gesicht zu einer mitleidlosen Grimasse verzogen. Wie damals verspürte er das Bedürfnis, laut zu schreien. Doch stattdessen fuhr er nur herum und rannte davon, ohne auf seinen Weg zu achten. Die Erinnerung drang mit aller Macht auf ihn ein, so gut er sie auch verdrängt hatte, sie brach nun umso stärker hervor und schien ihn verschlingen zu wollen, hinabzuziehen in den Abgrund, den er hinter sich gelassen geglaubt hatte. Mit tränennassen Augen stürzte er sich im Außenbereich der Schule in eine schwer einsehbare Nische mit einer Rundbank, die er bei seinem Rundgang zuvor entdeckt hatte. Das war die Erklärung, warum man ihm aus dem Weg ging und ihn in keinem Club haben wollte. Sie hielten ihn nicht nur für wahnsinnig, sondern auch für einen Lügner und einen Mörder. Einen wahnsinnigen, lügenden Mörder. Dabei hatte er nicht gelogen, er hatte sie wirklich gesehen. Der Geist war da gewesen und mit ihm noch jemand... Doch wie schon in den Jahren zuvor, als er versuchte, tiefer in die Erinnerung einzutauchen, versagte ihm sein Gedächtnis den Dienst. Nein, er wollte auch nicht darüber nachdenken, wollte sich nicht daran erinnern. Er wollte nur vergessen und nie wieder daran denken. Am besten vergaß er gleich, dass er einmal Eltern gehabt hatte, bestimmt konnte er so den Schmerz lindern. Hastig tastete er seine Taschen nach einem Beruhigungsmittel ab. Als ihm einfiel, dass er seine Tabletten in seiner Schultasche hatte, die wiederum im Klassenzimmer stand, entfuhr ihm ein heftiger Fluch. „Na na, wer wird denn da fluchen?“ Erschrocken wandte Nozomu den Kopf und entdeckte - „Zetsu Akatsuki...?“ Der Silberhaarige lächelte. „Mein Ruf eilt mir wohl voraus, hm? Willst du mir nicht auch deinen Namen verraten? Meinen kennst du ja schon.“ „Nozomu... Setoki.“ Sein Gesicht hellte sich auf. „Ah, von dir habe ich schon gehört.“ Demonstrativ wandte Nozomu seinen Blick wieder ab, um zu zeigen, dass er nicht darüber sprechen, ja nicht einmal etwas davon hören wollte. Für einen Moment herrschte Stille, weswegen Nozomu glaubte, dass Zetsu weitergegangen war, doch als er wieder hinsah, stand der Silberhaarige immer noch da und lächelte ihn an. „Ganz schön hart, wenn solche Gerüchte über einen im Umlauf sind, oder?“ „Was verstehst du schon davon?“ Unaufgefordert setzte Zetsu sich neben ihn. „Jede Menge. Ich habe auch keine Eltern mehr – und was denkst du, was bei mir für Gerüchte rumgingen? Die Harmlosesten waren noch, dass ich von zu Hause weggelaufen bin oder dass meine Eltern mich verlassen hatten.“ Fragend sah Nozomu ihn an. „Wirklich?“ Zetsu nickte. „Ja. Mitunter hieß es auch, ich hätte sie umgebracht und wäre dann weggelaufen. Na ja, so sind die Leute nun mal.“ „Was ist wirklich mit deinen Eltern passiert?“ „Sag ich nicht.“ Zetsu grinste, aber bevor Nozomu sich darüber beschweren konnte, stand sein Gesprächspartner bereits auf. „Du solltest langsam in die Klasse zurück, du bist ohnehin schon zu spät dran. Ja, ich sollte auch. Gehen wir zusammen, mein Klassenzimmer ist gleich neben deinem.“ Nozomu nickte und stand ebenfalls auf. Gemeinsam in Schweigen vertieft, gingen sie wieder zu Nozomus Klassenzimmer. Die Tür war inzwischen geschlossen, aber nach einem kurzen Klopfen ging er dennoch hinein, ohne sich von Zetsu zu verabschieden. Der Silberhaarige lächelte zufrieden. Trotz – oder gerade wegen – der fehlenden Höflichkeitsfloskeln, war er sich sicher, dass er einen entscheidenden Schritt gemacht hatte, um Nozomus Vertrauen zu gewinnen. Ein schlechtes Gewissen hatte er dabei nicht, warum auch? Er sah es als seine Berufung, anderen Leuten etwas vorzugaukeln, er sah sich gern als Hochstapler, erwägte es sogar als Berufslaufbahn – aber darüber machte er sich noch nicht allzu viele Gedanken. Vorher gab es Wichtigeres zu tun und andere Dinge zu erledigen. Zufrieden mit sich selbst, betrat er sein eigenes Klassenzimmer – ohne zu klopfen. Nozomi war Nozomus verschlossene Art beim Weg nach Hause besonders aufgefallen. Nicht, dass ihr nicht vom ersten Tag an aufgefallen wäre, dass Nozomu ganz anders war als noch vor fünf Jahren, aber besonders nach diesem Schultag war es wieder extrem. Und sie wollte herausfinden, was es war, also trommelte sie ihren Mut zusammen und sprach ihn an: „Nozomu-chan, alles in Ordnung? Stimmt etwas nicht?“ „Huh? Nein, alles ist in Ordnung.“ Misstrauisch sah sie ihn an, aber er sagte nichts mehr, sah weiter geradeaus. In einem impulsiven Anfall stellte sie sich vor ihn und versperrte somit seinen Weg. „Nozomu-chan! Was ist los?“ Gezwungenermaßen blieb er stehen, einen verärgerten Ausdruck im Gesicht. „Ich habe gesagt, es ist nichts! Warum glaubst du mir nicht!?“ „Weil ich mir Sorgen um dich mache!“, erwiderte sie. Zum Beweis setzte sie einen besorgten Gesichtsausdruck auf. Er kümmerte sich nicht darum und versuchte um sie herumzugehen, doch sie hielt ihn davon ab. „Bitte, Nozomu-chan! Was hat dich so verändert? Die Ärzte? Die Medikamente? Der Tod deiner Eltern?“ Er erwägte, ihr eine bissige Antwort zu geben, entschied sich aber schließlich dagegen. „Du verstehst das nicht! Das ist...“ Abrupt hielt er inne. Eine Gestalt mit wirrem Haar und einem weißen Kimono huschte vor ihnen über die menschenleere Straße in eine Seitengasse. Eine Onryō! Wenn er diese irgendwie fangen oder zumindest einen Beweis für ihre Existenz finden könnte, könnte er bestimmt allen beweisen, dass er nichts mit dem Tod seiner Eltern zu tun hatte – und er nicht verrückt war. Hastig stieß er Nozomi beiseite und lief los, um dem Geist zu folgen. Wie er sie einfangen oder einen Beweis für ihre Existenz erbringen sollte, darum kümmerte er sich nicht, im Moment kam es ihm nur darauf an, sie zu verfolgen. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, sie eingeholt zu haben, sah er sie hinter einer weiteren Ecke verschwinden. Hinter sich hörte er Nozomis Schritte und ihre atemlose Stimme, die ihn inständig darum bat, stehenzubleiben. Doch sein Verstand riet ihm, immer weiterzulaufen, um die Onryō einzuholen. Gleich hab ich sie. Gleich! Erneut sah er ihren Kimono hinter einer Ecke verschwinden. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals, als er ebenfalls um die Ecke bog – und vor einer massiven Mauer stand. Der Geist war nirgends zu sehen, nur gefüllte Mülltonnen. Die Enttäuschung setzte gleichzeitig mit der Erschöpfung ein. Nein... das darf nicht wahr sein... habe ich mir das nur eingebildet? Bitte nicht... Nozomi blieb hinter ihm stehen und atmete schwer. „No-Nozomu-chan... was ist... los?“ Er wendete seinen Blick nicht von der Mauer ab, als er antwortete: „Nicht. Gar nichts. Ich habe nur gedacht, ich hätte etwas gesehen.“ Nozomu seufzte leise, als er wieder ihren besorgten Blick in seinem Rücken spürte. Wie er diesen Blick hasste. Aber er konnte sie auch nicht bitten, das zu lassen, er wusste, dass sie es nur gut meinte. „Gehen wir nach Hause,... Nozomin?“ Er konnte spüren, wie sie freudig zu lächeln begann. Seit damals hatte er sie nicht mehr mit der Koseform ihres Namens angesprochen. Und nun hatte er es wieder getan, weil er sich dazu gezwungen gefühlt hatte. Sie nickte heftig. „Ja, gehen wir.“ Gemeinsam gingen sie wieder durch die verwinkelte Gasse zurück, ohne zu merken, wie sich jemand im Schatten der Mülltonnen vor ihnen verborgen gehalten hatte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)