Der Glaube von Cleaf ================================================================================ Kapitel 1: ----------- „Ich vermisse dich wahnsinnig! Egal, was auch passiert, ich liebe dich, mein Schatz! Dein Vater“ Johann lehnte sich zurück und begutachtete das, was er geschrieben hatte. „Post ist da!...Hier Huber, für dich. Becker…“ Die Stimme des Wärters näherte sich gemächlich seiner Zelle. Das Herz pochte ihm bis zum Hals. Vielleicht….nein. Aber vielleicht doch? Johann wagte es kaum zum Gitte hinüber zu sehen. Er schluckte und schloss kurz die Augen. Da stand der Wärter schon vor seiner Zelle. „Wieder nichts, Lerch!“ Schon war er fort. Johann stieß die Luft aus seinen Lungen. Jeden Tag dasselbe. Jeden Tag wurde seine Hoffnung enttäuscht. Aber er gab nicht auf, nie würde er verzweifeln! Zehn Jahre war es nun schon her, aber er hatte nie seinen Willen eingebüßt. Denn wenn man an diesem Ort seine Hoffnung verlor, seinen Glauben an sich selbst, würde man erbarmungslos untergehen. Johann wusste das. Seit jeher wohnte er allein in dieser Zelle. Aber man hatte Angst vor Übergriffen anderer Häftlinge und hielt ihn bewusst, so oft es ging, von den anderen fern. „Jedoch ist das Gefängnis überbelegt. Wir brauchen das andere Bett.“ Hatte man ihm gesagt. Also hatte er seit heute früh einen Zellengenossen. Der Mann war sehr jung, keine fünfundzwanzig und nicht besonders hübsch mit seinem pockenvernarbten Gesicht. Allerdings starrten seine grauen Augen Johann jedes Mal an, wenn er glaubte, dass Johann es nicht bemerkte. Felix hieß er, Felix Arndt. Das hatte er von dem Wärter erfahren, nicht von Felix selbst. Denn dieser gab ihm nicht einmal die Hand zur Begrüßung, er starrte ihn nur ausdruckslos an. Warum er hier war, wusste Johann nicht. Im Grunde war Felix ihm egal. Ihm waren die Blicke und das Schweigen gleich. Johann genügten die Bücher und seine Gedanken um diese Zeit zu überstehen. Vorallem die Erinnerung an Marie, mittlerweile musste sie schon siebzehn sein, machten den Aufenthalt hier kurzweiliger, als er eigentlich war. Für ihn blieb sie immer das Mädchen mit den haselnussbraunen Flechten und den Sommersprossen. Noch heute konnte er sich genau an das karierte, rosa Kleid erinnern, das mit den vielen kleinen Schleifen, die sie so gerne hatte. Sie trug es bei ihrer letzten Begegnung, vor Gericht. Tausende Male hatte er in den letzten zehn Jahren den Prozess schon im Kopf abspielen lassen, jedes Wortfitzel, jedes Detail. Er wusste immer noch nicht, warum er hier gelandet war. Angefangen hatte es an einem ganz normalen Wochentag. Johann kam wie immer müde von der Arbeit, als er den Streifenwagen vor seinem Haus bemerkte. Von Angst und Schrecken gejagt stürmte er ins Innere. Zwei Polizeibeamte saßen am Küchentisch und schrieben etwas in Notizblöcke. Gegenüber von ihnen saß seine Frau Silke mit Marie im Arm, beide weinten. Alle vier sahen sie auf als er das Haus betrat. „Was ist geschehen?“ War das Einzige, das er außer Atem herausbrachte. Man hatte seine Marie vergewaltigt. Wieder konnte Johann nichts anderes tun, als in seiner Zelle die Fäuste zu ballen und die Fingernägel mit aller Macht in seine Haut zu graben. Er hasste sich selbst dafür! Er war an allem Schuld! Man hatte sie von hinten auf dem Nachhauseweg gepackt und in einen Van geschmissen. Ihre Augen wurden mit einem schwarzen, öligen Lappen verbunden und erst wieder befreit, als alles vorüber war. Nah ihrer Schule hatte man sie dann wieder abgesetzt. Ihre Mutter, voller Sorge über Maries Verbleib, hatte sie erst vor nicht allzu langer Zeit dort abgeholt. Nachdem sie das völlig verschreckte Mädchen dazu gebracht hatte, ihr zu erzählen, was passiert war, rief Silke Lerch sofort die Polizei. Zwar wusste Marie nicht genau, was mit ihr gemacht wurde, aber ihre Mutter wusste es umso besser. In Tränen aufgelöst sank Silke in die Arme ihres Mannes. Als Nächstes wurde das Kind in die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht und die Eltern versorgten die Polizei mit weiteren nötigen Informationen über mögliche Verdächtige im Bekanntenkreis oder aus der Umgebung, Angaben über Marie und ihre Freunde und noch vieles mehr. Johann hatte gar nicht gewusst, was man alles für die Ermittlungen brauchte. Aber ihm war es egal, denn das Einzige, was zählte, war die oder den Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen. Er war damals ruhelos, immer wütend, vorallem auf sich selbst. Denn er hatte seine Tochter nicht beschützen können! Auch nahm er Urlaub um jede Minute für seine Familie da zu sein. Der Wendepunkt war die Meldung, dass sie männliche DNS in Maries Körper gefunden hatte. Nun wurde jeder Schritt von den Medien verfolgt. Silke und Johann standen sogar öfter vor der Kamera, als ihnen lieb war. Aber sie mussten die Menschen dazu bewegen, DNS Proben abzugeben. Man hatte auch ihn um die Abgabe seines Erbgutes gebeten, reine Formalität. Natürlich gab er sie bereitwillig, keine Frage. Die nächsten Wochen waren dem Warten und der Geduld gewidmet. Irgendwann erschien die Polizei wieder vor der Tür. Erwartungsvoll öffnete Johann, haben sie den Täter endlich gefunden? Das Ergebnis der DNS-Tests war da und es ergab eine hundertprozentige Übereinstimmung mit ihm selbst, Johann Lerch. Sie zückten ihre Handschellen und führten ihn unter den Augen der Nachbarn und seiner Familie ab. Sie wollten ihn in Untersuchungshaft nehmen. Er konnte sich noch an das Gesicht seiner Frau erinnern, das im Lichtschein der Eingangsbeleuchtung merkwürdig zuckte. „Das kann nur ein Irrtum sein!