Der Geburtsort der Götter von Rasp ================================================================================ Prolog: Über den Atlantik ------------------------- Jetzt sitze ich schon vier Stunden in diesem Flugzeug, das mich nach Hause bringen soll. Ich kann es noch immer nicht fassen, welches unglaubliche Los mich getroffen hatte. Ich war doch bis jetzt nur eine unbedeutende Archäologin und Historikerin. Und jetzt? Jetzt durfte ich nach Mexiko fliegen. Die Wiege der Großkulturen Mittel- und Südamerikas. Aber was erzähle ich hier. Ihr kennt mich ja gar nicht, also warum solltest du dich für meine Geschichte interessieren. Ach, es interessiert dich doch? Na dann will ich mal nicht so sein. Ich werde schließlich noch eine ganze Weile in diesem Flugzeug sitzen und der Atlantik ist nicht so interessant. Setz dich doch neben mich, der Platz ist noch frei. Im sitzen hört es sich besser zu. Möchtest du noch etwas trinken? Nein? Gut dann fange ich mal an.... Kapitel 1: Das Angebot ---------------------- Ich saß wie jeden Tag an meinem Notebook in der Bibliothek meiner Universität um an meiner Habilitationsschrift zu arbeiten. Ich hatte, und habe es immer noch, ein für Engländer ziemlich ausgefallenes Thema. Ich beschäftige mich mit den Azteken, im besonderen mit der Stadt Teotihuacán. Du kennst sie nicht? Verwundert mich nicht. Sie ist in Mittelamerika sehr bekannt, aber nicht in England. Du wirst sie schon noch kennen lernen. Auf jeden Fall saß ich dort und las einen Aufsatz eines südamerikanischen Forschers, der sich mit der Architektur der Sonnenpyramide in Teotihuacán beschäftigte. Wirklich langweilig, aber so muss wissenschaftliche Literatur wohl sein. Ich las gerade etwas über die Vermutung, wie viele Menschen denn an dieser Pyramide gearbeitet hatten und vor allem wie lange, da meldete sich mein E-Mailprogramm. Da ich keine Nachricht erwartete beachtete ich das blinkende Signal erst einmal nicht und beschäftigte mich weiter mit der spannenden Frage, wie denn die Pyramide früher ausgesehen haben könnte. Eine sehr interessante Fragestellung aber im Gegensatz zu anderen wichtigeren Problemen wirklich sinnlos, da man dieses nur sehr schwer herausfinden kann. Ich seufzte und sah auf den Bildschirm. Die E-Mail hatte ich schon fast vergessen aber nun blinkte sie sich wieder in meinen Kopf. Damit das nervtötende Signal aufhörte, öffnete ich sie. Der Absender war mir zwar unbekannt, ich las die Mail trotzdem, vor allem weil im Betreff der Name der Stadt zu lesen war, über die ich bereits so lange forschte. Was ich da zu lesen bekam riss mich fast vom Stuhl. Ich glaube die anderen Leser und Studenten in der Bibliothek müssen mich für verrückt gehalten haben. Irgendwie hatte eine englische Produktionsfirma herausbekommen, dass ich über die mesoamerikanische Zeit recherchiere und schreibe. Jedenfalls boten sie mir eine Forschungsreise nach Mexiko an, auf welcher ich Teotihuacán genauer untersuchen könnte. Du musst wissen, für eine solche Reise hatte ich bisher keine Geldmittel zur Verfügung. Ich wunderte mich zwar, wie sie gerade auf mich gekommen waren, aber das war meine Chance schneller als ich dachte nach Mexiko zu kommen. Natürlich hatte die Sache auch einen Haken. Ich musste der Produktionsfirma mit meinen Erkenntnissen helfen einen Film über die Azteken zu drehen. „Na gut“, dachte ich, „das wird ja nicht so schlimm werden.“ Doch bevor ich antwortete recherchierte ich im Internet noch ein wenig über die Firma die mich angeschrieben hatte. Und weißt du was? Ich fand nichts. Wirklich gar nichts, nicht einmal eine kleine Spur. Das machte mich stutzig und ich las die E-Mail ein weiteres Mal. Sie klang sehr überzeugend, wenn auch das Englisch an manchen Stellen etwas komisch klang. Trotz meiner Bedenken schrieb ich dem Betrieb, dass sie auf mich zählen konnten und sie mir bitte die nötigen Details schicken möchten. So eine Chance konnte ich mir nun wirklich nicht entgehen lassen. Die Antwort erhielt ich sehr prompt, nämlich zwei Minuten nach meiner Antwort. Wenigstens arbeiteten sie ordentlich. Ich entnahm der zweiten Nachricht, dass meine Reise bereits in zwei Tagen starten sollte. Das Ticket wäre für mich am Flughafen hinterlegt und in Mexiko erwarte mich jemand von der Produktionsfirma. Leider erwähnten sie seinen Namen nicht, doch das war nicht so schlimm. Ich würde ihn schon finden. Ich packte also schnell meine Sachen zusammen und fuhr nach Hause. Dort wartete mein kleines Meerschweinchen auf mich. Ich entschied mich meine Mutter anzurufen, damit sie sich um den kleinen kümmern konnte, solange ich weg war. Ich will dich jetzt nicht mit den Reisevorbereitungen langweilen, also überspringe ich das und gehe gleich zum Flughafen. Am Schalter den man mir in der Mail genannt hatte war wirklich ein Flugticket nach Mexiko-Stadt für mich hinterlegt. Um ehrlich zu sein, bis zu dem Augenblick, in welchem ich das Ticket in der Hand hielt, war ich noch ziemlich skeptisch. Aber es schien zu stimmen. Ich gab meinen Koffer auf und schlenderte dann über den Flughafen, was man halt so macht, wenn man noch anderthalb Stunden bis zu seinem Flug warten muss. Die Zeit verging aber wirklich wie im Fluge. Ich hatte mir noch eine neue Sonnenbrille und einen Historienroman gekauft und etwas gelesen, da war es dann auch schon so weit. Im Gegensatz zu jetzt saß ich aber in einer mexikanischen Maschine, aber frag mich bitte nicht, wie die Fluggesellschaft hieß. Ich glaube irgendwas mit >Aztek< oder so, aber ich bin mir nicht mehr sicher. Das Essen hat auf jeden Fall besser geschmeckt als das was wir vorhin bekommen haben. Aber ich schweife schon wieder ab. Tut mir leid. Flugzeuge unterscheiden sich innen nicht wirklich voneinander. Ich hatte ein