Meine Wochenaufgabe-Beiträge von Rahir (24h Schreibwettbewerb) ================================================================================ Kapitel 1: Wöchentliche Schreibaufgabe vom 17.05.2008 ----------------------------------------------------- Die Zeit Die Zeit vergeht. Die Zeit verrinnt. Zerrinnt zwischen unseren Fingern wie Sand. Ich habe keine Zeit. Dazu fehlt mir die Zeit. Wie oft hören wir diese Worte von unseren Mitmenschen? Die Zeit, sie hetzt uns. Sie jagt uns durch das Leben, von der Geburt bis zum Tod. Sie hat uns immer im Griff. Sie lässt uns nicht los. Zeit. Was ist das überhaupt? Man kann sie messen und einteilen… aber kein Mensch hat sie jemals gesehen. Die Sonnenuhren der alten Kulturen, die ersten Chronographen aus Zahnrädern und Steuerwellen, bis hin zur ultragenauen Atomuhr: sie alle stehen für das Joch der Zeit, das seit Jahrtausenden auf uns lastet. Wir sind ihre Gefangenen, und es scheint weder Tür noch Fenster in diesem Gefängnis zu geben. Oder etwa doch? Was ist Zeit? Viele Wissenschaftler, Philosophen und andere kluge Köpfe haben sich den Kopf darüber zerbrochen. Haben darüber nachgedacht und heftige Diskussionen über das Wesen der Zeit geführt. Doch nie wurde sie endgültig enträtselt. Was ist Zeit? Sie beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod. Und die ganze Zeit über versuchen wir so viel wie möglich hineinzupacken. Immer mehr pressen wir in die 24 Stunden des Tages hinein. Und doch tickt die Uhr erbarmungslos, bis sie stehen bleibt… Endet die Zeit jemals? Ja, das tut sie. Mit dem irdischen Ableben endet auch die Zeit. Die Zeit existiert nur in der materiellen Welt. Sie ist praktisch eine Erfindung der Menschen selbst. Sie ist die große Illusion, die das tragische Theaterstück namens ‚Menschheit‘ inszeniert, wie ein Dirigent, der ein Orchester leitet. Sie ist es, die die Bahnen zieht, in denen unser Leben und ER-leben abläuft. In denen Schmerzen und Freude, Pein und Glück, Verzweiflung und Hoffnung diese Welt formen. Gibt es wirklich keinen Ausweg? Ja, es gibt ihn. Jeder Mensch auf dieser Welt hat schon einmal in seinem Leben die Abwesenheit von Zeit erlebt. Ein Sonnenaufgang an einem klaren Tag. Ein Tautropfen, der sich langsam löst und zu Boden fällt. Das Lächeln eines geliebten Menschen… Zeit kann auch kostbar sein. Einzelne Momente können sich für ein ganzes Leben einprägen. Sie können das Licht der Hoffnung in finsteren Stunden sein. Sie können uns immer daran erinnern, wofür es sich zu leben lohnt. Besonders intensiv erleben dies Menschen, die keine Zeit mehr haben. Menschen mit unheilbaren Krankheiten, deren kurze Lebensspanne befristet ist wie eine fast abgebrannte Kerze. Und das ist wieder der Punkt, an dem die Zeit endet. Wenn sich Menschen mit ihrem Ableben auseinandersetzen und sich ihrer irdischen Vergänglichkeit bewusst werden, dann werfen sie oftmals einen Blick in die Zeitlosigkeit. Dinge, an denen wir oft achtlos vorbeihetzen, werden plötzlich bemerkt. Die Strahlen der Sonne, wie sie durch ein grünes Blätterdach brechen. Eine unscheinbare Blume am Wegesrand. Das Lachen eines Kindes. Eine sanfte Berührung. In Momenten tiefsten Schmerzes und reinster Freude bekommen wir eine Ahnung der Zeitlosigkeit. Wenn die ganze Welt um uns stehen zu bleiben scheint. Wenn das hektische Rotieren der Leistungsgesellschaft mit einem