“ Hatte er ihr noch zugerufen. Der Prozess vollzog sich über Monate hinweg. Das DNS-Test-Ergebnis wurde mehrfach bestätigt. Man kaute wieder, und wieder die Fakten durch. Dass keiner in seiner Firma ihn ab dem geschätzten Zeitpunkt des Verbrechens im Vertriebsgebäude gesehen hatte. Dass Marie den Täter nicht sehen konnte und letztendlich Silkes Aussage. Die Worte „mein Mann liebte seine Tochter irgendwie unnatürlich abgöttisch“ hallten noch immer in seinen Ohren. Ihre Augen hatten das Fühlen vergessen. Für alle Aussagen gab es auch entsprechende Erklärungen, aber niemand wollte sie so richtig hören. Auch Maries Aussage, sie glaube nicht, dass es ihr Vater gewesen war, wurde ignoriert. Jedoch reichten alle Beweise nicht aus, um ihn zu verurteilen. Wenn die Spermienprobe nicht gewesen wäre. Er wusste nicht, warum sie seine sein sollte und woher sie kam… Aber dieses Faktum war unerschütterlich und sorgte auch für seine Verurteilung - und jede Menge Schlagzeilen. Aber das alles kümmerte ihn nicht mehr. Bald war er frei! Man würde ihn wegen guter Führung und ausgezeichnetem psychologischem Gutachten in die Bewährung entlassen. Seine Frau hatte sich schon kurz nach der Verurteilung von ihm geschieden, das Sorgerecht behielt sie allein. Doch auch das kümmerte ihn nicht. Bald war Marie achtzehn und konnte selbst entscheiden, ob sie ihn treffen wollte. Und er war sich sicher, dass sie ihn treffen wollte. Zwar hatte er kein einziges Lebenszeichen von ihr in den letzten zehn Jahren erhalten, hatte er ihr dennoch fast jeden Tag geschrieben. Das Bild mit den vielen Schmetterlingen, das sie ihm während der Untersuchungshaft gemalt hatte, klebte immer noch an der Wand, über seinem Schreibtisch. Das einzige, was ihm von ihr noch geblieben war. „Essenszeit“ Die Gittertür quietschte auf. Die Glühbirnen strahlten bereits seit einiger Zeit ihr elektrisches Licht, denn die Dämmerung war längst hereingebrochen. Der Wärter versammelte alle Häftlinge im Gang. Auch Felix erhob sich aus seinem Bett. Alle wurden in den Speisesaal geführt. Nicht aber Johann. Er aß in seiner Zelle. Heute gab es Schnitzel mit Pommes, wie jeden Sonntag. Man wollte den Anschein erwecken, den Häftlingen damit sonntags etwas Gutes tun zu wollen. Johann hasste Sonntage. Er würgte das trockene Fleisch mit etwas Wasser hinunter. Als Felix wieder kam, lag er bereits im Bett um bis zum Lichterlöschen noch das Kapitel zu ende zu lesen. Wieder sagte er nichts und Johann sah nicht einmal von seinem Buch auf. Er war froh über einen so stillen Zimmergenossen, da es für ihn kaum etwas am Gewohnten veränderte. Es musste kurz nach Mitternacht sein, vielleicht 1 Uhr. Die Gittertür schwang auf. Johann kannte das Geräusch wie kein anderes. Wie üblich konnte er noch nicht einschlafen, sondern grübelte darüber nach, wie und was er sagen würde, wenn er Marie endlich wiedersah. Wie würde sie reagieren? Er stellte sie sich mit siebzehn Jahren vor. Als man ihn mit einem Ruck aus dem Bett zog. Er landete unsanft auf dem Betonboden. Über ihm standen vier oder fünf dunkle Gestalten, vielleicht waren es auch mehr, er konnte in der Finsternis kaum etwas erkennen. „Hey Alter, der Neue hat uns heute erzählt, warum du hier bist. Wir haben zwar schon gemunkelt, aber dass du deine eigene Tochter fickst?! Du elender Schweinehund! So jemanden können wir hier nicht dulden. Mit so einem Scheusal will ich nicht gleichgestellt werden!“ Ein Stimmengewirr brach aus. Alle stimmten dem Sprecher zu und schlugen ihre Fäuste gegeneinander. Johann blieb ruhig. Über solche Prügeleien, die sogar bis zum Tod führen konnten, hatte er schon gehört. Aber er hatte keine Wahl, hatte er noch nie. Also war es Sinnlos, Angst vor dem Unvermeidlichen zu haben. Die Wärter würden schon angerannt kommen, wenn sie Lärm hörten. Plötzlich spürte er Schmerz in seiner Magengrube explodieren, als sich ein Fuß darin vergrub. Wenn er das hier überlebte, würde er bald bei Marie sein. Er würde ihr alles kaufen, was sie wollte und jedes ihrer Lächeln genießen. Er musste nur das hier überstehen! Das war der letzte Gedanke, den er noch aufbringen konnte. „Keine Sorge, ich werd einfach sagen, dass der Idiot versucht hat zu fliehen….“ Lachen ertönte und Johann verlor das Bewusstsein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)