Business-Class Ticket erhalten und so hatte ich doch angenehm viel Platz. Der Flug verging wie die Zeit am Flughafen schnell, was vielleicht auch daran gelegen haben wird, dass ich sehr müde war. Transatlantikflüge bieten nun mal nicht viel an Aussicht. Man kann zwar Filme sehen, die waren aber zum größten Teil auf Spanisch. Du musst wissen, mein Spanisch ist etwas eingerostet und somit hatte ich Probleme der Handlung zu folgen. Ich entschied mich doch lieber ein Nickerchen zu machen. Eine der netten Stewardessen brachte mir eine Augenmaske und ein kleines Kissen und ich machte es mir auf meinem Platz zu bequem wie möglich. Ich schlief auch sehr schnell ein. Und ich träumte, was bei mir sehr selten vorkommt. Na gut, ich träume bestimmt genauso viel wie jeder andere Mensch auch, ich kann mich bloß nicht mehr daran erinnern wenn ich aufwache. Aber mit diesem Traum war es anders. Und da er zu meiner Geschichte gehört, erzähle ich ihn dir. Kapitel 2: Traumwelten? ----------------------- Die Sonne war gerade aufgegangen und brach sich zwischen den Gebäuden, die sich vor mir in den Himmel erhoben. Ich lag auf der Erde, die würzig roch und ein kleines bisschen feucht vom Morgentau war. Um mich herum sangen Vögel und schwirrten die ersten Insekten, so als ob ich gar nicht da wäre. Aus Richtung der Häuser hörte ich leise Geräusche. Steine die über Holz gezogen wurden, so klang es. Ich richtete mich auf um mich besser umsehen zu können. Vor mir, auf einer riesigen Fläche erkannte ich eine Stadt, allerdings nicht so eine wie ich sie bis jetzt kannte. Es gab keine Hochhäuser, die Dächer der Gebäude die ich sehen konnte hatten flache Dächer und waren wohl aus Lehm gebaut. Sie wirkten schlicht, hatten nichts persönliches an sich, was auf den Bewohner hätte schließen können. Ich ging auf die Stadt zu und es dauerte nicht lange, bis ich sie durch ein Tor betrat. Obwohl der Weg von meinem Ausgangspunkt sehr weit ausgesehen hatte, brauchte ich nicht einmal fünf Minuten, bis ich unter dem Torbogen stand. Genau in diesem Augenblick wollte ein Ochsenkarren die Stadt verlassen. Ich ging zu Seite und der Kutscher grüßte mich, als würde er mich bereits sehr lange kennen. Das wunderte mich, denn ich hatte diesen Mann noch nie in meinem Leben gesehen. Eines wurde mir aber bei seinem Anblick klar, was mir vorher noch nicht eingefallen war. Ich war nicht mehr in Europa. Der Mann hatte nämlich eine Art weiße Toga getragen, ähnlich die der Römer, nur aus einem scheinbar anderen Material. Auch war sie mit irgendetwas gefärbt worden, und grün war nun wirklich eine Farbe die sehr untypisch für römische Männer war, zu mal für einen Bauern oder Kaufmann, denn nichts anderes konnte die Person sein. Ich zuckte mit den Schultern. Ich würde schon noch herausfinden, wo ich gelandet war. Doch die Erkenntnis, nach der ich gerade eben noch krampfhaft gesucht hatte, sprang mir jetzt fast ins Gesicht, als ich meinen Blick stadteinwärts richtete. Ich sah eine lange Straße entlang, welche in einem riesengroßen Platz endete, auf dessen Mitte zur Zeit ein dermaßen riesiges Gebäude errichtet wurde, dass ich die Enden der Mauern nicht ausmachen konnte. Dieses Bild hatte ich bereits einmal gesehen. Nämlich in dem wissenschaftlichen Text über die Sonnepyramide. Und die Straße, auf der ich stand, konnte nur die Straße der Toten sein. Warum die Straße so heißt? Nun ich, und viele andere Wissenschaftler auch, bin der Meinung, dass dieses die Straße war, über welche die Opfer für die aztekischen Götter zur Pyramide geführt wurden. Und genau da stand ich jetzt und sah auf die Sonnenpyramide. Allerdings schien diese noch in ihrer Entstehungsphase zu sein. Die bereits vorhandene Mauer war zwar lang, aber keineswegs sehr hoch. Von dieser Baustelle hatte ich auch das Schleifen der Steine gehört. Überall liefen Menschen herum mit Steinen auf dem Rücken. Die Männer begannen zu schwitzen, denn die Sonne stieg unaufhaltsam nach oben. Ich ging noch ein wenig näher und sah mich um. Die Mondpyramide stand nicht dort, wo die Forscher sie entdeckt hatten. Nein, sie stand nicht einmal wo anders. Sie war schlicht und einfach nicht da. Ich hielt eine Frau an, die mit einem Korb unter dem Arm an mir vorbeihastete und fragte sie, wo es denn zur Mondpyramide gehe. Sie sah mich fragend an. „Du müsstest doch wissen, dass es eine Mondpyramide hier nicht gibt. Die Sonnenpyramide siehst du da drüben. Tezcatlipoca hat sie in Auftrag gegeben.“ Sie lächelte mir noch flüchtig zu und verschwand dann in eine andere Richtung. Ich stand nur verwundert auf der Straße und sah zu dem entstehenden Monument. Die Mondpyramide gab es also noch nicht. Und dieser Name – Tezcatlipoca – ich hatte diesen Namen im Zuge meiner Studien bereits häufiger gehört. Er war der Schöpfergott, aber auch für die Kriege, Helden und schöne Frauen zuständig. Was sollte ich machen? Scheinbar war ich in einer Zeit gelandet, die Forschern noch immer Rätsel aufgab. Ich ging weiter auf die Baustelle zu und konnte nun immer mehr Einzelheiten erkennen. So waren die Steine, die durch die Gegend getragen wurden, rote Ziegel, die an der Pyramide mit einer Masse bestrichen wurden, die unserem Mörtel nicht unähnlich war. Es gab Frauen, welche diese Masse in großen Bottichen zusammenrührten, Männer, welche sie in kleineren Gefäßen zur Mauer trugen und die Männer, welche die Steine trugen und übereinander stapelten. Alles lief einen geordneten Gang, so als würden sie diese Arbeit schon seit Jahren machen. Etwas weiter von den Frauen an den Bottichen stand ein Mann, der nicht so recht in dieses Bild passen wollte. Er hielt eine Tafel in der Hand und war elegant gekleidet. Na gut, ob es elegant war kann ich nicht wirklich sagen, aber seine Kleidung war nicht