Der Geistertempel von Aiwe ================================================================================ Kapitel 1: Geschichten ---------------------- Was ich euch heute erzählen möchte, werdet ihr mir kaum glauben. Aber jedes Wort ist wahr! Naja, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Tjun, ich habe vier schlanke, kraftvolle, lange Beine, an deren Ende wundervolle, silbern glänzende Hufe sind. Mein Schweif hat bisher jede Mücke, die mich besuchte, verjagt. Mein Fell ist weißer als der Schnee und meine Augen lassen jedes Silber matt erscheinen. Ich, 623 Jahre jung, habe zwei ganz besonders schöne Merkmale: zum einen ein langes, schmales, silbernes Horn und zum zweiten zwei prächtige, große, weiße Flügel. Ich bin ein Einhorn! In Sagen und Legenden werden wir als schöne weiße Pferde mit Hörnern gesehen. Ohne Flügel. Diese besitzt in den Geschichten der Menschen nur Pegasus. Aber das hier ist die Wahrheit. Ich kann nicht lügen. Vielleicht mögen wir eine Mischung aus dem legendären Pegasus und den sagenumwobenen Einhörnern sein, aber was spielt das schon für eine Rolle? Meine Geschichte begann vor vielen, vielen Jahren. Ich war damals gerade mal 203 Jahre alt. Meine Herde lebte in den weiten Steppen unseres Landes. Der Winter war eingebrochen und brachte die Kälte und den Schnee mit sich. Das Futter war sehr knapp, aber meine Herde hielt zusammen. In einer besonders stürmischen Nacht wurde ich von meiner Herde getrennt. Von diesem Zeitpunkt an möchte ich euch alles erzählen, denn ab jener Nacht änderte sich mein ganzes Leben... Ich wollte in die düsteren Wolken aufsteigen, denn ich erhoffte mir dadurch meine Herde wiederzufinden. Es war vergeblich. Der Wind pfiff mir um die Ohren und zwang mich am Boden zu bleiben. Der Schnee um mich herum wurde immer höher. Ich drohte zu erfrieren, doch das war mir egal. Ich dachte nur noch an meine Herde und stapfte trotzig durch den Schnee, bis ich an einer verdeckten Wurzel hängen blieb und hinfiel. Mein Huf hing fest und ich spürte die Müdigkeit in mir aufsteigen. Um mich herum war es stockdunkel, doch ich spürte den Schnee, der auf mir landete. Der Schmerz an meinem Knöchel wurde immer schlimmer. Die Dunkelheit hüllte mich ein und verschlang mich. Ich wurde ohnmächtig. Als ich aufwachte, lag ich unter einer wärmenden Decke auf einem Schlitten. Ein junger Mann hatte mich gefunden und aufgesammelt. Ich war ihm dankbar, aber auf eine absurde Weise wünschte ich mir, er hätte mich liegen lassen. Die Sorgen um meine Herde ließen mich alles andere vergessen. Ich bemerkte nicht einmal, dass der Schlitten hielt. Erst als der Mann ein festes Seil um meine Vorderhufe legte, schrak ich auf und sah mich um. Wir waren an einem kleinen Holzhaus angekommen. Der Mann band das andere Ende des Seils zu einer Schlaufe und legte es einem Esel um den Hals. Er bekam einen leichten Klaps auf die Hinterhand und trabte dann los. Der Mann lief voran und bog um die Ecke des Hauses. Ich rutschte vom Schlitten auf den kalten Schnee. Was wollte er mit mir tun? Wollte er mich etwa schlachten, weil ihm seine Nahrung ausgegangen war? Ich bekam Angst. Schreckliche Angst. Sollte das mein Ende sein? Mein ganzer Körper begann zu zittern. Wenn ich mich jetzt nicht befreien würde, würde ich meine Herde nie mehr finden. Ich begann zu zappeln, doch ich war zu schwach um lange durchzuhalten. Der Mann öffnete die Tür zu einer Art Schuppen. Ich schloß die Augen. Den Anblick von vielleicht schon toten Tieren wollte ich mir ersparen. Das Holz kratzte über mein Fell, aber plötzlich war der Boden weich. Ich hielt die Augen geschlossen. „Wo bin ich?