Eistränen von Kimiko_Grey ================================================================================ Kapitel 14: Anorexia Nervosa ---------------------------- Das Szenario mit den Punktrichtern spielte sich in dieser Nacht unzählige Male in meinem Kopf und in meinen Träumen ab. In dieser Nacht zog ich mich viermal um, da ich jedes mal nass geschwitzt war, wenn ich aus einem der Albträume erwachte. Am Morgen stand ich mit Kopfschmerzen auf, ging aber dennoch zu meinem Kleiderschrank um mir meine Schuluniform anzuziehen. Der Rock passte mir nicht mehr, ich hätte ein weiteres Mal hineingepasst. Also hieß es improvisieren. Ich zog mich so dick an, dass mein Gewichtsverlust nicht mehr groß auffiel. Allerlei Sache hatte ich mir unter meine Schuluniform gestopft und das tat ich täglich egal, welche Jahreszeit es war. Im Winter war das Zwiebelsystem, wie man es nannte, kein Prob-lem, problematisch wurde die ganze Aktion im Sommer wenn auch keine Läufe stattfanden. Die kurze Schuluniform, Kleider, Röcke, kurze Hosen und dergleichen mehr konnte ich kaum tragen. Vorteil meines starken Gewichtsverlustes war, dass ich fror – egal wie heiß es draußen war – und ich mich somit auch dick anzog, was wiederum dazu führte, dass ich mich dick anziehen konnte ohne dass es auffiel. Im Sommer 2002 – ich war mittlerweile achtzehn - kam dann allerdings für mich der absolute Supergau. Es war einer der heißesten Sommer in Tokio gewesen und mein Blutdruck war aufgrund der Magersucht ohnehin ständig im Keller. Ich wollte mir allerdings nie eingestehen, dass ich wirklich magersüchtig war. Bis zu dem Zeitpunkt im Sportunterricht. Da ich ohnehin Sportlerin war, war meine Kondition top, ich stand in Sport glatt eins. Nur an diesem Tag war alles anders. Mir gings überhaupt nicht gut, ich hatte Kopfschmerzen, zitterte vor Kälte und mir war schwindlig. Trotzdem nahm ich am Sportunterricht teil. Ich hätte es besser lassen sollen. Da ich mich auch im Sportunterricht dick anzog, soweit das jetzt möglich war, schwitzte ich mehr, war eine Mischung aus rot und blass, das sagte mit jedenfalls Fujita, der wieder besorgt nachfragte und ich befürchtete dass er genauso gut wie ich Bescheid wusste. Wie immer lächelte ich und winkte ab, mit den Worten, dass mit mir alles bestens sei. Fujitas argwöhnischer Blick verriet mir allerdings, dass er mir kein Wort glaubte, aber ich ignorierte seinen bohrenden Blick und nahm weiter am Sportunterricht teil. Nach ein wenig warmlaufen war Bockspringen angesagt, balancieren am Reck und an den Ringen. Das Bockspringen meisterte ich noch mit Bravour – falls man das so sagen konnte – aber das balancieren am Reck gestaltete sich schon schwieriger. Ich spürte die Blicke meiner Klassenkameraden, hörte sie tuscheln, ich würde mager und kränk-lich aussehen. Aus den Gesprächsfetzen, die ich mitbekam, hörte ich heraus, dass man schon darüber spekulierte, wann ich in eine Klinik für Essstörungen eingeliefert werden würde, wie lange es dauern würde, bis ich verhungerte oder einsah, dass ich krank war und Hilfe in Anspruch nehmen würde, mir helfen lassen würde. Mit einem Seufzer hüpfte ich auf um mich an den Ringen festzuhalten. Körperspannung war das Zauberwort, Spannung bedeutete aber auch gleichzeitig Kraft und die hatte ich aufgrund meines hohen Gewichtsverlustes nicht. Bis zu dem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, wie wenig ich wirklich wog, ich hatte mich schließlich nicht auf eine Waage gestellt und das seit Ewigkeiten. Ich konnte mich nicht an den Ringen festhalten, rutschte ab und knallte hart auf die Gummimatte. Ich war aus etwa zwei Metern gefallen, denn ich hatte mich zuvor auf eine Kiste gestellt um an die Ringe heran zu kommen. Alles verschwamm vor mir, irgendwer drehte mich auf den Rücken und plötzlich standen scheinbar zwanzig Menschen um mich herum, die alle auf mich einredeten, ich verstand allerdings kein Wort, spürte auch keinen Schmerz. Durch meinen hohen Gewichtsverlust und den Aufprall (ich war flach mit dem Oberkörper aufgeschlagen) hatte ich mir eine