Schreibübungen von ChasingCars ================================================================================ Mondscheinkind -------------- Monats-Challenge Juli Ich drücke auf den Klingelknopf und sofort höre ich Lillis kleine Schritte zur Tür tapsen. Sobald die Sonne untergegangen ist, ist sie kaum noch zu bändigen. Ein echtes Energiebündel. Sie öffnet die Tür und begrüßt mich mit einer stürmischen Umarmung. „Onkel Paul!“ Mit dem breiten Lächeln, das sich jedes Mal, wenn ich die Kleine sehe, auf meinem Gesicht ausbreitet, schlinge ich meine Arme um sie, hebe sie hoch und drehe mich ein paar Mal im Kreis, sodass sie vergnügt quiekt. Ihr Lachen ist immer wieder ein Grund für mich, sie abzuholen und die Nacht zum Tag zu machen. Anfangs habe ich es noch getan, um meiner Schwester einen Gefallen zu tun, weil ich gesehen habe, dass sie mit der Situation nicht fertig wird, doch inzwischen sind diese kleinen Spaziergänge schon zu einer Gewohnheit geworden, die nicht mehr wegzudenken ist. Als ich Lilli wieder auf dem Boden absetze, zieht sie mich am Arm in die Wohnung. „Komm, Onkel Paul, Mama wartet schon!“ Sie zerrt mich in die Küche, in der Licht brennt. Schon bevor ich über die Schwelle trete, schlägt mir schlechte Luft und eine beklemmende Stimmung entgegen. „Hey, Jenny“, grüße ich meine Schwester, die am Küchentisch sitzt. Wie ein Häufchen Elend hockt sie da, die Hände gefaltet auf die Tischplatte gelegt, um wenigstens noch ein klitzekleines bisschen Haltung zu bewahren. So ist sie, auch wenn die Lage noch so aussichtslos erscheint und ihre Welt schon längst völlig in sich zusammengefallen ist, verliert sie nie die Fassung. Sie ist viel zu stolz, um die anderen sehen zu lassen, wie schlecht es ihr wirklich geht. Als die große Schwester ist sie schon immer die Starke gewesen, die Konstante, die alles tapfer durchsteht. Immer wollte sie mir das Gefühl geben, beschützt zu werden. Vielleicht bin ich deshalb so ein verantwortungsloser Faulenzer geworden, wie sie es mir viel zu oft vorwirft. Doch das ist schon okay. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was sie alles durchgemacht hat mit der Kleinen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Und Jenny trägt gleich ein ganzes Fass auf dem Rücken. „Paul…“, erwidert sie mit brüchiger Stimme und hebt den Blick. Das künstliche Licht wirft dunkle Schatten unter ihre Augen, so geschafft hat sie schon lange nicht mehr ausgesehen. Sie bemerkt den zitternden Klang ihrer eigenen Stimme und räuspert sich schnell. In all den Jahren hat sich nichts geändert. Mir gegenüber ist sie immer noch die große Schwester, die die bösen Jungs, die mich auf dem Spielplatz ärgern, mit einem warnenden Zischen und einem ihrer berüchtigten Todesblicke in die Flucht schlägt. Ihre Gesichtszüge verhärten sich, als sie mit mir spricht. Ihre Stimme klingt jetzt gar nicht mehr gebrochen und die Hände verschränkt sie abwehrend vor der Brust. Es wäre mir lieber, sie würde in Tränen ausbrechen. „Du kommst ja reichlich spät. Aber naja, Pünktlichkeit existiert in deinem Wortschatz ja nicht. Du kannst immer kommen und gehen, wann du willst, schon klar.“ Ich versuche verzweifelt, gegen diese negative Stimmung hier drin anzukämpfen. Was Jenny braucht, ist eine Aufmunterung und mal etwas Abwechslung. Oder ein Wunder. „Zum Glück weiß ich, dass du das nicht so meinst, Schwesterherz“, entgegne ich grinsend. „Ich stand eben im Stau. Auch um diese Uhrzeit sind die Straßen leider nicht leer.“ Lilli steht immer noch neben mir und erkundet mit kindlicher Neugier das Innenleben meiner Hosentaschen. Wenn sie Glück hat, findet sie das Wechselgeld aus dem Supermarkt. „Schatz, zieh dir doch schon mal deine Schuhe an“, unterbricht Jenny die Kleine da bei ihrer Suche. Lilli lässt von meiner Hose ab und antwortet mit einem Anflug von Trotz: „Aber Onkel Paul soll mir die Schleife binden!