Dreaming Society von Gepo (Fortsetzung von Dead Society) ================================================================================ Kapitel 9: Zweifel ------------------ Abend ^.^ Ist spät geworden mit dem Kapitel, aber zumindest ist es noch Sonntag. Zur allgemeinen Info, ich habe jetzt eine Wohnung gefunden, ich habe also weniger Stress und mehr Freizeit ^.- Die wird in diesem Fall aber nicht auf Dreaming Society verwendet, weil ich mit der Korrekturlesung von Tote Gesellschaft (Buch) fertig bin und diese morgen und übermorgen in das Manuskript übertrage. Heißt, es wird zu dieser Zeit auch Änderungen in DS1 geben (kleine allerdings nur, für alle anderen gibt es das Buch ^.- Mit Extrakapitel und neuen Szenen ^.-). Sobald das erledigt ist, wird das Exposee fertig gestellt und Verlage kontaktiert, heißt - nächster Sonntag, neue Infos. Bs dahin viel Spaß mit diesem Kapitel ^.- _________________________________________________________________________________ Katsuya klopfte und betrat das Büro ohne auf eine Antwort zu warten. Darauf hatten sich Seto und er geeinigt, weil er nicht lange zu warten hatte und die Chance bemerkt zu werden geringer war. Nach außen hin bekam er in jeder Mittagspause Nachhilfe. In den meisten Fällen spiegelte sich diese Nachhilfe darin, dass er ohne Klamotten auf dem Tisch endete – alternativ an der Wand, die weniger weh tat als erwartet, wenn sie nicht zu wild waren. Das hier war erst das zweite Mal in ihrer Beziehung, dass er Setos Büro ohne diese Hintergedanken betrat. Und die Haltung seines Lehrers sagte ihm, dass dieser das auch schon gewusst hatte. Statt ohne den Kopf zu heben den Blick auf ihn zu richten und die Lippen zu einem Raubtiergrinsen zu verziehen, erhob er sich vollständig, kam um den Tisch herum und schloss den Jüngeren in seine Arme. Sah man es ihm an, dass es ihn genau danach verlangte? Einfach jemanden da zu haben, der bei ihm war und ihn seiner Existenz versicherte? Auf jeden Fall war es äußerst angenehm. Katsuya seufzte wohlig, schlang seine Arme um Setos Nacken und drückte sein Gesicht seitlich gegen dessen Brust. Er ließ sich vollkommen fallen, während der Größere mit dem Arm über seinen Hintern strich und die Beine darunter seitlich gelegt in die Höhe zog, um ihn zu tragen und im Sessel auf seinen Schoß zu setzen. Mit dem Sessel rollten sie wieder an den Tisch heran, wo der Lehrer ihn mit einer Hand hielt, mit der anderen weiter Korrekturen vornahm, während Katsuya seinen Kopf auf dessen Schulter legte und die Augen schloss. „Die Einrichtung einer solchen Erziehungskontrolle widerspricht dem Gesetz und würde eine unbezahlbare Summe kosten. Das sind die einzigen Punkte, die du vergessen hast.“, sagte er mit seiner ruhigen, tiefen Stimme. Er hatte es also schon gelesen? Sie hatten die Arbeit doch erst vor zwei Stunden geschrieben! Und die beiden Stunden hatte er genauso Unterricht gehabt wie Katsuya! Einfach unfassbar. Der Kerl hatte eine dreizehnseitige Arbeit anscheinend in seiner Fünfminutenpause gelesen. Es hatte ihn wohl wirklich interessiert. „Und wo sollen Grenzen festgelegt werden? Was ist Missbrauch und was ist Erziehung?“ „Körperliche Gewalt ist auf jeden Fall Missbrauch.