wie die der anderen einfarbig, sondern bunt. Er trug seine Haare auch nicht wie die anderen Männer kurz geschoren, sondern hatte lange schwarze Haare, die ihm frei über die Schultern fielen. In die beiden äußeren Strähnen waren Federn und Perlen eingeflochten. Es erinnerte mich ein bisschen an Indianer, aber da war ich in der falschen Gegend. Er musste wohl gespürt haben, dass ich ihn längere Zeit angesehen hatte, denn auf einmal löste sich sein Blick von der Tafel und traf sich mit dem meinen. Seine Augen hatten eine kräftige rotbraune Farbe. Er schien mich mit seinem Blick zu taxieren, dann bildete sein Mund ein kleines Lächeln. Er kam langsam auf mich zu und ich hatte keine Ahnung, wie ich mich jetzt verhalten sollte. „Ah meine Teuerste. Endlich habt ihr den Weg hier her gefunden. Wir hatten bereits befürchtet die Zeremonie zur Geburt von Cinteotl ohne euch vollziehen zu müssen.“ er redete ohne irgendwelche Hemmungen. er musste mich wirklich kennen. Ich setzte ein Lächeln auf und hoffte, dass irgendwann einmal mein Name fallen würde, damit ich mitbekam, wen ich darstellen sollte. Denn das ich die Kleidung trug wie sie hier Mode war, war mir bereits aufgefallen. „Dann begleitet mich doch bitte in meinen Palast“, lächelte der Fremde und bot mir seine Hand an, die ich ohne Zögern nahm. Er geleitete mich durch einige Straßen. Ich kannte mich durch alte Aztekenpläne eigentlich in der Stadt aus, aber es fehlten viele Gebäude, die ich kannte. Auch der Tempel für Quetzalcoatl war wohl noch nicht gebaut. Der Stadt war allerdings anzumerken, dass sie ihre Blütezeit noch vor sich hatte. Überall wurde gebaut und die Menschen sahen zufrieden aus. Vor mir und meinem Begleiter schienen sie indes Respekt zu haben. Die Gebäude auf beiden Seiten der Straße wurden prunkvoller, je weiter ins Stadtinnere wir gingen. Sie waren mit Zeichnungen verziert. Stuckarbeiten hätte ich in Südamerika zu dieser Zeit nicht erwartet. Mein Begleiter führte mich auf ein größeres Gebäude zu, welches mit Köpfen geschmückt war. Natürlich keine echten Köpfe, wobei mich das nicht gewundert hätte. Nein, es waren nachgebildete Köpfe und Masken, die das Haus für mich sehr grotesk aussehen ließ. „Bring uns in den Salon“, wies der Mann, mit dem ich mitgegangen war, einen anderen Mann an, der vor der Tür stand. „Sehr wohl mein Gebieter“, antwortete er unterwürfig, verneigte sich erst vor mir und dann vor meinem Begleiter, öffnete die Tür und führte uns durch das Haus. Die Gänge waren wunderschön mit Mosaiken ausgeschmückt. Sie zeigten verschiedene Tiere, die ich nicht kannte, aber auch Menschen. Der Boden war mit Marmor ausgelegt, was man dem Gebäude von außen nicht angesehen hatte. Mein Begleiter musste ein sehr wohlhabender Mann sein. Der Salon, in den wir geführt wurden, war mit einer einfachen Holztür vom Rest des Hauses abgegrenzt, was mich ein wenig enttäuschte. Aber ich hatte mich ja auch von den Aussehen des Hauses von außen täuschen lassen. Und wirklich – der Salon schien selbst die Mosaiken auf dem Gang verblassen zu lassen. Es gab keine Fenster und der gesamte Saal wurde von Kerzen erleuchtet, die alles in ein weiches, warmes Licht tauchten. Die Wände sahen dadurch aus, als ob sie mit Blattgold überzogen waren. Doch bevor ich mich weiter umsehen und staunen konnte, kam eine Person auf uns zu. „Ich sehe Mictlancihuatl hat sich endlich zu uns gesellt. Da wird Tlazolteotl wirklich erleichtert sein, dass die Zeremonie nun doch korrekt durchgeführt werden kann. War denn die Reise angenehm meine Teuerste?“, fragte sie weiter an mich gewandt. Meine Gedanken rasten, so dass ich die Frage kaum verstanden hatte. Aus diesem Grund nickte ich nur kurz und sah meinen Begleiter an. „Na na Chiconahui, lass sie erst einmal richtig ankommen. Soll ich dir etwas zu trinken kommen lassen?“ Wieder nickte ich und folgte der Frau mit den gelockten braunen Haaren zu einer Stuhlgruppe. Diese sahen aus wie aus dem alten Rom importiert, aber das machte nichts. Ich setzte mich und wartete auf den freundlichen Mann, der mich hierher begleitet hatte und dessen Namen ich noch immer nicht wusste. Bevor er allerdings zu uns zurück kam, schüttelte mich etwas an der Schulter das ich nicht sehen konnte. Ich schaute über meine Schulter – da rüttelte es mich noch einmal und der Salon um mich herum begann sich aufzulösen. Ich schloss kurz die Augen und als ich sie öffnete sah ich in das Gesicht einer Stewardess, die mich darauf hinwies, dass wir demnächst landen würden. Kapitel 3: Der Fremde --------------------- Das merkwürdigste an diesem Traum war, dass ich mich an alle noch so kleinen Einzelheiten erinnern konnte. Das ist sonst nicht so. Man weiß vielleicht noch einige Bruchstücke, aber auch die vergisst man irgendwann wieder. Ich kann mich an diesen Traum allerdings erinnern, als hätte ich ihn wirklich erlebt und das ist das faszinierende daran. Nachdem mich also die Stewardess geweckt hatte, dauerte es auch gar nicht mehr lange, bis wir auf dem International Airport in Mexiko-City gelandet waren. Dann folgte das übliche Prozedere: aussteigen und mit dem Bus zum Terminal gefahren werden, hoffen das der Koffer auch wirklich mitgekommen ist und dann das Angeln nach demselben. Ich hatte Glück, mein Gepäck war auf dem Fließband. Kaum hatte ich es in der Hand, machte ich mich auf den Weg zum Ausgang, denn dort sollte mich eine Person in Empfang nehmen. Ich stellte mich einfach in die Nähe des Ausgangs und beobachtete die Menschen um mich herum, die teilweise hektisch und teilweise sehr entspannt an mir vorbeigingen. Doch keiner schien sich für mich zu interessieren. Ich sah gerade hoch zu der digitalen Uhr und fragte mich, wie lange ich denn noch warten sollte als mir jemand von hinten auf die Schulter tippte. „Entschuldigung?