“ „Okay, aber zieh sie dir wenigstens schon einmal an…“ Die Sonne ist gerade hinter dem Horizont verschwunden, trotzdem scheint es, als wäre Jennys Geduld bald schon aufgebraucht. Sie braucht dringend eine Auszeit. Gut, dass ich da bin. Lilli gibt sich mit dem Kompromiss zufrieden und läuft aus der Küche, um ihre Schuhe zu suchen. „Setz dich, das kann dauern“, fordert Jenny mich auf. Ich setze mich auf den Stuhl ihr gegenüber und lehne mich seufzend zurück. „Wie war dein Tag?“, fragt sie mich noch etwas steif, doch langsam scheint sie warmzulaufen. Diese Tag-Nacht-Umstellung tut ihr nicht gut. Sie sagt es zwar nie, aber mit all ihren sonst so zahlreichen Freunden hat sie kaum noch etwas zu tun. Unsere Eltern melden sich bei ihr höchstens an Geburtstagen und Weihnachten, in besonders guten Jahren sogar noch an Ostern. Einsamkeit ist nichts für Jenny, sie braucht gute Freunde, die zu ihr stehen, und es muss sie sehr enttäuscht haben, dass kein einziger von ihren dies getan hat. „Ein bisschen stressig“, antworte ich ihr wahrheitsgemäß. „Ich musste ständig zwischen meiner Wohnung und diesem muffigen Aufnahmestudio hin und her fahren. Die Band und der Produzent wurden sich einfach nicht einig, ob die Halbkreise unten rechts nun blau oder schwarz werden sollten. Und mit den Entwürfen waren sie auch nicht zufrieden, aber am liebsten hätten sie das bescheuerte Cover schon morgen fertig. Fürchterlich, glaub mir…“ „Eigene Schuld, wenn du dir gerade so einen unsicheren Beruf aussuchst“, wirft Jenny schnippisch ein. „Freischaffender Künstler… Das Chaos ist eigentlich schon vorprogrammiert.“ „Die Wörter frei und Kunst kommen drin vor“, verteidige ich mich grinsend. Wie oft haben wir dieses Gespräch schon geführt. „Besser geht es doch gar nicht.“ „Du wirst dich nie ändern, oder?“ Einen kurzen Augenblick kommt es mir so vor, als huscht ein Lächeln über ihr Gesicht, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein, weil ich es so gern sehen würde. Ich zucke mit den Schultern. „Man muss sich schließlich selbst treu bleiben.“ Das ist eine lahme Entschuldigung dafür, dass ich bloß einmal die Woche für sie und Lilli da bin. Im Vergleich zu Jenny bin ich eine Niete. Ich bin ein schlechter Bruder und ein schlechter Onkel. Ich tu das, wonach mir ist, ich weiche der Verantwortung mit einem schnellen Ducken aus, wenn sie direkt auf mich zukommt, und ich ändere nichts daran, auch wenn mir das alles völlig bewusst ist. „Onkel Pauuuul“, ruft Lilli aus dem Flur. „Du musst mir jetzt eine Schleife machen!“ „Bin unterwegs!“ Ich will aufstehen und zu Lilli gehen, doch Jennys schneidende Stimme hält mich auf. „Creme sie noch ein bisschen im Gesicht ein! Die Sonnencreme steht auf der Kommode. Und nimm zur Sicherheit die Handschuhe mit!“ „Wie jeden Freitag“, seufze ich und verlasse die Küche. „Und sie soll sich eine Jacke anziehen, es ist kalt draußen!“, ruft sie mir noch hinterher. „Jaja!“ Ich binde der Kleinen die Schuhe zu, helfe ihr in die Jacke und höre sogar auf Jennys Rat und creme ihr das Gesicht ein. Die Creme ist dickflüssig wie Beton kurz vor dem Trocknen und Lilli glänzt wie eine Speckschwarte, weil sich die Creme beim besten Willen nicht verteilen lassen will. Normale Kinder würden meckern oder sogar trotzig um sich schlagen und heulen, doch Lilli hält still und hilft mir, die Creme zu verteilen. Sie ist nicht normal. Aber das macht sie nicht weniger liebenswert. Ihre Handschuhe mit den Blümchen drauf stecke ich in die Jackentasche. Die werden wir sowieso nicht brauchen, doch ich will Jenny nicht unnötig beunruhigen. Sie ist so übervorsichtig. Am liebsten würde sie Lilli in der Wohnung einsperren und niemals an die frische Luft lassen. Die Sonne ist zu ihrem persönlichen Erzfeind geworden und mit der Welt dort draußen hat sie schon abgeschlossen. Ich kann mich nicht ganz entscheiden, was ich davon halten soll. Lilli ist lebhafte sechs Jahre alt, man kann sie nicht völlig isolieren, gleichzeitig wäre das der sicherste Weg, sie zu schützen. Schutz braucht jedes Kind, aber Lilli braucht mehr als das. „Können wir endlich gehen?