Der Geistertempel von Aiwe ================================================================================ Kapitel 1: Geschichten ---------------------- Was ich euch heute erzählen möchte, werdet ihr mir kaum glauben. Aber jedes Wort ist wahr! Naja, vielleicht sollte ich mich erst einmal vorstellen. Mein Name ist Tjun, ich habe vier schlanke, kraftvolle, lange Beine, an deren Ende wundervolle, silbern glänzende Hufe sind. Mein Schweif hat bisher jede Mücke, die mich besuchte, verjagt. Mein Fell ist weißer als der Schnee und meine Augen lassen jedes Silber matt erscheinen. Ich, 623 Jahre jung, habe zwei ganz besonders schöne Merkmale: zum einen ein langes, schmales, silbernes Horn und zum zweiten zwei prächtige, große, weiße Flügel. Ich bin ein Einhorn! In Sagen und Legenden werden wir als schöne weiße Pferde mit Hörnern gesehen. Ohne Flügel. Diese besitzt in den Geschichten der Menschen nur Pegasus. Aber das hier ist die Wahrheit. Ich kann nicht lügen. Vielleicht mögen wir eine Mischung aus dem legendären Pegasus und den sagenumwobenen Einhörnern sein, aber was spielt das schon für eine Rolle? Meine Geschichte begann vor vielen, vielen Jahren. Ich war damals gerade mal 203 Jahre alt. Meine Herde lebte in den weiten Steppen unseres Landes. Der Winter war eingebrochen und brachte die Kälte und den Schnee mit sich. Das Futter war sehr knapp, aber meine Herde hielt zusammen. In einer besonders stürmischen Nacht wurde ich von meiner Herde getrennt. Von diesem Zeitpunkt an möchte ich euch alles erzählen, denn ab jener Nacht änderte sich mein ganzes Leben... Ich wollte in die düsteren Wolken aufsteigen, denn ich erhoffte mir dadurch meine Herde wiederzufinden. Es war vergeblich. Der Wind pfiff mir um die Ohren und zwang mich am Boden zu bleiben. Der Schnee um mich herum wurde immer höher. Ich drohte zu erfrieren, doch das war mir egal. Ich dachte nur noch an meine Herde und stapfte trotzig durch den Schnee, bis ich an einer verdeckten Wurzel hängen blieb und hinfiel. Mein Huf hing fest und ich spürte die Müdigkeit in mir aufsteigen. Um mich herum war es stockdunkel, doch ich spürte den Schnee, der auf mir landete. Der Schmerz an meinem Knöchel wurde immer schlimmer. Die Dunkelheit hüllte mich ein und verschlang mich. Ich wurde ohnmächtig. Als ich aufwachte, lag ich unter einer wärmenden Decke auf einem Schlitten. Ein junger Mann hatte mich gefunden und aufgesammelt. Ich war ihm dankbar, aber auf eine absurde Weise wünschte ich mir, er hätte mich liegen lassen. Die Sorgen um meine Herde ließen mich alles andere vergessen. Ich bemerkte nicht einmal, dass der Schlitten hielt. Erst als der Mann ein festes Seil um meine Vorderhufe legte, schrak ich auf und sah mich um. Wir waren an einem kleinen Holzhaus angekommen. Der Mann band das andere Ende des Seils zu einer Schlaufe und legte es einem Esel um den Hals. Er bekam einen leichten Klaps auf die Hinterhand und trabte dann los. Der Mann lief voran und bog um die Ecke des Hauses. Ich rutschte vom Schlitten auf den kalten Schnee. Was wollte er mit mir tun? Wollte er mich etwa schlachten, weil ihm seine Nahrung ausgegangen war? Ich bekam Angst. Schreckliche Angst. Sollte das mein Ende sein? Mein ganzer Körper begann zu zittern. Wenn ich mich jetzt nicht befreien würde, würde ich meine Herde nie mehr finden. Ich begann zu zappeln, doch ich war zu schwach um lange durchzuhalten. Der Mann öffnete die Tür zu einer Art Schuppen. Ich schloß die Augen. Den Anblick von vielleicht schon toten Tieren wollte ich mir ersparen. Das Holz kratzte über mein Fell, aber plötzlich war der Boden weich. Ich hielt die Augen geschlossen. „Wo bin ich?