“, fragte ich mich. Auf einmal hielt ich an. Schritte kamen näher. „Mein Gott. Jetzt ist es soweit“ Mein ganzer Körper verkrampfte sich vor Angst. Jetzt stand der Mann vor mir, noch ein paar Sekunden und alles würde vorbei sein. Ich sah mein ganzes Leben, das ich bisher gelebt hatte, in Sekundenschnelle wie in einem Kino vor mir ablaufen. Ich sollte nie wieder meine Flügel ausbreiten und auf der warmen Thermik wie ein Vogel in die Lüfte gleiten können oder mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit durch das Gelände galoppieren können. Es war vorbei, aber vielleicht schaffte ich es ihn mit meinem Horn zu verwunden und dann zu fliehen. Einhörner sind reine Geschöpfe, okay, aber egal, wie rein ein Geschöpf sein mag: Wenn es um sein Leben geht, setzt es sich zur Wehr. So denke ich jedenfalls. Außerdem möchte ich ihn ja nicht töten, nur einen Schrecken einjagen und ihn leicht verletzten, sodass ich eine Möglichkeit zur Flucht habe und er mich nicht gleich verfolgt. Ich öffnete die Augen, bereit, mein Vorhaben auszuführen, und starrte ihn fassungslos an. Er saß auf dem mit getrocknetem Gras ausgelegten Boden und legte das Seil, das er mir abgenommen hatte, was ich in meiner Panik gar nicht mitbekommen hatte, zusammen. Als er fertig damit war ging er hinaus und schloss die Tür. „Was soll das? Ich dachte, ich bin Nahrung für ihn“ Ich war völlig verwirrt. Wollte er mich erst mästen? Er müsste doch wissen, dass ich abhauen würde. Da kam er wieder in den Schuppen. Er trug eine lederne Tasche um den Hals und einen Eimer. Ohne mich zu beachten, lief er vorbei und schüttete etwas Wasser aus dem Eimer in einen anderen im Schuppen. Dann kam er mit dem Eimer zurück. Er stellte ihn vor mir ab und legte die Ledertasche daneben. Das Wasser im Eimer dampfte, es musste warm sein. Nachdem er kurz in seiner Tasche gewühlt hatte, ging er noch einmal zu dem Wassereimer und warf ein paar Kräuter hinein. Ich schaute ihm interessiert zu. Normalerweise weichen wir den Menschen aus und meiden den Kontakt mit ihnen. Es war seltsam einem Menschen bei der Arbeit zuzusehen. Er kam zu mir zurück und holte ein paar Dinge aus seiner Tasche. Mit einem kleinen Tuch umwickelte er komisch aussehende Kräuter und tauchte sie in den mit heißem Wasser gefüllten Eimer. Er nahm das Tuch heraus und drückte es etwas aus. Anschließend legte er es mir auf meinen bereits angeschwollenen und entzündeten Knöchel. Es brannte etwas, doch ich hielt weiter still. So wie es schien, wollte er mir helfen und mich nicht verspeisen. Er legte mir einen Verband um und stand dann auf. „In dem Eimer dort hinten befindet sich ein wärmendes Getränk. Es wird dich etwas stärken, also trink es, bevor es kalt ist. Ich werde morgen noch einmal nach dir schauen, sofern du nicht wegläufst.“ Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen sprechen hörte. Etwas ganz Besonderes lag in seiner Stimme, etwas Beruhigendes. Ich stand vorsichtig auf und ging zu dem Eimer. Das Wasser darin hatte einen würzigen, aber zugleich süßen Geschmack. Ich hatte es ziemlich schnell leer getrunken. Dann überkam mich plötzlich eine Müdigkeit wie nie zuvor. Sollte er mich reingelegt haben? Ich fiel um und schlief ein. Am nächsten Morgen war der Schneesturm vorbei. Gegen Mittag wachte ich auf. Der Mann war schon da und streute noch mehr Stroh in den Schuppen. Der Wassereimer war voll gefüllt und daneben lag ein bisschen frisches Gras. Ich sah dem Mann zu, wie er mit einer Mistgabel das Stroh verteilte. In der anderen Ecke des Schuppens stand der Esel, der mich gestern gezogen hatte. Der Mann legte die Mistgabel auf die Seite und kam auf mich zu. „Schönen guten Morgen. Es scheint dir besser zu gehen als letzte Nacht.