“, fragte mich eine Stimme auf englisch mit einem sehr starken Akzent. Ich drehte mich sofort um. Die Stimme und auch der Finger, der mir auf die Schulter getippt hatte, gehörten einem Mann in den mittleren Jahren. Seine Haare waren lang und schwarz und fielen ihm über die Schultern. Ich sah schnell in seine Augen. Sie hatten eine rotbraune Färbung und strahlten mich an. Das musste eine Täuschung gewesen sein. Dieser Mann der da vor mir stand, sah genauso aus, wie mein Begleiter in meinem Traum. Natürlich trug er moderne Kleidung und keine Federn im Haar, doch ansonsten glichen sie sich wie ein Ei dem anderen. Und ich schwöre dir, dass ich diesen Mann noch nie vorher in meinem Leben gesehen hatte. „Sind sie Mrs. Cunningham?“, er sah mich fragend an. In dem Moment bemerkte ich, dass ich ihn die ganze Zeit angestarrt haben musste. Wie peinlich. Ich sammelte mich kurz und antwortete ihm dann. Er stellte sich mir als Paco Zatil vor – ein sehr komischer Nachname wenn du mich fragst und auch nicht sehr typische für Mexiko. Als ich ihm das sagte, lächelte er mich an und meinte, dass seine Eltern nicht von hier stammen. Ich nickte und das Thema war beendet. Er begleitete mich zu einem Wagen, der auf dem Flughafenparkplatz auf uns wartete. „Ich begleite sie zu ihrem Hotel. Sie werden sich bestimmt ausruhen wollen meine Teuerste. Morgen fahren wir dann nach Teotihuacán. Es sind ja nur 40 Kilometer. Sie werden demnach viel Zeit haben sich dort umzusehen. Ich habe mit den Behörden bereits geregelt, dass sie auch nach Schließung für die Touristen auf dem Gelände bleiben dürfen“, erzählte er mir. Das war für mich eine erfreuliche Nachricht. Es arbeitet sich immer besser, wenn einem nicht ständig die Leute über die Schulter schauen. Ich fragte ihn, was er dort in der Zwischenzeit machen wollte. „Warten“, war seine Antwort. Ich fand sie merkwürdig, aber wenn er meinte. Das Hotel war wundervoll. Man hatte für mich eines der besten Zimmer reserviert. Das Bett war bequem, alles sauber – was will man mehr. Nein, es war wirklich wundervoll ein solches Zimmer zu bekommen. Davon hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt auch nur träumen können. Paco, er bestand darauf, dass ich ihn so nennen sollte, führte mich am Abend in ein mexikanisches Restaurant, in welchem ich wohl alle einheimischen Spezialitäten probieren musste. Ich muss sagen, es hat mir alles wunderbar geschmeckt, überhaupt nicht fremdartig. Außerdem unterhielt mich meine Begleitung wunderbar. Er erzählte mir viel über Mexiko und dessen Hauptstadt. Des Weiteren fand ich heraus, dass auch er sich hervorragend mit den Azteken und der Stadt auskannte über die auch ich forschte. So diskutierten wir bis spät in die Nacht. Es war ein Erlebnis für mich, einmal eine Unterhaltung über mein Forschungsthema führen zu können, denn wie gesagt, in England gibt es nicht allzu viele Historiker, die sich mit dem Thema beschäftigen. Er brachte mich zurück in mein Hotel und verabschiedete sich mit zwei Wangenküssen von mir. Wir verabredeten uns für 7 Uhr 30 am nächsten Morgen, damit wir so früh wie möglich in Teotihuacán ankommen konnten. Ich fiel an diesem Abend in mein Bett, das außerordentlich bequem war, und dachte über alles nach, was an diesem Tag geschehen war. Am meisten beschäftigte mich mein Traum und die Ähnlichkeit zwischen meinem Begleiter in selbigem und Paco. Über dieses Grübeln schlief ich dann letztendlich ein. Kapitel 4: Die Zeremonie ------------------------ Diese Mal war es bereits über der Stadt die Nacht hereingebrochen. Ich verließ mit dem Mann, der mich auch zu seinem Haus geführt hatte, dieses und wir schritten gemeinsam, gefolgt von anderen Personen, die ich im Laufe des Tages wohl kennen gelernt hatte, auf die Sonnenpyramide zu. Oder wenigstens auf das, was später einmal Sonnenpyramide heißen sollte. Ich ließ mich zu einer Plattform führen, welche wohl extra für uns aufgebaut worden war. Von ihr konnten wir die gesamte Straße der Toten überblicken, welche mit brennenden Fackeln und einer großen Menschenmenge gesäumt war. Ich sah staunend über diesen Anblick, der sich mir in diesem Moment bot, dann spürte ich einen leichten Druck an meiner Hand. Mein Begleiter machte mich darauf aufmerksam, dass wir nicht die einzigen Personen auf dem Podium waren. Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm begrüßte mich freudestrahlend. „Ich bin so erleichtert, dass ihr es noch rechtzeitig nach Teotihuacán geschafft habt. Ich bin sicher, ihr seid vielbeschäftigt, deshalb ist es eine besondere Ehre.“ Ich lächelte ihr zu und wollte dann, wie es wohl bei allen Frauen der Fall ist, das kleine Geschöpf sehen. Das Baby sah aus wie ein Mensch, doch ich wusste genau, dass es eine kleine Gottheit war. Cinteotl wie mir erst vor kurzem mitgeteilt worden war. Der spätere Maisgott. Oder war er es bereits jetzt? Ich wusste es nicht. Das Kind lachte mich an. Dann drehte sich wieder der Menge zu, die sich vor der Pyramide versammelt hatte. Es schienen immer mehr Menschen zu werden. Dann herrschte plötzlich Stille. Ich sah mich um und entdeckte, dass mein Begleiter die Hand erhoben hatte. Er sprach zu den Menschen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was er genau gesagt hat. Ich glaube er erzählte etwas über das Neugeborene. Aber ich konnte ihn nicht wirklich gut verstehen, denn das Murmeln der Menge hatte erneut eingesetzt. Erst als er sagte: „Führt nun die Opfer zu Ehren Cinteotls zu uns“, verstummte sie wieder. Ich sah den Mann neben mir erschrocken an. Das konnte doch jetzt nicht sein. Ich wurde, wenn auch nur in einem Traum, Zeuge einer Opferzeremonie? Auf seinem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Ich folgte seinem Blick und sah fünf junge Mädchen, wahrscheinlich alles Jungfrauen, in weißen Gewändern über den fackelgesäumten Weg auf uns zukommen. Sie zeigten nicht die leiseste Spur von Angst, sondern schritten mit erhobenen Köpfen auf uns zu. Dieses Schauspiel schien mehrere Stunden zu dauern, in Wirklichkeit konnten es aber nur Minuten sein. Als die Mädchen den Fuß des Pyramidenstumpfes erreichten, warfen sie sich auf ihre Knie und sahen zu uns nach oben. Die älteste, jedenfalls sah sie älter aus als die anderen Mädchen, erhob die Stimme: „Oh großer Tezcatlipoca. Wir sind bereit unsere Reinheit zu Ehren des neugeborenen Gottes zu geben. Wir sind stolz darauf von dir auserwählt worden zu sein oh großer Gott des Nordens, der Helden des Nachthimmels.