Male durch innere Zufriedenheit oder auch Leere ersetzt wird. Wenn wir uns eins mit allen Dingen fühlen. Wenn Wunder geschehen… Dann, in diesen raren, kostbaren Augenblicken, wenn wir uns von der Zeit befreien, dann LEBEN wir. Dann funktionieren wir nicht einfach nur, dann sind wir mehr als nur ein produktives Element der Gesellschaft. Wenn unser Herz atmet und unser Geist frei wird. Dann bekommen wir eine winzige Ahnung von der Ewigkeit. Manche fragen, wie lange die Ewigkeit dauert. Sie dauert nicht, denn sie enthält keine Zeit. Manche fragen, wann die Ewigkeit beginnt, wann sie stattfindet. Sie beginnt niemals, denn alles was beginnt und endet, existiert innerhalb der Zeit. Die Ewigkeit ist hier und jetzt, niemals sonst. Und irgendwo steht eine goldene Sanduhr, gestützt vom Gott der Zeit. Langsam rinnt der Sand hindurch, bis er zur Gänze durch ist… dann dreht der Gott der Zeit die Sanduhr wieder, und der ewige Kreislauf erneuert sich. Leben und Sterben, Werden und Vergehen… die Bühne für unsere Reise, unsere ewig sich wiederholende Reise. Die Zeit bildet die ehernen Säulen, auf denen diese Welt ruht, um uns immer wieder neues Leben und Erleben zu ermöglichen. Sie begleitet uns auf dieser Reise. Die Zeit als unbekümmertes Kind. Die Zeit als heranwachsender Mensch. Die Zeit des ernsten Erwachsenendaseins. Die Zeit der Selbstverwirklichung, von Familie und Beruf. Die Zeit des Alterns. Und die Zeit des Todes. Meilensteine in unser aller Leben, gesetzt von der Zeit. Oft trauern wir Vergangenem nach, oft fürchten wir uns vor Zukünftigen. Dies ist der Lauf der Dinge in dieser Welt, bis… Bis sich unser Bewusstsein erweitert. Nach zahllosen Leben auf dieser Welt kommen wir irgendwann an den Punkt, an dem wir die Grenze überschreiten, an dem wir die Wand durchbrechen, die bis dahin immer unser Leben in enge, scheinbar unvermeidliche Bahnen gelenkt hat. Dann erkennen wir die Zeitlosigkeit, die Struktur hinter der sicht-, hör- und fühlbaren Welt. Wir entdecken dann ein Bewusstsein jenseits der Fesseln der Zeit. Wir entdecken, dass die Zeit eine selbstgeschaffene Illusion war und in Wahrheit alles gleichzeitig passiert. Wir kommen der letzten Wahrheit näher, strecken die Hand danach aus und berühren sie- Es gibt einen Ort ohne Zeit. In allen Kulturen gibt es Bezeichnungen dafür. Garten Eden, Shangri-la, Nirvana, Satori, die elysischen Felder… immer schon haben Menschen in dieser Welt einen kurzen Blick in diese Welt geworfen und dann davon gekündet. Doch keine Beschreibung, kein Bild kann diesen Ort wiedergeben. Unser Verstand ist an die Zeit gekettet, und das soll auch so sein. Wenn Götter nur die Ewigkeit haben, erfinden sie irgendwann die Zeit… Neubeginn und Sterben, Angst und Hoffnung, Sieg und Scheitern, Lust und Qual: alle diese Erfahrungen kann uns nur die Zeit vermitteln. Und deshalb gibt es die Zeit und alle anderen Illusionen. Um uns das LEBEN unmittelbar und direkt erfahren zu lassen. So glücklich wir auch sind, so tief unsere Verzweiflung auch sein mag: all dies ist unser Weg durch die Zeit, an dessen Ende die Erfahrung der Zeitlosigkeit steht. Wenn sich der Kreis wieder schließt. Dann, wenn mit der Zeit auch alle Worte enden- ENDE © by C.S., bzw. Rahir Teilnahme am 17.05.2008 Kapitel 2: Wöchentliche Schreibaufgabe vom 24.05.08 --------------------------------------------------- Anders