“ Er setzte sich neben mich auf den Boden. Zum ersten Mal seit ich hier war sah ich ihn mir genauer an. Er hatte kurze braun- blonde Haare die verstrubbelt und stufig geschnitten bis zu seinen Schultern gingen. Sein Lächeln war so sanft wie kein anderes und er strahlte so viel Wärme und Licht aus, dass ich meine Sorgen für einen Moment vergaß. „Ich heiße Ty, bin 23 Jahre alt und wohne hier.“ Er wartete einen Augenblick, wahrscheinlich darauf, dass ich antwortete, doch ich sagte nichts. „Es ist nicht leicht sich im Winter durchzuschlagen. Zum Glück habe ich dich gefunden, sonst gäbe es dich jetzt nicht mehr.“ Er hielt wieder inne. „Ich verstecke mich hier, weil ich meine Steuern nicht bezahlt habe. Schlimme Zeiten. Das Land bräuchte einen anderen König.“ Wieder verstummte er eine Zeitlang. „Wie lautet dein Name? Ich weiß, du kannst sprechen.“ Ich antwortete nicht. „Naja, wenn du nicht willst, nenne ich dich einfach Snow. Vielleicht verrätst du mir deinen Namen ja noch. Also Snow, hör gut zu, denn ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, die du in Erinnerung behalten solltest. Vor langer Zeit, als die Welt erschaffen wurde, baute man einen riesigen Tempel. Man nannte ihn den Geistertempel. Du musst wissen, dass sich ein Mensch, wenn er stirbt, oder auch ein Tier in drei Teile teilt: den Körper, den Geist und die Seele. Die Seele wird in einem anderen Körper wiedergeboren, der Körper wird nach einer gewissen Zeit zu Erde und der Geist kommt in den Geistertempel und verweilt dort so lange, bis er sich auflöst. Das dauert ungefähr einen Monat. Wenn nun ein Einhorn einen Menschen oder ein Tier wieder erwecken will, muss es innerhalb dieses Monats zum Tempel der Geister. Schickt es dann den Geist zurück in den Körper, so kommt auch die Seele wieder herbei und derjenige lebt weitere 100 Jahre. Allerdings hat jedes Einhorn nur ein einziges Mal die Macht dazu jemanden wiederzubeleben. Nur ein einziges Mal!“ Bei den letzten Worten sah er mich so durchdringend an, dass ich schon fast Angst bekam. Ich wusste, dass er mich warnen wollte. Ich sollte diese Macht nicht unnötig verschwenden. „Vor mehr als 100 Jahren verschwand der Tempel plötzlich. Man sagt, die Drachen haben ihn in ihr Reich versetzt, aber sicher kann das keiner sagen und wenn du mich fragst, die meisten Drachen wissen überhaupt nicht wo dieser Tempel ist, aber ich glaube, dass der Drachenlord Shadow ganz genau weiß, wo sich der Tempel befindet.“ Er hielt kurz inne und sah mich fragend an. Dann fuhr er fort: „Du weißt doch, wer Shadow ist, oder?! Egal, ich werde es dir trotzdem erzählen. Also, vor langer Zeit war Golda die Fürstin der Drachen. Kurz nachdem sie Shadow geheiratet hatte starb sie. Er bekam die Macht über das ganze Land, allerdings war er kein guter Zeitgenosse. Er ist wie unser König, den wir momentan haben: kalt und grausam. Es gibt zwar einige Drachen, die sich ihm widersetzen, doch das bringt nicht viel. Seit Shadow auf dem Thron ist, haben die Einhörner Krieg mit den Drachen. Weist du was, manchmal glaube ich, dass unser König ein Untertan von Shadow ist und dessen Befehle ausführt. Sicher bin ich mir nicht, aber ich werde versuchen es herauszufinden.