“ Während sie sprach, sah sie ihm nicht in die Augen. Ich musste es allerdings, denn als nächstes wendete er sich an mich. „Teure Mictlancihuatl. Ich habe dich dazu auserkoren, das Ritual zu begehen.“ Er reichte mir ein wunderschönes Messer. Es schimmerte bläulich und trug prächtige Muster, welche in das Metall eingearbeitet waren. Der Griff lag erstaunlich gut in meiner Hand und fühlte sich keinen Augenblick falsch an. „Mictlancihuatl“, sprach er nun wieder zu den Menschen und den Jungfrauen, „Herrscherin über das Totenreich wird das Ritual vollziehen!“, ein Raunen ging durch die Menge. Viele der Stimmen, die zu mir drangen, hörten sich verwundert an. Die Göttin die ich darstellte, schien nicht sehr häufig an solchen Zeremonien teilzunehmen. Auf ein Zeichen seiner Hand trat ich nach vorne, damit die Menge mich und vor allem das Opfermesser noch einmal genau betrachten konnten. Ich wurde zunehmend aufgeregt. Ich wollte das alles nicht tun, doch mein Körper wies mir den Weg. Erst nach unten zu den Jungfrauen, dann mit ihnen wieder hinauf auf das Podium, auf welchem jetzt nur noch eine Art Altar und das Baby waren. Ich führte die Sprecherin der Jungfrauen zum Altar, welcher mit Fresken verziert war, eine sehr aufwendige Arbeit. Man sah ihm allerdings an, dass dies nicht die erste Opferung war, die er durchmachte. An manchen Stellen entdeckte ich braune Flecke, welche nur von längst getrocknetem Blut stammen konnten. Ich blieb noch einmal kurz vor dem Opfertisch stehen, präsentierte die Frau und half ihr dann auf die Oberfläche zu steigen. Die anderen Mädchen hatten unterdessen begonnen zu tanzen. Ich kann dir nicht sagen wie, denn ich sah sie nur aus den Augenwinkeln. Mein Augenmerk lag auf der jungen Frau vor mir. Mit langsamen Bewegungen schnitt ich ihr Kleid von oben nach unten auf, so dass sie letztendlich nackt vor mir lag. Genau in dem Augenblick als ich den letzten Schnitt gemacht hatte begannen im Hintergrund Trommeln zu schlagen und von irgendwoher setzte Gesang ein, in welchen die Menschen nach und nach einfielen. Die Fackeln am Weg wurden gelöscht, so dass nur noch ich und der Altar mit dem Opfer zu sehen war. Ich hielt das Messer ein letztes Mal in die Luft, ließ es im Fackelschein aufblitzen. Dann fuhr ich mit dem Messer über ihre Kehle. Einmal, zweimal, bei jedem Mal etwas tiefer, bis ich nach langer Zeit die Hauptschlagader durchtrennte. Aber ich möchte dir das nicht weiter beschreiben, es war zu schrecklich. Das ich davon nicht aufgewacht bin, verwundert mich heute noch. Das Ritual der Opferung dauerte eine ganze Weile. Sobald ich das Blut des fünften Opfers in einer Schale mit dem der anderen gemischt hatte, schritt ich zu dem Baby. Ich tauchte meine Finger in das Gefäß und malte mit dem Blut, das an ihnen haften geblieben war, Muster auf die Stirn und Wangen des Säuglings. So verfuhr ich mit dessen ganzen Körper. Ich weiß nicht warum, aber ich konnte alle diese Sachen und sie kamen mir nicht fremd vor. Schlussendlich nahm ich Cinteotl auf den einen Arm und führte die Schale mit dem restlichen Blut an seinen Mund. Er trank es aus. Nachdem das geschehen war, stellte ich die Schale ab und hielt das Kind in die Höhe. Die Menge, deren Gesänge verstummt waren, als ich auf das Baby zugetreten war, stimmte in einen lauten Jubel ein. Von hinten legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich wusste, dass es Tezcatlipoca war. Ich übergab ihm das Kind und ging nach unten in die Pyramide. Durch einen kleinen schmalen Durchgang gelangte ich in eine Kammer, die ungefähr so groß war, wie eine normale Sporthalle, nur nicht ganz so hoch und schlecht beleuchtet. Dorthin hatte man die Leichen der Jungfrauen gebracht. Sie lagen vor mir auf dem Boden und ich begann mit meiner Arbeit. Schließlich sollten sie nun in meinem Reich leben und ich musste ihnen als Opfer die Reise dahin so angenehm wie möglich machen. Keiner störte mich bei meiner Arbeit. Ich wusch sie, kämmte ihren langen Haare und legte sie dann so hin, dass sie den Eingang meines Reiches bequem finden konnten, nämlich mit dem Kopf nach Westen wo die Sonne untergeht. Als ich dies alles beendet hatte , sah ich mich noch ein wenig um. Die Wände waren noch kahl, aber an einigen Stellen hatte man damit begonnen Fresken an die Wand zu bringen. Wie ich bemerkte, stellten sie die hohen Götter dar. „Ob ich auch einmal hier abgebildet sein werde?