sein Schmerzende Blitze aus Eis krochen durch seinen Körper. Erste Gedankenfetzen lösten sich aus dem trägen Sumpf, der für solange sein Nervensystem mit Träumen aus Dunkelheit und Leere erfüllt hatte. Immer noch war ihm kalt; doch sein allmählich auftauendes Bewusstsein realisierte am Rande seiner wiedererwachenden Wahrnehmung, wie seine Körpertemperatur stieg. Die Starre, die seine Glieder für Jahre in einen eisähnlichen Zustand versetzt hatte, löste sich. Dann schlug er seine verklebten Augenlider auf. Und danach entstand der erste klare Gedanke in seinem Kopf seit Jahren. Er hasste die Cryostase. In seinem Blickfeld existierte für eine Weile nur das beschlagene Glas vor seinem Gesicht. Etwas später konnte er schon den Kopf drehen. Es war die einzige Möglichkeit, interstellare Entfernungen zwischen den Kolonien zurückzulegen, doch gewöhnen würde er sich wohl nie daran. Die Nachteile waren gravierend. Eine Familie zu gründen war beinahe ausgeschlossen, denn welche Familie wollte schon jahrelang auf ihren Vater oder ihre Mutter verzichten? Andererseits gab es kaum andere Möglichkeiten, soviel Geld praktisch ‚im Schlaf‘ zu verdienen. Und das hatte ihn bis jetzt am meisten interessiert in seinem Leben. Die ersten tieferen Atemzüge seit drei Jahren stachen in seine Lunge wie Glassplitter. Seine Gelenke knirschten bei den ersten Bewegungen. Dann öffnete sich die gläserne Abdeckung seiner Cryokammer. Nach einigen würgenden Geräuschen seines völlig eingerosteten Stimmapparats brachte er die ersten verständlichen Wörter heraus. „Warum, verdammt, ist es so dunkel…?“ Er hatte schon mehrmals in seiner Karriere bei den Raumstreitkräften Aufwachphasen nach langen Cryoflügen erlebt. Zu der Routine gehörte die Aktivierung der Beleuchtung auf dem ganzen Schiff. Ächzend setzte er sich auf. Einen Moment glaubte er das Schiff hochkant zu stehen, doch dann setzte sein Gleichgewichtssinn wieder ein. Blinzelnd wandte er sich nach links und rechts. Außer einigen wenigen Kontrollleuchten herrschte Dunkelheit auf dem Deck. Was ihn aber noch mehr beunruhigte- außer seiner Cryokammer waren alle anderen noch geschlossen. Sein bis dahin auf Sparflamme laufender Herzschlag beschleunigte sich augenblicklich. Leise Flüche ausstoßend kroch er ungelenk aus seiner Kammer. In der Vergangenheit hatte es mehrere Fälle gegeben, in denen das Lebenserhaltungssystem der Cryokammern versagt und ganze Schiffe in fliegende Särge verwandelt hatte. Doch dies alles war bei der ersten Generation von Kälteschlafkammern passiert. Diese Vorfälle galten mittlerweile als vergangen und nahezu ausgeschlossen. Nahezu… Seine Kniegelenke drohten nachzugeben, als er an der finsteren Reihe von ‚Schneewittchensärgen‘, wie sie im Raumfahrerjargon bezeichnet wurden, vorbeistolperte. Aufkeimende Panik beschleunigte seine Schritte. Schließlich erreichte er das Steuerterminal der Cryokammern. Sein Blick war immer noch verschwommen, und irgendwie erschienen ihm die Farben falsch. Die matten, grauen Oberflächen der Wandverkleidung und der Instrumente glühte in dumpfen Violett-tönen. Wahrscheinlich eine Netzhautblutung, dachte er, während seine immer noch ungeschickten Finger das Terminal bedienten. Innerlich fluchte er über die Steifheit seiner Fingergelenke. Als ob es nicht seine eigenen wären. Das gesuchte Programmfenster tauchte auf- aber