Romeo und Julius von Remy ================================================================================ Eine erste Entscheidung ----------------------- Kapitel 9 – Eine erste Entscheidung Reno hatte verschlafen, und er wusste es. Trotzdem ließ er sich noch Zeit. War doch egal, ob er jetzt ein paar Minuten zu spät kommen würde oder nicht. In seiner Schulakte fiel es zumindest nicht auf, da häuften sich doch schon die Vermerke über seine Unpünktlichkeit. Langsam marschierte er zu seinem Auto, als er auf einmal jemanden seinen Namen rufen hörte. Es war Juan, der panisch und noch mit etwas zerzaustem Haar auf ihn zugelaufen kam. Hatte er nicht einmal die Zeit gehabt, sich etwas zurecht zu machen? „Kannst du mich mitnehmen?“, fragte der Schwarzhaarige und beugte sich dabei leicht über die Motorhaube des Volkswagens. Etwas hob Reno eine Braue und blickte zuerst auf die Hände des anderen Jungen und dann erst zu dessen Gesicht. Abrupt verzog der Blonde sein Gesicht. „Wenn du die Finger von meinem Lack nimmst, dann schon!“, knurrte er. Nur einen Moment später stand Juan auch schon wieder senkrecht. Undeutlich konnte man noch die Abdrücke seiner Finger erkennen, aber einmal drüber gewischt und sie wären wieder weg. Reno störte es trotzdem. „Ich hab' voll verschlafen“, seufzte der größere der beiden Jungen, als er sich auf den Beifahrersitz sinken ließ. Nur ein leises Hm bekam er zur Antwort. So recht schien es Reno nicht zu interessieren, wieso der andere jetzt zu spät dran war. An viel konnte es ohnehin nicht liegen. Die ganze Fahrt über konnte Juan nicht ganz den Blick von seinem notgedrungenen Fahrer wenden. Irgendetwas zwang ihn geradezu immer wieder zu Reno zu blicken. Der hatte nur seine Augen starr auf die Fahrbahn gerichtet und bemerkte nicht einmal, wie er angesehen wurde. Leicht schluckte der Schwarzhaarige, als Reno an einer Kreuzung stehen bleiben musste und sein Kopf von rechts nach links schwankte. Nur einen Augenblick blieb sein Blick an dem anderen hängen, der sich nur schnell abgewandt hatte. Erst als sich das Auto wieder in Bewegung setzte, wagte es Juan wieder sein Gegenüber anzublicken. „Und wieso bist du zu spät?“, fragte er nach einer Weile, doch Reno zuckte zuerst nur leicht mit den Schultern, bevor er murmelte: „Auch nur verschlafen...“ Mit einer Hand fuhr sich der Blonde durchs Haar und stellte es vereinzelt auf, obwohl es im nächsten Moment ohnehin wieder zusammensank. Ohne Haargel blieb es einfach nicht stehen, und heute morgen hatte er ohnehin keine große Lust mehr gehabt sich zu stylen. „Sind so lange Haare nicht nervig?“, fragte Reno, als sie gerade auf den Schulparkplatz einbogen und der Schwarzhaarige nervös immer wieder versuchte die schwarzen Strähnen etwas zu sortieren. Wie der letzte Penner wollte er ja immerhin auch nicht herumlaufen. „Es geht... Und ich will sie auch gar nicht mehr kurz schneiden lassen...“ Unsicher lächelte der Größere. „Mich würden die stören...“, grummelte Reno und schon verflog das Lächeln des anderen wieder. So einen genervten Tonfall war er aber auch gar nicht gewöhnt. Schon wandte er ein weiteres Mal den Blick ab. Und dieses Mal nicht einmal, weil der Blonde sein Gegaffe bemerken könnte. „Was hast du in der Ersten?“, wollte Reno schließlich wissen, als sie gemütlich über den Schulhof schlenderten, obwohl Juan ihn anfangs zur Eile anspornen wollte, aber er hatte wohl schon längst bemerkt, dass das gar nichts half. „Englisch...“ Ein Seufzen verließ die Kehle des Größeren, nur um seinen Unmut noch zu verstärken, dass er dieses Fach ganz und gar nicht mochte. Zwar mochte er Literatur und alles, was damit zutun hatte, aber selbst schreiben war einfach nicht sein Ding. „Hätte ich mir ja denken können“, murmelte auch schon Reno, dem es wohl ziemlich genauso ging. Hatten sie zumindest eine Gemeinsamkeit. „Wieso musstest du heute Sina nicht abholen?