“, fragt sie ungeduldig. Ich nicke und schiebe sie sanft zur Tür. „Los geht’s!“ „Seid bloß nicht zu spät zurück!“, ruft Jenny aus der Küche, aber da habe ich die Tür auch schon hinter uns zugezogen. Lilli umklammert mit ihrer kleinen Hand meine große und so gehen wir nebeneinander die nur spärlich beleuchtete Straße entlang. Der kalte Herbstwind, gegen den wir anlaufen müssen, pfeift uns um die Ohren. „Wohin gehen wir heute, Onkel Paul?“ „Wir schauen uns ein Feuerwerk an.“ Aus Zufall habe ich vor ein paar Tagen in der Zeitung von dem Feuerwerk ganz in der Nähe gelesen. Als Abschluss irgendeines Filmfestivals, von dem ich bei all der Arbeit, die sich in den letzten Wochen bei mir gestapelt hat, gar nichts mitbekommen habe. „Ein Feuerwerk?“ Lillis Augen strahlen. „Die Farben, die am Himmel explodieren?“ „Ja, genau“, erwidere ich lächelnd. „Und für uns beide habe ich die besten Plätze reserviert!“ „Wirklich? Wow, du bist der Beste, Onkel Paul!“ „Ich weiß“, entgegne ich grinsend. „Wir sind schon fast da.“ Unser Ziel ist das große Parkhaus auf der anderen Straßenseite. Eine bessere Aussicht als auf dem obersten Parkdeck gibt es in der ganzen Stadt nicht. Vereinzelte Passanten kommen uns entgegen. Trotz der Dunkelheit sehe ich den abschätzenden Blick, mit dem sie Lilli und mich mustern. Sie denken: „Was macht das kleine Mädchen um diese Zeit noch draußen? Wie verantwortungslos von ihrem Vater“, vielleicht fragen sie sich, ob sie Zeuge einer Entführung sind. Warum sonst läuft der Mann nachts mit dem Mädchen durch die Stadt? Die Nacht ist nichts für Kinder, denken sie. Wenn die wüssten. Wir überqueren die Straße und steuern auf das Parkhaus zu. Lilli schaut mich ein wenig verdutzt an, als ich ihr die Tür zum Treppenhaus aufhalte. „Ladies first!“ „Wieso gehen wir hier rauf?“, fragt sie mich mit großen Augen. Mit einem geheimnisvollen Lächeln antworte ich: „Weil da oben unsere Plätze sind!“ „Achso!“, ruft sie und hüpft fröhlich an mir vorbei, die Treppe hinauf. „Warte auf mich!“, lache ich und folge ihr so schnell ich kann. Sie läuft die Treppen hinauf, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ich komme kaum hinterher. Als ich sie endlich auf der obersten Etage eingeholt habe, ringe ich schon nach Luft, während sie ungeduldig von einem Bein auf das andere tippelt und wissen will, wo denn nun unsere Plätze sind. Ich muss ein paar Mal tief Luft holen, bevor ich ihr antworten kann. „Nur noch… durch die Tür…!“ Lilli legt ihre Hand wieder in meine und gemeinsam betreten wir das Parkdeck. Sofort empfängt uns wieder der kalte Wind, doch auch der dunkle, aber sternenklare Himmel. Das perfekte Wetter für ein Feuerwerk. Kein einziges Auto steht auf dem Deck, besser könnte es nicht sein. Ich führe sie über das Deck, als würde ich die Queen höchstpersönlich zu ihrem Schlafgemach begleiten. „Und wo sind unsere Plätze?“, fragt sie. „Ich sehe keine Stühle!“ „Wir brauchen keine Stühle“, antworte ich zwinkernd. „Dahin setzen wir uns! Da hast du alles im Blick!“ Ich zeige auf die Mauer vor uns, die zwei Parkreihen voneinander trennt. Ohne auf ihre Zustimmung zu warten, hebe ich sie hoch und setze sie darauf. „Gut festhalten!“ Dann schwinge ich mich selbst neben sie. „Warum sind hier keine anderen Leute?“, will Lilli wissen, als wir einen Moment lang schweigend nebeneinander sitzen. „Weil diese Plätze ganz allein für uns sind“, sage ich und streiche ihr durch das kurze, blonde Haar. Sie ist so ein hübsches Mädchen. Wären da nur nicht diese roten Stellen in ihrem Gesicht. Kleine, rote Narben verteilen sich auf ihrer empfindlichen Haut. Sie sind Überbleibsel von Operationen oder von UV-Strahlen gereizte Stellen. Trotzdem ist sie das hübscheste Mädchen, das ich in meinem ganzen Leben gesehen habe. „Niemand steht uns im Weg und keiner versperrt uns die Sicht.