er hatte größte Mühe, die Daten abzulesen. Fluchend rieb er sich die Augen, doch er konnte die Zahlen nur mit größter Mühe erkennen. Und dann hörte er seine eigene Stimme… Sie war immer noch unnatürlich tief und kratzend. Bei seinen bisherigen Kälteschlafweckungen war dieses Symptom immer rasch abgeklungen, doch nicht so diesmal. Dann schob er diesen beunruhigenden Gedanken wieder beiseite und konzentrierte sich auf die Anzeige. U.S.S. Valkyre… … 2.Flotte/4.Geschwader/Forschungszug Beta… … 18.11.2051… Das stimmte soweit. Diesen Tag hatte das Navigationssystem als Zieltag berechnet. Cryostasekammer/n 1 bis 25… … … Lebenserhaltungssysteme operieren auf normalem Niveau Er atmete erleichtert auf. Dann tippte er die nächste Sequenz ein, und wieder waren seine Finger steif und unbeweglich. Ich werd‘ mir doch keine Arthrose geholt haben die letzten drei Jahre?, dachte er verunsichert. Cryostasekammer 17… … … Status: Offen. Insasse: keine Lebensfunktionen. „Was?“, stöhnte er auf. „Das ist wohl ein Scherz…!“ Cryostasekammer 17 war seine eigene gewesen. Wieder huschten seine Finger so schnell wie es ging über die Tastatur. Panik begann in ihm aufzusteigen. Irgendetwas war schief gegangen. Wieder glühten die Ziffern auf dem Monitor auf und warfen fahles Licht in das ansonsten fast völlig dunkle Deck. Cryostasekammer/n 1-16… … Cryostasekammer/n 18-25 … … Status: Versiegelt. Insasse/n: keine Lebensfunktionen. „Neein!!“ schrie er auf. Mit der Faust schlug er gegen das Terminal. Funken sprühten aus dem Gerät. Verbogenes Blech und zersplittertes Glas fiel ihm vor die Füße. Ein nagender Verdacht übertönte seine Panik. Das Terminal ist gepanzert- das ist doch nicht möglich… Nun blickte er zum ersten Male seine Hände genauer an. Sein erster Eindruck war, dass sie enorm angeschwollen waren. Doch ihre Oberfläche war nicht weich und aufgedunsen… sondern hart und schuppig. Entsetzt blickte er hoch. Verwirrt und schockiert ging er die Reihe der Cryostasekammern ab. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewohnt… nein, gewohnt war das falsche Wort. Er sah nun alles in leuchtenden Farben, wo nur grau und schwarz hätte sein dürfen. Dann trat er an eine der Kammern heran. Sie alle waren dunkel… wie von Schwärze erfüllt. Irritiert trat er näher heran und wischte mit seiner veränderten Hand den Beschlag von Glas. Dahinter konnte er keine bekannte Form erkennen. Er beugte sich noch tiefer über das Glas- und schreckte zurück. Dahinter war kein Mensch mehr. Ein Stöhnen des Ekels und des Entsetzens ging durch seinen Körper. Die Kammer beinhaltete keinen menschlichen Körper mehr, sondern stattdessen wucherte eine dunkle Masse darin, deren verzerrte Formen und entstellte Auswüchse keine Ähnlichkeit mehr mit einem humanoiden Torso hatte. Kopfschüttelnd wich er zurück und stieß dabei gegen einen Tisch. Gedanken voller Panik und Angst rasten durch seinen Kopf. Er begann am ganzen Körper zu zittern, als sein Blick über die anderen Kammern schweifte. Auch dort dasselbe Bild. Wo vor drei Jahren seine Kameraden sich in ihre Cryostasekammern gelegt hatten, fand er jetzt nur noch ein groteskes und abscheuliches Etwas, das jeglicher menschlicher Form spottete- und offensichtlich nicht lebensfähig war. „Was ist dann mit mir…“, stammelte zitternd. Dann lief er los. In seiner Panik rannte er den Tisch mit