“, wollte Juan gerade wissen, als der Blonde ihm – fein wie er eben doch war – die Tür aufhielt. „So spät wie ich heute dran bin, ist die mit ihrem Vater gefahren.“ Leicht kicherte der werte Gentleman und deutete sogar eine leichte Verbeugung an, als der Schwarzhaarige an ihm vorbei ging. „Wieso bist du auf einmal so gut aufgelegt?“, wollte Juan wissen, als sie durch die Gänge marschierten und der andere die Arme hinter dem Kopf verschränkte. Leicht zuckte Reno auch gleich mit den Schultern. „Hab einfach einen guten Tag“, erwiderte er schließlich. So lange würde der aber wohl nicht so gut bleiben. Wieder war das Gezeter losgegangen, kaum das Reno gesagt hatte, dass sie jetzt anfangen wollten. Der ganze Schultag über war wirklich super gelaufen, und dann führten sie sich hier auf wie die Kleinkinder. Leicht massierte sich der Blonde die Schläfe und versuchte sich irgendwie beruhigen zu können, da spürte er aber schon, wie ihn jemand massierte. „Sina, hör auf!“, grummelte er mürrisch und versuchte seine Freundin abzuschütteln, doch da stand die auf einmal vor ihm, und die Hände lagen immer noch auf seinen Schultern. Reno fuhr verschreckt herum und blickte in die blauen Augen seines vermutlichen Julius. „Etwas Entspannung würde dir gut tun“, meinte der auch schon und lächelte leicht. Er wollte nur nett sein, das sagte sich Reno in Gedanken immer wieder. Aber so recht glaubte er sich selbst nicht. Das war schon etwas zu nett. Einmal atmete der Blonde jetzt tief durch, bevor er rief: „Könnten wir jetzt, um Gottes Willen, anfangen?“ Er klang gereizt, und deswegen verstummte wohl schon bald jeglicher Streit. Die ersten Rollen waren auch schnell vergeben. Das meiste war eindeutig. So blieb für diese, die es dann nicht geworden sind, nur noch die Dienste hinter der Bühne, und die waren meistens mit viel mehr Verantwortung verbunden. Und wenn das wirklich nicht gewollt war, dann wurden sie als Zweitbesetzung eingetragen. „Mercutio steht vor dir, mein Engel“, trällerte Zoe übermütig ihrer Freundin Uma entgegen. Diese lag mehr oder minder auf dem Tisch vor sich und hob jetzt leicht eine Augenbraue. „Der wird aber von Tybalt umgebracht... Dessen bist du dir schon bewusst?“ Die Größere der beiden hatte die Rolle des Neffen der Capulet erhalten, darüber war sich Zoe sichtlich bewusst. Somit durften sie Rollen, die zu jeweils einem der beiden verfeindeten Häuser gehörten, spielen und nicht wie eigentlich vereinbart, zu einem einzigen. Jetzt mussten sie sich womöglich auf der Bühne auch noch streiten. „Reno, ich will eine andere Rolle“, rief da schon die Kleinere und abrupt verzog Angesprochener das Gesicht. Es war ja wohl kaum möglich, dass die jetzt auf so eine Idee kam. „Sei zufrieden damit“, grummelte er nur und wandte sich jetzt endlich seinen beiden Juliusen zu, deren Rolle nun als letztes gewählt werden sollte und der, der es dann nicht wurde, würde Escalus, den Prinzen von Verona spielen. Es war Reno am gestrigen Tag gar nicht aufgefallen, dass er die Rolle vergessen hatte. Aber jetzt würde er ja dafür auch jemanden bekommen. Langsam sah er zwischen den beiden Jungen hin und her, die vor ihm auf dem Tisch saßen. Weder Juan noch Jonas wollte momentan anfangen. Wieso es der Neue nicht wollte, war sogar Reno so ziemlich klar. Er war wohl einfach schüchtern. Und Jonas? Vielleicht pure Einbildung, dass das Beste zum Schluss kommen sollte. „Jetzt mach schon“, fuhr er den Braunhaarigen an, der abrupt gehorchte. So schnell hatte es der neue Theaterleiter gar nicht erwartet. „Wenn du willst.“ - Ein Grinsen huschte über das Gesicht des Größeren. - „Dafür brauch ich aber dich...