Rippe gebrochen. Weder hatte ich mitbekommen, dass ich mir etwas brach, noch wo ich war, geschweige denn, dass man einen Rettungswagen gerufen hatte. Als ich einigermaßen wieder da war, hatte ich ein kühles Tuch auf der Stirn und ein junger Mann in weißen Sachen beugte sich über mich. Er sprach mit mir, und ich nickte nur, obwohl ich kein Wort verstanden hatte. Behutsam, von mehreren Armen meiner männlichen Klassenkameraden getragen spürte ich, wie man mich auf eine Trage legte und mir war schummrig. Ich hörte Fujitas Stimme. Nakazawa, eine Klassenkameradin war so freundlich mir aus der Umkleide meine Sachen zu bringen und Fujita, der die Erlaubnis vom Lehrer bekommen hatte, hatte sie in der Hand und ich hörte nur, wie seine sanfte Stimme sagte, dass er mein bester Freund sei und mich gern ins Krankenhaus begleiten würde, damit ich nicht so allein war, mein Sportlehrer würde meine Eltern informieren. Kurz darauf spürte ich schmerzhaft, wie man mich in den Krankenwagen einlud und durch das Ruckeln des Krankenwagens, der mir durch die zwangsläufigen Bewegungen meines Körpers Schmerzen zufügte, wusste ich wo ich war und wo ich hinkommen würde in ein Krankenhaus, weiter konnte und wollte ich nicht denken. Im Krankenhaus angekommen, verabreichte man mir intravenös eine Koch-salzlösung. Die Flüssigkeit floss angenehm kühl durch meine Venen und ich schloss die Augen. Vermutlich gab man mir auch ein Schmerzmittel, denn ich hatte keine Schmerzen mehr. Die Ärzte kümmerten sich gut um mich röntgten mich und schnürten mich in eine Art Korsett. Sie führten eine Reihe weiterer Untersuchungen an mir durch, unter anderem wurde ich auch gewogen. Der behandelnde Arzt runzelte besorgt die Stirn, und musterte mich eindringlich. Der ältere Herr sah mir tief in die Augen und ich hatte das Gefühl, dass er in meiner Seele las. Schnell wandte ich den Blick ab. In dem Moment kamen meine Eltern und meine Mutter beugte sich besorgt über mich ich lächelte glücklich denn ich freute mich meine Eltern zu sehen, Fujita hatte sie zu mir geführt. Nach einigen Fragen, wie es mir ginge und wie das passiert sei wollte der Arzt sie sprechen. Er warf mit Fachausdrücken um sich und mitten im Gespräch fiel „Anorexia Nervosa“. Ich hatte keine Ahnung was das bedeutete, erst als mein Vater verständnislos den Kopf schüttelte und der Arzt ihm das mit Magersucht übersetzte, war auch mir nun endgültig klar, dass ich nun keine Chance mehr hatte meine Fassade aufrechtzuerhalten. Irgendwann verschwand der Arzt aber meine Eltern machten keine Anstalten mich auszufragen. Ihre Sorge war ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben aber sie ließen mich in Ruhe. Unter Schmerzen stand ich auf ich brauchte frische Luft. Ich verließ das Zimmer und ging raus in die kühle Luft des Nachmittages. Nicht weit von meinem Standpunkt entfernt – wobei ich ja eigentlich lief- erblickte ich einen jungen blonden Mann der einen schwarzen Mantel und einen Hut trug und mit seinem Handy telefonierte. Eine Weile stand ich einfach nur da und beobachtete ihn. Er sah nicht schlecht aus muss ich sagen. Der junge Mann stand mit dem Rücken zu mir da in der einen Hand das Handy, in das er mit ruhiger Stimme hineinsprach, in der anderen Hand etwas das aussah wie ein Schlüsselbund. Er muss gemerkt haben, dass ich ihn anstarrte (wie blöd und ungezogen war ich eigentlich? Hatte ich denn meine gute Kinderstube vergessen??) denn er drehte sich zu mir um und hielt einen Moment inne. Er sah mir direkt in die Augen und schenkte mir ein wirklich so bezauberndes Lächeln, dass ich unwillkürlich errötete. Das veranlasste den Blonden zu einem ausgeprägterem Lächeln und ich wandte den Blick ab. Natürlich ahnte ich nicht, dass ich Jahre später eben diesem Herren im Mantel und Hut ein weiteres Mal begegnen sollte und dass dieser so vermutlich normale und unscheinbare Mann mein Leben nicht nur umkrempeln sondern meine komplette WELT, alles an das ich bisher geglaubt hatte, völlig aus den Fugen bringen würde. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)