medizinischem Zubehör um, doch das kümmerte ihn nicht. Schwer atmend kam er vor einem Waschbecken zu stehen. Mit beiden Händen stützte er sich auf den Rand und übergab sich. Plätschernd ergoss sich sein flüssiger Mageninhalt in das Becken. Dann wischte er sich mit seiner zitternden Hand reflexartig den Mund ab. Und selbst das kam ihm plötzlich so eigenartig, so falsch vor. Die Panik verstärkte sich, als er Etwas ertastete- dann hob er langsam den Kopf, bis er in den Spiegel oberhalb des Waschbeckens sah. Seine Augen weiteten sich vor Schreck. „Mein Gott… was ist das!!“ schrie er. Im Spiegel sah er nicht sich selbst. Er sah- ein Monster. Der unförmige Kopf war zur Gänze von Schuppen bedeckt. Die glänzenden Augen lagen in tiefen Höhlen, und statt eines Mundes trug das Wesen insektenartige Kauwerkzeuge, die sich hektisch bewegten. Der Kopf bewegte sich langsam von links nach rechts. „Nein… nein… neeiin!!“ Seine Faust traf den Spiegel, und er zersprang in tausend Splitter. Selbst die Wand dahinter trug noch eine Delle davon, wie er in seiner Panik gerade noch registrierte. Sein furchterfüllter Blick wanderte über seinen Körper. Nun erst merkte er, dass seine Uniform nur noch in Fetzen an seinem Leib hing. Und auch dieser war völlig verändert. Matt glänzende Schuppen überzogen ihn, und hervortretende Muskeln dominierten nun seine nicht mehr menschliche Erscheinung. „Was ist das… was ist das…“, wiederholte er immer wieder, und seine verzerrte Stimme klang nach aufkeimendem Wahnsinn. Dann durchbrach ein lautes Klirren die bis jetzt gespenstische Ruhe in dem Schiff. Sein Kopf fuhr herum. Eine Wolke glitzernder Glassplitter umgab das Wesen, das aus einer der Cryokammern hervorbrach. Schwarz glänzend ragten seine monströsen Formen über den ‚Särgen‘ auf. Es hatte mehrere Arme, wie seine weit aufgerissenen Augen erkannten. Ein geiferndes Maul mit langen Zahnreihen thronte über dem missgestalteten, insektenartigen Leib, der sich langsam aus seinem Gefängnis wand. Wie erstarrt stand er da und sah das Wesen, wie es nach allen Richtungen zischte und geiferte- bis es ihn sah. Mit der Geschwindigkeit einer Schlange schoss es auf ihn zu. Innerhalb weniger Sekundenbruchteile legte es die Entfernung zurück. Schränke und Tische flogen zur Seite, als es sich polternd seinen Weg bahnte. Die Wolke zersplitternden Glases, die zuckenden Bewegungen des Ungeheuers, das umherfliegende Mobiliar- alles um ihn herum gerann zu einer zähen, verlangsamten Szenerie, wie einer gefrierenden Momentaufnahme. Diese massive Entschleunigung in seinem Bewusstsein ermöglichte es ihm, auszuweichen- und zu überleben. An jedem seiner vielen Arme hatte es lange Klauen, mit dem es nach ihm schlug. Reflexartig rollte er sich zur Seite, und das Monster brüllte vor Wut auf. Hektisch kam er wieder auf die Beine, dann sah er das Wesen genauer. Einen Teil seiner Glieder nutzte es zur Fortbewegung, den Rest als Hände- oder eher als grotesk missgestaltete Klauen, die offensichtlich nur dem Zweck dienten, Nahrung an sein geiferndes Maul zu befördern. Seine ausdruckslosen, tierischen Augen fixierten ihn, und wieder griff das Wesen an. Wie in Zeitlupe schossen seine scharfen Krallen an ihm vorbei. Wieder und wieder duckte er sich unter den Hieben des wesentlich größeren Ungeheuers und wich mit ihn selbst erschreckender Geschmeidigkeit aus. Während