“ Es gab genug Szenen in denen Julia oder wohl eher Julius einen Monolog führte, aber Jonas wollte es wohl auf etwas ganz Besonderes anlegen, also würde sich Reno fügen. Doch kaum, dass er stand, lagen schon die Lippen des anderen auf den seinen und verwickelten ihn einfach in einen Kuss. Vor Schreck stieß Reno den anderen weg. Wie konnte er nur! Da war er doch sonst nicht so darauf aus, Jungs zu küssen. Felsenfest behauptete er doch immer, dass er zwar bi wäre, aber eher immer noch auf Mädchen stehen würde. Und jetzt so was? „Übertriff das mal, Neuer...“, meinte Jonas schroff und machte es sich wieder neben Juan bequem. Der Braunhaarige war sich wohl schon sicher, dass er die Rolle hätte, und der andere dachte das auch schon. Wie sollte er auch Reno jetzt noch umstimmen? Mit was konnte er einen Kuss schon übertreffen? Doch dann stand er einfach auf. Jetzt würde er ganz einfach das durchziehen, was er sich am gestrigen Abend so oft durchgelesen hatte. „Willst du schon gehn? Der Tag ist ja noch fern. Es war die Nachtigall und nicht die Lerche, die eben jetzt dein banges Ohr durchdrang; sie singt des Nachts auf dem Granatbaum dort. Glaub, Lieber, mir: Es war die Nachtigall.“ Diese paar Sätze hatte er wieder und wieder geprobt. Seine Mutter war sogar einmal ganz verwundert zu ihm gekommen und hatte gefragt, wieso er denn den Text der Julia probte. Aus Spaß, hatte er geantwortet. Die Wahrheit wollte er ihr einfach noch nicht sagen. Reno blickte ihn erst etwas verschreckt an und begann dann doch auf den Dialog einzugehen. „Die Lerche war’s, die Tagverkünderin, Nicht Philomele; sieh den neid’schen Streif, der dort im Ost der Frühe Wolken säumt. Die Nacht hat ihre Kerzen ausgebrannt, der muntre Tag erklimmt die dunstigen Höhn; nur Eile rettet mich, Verzug ist Tod.“ Gerade als Juan schon den nächsten Vers beginnen wollte, unterbrach der Blonde ihn mit einer knappen Handbewegung, und der Größere gehorchte. Vielleicht hätte er ja dann doch noch einen kleinen Lichtblick auf seine erhoffte Rolle, dabei würde ihm der Prinz auch reichen. „Der Kuss war hart...“, murmelte Reno und schon ließ der Schwarzhaarige den Kopf hängen. Für ihn klang das schon, als ob er Jonas jetzt nehmen würde. Deswegen lächelte Juan etwas traurig, dabei wollte er ja gar keine große Rolle, und trotzdem hatte diese kurze Szene mit Reno schon – für ihn zumindest – richtig gut geklungen. „Aber... Juan... Irgendwie wärst du besser... Immerhin besteht das Stück nicht nur aus diesem einen Kuss...“ - Reno hatte sich an den Neuen gewandt, der ihn verwundert ansah. Selbst blickte er schließlich in die Runde. - „Oder hat jemand was dagegen?“ Anfänglich erklang von hier und da dagegensprechendes Gemurmel. Einen Neuling wollte wohl keiner an eine Hauptrolle lassen, und Jonas erst recht nicht. „Du willst doch nicht wirklich dieses... Babyface nehmen?“, knurrte der Braunhaarige. Nur mit viel Selbstbeherrschung konnte er sich dazu bringen, dass er nicht einfach aufsprang und sich auf Reno stürzte. „Wenn es wirklich nicht geht, könnt ihr ja immer noch tauschen...“, meinte der Blonde kühl. Keine Widersprüche erhoben sich jetzt mehr. Nur Jonas grummelte noch etwas mürrisch vor sich hin. Aber jetzt musste er sich wohl vorzeitig damit abfinden. „Will irgendwer noch anfangen?“, fragte Reno nun wieder in die Runde, die ein einstimmiges Seufzen von sich gab, da schweifte sein Blick aber auch schon auf die Wanduhr, die über der Tafel hing. Es war kurz vor halb acht. So recht sah es nicht aus, als ob jemand wirklich noch Lust hatte. Sie waren hier aber auch schon seit sechs Uhr abends, und seit Mittag hatte keiner mehr etwas gegessen, außer diejenigen, die sich ihre Snacks von zu Hause mitgebracht hatten. In den letzten paar Jahren war diese Anzahl von Schülern nur gesunken, und so konnte man sich kaum noch bei jemanden durchschnorren, falls man noch Hunger hatte. „Na dann machen wir eben Schluss... Aber Donnerstag wieder jede Woche? Geht das?