“ Er schwieg eine Weile. Dann erhob er sich und ging zur Tür. Kurz drehte er sich noch einmal um und sah mich einen Moment lang an. „Weißt du, wieso ich dir das alles erzählt habe?! Mein Gefühl sagt mir, dass ich dir trauen kann und ich denke, dass dir einiges noch nützlich sein wird.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und öffnete die Tür. Ich war etwas verunsichert und wusste nicht genau, was ich tat, aber ich rief ihm etwas hinterher, als er aus der Tür trat. „Tjun. Mein Name ist Tjun!“ Er lächelte mich an und schloss dann die Tür. Ich blieb alleine mit meinen Ängsten, Hoffnungen und dem Esel. Kapitel 2: Freunde ------------------ Am nächsten Tag besuchte er mich wieder und erzählte mir Geschichten aus seiner Welt. Das ging Tag für Tag so weiter. Er erzählte mir von seiner Familie, die bei einem Brand gestorben war. Und er erzählte mir, dass er glaube, dass der König dahinter steckte. Ich mochte es, wenn er anfing über ihn und andere Leute zu schimpfen und dann nachspielte, wie er sie zu seinen Knechten machte. Er war ein witziger Mensch und ich hatte ihn gern. Nachdem er meinen Namen erfahren hatte, stellte er keine Fragen mehr, aber ich wusste, irgendwann bin ich dran ihm alles zu erzählen. Und dann war es soweit. Er kam morgens in meinen Stall und nahm mir schweigend den Verband ab. Ich hatte ihn jetzt einige Wochen getragen und der Frühling hatte begonnen. Heute Morgen war etwas anders, ich spürte es. Er setzte sich wie immer neben mich in das Stroh, doch statt mir seine Geschichten zu erzählen, schwieg er und sah mich stumm an. Ich wusste sofort, dass ich heute an der Reihe war meine Geschichte zu erzählen, wo ich herkam und wer meine Familie war. Meine Familie... ich hatte sie ganz vergessen. „Ich komme aus den Steppen der Tagun“, begann ich langsam, „meine Herde und ich lebten dort seit langer Zeit. Es kommt kaum jemand dorthin, weil sie so abgelegen und versteckt sind. Im Winter müssen wir weit nach Süden um Nahrung zu finden. Wir verlassen die Steppen dann meistens. Dieser Winter war besonders schlimm. Wir gingen so weit nach Süden wie nie zuvor. Eines Nachts überraschte uns ein besonders schlimmer Schneesturm. Trotzdem zogen wir weiter. Dabei verlor ich meine Herde. Ich weiß nicht mehr genau, was auf einmal geschah, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Auf meiner Suche blieb ich an einer Wurzel hängen. Das war dort, wo du mich gefunden hast. Ich weiß nicht, was aus meiner Herde geworden ist, aber wenn ich kann, werde ich zurück nach Tagun gehen, denn jetzt ist Frühling und sie ist bestimmt dorthin zurückgekehrt.“ Ich hörte auf zu reden. Ty sah mich noch lange an. Es schien als überlegte er etwas. Ich wusste nicht, was es war, musste mir aber auch nicht allzu viele Gedanken machen, denn schließlich sagte er es mir. „Tjun, hör mir genau zu. Ich weis du willst zurück nach Tagun, aber das wird noch nicht gehen.“ Ich sah ihn entsetzt an. „Ich weiß das du das jetzt nicht verstehst, aber ich werde es dir erklären. Dadurch, dass ich dich den Winter über versorgt und gepflegt habe, ist meine treue Marina gestorben.“ Ich blickte erschrocken drein. Stimmt, sie war eines Morgens verschwunden. Ich machte mir jedoch darüber keine großen Gedanken. Ich war also der Grund dafür. Weil ich Futter gebraucht habe, ist der Esel gestorben, weil er zu wenig bekam. Mit einem Mal bekam ich Schuldgefühle, aber auch Wut kam in mir auf. Wieso hatte er mir dann nicht weniger gegeben? Und was wollte er jetzt von mir? Kaum hatte ich fertig gedacht, sprach er weiter. „Ich wollte dich darum bitten, bis Sommer bei mir zu bleiben. Vielleicht auch noch etwas länger.