eines besonders heftigen Schlages, der das Monstrum für einen kurzen Moment aus dem Gleichgewicht brachte, rollte er sich unter dem insektenartigen Arm drunter durch. Hinter dem Wesen kam er auf die Beine, wo sein knochiger Schweif umher tanzte. Ohne rationell zu überlegen ergriff er den Schweif und zog mit aller Kraft daran. Ein abgrundtief hässlicher Schädel wandte sich seine Richtung und zischte ihn bösartig an. Doch zu spät- die Muskeln auf seinen Armen spannten sich an. Er verlagerte sein Gewicht, nutzte das Drehmoment und schleuderte das Monster durch den Raum. Schrill kreischend krachte es an die gegenüberliegende Wand. In diesem Moment übernahm etwas anderes in ihm die Kontrolle. Aus einem archaischen Reflex heraus stürmte er los und packte das Wesen am Kopf, das sich immer noch am Boden wand. Seine reptilienartigen Hände ergriffen es an seinem knöchernen Hals. Einen Moment lang blickte er in leere, glänzende Augen- dann trennte er knirschend den Kopf von dem monströsen Torso. Durchsichtige Flüssigkeit sprudelte aus dem immer noch zuckenden Rumpf, als er den Kopf des Monsters fallen ließ. Schwer atmend stand er über dem Körper, dessen schwarze, schuppige Formen ihn an etwas erinnerten- an sein Spiegelbild. Kaum, dass das Geschehen um ihn herum wieder normale Geschwindigkeit in seiner Wahrnehmung annahm, passierte schon das Nächste. Die beiden Teile des Schotts glitten zischend auseinander. Sein Blick fuhr herum und sah eine Gruppe Soldaten in schweren Rüstungen, die mit angelegten Waffen den Raum stürmten. Reflexartig hob er die Arme. „Nicht schießen! Ich bin’s!!“ Sekunden später sah er sich von Gestalten in massiven Rüstungen umgeben. Alle Waffen waren auf ihn gerichtet. Und in einem der verspiegelten Visiere sah er sich selbst- oder das Monster, dass er nun war. Die Soldaten schienen untereinander Funksprüche auszutauschen, dann wurde er von weißem Qualm eingehüllt. Wie eine klebrige Masse hüllte ihn der farblose Rauch ein. Eisige Kälte brachte all seine Bewegungen zum Erliegen, dann verlor er das Bewusstsein. Nur bruchstückhaft nahm er die folgenden Geschehnisse wahr. Ein leichtes Schaukeln, Fesseln an Händen und Füssen… Grelles Licht, das kam und wieder schwand… Stimmen drangen undeutlich an sein Gehör… „…keine anderen Spezimen. Nein, sie waren alle infiziert. Aber zum Glück haben wir dies…“ „…einen Trupp zu Dekontamination abgesandt. Ja. Ja, Sir, die Eindämmung wird keine Probleme…“ „…größtem Wert. Ein Meilenstein in der Biowaffenforschung, verstehen sie? Manchmal muss man eben ein paar Opfer…“ Wie ein zäher Schleier, den ihm jemand vor dem Gesicht wegzog, kam sein Bewusstsein wieder. Nun spürte er wieder die einschneidenden Fesseln um seine Handgelenke, seine Brust und seine Füße. Ein grelles Licht von oben blendete ihn. Links und rechts von ihm hörte er Schritte. Jemand hantierte mit Gläsern. Eine hydraulische Tür öffnete und schloss sich wieder. Dann bekam er ein Gespräch mit. „…verstehe ihre Bedenken, Professor, aber die Sicherheit dieses Exemplars hat höchste Priorität. Ich will nicht riskieren, dass wir es wegen eines zu hoch dosierten Sedativs verlieren.