“, fragte ich mich kurz, bis mein Blick auf die anderen Opfer fiel, deren Körper in diese Kammer gebracht worden waren. Ich kannte sie alle, sie lebten nun unter meiner Obhut und der meines Mannes. Ich riss mich aus meinen Gedanken und ging nach draußen. Die Nachtluft war frisch und der Himmel sternenklar. Kapitel 5: Teotihuacán ---------------------- Als ich meine Augen öffnete war es noch dämmrig. Ich schaltete den Wecker aus und ging unter die Dusche. „Diese Träume werden auch immer komischer“, dachte ich, während ich das Wasser über mein Gesicht und meinen Körper brausen ließ. Dabei war ich mir nicht einmal wirklich sicher, ob es sich wirklich um einen Traum gehandelt hatte. Es hatte sich mehr wie eine Erinnerung angefühlt und das verunsicherte mich ein wenig. Ich war noch nie in meinem Leben in Mexiko geschweige denn in Teotihuacán gewesen. Einen Kinofilm, in welchem Menschenopfer zu sehen waren, hatte ich auch nicht gesehen, aber Bücher darüber gelesen. Vielleicht hatte sich das mein Kopf so zusammengereimt. Vielleicht hätte ich den das Drehbuch nach meinen Träumen und nicht nach meinen Forschungsergebnissen schreiben lassen sollen, aber das ist jetzt egal. Nur kurz nachdem ich mich fertig angezogen hatte, klopfte es an meiner Tür und Paco holte mich ab. Er meinte, dass für Frühstück keine Zeit mehr wäre, er aber etwas für die Fahrt eingepackt hatte. Ich wollte einen Moment widersprechen, doch ich unterließ es. Schließlich war er der Einheimische und nicht ich. Auf der Straße musst ich feststellen, das er Recht gehabt hatte. Wären wir auch nur eine halbe Stunde später losgefahren, wären wir unweigerlich im Stau stecken geblieben, der Mexiko-Stadt alltäglich verstopft. Bereits als wir durch die Straßen fuhren merkte man etwas davon. Allerdings kamen wir noch gut voran und nicht einmal eine halbe Stunde später hatten wir das Stadtgebiet verlassen und waren auf dem Weg zu unserem Ziel. Anfangs begleiteten uns noch viele andere Autos, doch diese wurden immer weniger. Im Gegensatz zu den vollbesetzten Reisebussen. Von denen schien es immer mehr zu geben und ich malte mir im Geiste bereits aus, wie ich in Teotihuacán arbeiten müsste. Gott sei dank ist die Fahrt von Mexiko-City aus wirklich nicht weit. Das erste was ich bereits von weitem sah, war die Sonnenpyramide. Sie überragte die gesamte Stadt und den riesigen Parkplatz davor. So hatten sich das die alten Stämme wohl nicht gedacht, als sie diese Stadt errichteten. Da wir ziemlich früh dran waren, fanden wir auch einen Parkplatz in der Nähe des Einganges, zu dem bereits jetzt Touristenmassen strömten. Ich sah die ersten Souvenirstände. Eigentlich hätte ich mir die Mitbringsel gern aus der Nähe angeschaut, und sei es nur um darüber zu lachen, aber Paco zog mich weiter. Eintritt mussten wir, im Gegensatz zu den Touristen, nicht bezahlen. Wir schritten durch das Tor, durch welches ich auch in meinem Traum im Flieger gegangen war und es war ein Gefühl als käme ich nach Hause. Ich kann nicht wirklich beschreiben warum, aber es war so. Was ich von der Stadt sah, erstaunte und erschreckte mich gleichzeitig. Natürlich ist es klar, dass Steine mit der Zeit porös werden und bröckeln und das unbewohnte Städte gerne etwas heruntergekommen aussahen, aber von der Pracht, die ich noch in meinem Traum gesehen hatte, war nicht mehr viel geblieben. Die Straßen wurden von Wiesen dominiert, auf denen die Menschen wanderten und glaubten, dass es schon immer so gewesen ist. Ich hatte das Gefühl, die meisten verschwendeten überhaupt keinen Gedanken daran, wie sehr sich diese Stadt verändert haben könnte. Sie nahmen diesen Zustand als selbstverständlich. Das hätte ich eigentlich auch machen sollen, schließlich sah ich Teotihuacán zum ersten Mal in Natura. Fotos die ich gesehen hatte, zeigten diesen Zustand, und doch, ich konnte es nicht glauben. Paco musste mein Mienenspiel mir angesehen haben, denn er berührte mich leicht am Arm und meinte: „Ich weiß, es ist nicht mehr viel übrig.“ Ich konnte diese Bemerkung nicht richtig einordnen, aber wahrscheinlich war ihm derselbe Gedanke durch den Kopf gegangen wie mir. Ich nickte kurz und wir setzten uns wieder in Bewegung. Wie ein normaler Touristenführer führte er mich durch die Ruinen der Stadt und zeigte mir die größten Monumente: die Sonnen- und die Mondpyramide, sowie den Tempel des Quetzalcoatl. Am Ende unseres Rundganges gingen wir erneut über die Straße der Toten, die nun nicht mehr mit wundervoll bemalten Tempelanlagen gesäumt war, sondern nur noch von Ruinen. „Ich werde dich jetzt allein lassen“, erklärte Paco mir. Er habe noch etwas zu erledigen. Ich sollte ihn um sieben Uhr Abends am Fuß der Sonnenpyramide treffen. Und so ging er davon und ließ mich stehen. Erst sah ich mich ein wenig um und schlenderte durch die Straßen, oder durch das, was von ihnen noch übrig war, doch dann entschied ich mich die Opferkammer zu suchen. Ich richtete meine Schritte also wieder auf das riesige Monument in der Mitte der Stadt und umrundete es. Erst beim zweiten Mal entdeckte ich, dass der Eingang nach obern verlegt worden sein musste. Und wirklich da war er. Allerdings abgesperrt. Paco hatte mir allerdings gesagt, dass ich mich nicht an die für Touristen geltenden Regeln halten musste. Ich nahm also meinen ganzen Mut zusammen und stieg die Stufen der Pyramide bis zu ihrem Eingang nach oben. Unter mir hörte ich eine Frau einen der Führer fragen: „Ist denn das erlaubt?“ „Nein!“, war seine Antwort und mir blieb bereits das Herz stehen. „Aber das ist eine Historikerin und hat eine Ausnahmegenehmigung bekommen.“ Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich meinen Weg fortsetzte. Der Eingang selbst hatte sich verändert, doch ich fand den Weg zu der Kammer wie im Schlaf, so als wäre ich ihn bereits hundertmal gegangen. In dem länglichen niedrigen Raum war es finster doch auch ruhig. Die Hektik der Touristen erreichte diesen Ort nicht. Er war von ihnen unberührt. Ich fummelte eine Taschenlampe aus meinem Rucksack und schaltete sie an. Der Boden war noch immer gestampfter Lehm. Als der Lichtkegel der Taschenlampe aber über die Wände glitt enthüllte er wunderbare Fresken, die in der Dunkelheit verborgen waren. Sie zeigten Opferzeremonien, verschiedene Götter, aber auch das Leben der einfachen Menschen. Skelette der Opfer, die hier für ihren letzten Weg vorbereitet worden waren, fand ich nicht mehr. Man hatte sie nach der Entdeckung dieser Kammer sämtlich in Museen gebracht und der Forschung überlassen. Es bedauerte mich ein wenig, denn so verlor dieser Ort ein wenig seines Flairs. Hinter mir hörte ich Schritte. Ich drehte mich zum Eingang der Kammer um und sah einen Lichtschein auf mich zu kommen. Ich hatte keine Ahnung, wer das sein konnte, aber Angst brauchte ich doch eigentlich nicht zu haben. In diesem Augenblick trat ein Mann durch die Tür und einen Moment dachte ich Tezcatlipoca vor mir stehen zu sehen. Ich rieb mir kurz über die Augen. Es war natürlich Paco mit einer Fackel in der Hand, der mir gefolgt war. „Ich wusste, dass ich dich hier finde“, meinte er. Dann stand er wieder schweigend neben mir und betrachtete die im Schein der Fackel leuchtenden Fresken. „Soll ich dir erzählen, wie diese Stadt unterging?“, fragte er mich dann. Ich nickte. Die Umgebung war wie geschaffen um mir etwas über die Geschichte dieses Ortes anzuhören. Ich drehte mich gänzlich zu ihm, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. Kapitel 6: Feuerschein ---------------------- „Die Blütezeit dieser Stadt lag so in etwas zwischen 200 bis 700 nach Christus. Als die Azteken sie um 1000 nach Christi Geburt fanden gaben sie ihr den Namen: „Der Geburtsort der Götter“, ohne zu wissen, wie richtig sie damit lagen. Denn früher einmal war sie es wirklich, wie die Fresken deutlich zeigen. Aber viele glauben nicht mehr daran, denn vieles ist um 750 bei einem katastrophalen Brand vernichtet worden. Aber ich sollte von vorn beginnen.“, meinte er und machte eine kleine Pause. „In der Blütezeit dieser Stadt lebten die Menschen mit ihren Göttern gemeinsam. Sie verehrten sie und sahen es als göttliche Fügung an, wenn ein weiteres Kind geboren wurde. Sie hatten auch keine Angst geopfert zu werden, denn für jede Familie bedeutete das eine große Ehre zu Gunsten eines neuen Gottes ein Menschenleben zu geben. Sie erbauten nach den Plänen ihrer Obersten die Monumente dieser Stadt, die du heute noch als Ruinen sehen kannst. Die Mondpyramide, die Tempel für die Götter und natürlich die Sonnenpyramide, in welcher wir uns gerade befinden. Damals war alles sehr viel prunkvoller als es jetzt ist, aber das kannst du dir bestimmt denken.“ Ich nickte kurz und erinnerte mich an das, was ich in meinen Träumen gesehen hatte. „Dieses hier“, fuhr er fort, „war die Opferkammer, in welcher die geopferten Personen auf ihren letzten Weg, den Weg ins Reich Mictlan, vorbereitet worden sind. Wie ich schon gesagt hatte, war es für die Menschen eine Ehre ihr Leben für einen neugeborenen Gott zu lassen, denn sie glaubten, dass dieser Gott durch ihr Blut auch ihre Seelen aufnehmen würde und sie so ewig leben könnten. Außerdem würden ihre Körper ein wunderbares Leben in Mictlan führen. Sie standen unter dem Schutz von Mictlancihuatl, der Herrin dieses Reiches. Sie selbst soll die wichtigsten Zeremonien angeführt haben, so zum Beispiel die zur Geburt von Cinteotl dem Maisgott.“ „Genau das habe ich geträumt“, schoss es mir durch den Kopf und ich bemerkte, wie mir der Mund vor Verwunderung offen stand. „Doch wie jedes Glück auf dieser Erde währte auch das Glück Teotihuacáns nicht ewig. Mit den Handelsrouten zu den Maya und nach Yucatan kamen immer neue kulturelle Neuerungen in diese Stadt und sie wurden unzufrieden. Manche Mystiker sagen noch heute, dass an dieser Aufmüpfigkeit, die sich langsam in der Bevölkerung Teotihuacáns ausbreitete, nur Chalchiutotolin die Schuld trage. Du kennst diesen Gott?“ Ich nickte erneut. Chalchiutotolin war die Gottheit der Plagen und Krankheiten. „Er hatte etwas gegen das Glück in dieser Stadt, denn gegen die Allmacht der guten Seiten, konnte er nicht viel entgegensetzen. Mit der Zeit aber soll er immer mehr Menschen um sich gesammelt haben. Da aber Chalchiutotolin nur eine andere Erscheinungsform von Tezcatlipoca war, wussten die anderen Götter über dessen Tätigkeiten bescheid und konnten rechtzeitig die Stadt unter Vorwänden verlassen. Hätten sie das nicht getan, so wären wohl auch sie von dem Feuer, das 750 nach Christus in dieser Stadt wütete ausgelöscht worden, so wie es vielen der Einwohner erging. Mit dem Weggang der Götter und der Feuersbrunst erlosch die Pracht von Teotihuacán.“ Zu seiner Erzählung formten sich in meinem Kopf Bilder, die aus meinem Gedächtnis aufzusteigen schienen. Ich sah die schreienden Menschen auf den Straßen, die sich von ihren Göttern verlassen fühlten. Ich sah das Feuer an den Wänden nach oben kriechen und in den Himmel schlagen. Wie durch ein Wunder wurde die Sonnenpyramide nur zu einem geringen Teil zerstört. „Keiner wollte mehr in dieser Stadt leben, bis um 1000 die Azteken kamen und die Stadt entdeckten“, erklärte Paco und riss mich damit aus meinen Gedanken. „Ihre Hauptstadt Tenochtitlán gründeten sie zirka 300 Jahre später am Rande des Texcoco Sees, nur 40 Kilometer von hier entfernt. Genau dort, wo jetzt Mexiko-Stadt zu finden ist. In gewisser Weise fühle ich mich wie die Azteken. Ich komme aus der gleichen Gegend, und fand diese Stadt. Sie tauften diese Stadt auf den Namen Teotihuacán – der Geburtsort der Götter, denn trotz des Brandes vor vielen Jahren und der unzureichenden Pflege, es war schließlich niemand mehr da, erkannten sie, dass in dieser Stadt große Menschen gewirkt hatten. Keiner wusste mehr, wie dieser Ort vor den Azteken geheißen hatte und so übernahm auch die Forschung diesen Namen. Doch auch die Azteken bevölkerten diesen Ort nicht noch einmal. Er war für sie ein heiliger Ort, an welchem sie zwar noch weitere Opferungszeremonien abhielten, doch leben wollten sie hier nicht. Als dann die Spanier und Portugiesen kamen und die Azteken auslöschten kümmerte sich keiner mehr um diese heilige Städte. Alten Sagen zu Folge sind auch die Götter nie wieder zurückgekehrt, nicht einmal als die Azteken die Opferungen wieder aufnahmen. Doch sie sollen noch heute in uns Menschen weiterleben.