Schreibübungen von ChasingCars ================================================================================ Popstar ------- Schreibübung 5 - Sucht „Okay, Scheinwerfer fünf und sechs bitte!“ Ein stechender Lichtkegel blendete ihn. Er wollte nicht die Hand vor das Gesicht halten, das hätte unprofessionell gewirkt. „Und Mikros eins bis vier!“ „An die Mikros bitte!“ „Na los, Jungs, ich will was sehen!“ Von überall irgendwelche Anweisungen, er wollte sie gar nicht hören. Aber sie taten ja alle nur ihren Job, genau wie er selbst. Der Boden, auf dem er stand, war übersät mit lauter Kreuzen und Klebebandstreifen, die die Stellen markieren sollten, an denen die Kameras später die besten Aufnahmen machen konnten. Doch diese Streifen würden in der Show alle nicht mehr da sein, bis dahin hatte er die Stellen sowieso wieder vergessen. Sie waren ein wenig wie die Choreographie – Es war vorteilhaft, sie zu kennen, doch man musste nicht unbedingt. Das Mikrophon in seiner Hand war eiskalt und fühlte sich fremd an. „Die Aufstellung, Jungs!“ Es war die Stimme des Produzenten, die ihn und die drei Versager hinter ihm die ganze Zeit herumkommandierte. Sehen konnte er ihn nicht, das grelle Licht brannte ihm in den Augen, doch er stand dort unten neben der Bühne, dessen konnte er sich sicher sein. Bei jedem gottverdammten Auftritt, jedem noch so kleinen Act stand der „Boss“, wie er genannt wurde und werden wollte, hinter der Bühne, studierte jeden Schritt seiner „Schützlinge“, wie er seine „Jungs“ gern bezeichnete. Und der Soundcheck, das war seine liebste Disziplin. Tut dies, macht das, steht so, singt so. „Jean, steh da nicht rum wie’n Affe mit Rückenproblemen!“ Selbst der Trottel in Person, ein Versager auf ganzer Linie, doch uns will er herumkommandieren, dachte der Angesprochene, während er sich in die Ausgangsstellung begab, die sie abgesprochen hatten. „Bereit?“ Doch die Tontechnikerin wartete nicht auf ein Zeichen. Sie machte nur ihren Job. Und danach konnte sie nach Hause gehen, dann hatte sie es für den Moment geschafft. Zuhause würde sie nicht mehr an ihren Job denken, dann war ihre kleine, idyllische Familie der Mittelpunkt ihres Lebens. Wie gern er so ein Leben gehabt hätte. Sein Job war nichts, das man beim Schließen der Haustür vergessen konnte. Nein, vergessen konnte er nur mit seinen Pillen. „Und Playback ab!“ Die Töne vom Band füllten die riesige Halle mit ihrer grausamen Massentauglichkeit. Das hörte sich einfach nach nichts an, nach gar nichts. Musik, die schon so komponiert war, dass die Stimmen kreischender Teenager nicht weiter störten. Das waren alles clevere Geldhaie, die diese … „Musik“ produzierten. Der Boss war das beste Beispiel, und das sollte wirklich kein Kompliment sein. Oh Mann, wie ihn das alles schon wieder ankotzte. Er brauchte dringend eine ordentliche Ladung Stoff, um die Show auszuhalten. „Jean, dein Einsatz!“, zischte es von hinten. „Hä?“ Na toll. Er hatte es verpatzt, wenn er es richtig von den wütenden Gesichtern der Anderen ablas. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren, da war nur noch Platz für die kleinen, bunten Pillen in seinem Kopf. Er hatte es schon vor langer Zeit aufgegeben, sich gegen das Verlangen zu wehren. Bloß ein Sklave war er, ein Sklave seiner Sucht und des Musikbusiness, mehr war er nicht. Und er hasste sich dafür. „Mensch, Jean, konzentrier dich doch mal! Du kannst so viel herumträumen wie du willst, aber nicht auf der verdammten Bühne! Du bist HIER und hier ist SOUNDCHECK und das vorhin war dein EINSATZ, den du VERPASST hast!“ Der Boss gestikulierte wild mit den Armen, sein Kopf glich einer aufgeplatzten Tomate, die bald zu Ketchup verarbeitet werden sollte, und er schien auf das Dreifache seiner normalerweise schon fülligen Figur anzuschwellen. Es brauchte nicht viel, um ihn zur Explosion zu bringen, ein kleiner Funke genügte. Doch einmal gezündet hörte er auch nicht wieder so schnell auf zu brennen. „So ein bisschen Disziplin kann ich von dir ja wohl mal erwarten! Ich mach alles für dich, wirklich alles! Ohne mich würdest du doch jetzt noch bei deinen Eltern wohnen und du wärst froh, wenn dich ein Mädchen auch nur mal anschauen würde! Ich hab dich da rausgeholt, aus deinem verdammten Versagerleben, und was ist der Dank dafür? Krümmst du auch nur einen Finger für mich? Nicht mal so einen beschissenen Soundcheck kannst du durchziehen! Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen!“ Ein paar Sekunden herrschte bloß Stille. Eine bedrückende, grausame Stille. Niemand der Anwesenden wusste, wie er mit einer derartigen Situation umgehen sollte. Vielleicht herrschte in all den anderen Bands, die je auf dieser Bühne gestanden hatten, die reinste Harmonie. Oder sie wussten den Hass aufeinander einfach gut zu unterdrücken. Gedanken durchzuckten Jeans Kopf wie Blitze. So schnell, dass er keinen erfassen konnte. Sein Mund wollte nicht auf seinen Verstand hören und der Verstand verstand im Moment überhaupt nichts. Es gab oft vergleichbare Gespräche zwischen dem Boss und ihm. Doch dieses Mal … Das war nicht der richtige Zeitpunkt, er war nicht stark wie sonst, er konnte nichts erwidern, er war einfach nicht vorbereitet. Manchmal fühlte er sich schlagkräftig und gewappnet, dann konnte er alles abblocken und ließ nichts an sich heran, was er nicht bei sich haben wollte. Und manchmal fühlte er sich so wie in diesem Augenblick – Kaputt, schwach, nur noch auf Reservemodus. Der Akku war leer, die letzten Reste Energie mussten mühsam zusammengekratzt werden. Er wollte etwas sagen, etwas, das nicht so klang, wie er sich gerade fühlte. „Fick dich.“ Hatte er das laut gesagt? Ja, hatte er – So ein Mist. Alle Blicke ruhten nun auf ihm. „Fickt euch alle.“ Er ließ das Mikro einfach fallen. Lautes Krachen in den Lautstärkern. Dann wandte er den Anderen den Rücken zu und verließ die Bühne über die Treppe an der Seite. „Was soll das?“, rief der Boss hinter ihm her. „Wo willst du hin?“ Jean ging einfach weiter. Schnell, doch er rannte nicht. „Das kannst du nicht machen, Jean! Komm zurück, auf der Stelle!“ Doch dieser war schon backstage verschwunden. „Der kommt gleich wieder angekrochen, keine Panik“, knurrte der Boss der Tontechnikerin zu, die so aussah, als wäre sie ebenfalls kurz davor, das Handtuch zu werfen. „Der muss erstmal wieder zu sich kommen…“ „Machen wir den Soundcheck trotzdem? Wir müssen den Zeitplan einhalten!“ „Aber natürlich.“ Sein linkes Auge zuckte nervös. „Diesen Nichtsnutz brauchen wir doch gar nicht.“ Sein Schützling steuerte unterdessen mit entschlossenem Schritt auf die Tür mit der Aufschrift „WC“ zu. Tür auf, an den Waschbecken vorbei, in die erstbeste Kabine, Tür zu, verschließen. Sein Atem ging schnell, er keuchte schon fast. Sein Herz pochte so laut, dass er Angst hatte, es könne aus seinem Brustkorb springen. Sein ganzer Körper zitterte. Es fiel ihm schwer, die Pillen aus der Innentasche seines Hemds hervorzuholen. Er konnte nicht mehr warten, nicht mehr nicht mehr nicht mehr, er konnte nicht mehr. Poch-poch-poch, sein Herz spielte verrückt, seine verschwitzte Hand kriegte die kleinen Dinger einfach nicht zu fassen, sein Keuchen wurde immer lauter. Dann riss er sich das Hemd vom Körper, schüttelte es so lange, bis sich der Inhalt der Innentaschen auf dem Boden verteilte. Kassenbons, Notizzettel, ein paar Münzen verteilten sich über den Boden. Und – einige wenige blaue und rosafarbene Pillen. Seine Notration, wenn er es nicht mehr aushielt. Wie ein ausgehungertes Tier stürzte er sich auf die kleinen Pillen. Er zögerte nicht lang, sondern nahm sie alle auf einmal. Er schluckte sie, Wasser brauchte er dafür schon lang nicht mehr. Endlich. Das Zittern ließ nach. Sein Verlangen war gestillt. Die Muskeln entspannten sich, der Atem wurde regelmäßiger. Endlich war alles wieder gut. Alles gut. Alles, alles, alles. So gut. Warum hatte er sich so aufgeregt? Warum saß er hier in diesem Dreckslocksloch von Toilette? Und warum lagen seine Sachen auf dem Boden? Ihm war plötzlich so angenehm warm, dass er gar nicht merkte, dass an seinem Oberkörper ein Hemd fehlte. Mit einem Lächeln sank er auf den Klodeckel. „I'm not like them, but I can pretend.“ Er sang. Leise, mit heiserer Stimme. „The sun is gone, but I have a light.“ Gleich würde er gehen müssen, zurück zum Boss und den Versagern. Und dann würde bald ihr Auftritt kommen. Er würde Schwierigkeiten haben, sich aufrecht zu halten, doch er würde es schaffen. Wie jedes mal. „The day is done, but I'm havin' fun. I think I'm dumb or maybe just happy.“ Seine Stimme klang verloren. Manchmal fragte er sich, ob es ihn eigentlich noch gab – Ihn, Jean. Das arme Scheidungskind, das nie etwas mit sich anzufangen wusste, das sich nichtmal selbst verstand, das am liebsten gar nicht leben würde. Wer war er eigentlich? War er noch jemand oder hatte er sich längst fressen lassen von den Drogen oder vom „Boss“ oder von der kreischenden Menge? Ja, wahrscheinlich. Er war der Name auf den Plakaten der kleinen Mädchen, sonst niemand. Es war Zeit zu gehen. Er konnte die Versager nicht im Stich lassen. Sonst würden sie ihn im Stich lassen. Er war bereit. Es würde schnell gehen und er würde lächeln und tanzen wie immer. Er würde diese sinnfreien Teenie-Texte singen, doch die Menge würde lauter sein. Er stand auf, las sein Hemd vom Boden auf und verließ die Kabine. The show must go on. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)