“ Es, dachte er bitter. Ich bin also ein Es. Probehalber zerrte er an seinen Fesseln. Sie waren stabil, aber vielleicht… Jemand trat an den Tisch heran, an dem er gefesselt war. Eilig schloss er die Augen, als dieser jemand sich über ihn beugte. Er sah nur, dass er eine Chirurgenmaske vor dem Gesicht trug. Ein ihm unbekanntes Gerät tastete über sein Gesicht, dann entfernte sich die Person wieder. Er öffnete die Augen und ließ seinen Blick über die Decke des Raums wandern. Sie waren in einer hohen Halle. Rohrleitungen und Kabelstränge waren überall und wirkten wie eilig montiert. Als er den Kopf ganz unauffällig nach rechts bewegte, sah er eine Reihe von Oberleuchten, durch die er den morgendlichen Sternenhimmel erkennen konnte. Wieder zerrte er an seinen Fesseln. Es wäre möglich… Der Mann mit der Chirurgenkleidung trat wieder an den OP-Tisch heran. Mit einer Kanüle in der Hand beugte er sich über das Exemplar. Glücklicherweise war es immer noch besinnungslos, was die Untersuchungen erleichterte. Gerade wollte er etwas Flüssigkeit aus einem insektenartigen Maul entnehmen, als- Als eine Hand vorschoss und ihn an der Kehle packte. Klappernd fiel die Kanüle zu Boden, und der Wissenschaftler stieß einen erstickten Laut aus. Sofort lief die Wache herbei und legte mit seinem Gewehr auf das Wesen an. Dann brachte der Wissenschaftler doch noch ein paar Worte heraus, als sich die schuppige Hand um seine Kehle einen Moment lang lockerte. „Nicht… schießen! Wir brauchen… es lebend!!“ Die verdutzte Wache zögerte, dann befreite er seine zweite Hand. Mit beiden Händen packte er nun den Forscher und schleuderte ihn auf den bewaffneten Soldaten. Alle anderen Personen im Raum erstarrten vor Schreck, und bis der erste von ihnen den Alarm auslösen konnte, hatte sich das Wesen bereits von all seinen Fesseln befreit. Mit einem weiten Sprung erreichte es das Oberlicht und schlug mit der Faust das Panzerglas ein. Schrill dröhnte die Warnsirene durch das Labor, als er durch das zerstörte Fenster ins Freie kletterte. Der Wind zerrte an ihm, als er an der Fassade des Wolkenkratzers empor kletterte. Unter ihm ging es hunderte Meter in die Tiefe. Aus den Augenwinkeln nahm er den Verkehr der umherschwirrenden Schiffe wahr, die zwischen den Hochhäusern das alltägliche Verkehrschaos in Neonopolis bildeten. Mit seinem ‚neuen‘ Körper fiel es ihm eigenartig leicht, und bald hatte er das Flachdach des Wolkenkratzers erklommen. Oben angekommen, kniete er sich am Rande des Gebäudes hin und blickte in die Tiefe. Bis an den Horizont erstreckte sich Neonopolis, die größte Stadt der Erde. Ihren Namen hatte sie von den Myriaden Lichtern an den in den Himmel wachsenden Gebäuden, die selbst am helllichten Tage die Stadt in ein Meer aus Farben verwandelte. Millionen von Menschen lebten hier, und er selbst hatte hier früher hier gelebt- doch nun war er keiner mehr von ihnen. Erschüttert betrachtete er seine Hand. Sie war nicht menschlich. Ein Versuchsobjekt, ein Monster von wissenschaftlichem Interesse- das war er jetzt. Keine Menschenwürde würden sie ihm mehr zugestehen. Jagen würden sie ihn und einsperren. Sein bisheriges Leben- nicht mehr vorhanden. Wie nie stattgefunden. Jetzt war er der einsamste Mensch auf dieser Welt. Nein… kein Mensch mehr. Noch wusste er nicht, welche Mächte sein Leben zerstört hatten, wie all dies geschehen konnte. Aber er würde sie finden. Rache würde sein restliches Leben bestimmen. Denn er galt nicht mehr als Mensch. Jetzt… war er etwas anderes. ENDE © by C.S., auch bekannt als Rahir Wöchentliche