“ Er sah mich erwartungsvoll an. Ich dachte darüber nach. Zum einen wollte ich unbedingt zu meiner Herde zurück, aber zum anderen wollte ich hier bleiben und ihm helfen. Er war schließlich so nett zu mir und hat sich um mich gekümmert, obwohl er nicht wusste, wer ich eigentlich war. Er hat mir sogar alles über sich und seine Familie erzählt. Plötzlich tat er mir unheimlich leid. Ich hatte noch eine Familie, er nicht mehr. „Bis Sommer?“, fragte ich ihn dann endlich. „Oder etwas länger, aber ich denke, bis Sommer wird reichen.“ Ich nickte. Er strich mir sanft über den Kopf und die Nüstern. Dann ging er zur Tür und öffnete sie. „Ich denke, du würdest gerne deine Flügel bewegen und etwas frische Luft schnappen.“ Mit einem Lächeln zeigte er nach draußen. Vorsichtig stand ich auf und lief zur Tür. Als ich hinaustrat, schien mir die Sonne ins Gesicht und ein sanfter Wind zerzauste meine Mähne. Überall zwitscherten Vögel und viele bunte Schmetterlinge tummelten sich auf der Wiese herum. Ich hatte fast vergessen, wie schön der Frühling doch war. Ich spannte meine Flügel aus. Es war ein seltsames Gefühl den Wind zu spüren, wie er mir durch die Flügel strich und die Federn durchstreifte. Ich begann zu galoppieren und mit einem Mal hatte ich keinen Boden mehr unter den Hufen. Ich erwischte eine kräftige Thermik. Eine Thermik is ein Heißluftstrom, die vor allem Vögel beim Aufstieg in die Lüfte hilft. Einem Einhorn bringt sie nicht viel, aber man merkt doch, dass es etwas leichter geht. Ich flog hoch in die Wolken. Über mir war die Sonne. Sie spiegelte sich auf meinem Federkleid wieder. Als ich wieder hinabflog, Richtung Boden, sah ich Ty, wie er mich beobachtete. Es schien, als sei er glücklich darüber, dass ich glücklich war. Ich landete in seiner Nähe und trabte zu ihm. „Das war toll. Einfach klasse“, freute er sich, „ich habe noch nie zuvor ein Einhorn fliegen sehen." Einen kurzen Augenblick lang überlegte ich mir ihn auf den Rücken zu nehmen und mit ihm zu fliegen, aber dann bekam ich Bedenken. Was, wenn er runterfiel? Ich hatte noch nie irgendein Wesen auf dem Rücken beim Fliegen. Also ließ ich es bleiben. Am nächsten Tag sollte es mit der Arbeit losgehen. Er wollte mit mir in den Wald, Beeren und Kräuter sammeln und Wild erlegen, denn schließlich brauchte er Fleisch. Außerdem wollte er mir die Gegend zeigen. Es ging früh am Morgen los. Die Sonne war gerade dabei aufzugehen, aber die Vögel flogen schon munter umher. Ty legte mir zwei Taschen auf den Rücken, nahm selbst noch eine und spannte mir dann einen kleinen Wagen an. Darin sollte das Wild transportiert werden. Er nahm sein Gewehr in die eine Hand und ein Seil in die andere. „Ich glaube, wir haben alles“, sagte er dann, in Gedanken versunken. Er legte sich das Seil um die Schulter und lief los. Mal trabte ich hinter ihm her und dann mal wieder vor ihm. Er zeigte mir die verschiedensten Dinge im Wald. Das schönste war eine Höhle, die ganz hinter Ranken mit den schönsten Rosen, die ich je gesehen hatte, versteckt war. Ab und zu hielten wir an und Ty begann ein paar Beeren von einem Strauch zu pflücken oder sammelte Kräuter, die ich wahrscheinlich, ohne groß darüber nachzudenken, was sie für eine Heilkraft hatten, gefressen