“ „Okay“, sagt Lilli und schaut in den dunklen Himmel. „Hast du Durst?“ „Ja…“ „Hier!“ Ich hole eine kleine Flasche Cola aus meiner Tasche und gebe sie ihr. „Aber sag Mama nichts davon!“ Die Kleine kichert und nickt. Während sie die Cola mit gierigen Schlucken leert, schaut sie wieder gedankenverloren in den Himmel. „Onkel Paul…?“ „Ja?“ „Wie sieht der Himmel aus, wenn die Sonne scheint?“ Erstaunt sehe ich sie an. Was soll ich ihr darauf antworten? Ich habe gelesen, dass Kinder in diesem Alter oft sonderbare Fragen stellen und nicht locker lassen, bis sie eine Antwort bekommen haben, doch Lilli stellt andere Fragen. Ich hätte nicht gedacht, dass sie anscheinend gar keinen Tag kennt. Aber sie schaut mich so bittend an, dass ich angestrengt nach den richtigen Worten suche. „Manchmal ist er ganz blau…“ „So wie Mamas Kaffeekanne?“ „Nein, noch viel heller. So wie die Tapete in deinem Zimmer.“ „Das muss schön aussehen…!“ „Ja, das tut es… Aber an manchen Tagen ist er auch ganz grau.“ „Grau ist keine schöne Farbe“, stellt Lilli abschätzend fest. „Nein, das stimmt. Am schönsten finde ich es, wenn der Himmel blau ist und ein paar weiße Tupfer hat.“ „Weiße Tupfer?“ „Ja, die Wolken sind am Tag meistens weiß.“ „Weiß…“, haucht Lilli und trinkt den letzten Schluck Cola. „Schön… Hoffentlich sehe ich so einen Tupfer-Himmel auch einmal!“ „Mit Sicherheit!“, verspreche ich ihr. „Du wirst alle Himmelsfarben einmal sehen! Und dann sagst du mir, wie dir der Himmel am besten gefällt, okay?“ „Ja, mach ich!“, strahlt sie und nickt heftig mit dem Kopf. Es zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke, dass es gar nicht sicher ist, dass ihr Wunsch tatsächlich in Erfüllung geht. Es ist gefährlich für sie. Doch sie soll nicht auf all diese wunderschönen Dinge verzichten. Das hat sie nicht verdient. „Willst du etwas essen?“ Sie schüttelt den Kopf. „Äh-äh.“ „Okay. Wenn du Hunger bekommst, sag Bescheid!“ „Mach ich!“ Eine Weile lang schweigen wir. Alles, was man hören kann, ist das Rauschen des Windes in den Baumkronen, die weit unter uns sind, und Lillis Schuhe, die im Takt gegen die Mauer klopfen. Doch Lilli hält die Stille nicht lange aus. „Wann fängt das Feuerwerk endlich an, Onkel Paul?“ Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. „Eigentlich müsste es…“ In diesem Moment wird der Himmel über uns nach einem lauten Knall in ein zitterndes, purpurnes Licht getaucht. Wie glitzernes Konfetti regnen Funken gen Erde, verblassen und verschwinden ganz. Eine zweite Rakete folgt. Und eine dritte. Der Himmel schillert in den verschiedensten Farben, die Luft riecht nach Feuer. „Oooooooh…!“, macht Lilli. Sie starrt nach oben und reißt den Mund auf, als wolle sie die bunten Farben in sich aufsaugen. „Das ist sooooooo schöööön…“ Ich kann meinen Blick nicht von ihrem faszinierten Gesicht abwenden. Das Feuerwerk interessiert mich gar nicht. Lilli dreht sich kurz zu mir und schaut mich mit einem breiten Lächeln an. „Sowas Tolles hab ich noch nie gesehen!“ Sie ist so fröhlich, so glücklich. Als gäbe es nichts, worüber sie sich Sorgen machen müsste. Als wäre alles in Ordnung. Für Lilli ist alles in Ordnung. Sie ist ein Sonnenschein… Sie ist der Sonnenschein in der Dunkelheit, in der sie lebt. _____________ In Deutschland leiden etwa 50 Menschen an der unheilbaren Hautkrankheit Xeroderma pigmentosum, auch Mondscheinkrankheit genannt. Die meisten davon sind Kinder, denn die Lebenserwartung der Patienten ist gering. Wenn UV-Strahlen auf die Haut eines Patienten treffen, bilden sich sofort Entzündungen oder Tumore, die Hautkrebs verursachen können. Betroffene können sich mit spezieller Folie an den Fenstern, langer Kleidung, etc. vor UV-Strahlung schützen. Einige stellen ihren Tag-Nacht-Rythmus vollkommen um, um kein Risiko einzugehen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)