“, murmelte der Blonde leise. „Und was ist körperliche Gewalt? Prügel? Ohrfeigen? Jemanden nicht zu berühren? Was zählt da alles rein?“, Seto sprach, während er weiter Arbeiten korrigierte, „Ist es körperliche Gewalt jemandem nichts zu essen zu geben? Oder ihn unter Androhung von Strafe zum Essen zu zwingen?“ Katsuya schwieg. Eine verdammt schwere Frage... was war Gewalt? Physisch und psychisch verschwammen, ebenso wie Gewalt und möglicherweise notwendiger Gewalt. „Du kannst Menschen nicht unendlich ihren Willen lassen. Du musst sie eingrenzen, wenn sie die Freiheit anderer zu sehr einschränken. So gilt es unter Erwachsenen. Aber wie gilt es nun mit Kindern?“ Katsuya krallte seine Finger in Setos Hemd und drückte sich näher an den warmen, beschützenden Körper. „Was habt ihr heute in Kunst gemacht?“ Wie? Was? Themenwechsel? Entweder wollte Seto keine Antworten und ihm nur Anregungen geben oder er hatte Angst Katsuya würde hier einen Anfall kriegen. Wäre auch reichlich ungünstig, schließlich hatte er heute noch ein paar Stunden Schule. Also lieber ein anderes Thema. „Wir haben Menschen im expressionistischen Stil gezeichnet.“ „Eckig und seelenlos?“, hey, coole Kurzbeschreibung des Stils. Das war besser als die ellenlange Erklärung, die sie in der letzten Stunde erarbeitet hatten. „Und ein bisschen verformt. Ich habe meinen Vater gezeichnet. Eher gesagt, ich habe ihn mit einem Cutter ins Papier geschnitten. Die Lehrerin fand das echt originell und hat mir eine Eins gegeben.“ „Das ist auch eine sehr originelle Abreaktion...“, der Lehrer legte den Stift ab, lehnte sich im Sessel zurück und zog Katsuyas Kopf mit seiner nun freien Hand sanft zu sich, um einen Kuss auf sein Haar zu setzen, „Es ist weit besser Papier als deine eigene Haut zu nehmen.“ „Hä?“, ach, er meinte seine Arme, „Oh... ja... stimmt...“, ein schadenfreudiges Lächeln legte sich auf seine Lippen, „Das kann ich dir aber auch erzählen. Deine Wunden sind weit frischer als meine.“ Und taten sicherlich noch immer verdammt weh. Acht Tage war es her, dass Seto sich geschnitten hatte. Na gut, wahrscheinlich spürte er den Schmerz nicht, aber wenn er ihn am Arm packen würde, würde er ihn ganz sicher wieder spüren. Na, wenigstens hatte kein Schnitt genäht werden müssen. Nur Stripes wurden benutzt. Und jeden Morgen Verbände wechseln, jeden Morgen mit Tüten um die Arme in die Dusche – ein Grund mehr für Seto jeden Morgen schlechte Laune zu haben. Da war nur zu sagen: Selbst schuld. Wenigstens würden heute Nachmittag Verbände und Stripes abkommen, wenn alles so weit verheilt war. Welch ein Horror... Montag hieß Arzt, hieß Untersuchung, hieß Blutabnahme und EKG. Hoffentlich auch das zum letzten Mal. Donnerstag wäre alles vorbei – eine Entscheidung des Richters und er durfte bei Seto bleiben. Eine Entscheidung, die seinen Vater ins Gefängnis brachte. Oder eine Entscheidung, die ihn zurück zu seinem Vater beorderte. „Seto?“, Katsuyas Stimme zitterte. „Ja?“ „Was... was machen wir, wenn die nein sagen? Wenn die das mit dem Missbrauch nicht glauben und mich zu meinem Vater zurück schicken?“ „Das wird nicht passieren.