hätte. Es war Mittag, als wir mit voll bepackten Taschen an eine kleine Quelle kamen. Ihr Fluss führte auch an unserer Hütte vorbei, erklärte mir Ty. Sollte ich mich einmal verlaufen, so sollte ich diesem Fluss folgen. Er setzte sich hin und aß ein Stück Brot, das er sich mitgenommen hatte. Ich trank etwas Wasser und machte mich dann über das Gras her, das hier wuchs. Ty hatte gerade sein letztes Stück im Mund, als ein großer Hirsch aus dem Dickicht sprang. Er hatte uns wohl nicht rechtzeitig bemerkt, aber jetzt da er Ty sah, rannte er los wie von einer Tarantel gestochen. „Fnell, den müffen wir erwiffen“, rief Ty und dabei flogen ihm ziemlich viele Brotbrocken aus dem Mund. Er schnappte sein Gewehr und rannte los. Ich wusste, dass er das Fleisch des Hirsches brauchte. So war das Leben eben. Tiere töten Tiere um zu leben. Ich galoppierte dem Hirsch hinterher. Wenn ich ihn stoppen könnte, so könnte Ty ihn erlegen. Der Gedanke gefiel mir nicht gerade, aber ich musste es machen. Am besten wäre, wenn ich die Augen dabei schlösse. Der Hirsch rannte um eine Ecke und ich hinterher, doch als ich um die Ecke schoss, wäre ich beinahe in ihn hineingerannt. Er kam mir so plötzlich entgegen, dass ich nicht wusste, wie mir geschah. Erst als ich genauer hinschaute, erkannte ich ein paar Wölfe, die in meine Richtung kamen. Jetzt wusste ich auch, wieso der Hirsch die andere Richtung gewählt hatte. Abrupt drehte ich mich um und rannte wieder dem Hirsch hinterher, diesmal jedoch nicht als Jäger, sondern als Gejagter. Ein Stück weiter vorne kam Ty. Als er den Hirsch sah, legte er nach kurzem Zögern sein Gewehr an. Er hatte die Wölfe wohl nicht gesehen. „Ty, lauf!“, rief ich. Er sah mich verwundert an und dann an mir vorbei. Ich hätte wohl losgelacht, wenn ich nicht gewusst hätte, dass nur eine Pferdelänge hinter mir ein Rudel Wölfe rannte. Als er sie entdeckte, machte er vielleicht ein Gesicht! Plötzlich rannte er los. Der Hirsch sprang an ihm vorbei und verschwand bald ins Dickicht zurück. Ich galoppierte jetzt neben Ty. Er schnaufte heftig. „Ich fass es nicht! Woher kommen die denn jetzt?“ „Sie kamen um die Ecke“, antwortete ich ihm. „Ach so, um die Ecke! Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen! Um die Ecke!“ Er lachte etwas verärgert, aber ich nahm es ihm nicht übel. Die Wölfe kamen ziemlich nah. Einer schnappte sogar schon nach mir. Im Gegensatz zu den Wölfen, die immer schneller wurden, wurde Ty immer langsamer. „Ty, du solltest etwas schneller rennen, sonst erwischen sie dich“, sagte ich. „Ja, klar. Noch schneller. Ich hab nur zwei Beine, Tjun. Hast du das etwa vergessen?“ Er brachte die Worte gerade noch so zwischen heftigem Schnaufen heraus. Stimmt, ich hatte wirklich ganz vergessen, wie langsam Menschen doch waren. Schon wieder schnappte ein Wolf nach mir. Fast hätte er mich erwischt. Noch drei Schritte und sie hatten uns. „Spring auf!“, rief ich Ty zu. „Was?!“ „Ich sagte, “spring auf“!“ Er fasste meine Mähne und machte einen Satz. Schon saß er auf meinem Rücken. „Festhalten!“, rief ich und galoppierte dann richtig los. Der Wind sauste mir um die Ohren und meine Mähne flatterte im Wind. Meine Flügel lagen eng an meinen Körper gepresst. Sie wären nur ein Hindernis beim Galoppieren. Ty wimmerte auf meinem Rücken wie ein kleines Kind. Er hatte wohl Angst, dass wir gegen einen Baum rasten. Ich muss zugeben, zwei Mal wären wir das auch beinahe. Ich galoppiere sonst nur auf Steppen so schnell und da gibt es keine Hindernisse. Im Nu waren wir die Wölfe los. Trotzdem galoppierte ich noch durch den Fluss, denn sie sollten unsere Fährte ganz verlieren. Als ich mir endlich sicher war, dass sie uns jetzt nicht mehr finden würden, hielt ich an. Ty stieg mit zittrigen Knien ab und ließ sich auf den Boden fallen. Ich legte mich neben ihn. „Puh, das hab ich ja noch nie erlebt. Hast du vorher schon mal so was gemacht?