“, fragte ich mich. Auf einmal hielt ich an. Schritte kamen näher. „Mein Gott. Jetzt ist es soweit“ Mein ganzer Körper verkrampfte sich vor Angst. Jetzt stand der Mann vor mir, noch ein paar Sekunden und alles würde vorbei sein. Ich sah mein ganzes Leben, das ich bisher gelebt hatte, in Sekundenschnelle wie in einem Kino vor mir ablaufen. Ich sollte nie wieder meine Flügel ausbreiten und auf der warmen Thermik wie ein Vogel in die Lüfte gleiten können oder mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit durch das Gelände galoppieren können. Es war vorbei, aber vielleicht schaffte ich es ihn mit meinem Horn zu verwunden und dann zu fliehen. Einhörner sind reine Geschöpfe, okay, aber egal, wie rein ein Geschöpf sein mag: Wenn es um sein Leben geht, setzt es sich zur Wehr. So denke ich jedenfalls. Außerdem möchte ich ihn ja nicht töten, nur einen Schrecken einjagen und ihn leicht verletzten, sodass ich eine Möglichkeit zur Flucht habe und er mich nicht gleich verfolgt. Ich öffnete die Augen, bereit, mein Vorhaben auszuführen, und starrte ihn fassungslos an. Er saß auf dem mit getrocknetem Gras ausgelegten Boden und legte das Seil, das er mir abgenommen hatte, was ich in meiner Panik gar nicht mitbekommen hatte, zusammen. Als er fertig damit war ging er hinaus und schloss die Tür. „Was soll das? Ich dachte, ich bin Nahrung für ihn“ Ich war völlig verwirrt. Wollte er mich erst mästen? Er müsste doch wissen, dass ich abhauen würde. Da kam er wieder in den Schuppen. Er trug eine lederne Tasche um den Hals und einen Eimer. Ohne mich zu beachten, lief er vorbei und schüttete etwas Wasser aus dem Eimer in einen anderen im Schuppen. Dann kam er mit dem Eimer zurück. Er stellte ihn vor mir ab und legte die Ledertasche daneben. Das Wasser im Eimer dampfte, es musste warm sein. Nachdem er kurz in seiner Tasche gewühlt hatte, ging er noch einmal zu dem Wassereimer und warf ein paar Kräuter hinein. Ich schaute ihm interessiert zu. Normalerweise weichen wir den Menschen aus und meiden den Kontakt mit ihnen. Es war seltsam einem Menschen bei der Arbeit zuzusehen. Er kam zu mir zurück und holte ein paar Dinge aus seiner Tasche. Mit einem kleinen Tuch umwickelte er komisch aussehende Kräuter und tauchte sie in den mit heißem Wasser gefüllten Eimer. Er nahm das Tuch heraus und drückte es etwas aus. Anschließend legte er es mir auf meinen bereits angeschwollenen und entzündeten Knöchel. Es brannte etwas, doch ich hielt weiter still. So wie es schien, wollte er mir helfen und mich nicht verspeisen. Er legte mir einen Verband um und stand dann auf. „In dem Eimer dort hinten befindet sich ein wärmendes Getränk. Es wird dich etwas stärken, also trink es, bevor es kalt ist. Ich werde morgen noch einmal nach dir schauen, sofern du nicht wegläufst.“ Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen sprechen hörte. Etwas ganz Besonderes lag in seiner Stimme, etwas Beruhigendes. Ich stand vorsichtig auf und ging zu dem Eimer. Das Wasser darin hatte einen würzigen, aber zugleich süßen Geschmack. Ich hatte es ziemlich schnell leer getrunken. Dann überkam mich plötzlich eine Müdigkeit wie nie zuvor. Sollte er mich reingelegt haben? Ich fiel um und schlief ein. Am nächsten Morgen war der Schneesturm vorbei. Gegen Mittag wachte ich auf. Der Mann war schon da und streute noch mehr Stroh in den Schuppen. Der Wassereimer war voll gefüllt und daneben lag ein bisschen frisches Gras. Ich sah dem Mann zu, wie er mit einer Mistgabel das Stroh verteilte. In der anderen Ecke des Schuppens stand der Esel, der mich gestern gezogen hatte. Der Mann legte die Mistgabel auf die Seite und kam auf mich zu. „Schönen guten Morgen. Es scheint dir besser zu gehen als letzte Nacht.