“, fragend sah er sich um, bis er sich sicher war, dass keiner etwas dagegen hatte. Dann schweifte sein Blick nur noch zu Juan, der wohl immer noch etwas baff war. War aber auch nicht wirklich ungewöhnlich. Langsam wagten es dann auch die Ersten zu gehen. Einige verabschiedeten sich sogar bei Juan, der das aber so recht noch gar nicht mitbekam, erst als ihn Sina zärtlich umarmte, reagierte er überhaupt. „Ich bin dann auch mal weg...“, meinte sie zu Reno, der wohl bis zuletzt bleiben wollte. Doch irgendwie war er schon bald alleine mit seinem Julius. Er hatte mich auf dem Pult lang gemacht, und Juan stand vor ihm, wobei er sich etwas nervös hinter dem Ohr kratzte. „Ich... ich weiß nicht, ob das so richtig war... ähm Jonas die Rolle nicht zu geben...“, meinte er da auf einmal, und Reno hob leicht ein Augenlid. Der Schwarzhaarige wirkte etwas unsicher und war sich wohl trotzdem ziemlich sicher damit, was er gerade gesagt hatte. „Der wird sich schon wieder einkriegen... Und außerdem kann ich ihn nicht ausstehen. Für einen richtigen Julius ist er viel zu überheblich...“ Reno setzte sich ruckartig auf, wodurch der Größere einen Schritt zurück stolperte. So recht wusste der andere nicht wieso, aber dadurch wirkte Juan fast schon süß. „Willst du heute eigentlich gar nicht heim?“, fragte Juan schließlich und neigte leicht den Kopf zur Seite. Man hätte ihn gut und gerne mit einem kleinen Kind vergleichen können, das seinen Vater irgendetwas fragte. Doch für Reno wirkte es etwas anders. „Fang jetzt bloß nicht an, einen Reno-Komplex zu haben...“, grummelte er und fügte dann noch hinzu: „Natürlich will ich auch mal heim...“ Jetzt war er auf einmal wieder genervt. Mit der Zeit konnte man es kaum noch Stimmungsschwankungen nennen, so wie er sich aufführte. Mürrisch stapfte der Blonde an seinem Gegenüber vorbei, anfänglich stand auch Juan noch stocksteif da. Ein komisches Gefühl breitete sich in ihm aus. Sonst vermied er es ja immer, andere wütend zu machen, aber jetzt wusste er ja nicht einmal richtig, was er getan hatte oder was er überhaupt lassen sollte, damit Reno nicht sauer wurde. Langsam schlich er schließlich hinter dem Blonden her, hielt aber immer einen kleinen Abstand. So sicher war er sich aber auch nicht, ob Reno nicht einfach einmal nach ihn ausschlagen könnte. „Wenn du mich nicht die ganze Zeit anstarren würdest, dann könntest du auch alleine heim finden...“, murmelte der Kleinere auf einmal, wodurch Juan überdeutlich zusammen zuckte. Dann hatte Reno also etwas bemerkt. „Hm“, gab Juan nur leise von sich und zog den Kopf ein. Am liebsten würde er sich jetzt wohl eine Standpauke anhören, damit er es hinter sich hatte. Aber von Renos Seite kam so etwas gar nicht. „Aber alleine jetzt heim zufahren ist auch langweilig...“, meinte der Blonde nur und hielt Juan – wie am Morgen – die Eingangstür der Schule auf. Erneut deutete er – ganz Gentleman-like – eine Verbeugung an. Trotzdem rührte sich Juan kein Stück, wahrscheinlich weil der diesen Stimmungsumschwung nicht ganz verstand. Da seufzte der Blonde auf einmal überdeutlich. „Jetzt komm schon! Ich will heute noch heim... Immerhin ist Freitag!“ Etwas unfreiwillig musste sich der andere dann auch bewegen, als ihn Reno am Arm packte und hinter sich herzog. Jetzt war er wohl wieder etwas genervt, was aber auch nicht so verwunderlich war. Abrupt stemmte sich jedoch Juan dem Kleineren entgegen, als sie schon auf dem Schulparkplatz waren, wo – wie schon vorgestern – kaum noch Autos waren. „Was soll das?“, murrte Reno und wandte sich leicht zu dem anderen um, der nur reumütig den Kopf senkte. „Ich... ich geh doch zu Fuß...“ Da hatte sich der Schwarzhaarige schon aus dem Griff des Kleineren gelöst und lief an ihm vorbei. Leicht verwirrt sah Reno ihm noch hinterher, wollte ihm aber nicht folgen. Juan würde schon wissen, was er tat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)