“, fragte er. „Nein. Ich bin im Wald noch nie so schnell galoppiert.“ Er sah mich entsetzt an. Ich glaube, wenn ich ihm das gesagt hätte, bevor er aufgestiegen ist, hätte er sich lieber von den Wölfen fressen lassen. „Naja“, begann er als er seine Stimme wieder gefunden hatte, „ von den Vorräten ist wohl nicht mehr allzu viel übrig.“ Er zeigte auf meine rechte Tasche. Sie war an einem Ast hängen geblieben und ein großes Loch klaffte nun im Stoff. Die Beeren waren fast alle herausgefallen. „Dann müssen wir wohl noch einmal suchen gehen.“ Er rappelte sich mühsam auf. Ich sprang auf die Hufe und wollte loslaufen, als Ty mir ein Zeichen gab stehen zu bleiben. „Psssst. Da ist etwas. Bleib stehen!“, flüsterte er und starrte gebannt auf das Dickicht. Tatsächlich raschelte etwas. Ich hoffte, dass es nicht wieder die Wölfe waren, denn ein zweites Mal würde das Ty nicht mehr mitmachen. Das Rascheln wurde immer stärker und plötzlich trat etwas aus dem Gebüsch. Es war der Hirsch, den wir gejagt hatten. Seine Flanke war blutverschmiert. Wahrscheinlich hatte er nicht so viel Glück gehabt wie wir. Er taumelte ein paar Schritte auf uns zu und fiel dann tot um. „Na, wenn das mal kein Glück ist“, freute sich Ty. Er legte das Seil um die Hinterbeine des Hirsches und band es anschließend um meinen Hals. Der Wagen war wohl kaputt. Jedenfalls hatten wir ihn nicht mehr und zurück zur Quelle um nachzuschauen, wollte im Moment keiner von uns beiden. Als es schon fast Nacht war, kamen wir zur Hütte zurück. Erleichtert ließ ich mich ins Stroh fallen. Ich war so erschöpft, dass ich gleich einschlief. Was um mich herum geschah, war mir völlig egal. Als ich am nächsten Morgen aufwachte stand die Stalltür offen. Ich trat vorsichtig hinaus, da ich es etwas seltsam fand. Normalerweise wurde ich von Ty geweckt, doch dieser war nirgends zu sehen. Ich bekam langsam Angst. Wo könnte er nur stecken? Ich trippelte nervös um die Hütte herum, aber er war nirgendwo zu sehen. Durch ein offenes Fenster schaute ich hinein. Vielleicht schlief er ja noch, doch das Bett war leer und auch der Rest der Hütte. Ich war so beschäftigt mit Suchen, dass ich nicht bemerkte, wie sich jemand hinter mir näherte. Erst als er hinter mir stand und mir leicht auf die Hinterhand schlug, fuhr ich herum und streckte ihm mein Horn entgegen. Ich starrte ihn an und er blickte entgeistert zurück. Es war Ty und mein Horn hätte ihm beinahe die Kehle durchbohrt. „Was ist denn mit dir heute los?“, fragte er mich, während ich meinen Kopf zurückzog. „Du hast mich richtig erschreckt. Wo warst du?“, fragte ich ihn. „Ich war noch mal im Wald jagen. Wollte dich nicht extra wecken!“ Er zeigte auf ein großes Schwein, das in der Nähe lag. „Heute holen wir ein bisschen Holz.“ Er war heute Morgen noch einmal an der Quelle gewesen und hatte den Wagen geholt. Ich bekam ihn wieder angespannt und wir gingen an den Waldrand um Holz zu hacken. Als wir am Abend den letzten Wagen Holz heimfuhren, wurde der Himmel schwarz. Riesige Wolken zogen sich zusammen. Es sah nach einem gewaltigen Sturm aus. „Oh, oh, das sieht aber gar nicht gut aus. Hoffentlich überlebt unsere Hütte das!