“ Er machte erneut eine Pause und besah sich die Fresken an den Wänden. „Hier zum Beispiel siehst du ein Ritual von Mictlancihuatl ausgeführt.“ Er deutete auf einen Flecken Wand, welcher von dem Schein seiner Fackel erleuchtet wurde. Ich trat an seine Seite um besser sehen zu können und mir stockte der Atem. Aztekische Kunst war sonst sehr verspielt und hielt wenig von Runden Formen. Die Götter selbst waren immer Maskenhaft dargestellt, doch ich vergaß, dass für die Fresken in diesem Teil der Pyramide nicht die Azteken, sondern ihre Vorgänger verantwortlich waren. Das Fresko war noch recht gut erhalten und zeigte eine junge Frau, die sich über ein Opfer beugte, welches in ein weißes Gewand gehüllt war. Die Göttin Mictlancihuatl war mit schulterlangen blonden Haaren dargestellt. Du kannst dir vorstellen wie erstaunt ich war. Azteken und blonde Haare? Das ist sehr ungewöhnlich. Was noch ungewöhnlicher war, dass ihre Augen nicht auf das Opfer, sondern auf den Betrachter gerichtet waren. Das war mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht aufgefallen. Die Göttin blickte mich mit ausdrucksvollen azurblauen Augen an und ich erkannte mein Gesicht in dem Fresko. Erschrocken wich ich ein wenig zurück. Paco sah mich erstaunt, dann lächelnd an. „Es ist spät“, erklärte er. „Aber ich möchte dir noch etwas zeigen.“ Er nahm meine Hand und führte mich nach draußen. Die Sonne ging gerade unter, während er mich noch weiter nach oben zog. Von der Spitze der Sonnenpyramide konnte man weit in die Umgebung sehen. Alles war in ein herrliches goldgelb, später rot, der untergehenden Sonne getaucht und hatte etwas beruhigendes an sich. „Man sagt, dass in solchen Momenten, wenn die Sonne untergeht, noch einmal die ganze Pracht der Stadt von Neuem zu sehen ist. Eines Tages werden sich die Götter hier wieder versammeln. Zwei davon scheinen bereits den Weg hierher gefunden zu haben.“ Dieser letzte Satz von ihm verwirrte mich. Sollte das alles doch kein Zufall gewesen sein? War das vorhin in der Kammer keine optische Täuschung gewesen, dass mich das Bild von Mictlancihuatl an mich erinnerte? Und das Paco aussah wie Tezcatlipoca, so wie er mir in meinen Träumen erschienen war. Ich blickte zu dem Mann der an meiner Seite stand und den Augenblick genoss. Auch sein Gesicht wurde von den letzten Sonnenstrahlen beschienen und er sah mehr denn je aus, wie der Gott aus meinen Träumen. Kapitel 7: Und zurück --------------------- Nachdem die Sonne komplett untergegangen war gingen wir über die Straße der Toten aus der Stadt und fuhren nach Mexiko-Stadt zurück. Er verabschiedete mich herzlich. Ich war so müde, dass ich sofort in mein Bett fiel. Zu meiner Verwunderung träumte ich nichts. Die nächsten Tage verbrachte ich in Teotihuacán, machte mir Notizen und versuchte wenigstens im Ansatz die Fresken zu dokumentieren. Die meiste Zeit verbrachte ich wohl in der Opferkammer selbst. Dieser Ort übte eine seltsame Anziehung auf mich aus. Normalerweise fühlen sich Menschen in Räumen, in welchem einmal tote Menschen waren, ein wenig beklommen, doch mir ging es ganz anders. Hier fühlte ich mich wohl. Immer und immer wieder ging mir auch der Satz Pacos durch den Kopf, dass bereits zwei den Götter den Weg wieder in ihre Stadt gefunden haben. Ich wusste nicht, was er damit meinte und weiß es auch heute nicht. Er machte auch nie wieder solche Andeutungen. Doch – eine noch. Es war erst vor wenigen Stunden, kurz bevor ich in dieses Flugzeug gestiegen bin. Er hatte mich natürlich zum Flughafen begleitet. Als er sich von mir verabschiedete, meinte er noch, ich solle während des Fluges mal in mein Handgepäck sehen und ich solle mir nicht wieder so lange Zeit lassen wieder nach Teotihuacán zu kommen. Die anderen würden dann auf mich warten. Ich fragte nicht, welche anderen er meinte und nickte nur, sah in seine rotbraunen Augen, die mich so warm ansahen, wie die Tezcatlipocas in meinem Traum. Ich gab ihm noch eine Visitenkarte und verabschiedete mich. Ob ich schon in meiner Tasche nachgesehen habe? Um ehrlich zu sein – Nein. Ich wollte mich während des Fluges ein wenig ausruhen und mir die ganze Geschichte durch den Kopf gehen lassen. Aber jetzt wo du es sagst. Es ist vielleicht besser, wenn ich mal nachsehe... Die junge Frau öffnete ihre Handtasche und darin befand sich eine Feder an deren Ende ein kleiner Brief befestigt war. Auf diesem stand: „Götter sterben bekanntlich nie und deshalb sieht man sich immer mehr als zwei Mal.“ Sie ließ die Feder durch ihre Hand gleiten. Es war eine der Federn, die Tezcatlipoca in seinem Haar getragen hatte. Kapitel 8: Götter sterben nie ----------------------------- Ich verließ das Kino. Natürlich hatte ich eine Karte zur Premiere bekommen. Ich war beeindruckt wie atemberaubend schön der Film geworden war. Du hast es sicherlich mitbekommen, es war meine Geschichte, die da verfilmt worden ist. Ich bin sehr stolz darauf, der Film ist gut geworden. Was ich jetzt mache? Ich werde mich meinen Studien widmen und habilitieren. Danach reise ich nach Mexiko. Paco erwartet mich dort schon sehnsüchtig und er meinte in seinem letzten Brief, dass er jemanden gefunden hätte, der mich interessieren müsste. Wer weiß, er ist immer noch so geheimnisvoll wie am Beginn meiner Reise. Aber weißt du was er mir geschickt hat? Ein bläulich schimmerndes Messer, in dessen Griff prächtige Muster gearbeitet waren. Das Opfermesser der Mictlancihuatl. Mein Messer! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)