“, ein Kuss auf seine Stirn folgte, „Das Schlimmste, was sie entscheiden können, ist, dass ich nicht die geeignete Person für deine Versorgung bin. Dann kommst du entweder in eine Pflegefamilie, in ein Heim oder in eine eigene Wohnung, vermutlich mit betreutem Wohnen. Aber auch das ist unwahrscheinlich.“, die Hand fuhr in seinen Nacken und kraulte ihn, „Sei unbesorgt.“ Das war leicht gesagt... aber er wollte Seto glauben. Tja, was folgte auf diese wunderschöne, entspannte Mittagspause? Eine Doppelstunde Englisch – mit Herrn Lehrer Kaiba. Er hatte heute wirklich fünf Stunden und eine Mittagspause mit diesen Mann, nebst zwei Stunden Kunst. Das war einfach nur ein traumhafter Tag. Setos volle, voluminöse, tiefe Stimme lenkte perfekt von den ganzen Gedanken und Fragen in seinem Kopf ab. Sie unterdrückte die tausenden Was-wäre-wenns. Gedanken wie „Was wäre, wenn ich mich einfach umbringen würde?“. Gedanken, die er in diesem Moment nicht haben wollte. Die er genau genommen nie haben wollte, erst recht nicht jetzt, wo er glücklich war. Wieso hatte er sie, wenn es ihm gut ging? Wieso kam ihm beim Ansehen seiner Tintenfeder der Gedanke, wie weh es täte, würde er sie in seinen Handrücken rammen? Seto hatte ihm ja gesagt, dass das bis Donnerstag wahrscheinlich öfter kommen würde. Ja, dass es schon fast normal war, dass er extreme Angst hatte und am liebsten alles tun würde, um der Verhandlung aus dem Weg zu gehen. Er hatte sogar gesagt, dass Katsuya jederzeit seine Aggressionen gegen ihn richten durfte, wenn er sie hatte – aber Katsuya wusste selbst, dass er nachher nicht damit umgehen könnte, würde er Seto noch einmal schlagen. Das eine mal, wegen dem er sich noch immer täglich den Bluterguss überschminkte, war wahrlich schon zu viel gewesen. Irgendwie entwickelte er sogar so etwas wie Verständnis für seinen Vater. Wenn er so etwas durchgehend spüren würde, vielleicht sogar schlimmer, würde er auch versuchen es zu betäuben und an allem auslassen, was er finden konnte. Es entschuldigte seinen Vater nicht, aber... nun ja... es machte ihn ein wenig nachvollziehbar. Hoffentlich würde sich das Chaos in ihm nach der Gerichtsverhandlung legen. Sonst wäre wahrlich nicht Seto die Bedrohung, sondern er. Seto hatte sicherlich Aussetzer, aber die Chance, dass die in Aggressionen endeten, erschien ihm nicht wirklich groß. Gut, wenn er nun in vollkommener Unsicherheit irgendwelche Gesten in Angriffe umdeutete, war das wahrlich nicht lustig, aber zumindest hatte es ihn beim letzten Mal ja ziemlich entsetzt, dass er wirklich handgreiflich geworden war. Im Gegensatz zu Katsuya, der Gewalt besser als alles andere kannte, erst recht auch von ihm angewandt. Er bereute seine tätlichen Übergriffe auf Passanten, Mitschüler und Obdachlose kein Stück, auch wenn er wusste, dass es nicht richtig war, was er getan hatte. Er bereute nicht einmal die Messerstechereien mit anderen Gangs oder innerhalb ihrer eigenen. Das einzige, was in dem Sinne an ihm nagte, war der Unfall mit Mokuba, Setos Bruder. Wie groß war also die Chance, dass er sich selbst zurück nahm, sollte er in einem aggressiven Schub Seto angreifen? Kaum mehr als minimal. Wahrscheinlich würde erst Blut ihn stoppen. Vielleicht nicht einmal das. „Du bist sehr nachdenklich heute.“, stellte Seto fest, während Ryou und er an jeweils einer Seite von Katsuya zu Kaibas Büro gingen, um dessen restliche Sachen von dort zu holen. „Ich habe nur Angst vor dem, was ich derzeit fühle...