“ Wir beeilten uns nach Hause zu kommen. Kaum dass Ty mir den Wagen abgespannt und entladen hatte, fing es an zu regnen, und zwar in Strömen. Ein richtiges Frühjahrsgewitter. Ich trabte in meinen Stall und legte mich auf das trockene Stroh. Durch ein paar Löcher im Dach tropfte unentwegt Wasser herein. Ich schob mit meiner Schnauze meinen Wassereimer unter eines der Löcher. Als ich mich wieder hinlegte, ging die Stalltür auf und Ty trat herein. Das Wasser lief in Strömen an ihm herunter. Unter seiner Jacke hatte er zwei Decken. „Hi, darf ich die Nacht vielleicht bei dir verbringen? Vielleicht hast du ja Angst und da ist es besser, wenn man zu zweit ist.“ Draußen blitzte es und kurz darauf war ein unheimlich lauter Donner zu hören. Ty zuckte zusammen und schloss schnell die Tür. Wahrscheinlich hatte er selbst Angst und kam deshalb zu mir. Ich war Gewitter gewohnt, schließlich hatte ich schon 203 Jahre unter freiem Himmel verbracht. Aber es machte mir nichts aus ihn bei mir zu haben. Ich hatte ihn in dieser kurzen Zeit richtig lieb gewonnen. Er setzte sich neben mich und zog seine Jacke aus. Anschließend wickelte er sich eine Decke um und gab die andere mir. „Für dich. Ich dachte, du hast vielleicht kalt.“ Er hielt mir die Decke hin. „Danke, aber ich brauche keine Decke. Behalte du sie.“ Er war sichtlich erfreut darüber und wickelte sich auch noch in die zweite Decke ein. Dann lehnte er sich gegen mich und begann zu erzählen. Er erzählte gerne, wie ich gemerkt hatte. Seine Geschichten waren meist traurig, aber ich fand sie sehr schön. Irgendwann muss ich dann eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffnete, lag Ty auf dem Stroh und schnarchte laut. Die Nacht war vorbei und das Gewitter hatte aufgehört. Ich blieb noch etwas liegen, stand dann aber auf und stupste Ty mit meinen Nüstern an. „Nein, lass mich, ich will noch nicht aufstehen“, murmelte er in seine Decke hinein und drehte sich um. Ich stupste ihn wieder sachte an. Die gleiche Reaktion. Beim dritten Versuch klappte es und er stand langsam auf. Als er gegähnt hatte, lief er zur Tür und öffnete sie. Die ganze Landschaft war in Nebel gehüllt. Überall tropfte das Wasser von den Gräsern und Blättern. Es war ziemlich frisch. Die ganze Landschaft war geziert von Pfützen und an manchen Stellen lagen sogar größere Äste auf dem Boden. „Oh nein!“, schrie Ty auf einmal. Ich rannte zu ihm in die Hütte und wäre beinahe ausgerutscht. Die Hütte stand fast voll mit Wasser. In der Decke klaffte ein etwa 20 cm großes Loch. „Jetzt wissen wir ja, was wir heute zu tun haben“, seufzte er, „ich werde das Dach reparieren, in der Zwischenzeit kannst du versuchen das Wasser aufzuwischen. Das müsstest du packen, oder?!“ „Hm, eigentlich schon“, erwiderte ich und ging ein Tuch holen. Es war ziemlich schwer das Wasser aufzuwischen; da ich ja keine Hände habe, musste ich die Tücher zwischen die Zähne nehmen. Wenn sie voll gesogen waren hängte ich sie draußen über den Zaun. Er war ziemlich kaputt, hatte aber trotzdem noch genug Platz für ein paar Tücher. Das Wasser tropfte auf den Boden und nach einer Weile waren sie wieder trocken und ich konnte sie erneut benutzen. Es dauerte ewig, bis die Hütte wieder ganz trocken war. Ty half mir, als er mit dem Dach fertig war, aber schnell voran kamen wir trotzdem nicht. Aber trotz allem machte es mir unheimlich Spaß. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)