“ Er setzte sich neben mich auf den Boden. Zum ersten Mal seit ich hier war sah ich ihn mir genauer an. Er hatte kurze braun- blonde Haare die verstrubbelt und stufig geschnitten bis zu seinen Schultern gingen. Sein Lächeln war so sanft wie kein anderes und er strahlte so viel Wärme und Licht aus, dass ich meine Sorgen für einen Moment vergaß. „Ich heiße Ty, bin 23 Jahre alt und wohne hier.“ Er wartete einen Augenblick, wahrscheinlich darauf, dass ich antwortete, doch ich sagte nichts. „Es ist nicht leicht sich im Winter durchzuschlagen. Zum Glück habe ich dich gefunden, sonst gäbe es dich jetzt nicht mehr.“ Er hielt wieder inne. „Ich verstecke mich hier, weil ich meine Steuern nicht bezahlt habe. Schlimme Zeiten. Das Land bräuchte einen anderen König.“ Wieder verstummte er eine Zeitlang. „Wie lautet dein Name? Ich weiß, du kannst sprechen.“ Ich antwortete nicht. „Naja, wenn du nicht willst, nenne ich dich einfach Snow. Vielleicht verrätst du mir deinen Namen ja noch. Also Snow, hör gut zu, denn ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen, die du in Erinnerung behalten solltest. Vor langer Zeit, als die Welt erschaffen wurde, baute man einen riesigen Tempel. Man nannte ihn den Geistertempel. Du musst wissen, dass sich ein Mensch, wenn er stirbt, oder auch ein Tier in drei Teile teilt: den Körper, den Geist und die Seele. Die Seele wird in einem anderen Körper wiedergeboren, der Körper wird nach einer gewissen Zeit zu Erde und der Geist kommt in den Geistertempel und verweilt dort so lange, bis er sich auflöst. Das dauert ungefähr einen Monat. Wenn nun ein Einhorn einen Menschen oder ein Tier wieder erwecken will, muss es innerhalb dieses Monats zum Tempel der Geister. Schickt es dann den Geist zurück in den Körper, so kommt auch die Seele wieder herbei und derjenige lebt weitere 100 Jahre. Allerdings hat jedes Einhorn nur ein einziges Mal die Macht dazu jemanden wiederzubeleben. Nur ein einziges Mal!“ Bei den letzten Worten sah er mich so durchdringend an, dass ich schon fast Angst bekam. Ich wusste, dass er mich warnen wollte. Ich sollte diese Macht nicht unnötig verschwenden. „Vor mehr als 100 Jahren verschwand der Tempel plötzlich. Man sagt, die Drachen haben ihn in ihr Reich versetzt, aber sicher kann das keiner sagen und wenn du mich fragst, die meisten Drachen wissen überhaupt nicht wo dieser Tempel ist, aber ich glaube, dass der Drachenlord Shadow ganz genau weiß, wo sich der Tempel befindet.“ Er hielt kurz inne und sah mich fragend an. Dann fuhr er fort: „Du weißt doch, wer Shadow ist, oder?! Egal, ich werde es dir trotzdem erzählen. Also, vor langer Zeit war Golda die Fürstin der Drachen. Kurz nachdem sie Shadow geheiratet hatte starb sie. Er bekam die Macht über das ganze Land, allerdings war er kein guter Zeitgenosse. Er ist wie unser König, den wir momentan haben: kalt und grausam. Es gibt zwar einige Drachen, die sich ihm widersetzen, doch das bringt nicht viel. Seit Shadow auf dem Thron ist, haben die Einhörner Krieg mit den Drachen. Weist du was, manchmal glaube ich, dass unser König ein Untertan von Shadow ist und dessen Befehle ausführt. Sicher bin ich mir nicht, aber ich werde versuchen es herauszufinden.“ Er schwieg eine Weile. Dann erhob er sich und ging zur Tür. Kurz drehte er sich noch einmal um und sah mich einen Moment lang an. „Weißt du, wieso ich dir das alles erzählt habe?! Mein Gefühl sagt mir, dass ich dir trauen kann und ich denke, dass dir einiges noch nützlich sein wird.“ Mit diesen Worten drehte er sich um und öffnete die Tür. Ich war etwas verunsichert und wusste nicht genau, was ich tat, aber ich rief ihm etwas hinterher, als er aus der Tür trat. „Tjun. Mein Name ist Tjun!“ Er lächelte mich an und schloss dann die Tür. Ich blieb alleine mit meinen Ängsten, Hoffnungen und dem Esel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)