“, flüsterte der Blonde als Antwort. „Was fühlst du denn?“, der Fünfzehnjährige schnappte sich seinen Arm und schlang die eigenen darum. „Ich... weiß nicht. Keine Ahnung. Angst.“, halt mal. War das nicht das, was Seto ihm letztens erklärt hatte? Dass er immer Angst fühlte? Vor so ziemlich allem? War DAS etwa das, was Seto durchgehend spürte? Verdammt, dann war es echt ein Wunder, dass er noch lebte. Das war ja grauenhaft. Er fühlte es erst seit heute Morgen und kam jetzt schon kaum damit klar, obwohl nicht einmal etwas Belastendes passiert war. „Oh... vor was?“, die Augenbrauen des Jüngsten zogen sich zusammen, während er die Stirn in Falten legte. „Keine Ahnung...“, Katsuya seufzte, „Ist es das? Was...“, er sah sich schnell um, dass sie auch niemand belauschte und senkte die Stimme, „Das, was du mir beschrieben hast?“, er sah zu Seto auf. „Ja.“, der Größere legte eine Hand auf seine Schulter, „Das ist das Gefühl.“ „Das fühlst du wirklich durchgehend?“, Katsuyas Gesicht spiegelte eine Mischung aus Entsetzen, Angst, Sorge und Mitleid. „Mal mehr, mal weniger.“, Seto seufzte, „Ich denke, dadurch kannst du nachvollziehen, warum ich so oft dissoziiere, wenn ich labil bin.“ „Dissoziieren? Was ist das?“, fragte Ryou vorsichtig und beugte sich zu ihnen, indem er sich mehr an Katsuyas Arm hing. „Das ist ein krankhafter Abwehrprozess. Wenn wir davon sprechen, meinen wir Depersonalisations- und Derealisationszustände.“, erklärte der Lehrer, „Dabei nimmt das Bewusstsein vom eigenen Körper und der Umwelt Abstand. Die Seele zieht sich in sich selbst zurück, wenn du es so ausdrücken willst. Zuerst werden die Gefühle und die Wahrnehmung von Körper und teilweise der Umwelt getrübt, bis sie kaum noch vorhanden sind. Eigenständiges Handeln wird soweit eingeschränkt, bis es nicht einmal mehr möglich ist auch nur den Finger zu heben. Dementsprechend gibt es kaum noch Mimik und Gestik. Es kann sich bis in einen komatösen Zustand verschlimmern.“ „Oh...“, Katsuya spürte ganz leicht Nägel in seine Haut drücken, „Das kenne ich von Bakura. Und ein ganz klein bisschen von mir.“, gab Ryou zu, „Auf der Feier letzten Mittwoch...“ „Warst du derealisiert.“, beendete Katsuya den Satz nach wenigen Sekunden, „Dissoziativ also. Und du hast dich in der Realität gehalten, indem du deinem Bruder die Haare gekämmt hast. War etwas verwirrend, aber man hat es mir ja zum Glück erklärt.“ Seto nickte nur schweigend als Zustimmung und nahm die Hand wieder von Katsuyas Schulter, bevor sie um die Ecke bogen und vor der Tür von seinem Büro die Schulkrankenschwester Isis entdeckten. „Guten Nachmittag, Herr Kaiba.“, als Antwort erhielt sie nur ein kurzes Nicken, während sie mit zwei Schritten bei ihnen war, „Ich habe die Unterlagen zusammengestellt, die sie haben wollten. Es sind jetzt allerdings alles Kopien.“ „Die dürften ausreichen.“, er nahm den Ordner entgegen, den sie ihm reichte, „Danke für ihre Mühen.“ „Wenn es darum geht etwas für meinen Lieblingspatienten zu tun, dann mache ich es gern.“, sie zwinkerte Katsuya zu, „Kommst du morgen früh auf einen Saft vorbei?“ „Diesen Eisen-Kirschsaft?“, das Zeug war viel leckerer als die Tabletten, die er täglich nehmen musste. „Genau den.“, sie schenkten sich gegenseitig ein Lächeln. „Darf ich auch kommen?“, fragte Ryou zaghaft nach. „Öh...“, Katsuya wandte sich kurz zu ihm, doch schwenkte seinen Blick zurück zu Isis, „Ja?“ „Ich müsste nur kurz mit Katsuya etwas besprechen morgen. Ansonsten ist das kein Problem.“ „Was denn?“, gar nicht neugierig, das Kerlchen... „Etwas Privates.“, sie zwinkerte dem Kleinsten trotzdem freundlich zu, „Ein paar Geheimnisse machen eine Frau erst interessant.“ „Und faltiger.“ „Seto!“, zischte der Blonde seinem Freund zu. Die dunkelhäutige Dreißigjährige seufzte nur tief. Die Dame hatte auch einige Eskapaden mit mit dem stellvertretendem Schulleiter durch und anscheinend über dessen Ego resigniert. Würde er nur diese Seite von Seto kennen, hätte er es wahrscheinlich auch. „Sind das Unterlagen über mich?“, versuchte Katsuya das Thema zu ändern. „Das ist die Dokumentation deiner Verletzungen im letzten Jahr.“, erklärte Isis ruhig, „Da du ja weder bei einem Arzt noch in einem Krankenhaus warst, bin ich die einzige Person für medizinische Auskünfte über dich. Aber darüber wollte ich mit dir morgen reden, das müssen wir nicht heute zwischen Tür und Angel klären.“, sie lächelte kurz und wandte sich an ihren Vorgesetzten, „Gibt es noch etwas, was ich für sie tun kann, Herr Kaiba?“ „Nein, danke.“, er blätterte sie missachtend in dem Ordner. „Dann mache ich jetzt Feierabend. Noch einen guten Tag.“ Seto antwortete darauf schon gar nicht mehr – welch ein angenehmer Chef... „Du könntest ruhig netter zu Isis sein, sie hat dir nichts getan.“ „Sie weiß zu viel...“, murmelte Seto nur, während er seinen Mantel schnappte, sich über den Arm warf und mit Katsuya zurück zu Ryou auf den Flur trat. „Angst ist kein Grund anderen gegenüber aggressiv zu werden.“ „Hm.“, nebst der aussagelosen Antwort wandte er nur den Blick ab. „Ist Bakura auch aus Angst aggressiv?“, fragte Ryou leise nach. Katsuya fixierte ihn mit seinen braunen Augen, überlegte einen Moment und wandte seinen Blick schließlich zu Seto. Auf irgendeine ihm noch unbekannte Weise verstanden sich die beiden schließlich – vielleicht wusste Seto etwas, was sie nicht wussten. „Ja, ist er.“, antwortete Seto nach einer schieren Ewigkeit, in der sie bereits die Eingangstüren der Schule passiert hatten. „Wovor hat er denn Angst?“ Irgendwie... Katsuya hob die Augenbrauen und schüttelte leicht den Kopf. Bakura schien mit seinem Bruder nicht über seine Psyche zu sprechen. Warum? Wollte er der große, starke Bruder bleiben, dessen abnormes Verhalten einfach Charakter und nicht Störung war? Wollte er lieber unverstanden und gehasst sein als eine Schwäche in seinen Augen zu zeigen? Oder wusste er gar nicht, was eigentlich mit ihm los war? „Verletzt zu werden. Verlassen zu werden. Etwas Liebgewonnenes zu verlieren. Er hängt dem Gedanken an lieber gar keine Freunde zu haben als möglicherweise von ihnen verlassen zu werden. Ein einsamer Wolf.“ Seto verglich ihn auch mit einem Wolf? Einem Wolf, der ewig allein bis aufs Blut das verteidigte, was er als seins ansah? Sein erster Eindruck war wohl gar nicht mal schlecht gewesen. „Warum stößt er mich dann nicht von sich?“, flüsterte der Weißhaarige, „Wie kann er mich lieben?“ „Er vertraut dir, denke ich.“, er überwachte seine Freunde, seine Freizeitaktivitäten, seine Interessen... „Zumindest mehr als anderen Menschen.“ Die Frage war wohl eher, wie Ryou es schaffen konnte ihm bei dem wenigen Vertrauen und Lieben auf einer nicht körperlichen Ebene überhaupt tiefere Gefühle entgegen zu bringen. „Er ist wie ich.“, gestand Seto den beiden Jugendlichen, „Nur noch nicht therapiert. So war ich vor über zehn Jahren.“ „Echt?“, fragte Katsuya erstaunt. So war er vor zehn Jahren gewesen? So aggressiv und gewalttätig und unfreundlich und... so Bakura halt? Mit jedem Wort verletzend und abwertend? So war Seto einmal gewesen? Da war es echt kein Wunder, dass Mokuba als Jugendlicher zu den Drogen gegriffen hatte. Ob Noahs extreme Gelassenheit über Setos jetzige Störung noch aus der Zeit herrührte, wo Seto anscheinend emotional Amok gelaufen war? „Ja. Das ist auch der einzige Grund, warum wir uns halbwegs verstehen. Wir müssen einander nichts sagen, um zu wissen, wie der andere tickt.“, Seto blieb am Abgang zum Lehrerparkplatz stehen, zog eine Schachtel aus seiner Jackeninnentasche und steckte sich eine Zigarette an, „Bisweilen ist das gruselig, wenn jemand genau weiß, was du denkst, wie du fühlst und was du tun wirst. Aber es erleichtert auch. Da ist irgendwie... eine Kontrolle. Man muss nicht nur selbstverantwortlich sein. Es sorgen auch andere für einen.“, er nahm einen Zug und blies den Rauch aus, bevor er weiter sprach, „Nur hält man sich gegenseitig nicht lange aus. Komplextraumatisierte neigen dafür zu sehr zur psychischen und physischen Selbstverstümmelung.“, er seufzte, „Und Fremdaggression...“, er widmete sich wieder seiner Zigarette. „Vielleicht... ist es dreist das zu fragen, aber...“, die Röte schlich sich auf Ryous blasses Gesicht, „Also... sie hatten auch keine atemberaubende Kindheit, oder?“ „Atemberaubend ganz sicher, nur nicht im positiven Sinne.“ Eher im wörtlichen Sinn. Mutter gestorben mit fünf, danach praktisch allein erziehend für den neugeborenen Bruder bis zum Tod des Vaters mit sieben, danach im Waisenheim bis zum zehnten Lebensjahr, adoptiert von einem bis zur Folter missbrauchenden Industriegiganten, der ihn mit Halsband und Leine durch die Gegend zerrte, in dunkle, unbelüftete Stehzellen einschloss und Drogen und Elektrostöße an ihm ausprobierte. Diesen trieb er mit fünfzehn in den Selbstmord, übernahm dessen Firma und machte daraus einen Spielzeughersteller, bis er die Firma und all sein Geld mit achtzehn seinem Stiefbruder schenkte und mit seinem kleinen Bruder in eine Vorstadtgegend von Domino zog und zwei Studiengänge aufnahm, die er ein Jahr vor dem Tod seines Bruders beendete. Wenn er sagte, dass er solch ein Verhalten vor über zehn Jahren gezeigt hatte, dann meinte er wahrscheinlich die Zeit nach dem Tod seines Adoptivvaters Gozaburo Kaiba. Tja... ob man sich so etwas als Chef einer der größten Firmen der Welt erlauben konnte? „Hat... hat ihnen Katsuya von meiner erzählt?“ „Nein.“, Seto hob eine Augenbraue, „In solch persönlichen Dingen scheint er vertrauenswürdig zu sein.“ Nicht auszudenken, was wäre, wenn Seto heute noch nicht Vertrauen schenken könnte... Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)