Schreibaufgabe vom 24.05.08 Kapitel 3: Wöchentliche Schreibaufgabe vom 31.05.08 --------------------------------------------------- Das Letzte seiner Art Endlich hatte er genug Platz. In ihrer Welt war es schon immer eng gewesen. Dicht an dicht gedrängt standen sie da und waren dazu verurteilt gewesen, auf ewig mit dem anderen auf Tuchfühlung zu sein. Nicht für einen Moment gab es sowas wie Ruhe und Privatsphäre, immer war man mit seinen Nachbarn unlösbar verbunden, ja fast verschmolzen. Keinen Unterschied gab es zwischen ‚dir‘ und ‚mir‘ in seiner Welt. Sicher bot diese Nähe Rückhalt und Vertrautheit, doch irgendwann sehnte er sich nach Freiheit. Nach Luft zum Atmen, nach Raum und Weite… und jetzt war es soweit. Es hatte sich schon angekündigt. Spätestens da, als Licht in ihr düsteres Reich der Kälte gefallen war, war klar, dass bald nichts mehr wie früher sein würde. Und dann kam der Moment der Trennung. Jäh wurden sie von einander geteilt, um ein neues, unbekanntes Leben anzutreten. Angst, aber auch Neugier beherrschten ihre Emotionen, doch nicht so bei ihm. Im Gegensatz zu seinen Brüdern und Schwestern freute er sich darauf, sehnte er die neugewonnene Freiheit herbei. Und endlich war es soweit. Zum ersten Male in seinem Leben erfuhr er, was es hieß, frei zu sein. Keine beengende Eingeschränktheit mehr, sondern Raum und Luft nach allen Seiten. Tief atmete er durch und genoss den vielen Platz um ihn herum. Doch die Freude währte nicht lange… Irgendwann wurde ihm bange, als er realisierte, dass er das Letzte seiner Art war. Nur noch er allein stand auf dem silbernen Rund. Dann schwante ihm das Schicksal seiner Brüder und Schwestern. Dasselbe würde ihn bald ebenfalls ereilen. Mit einem Male ergriff Angst sein Herz, und dann senkte sich auch schon wie ein bedrohlicher Schatten der Tortenheber auf ihn herab, um das letzte Torteneck seinem unvermeidlichen Schicksal zuzuführen… ENDE © by C.S., auch bekannt als Rahir Wöchentliche Schreibaufgabe vom 31.05.08 Kapitel 4: Wöchentliche Schreibaufgabe vom 07.06.08 --------------------------------------------------- Bis an die Grenze Das Thermometer zeigte 32° im Schatten an, doch Gaspard Aldric war nicht heiß. Eher das Gegenteil. Die laute Menschenmenge, die euphorisch mit kleinen Fähnchen und den aufblasbaren Werbeartikel der Sponsoren wedelte, bemerkte er nicht. Auch nicht den Sprecher, der schon die ganze Zeit voller Enthusiasmus die Zuschauer über den Ergebnisstand auf dem Laufenden hielt und dessen Stimme in den letzten zwei Stunden an Penetranz nichts verloren hatte. Schweiß vom sorgfältigen Aufwärmen auf dem Rollentrainer lief ihm über den Körper. Mit dem unförmigen Zeitfahrhelm auf dem Kopf, der ihm ein insektenhaftes Aussehen verlieh und den rutschig glatten Radschuhen an den Füßen, schritt er unbeholfen die Stufen zum Starthäuschen empor. Sein Gesäß senkte sich auf den harten Sattel, und seine Schuhe rasteten klackend in die Pedale ein, während der dafür zuständige Monsieur das Rad an der Sattelstütze hielt. Vor sich sah er die abfallende Startrampe. Und den Beginn eines fünfzig Kilometer langen Leidensweges. Es war dies der vorletzte Tag der Frankreichrundfahrt, des wichtigsten Etappenrennens in der Welt des Radsports. Das bedeutete über 3000 Kilometer Asphalt, Hitze und Entbehrungen. 3000 Kilometer surrende Laufräder, rasselnde Ketten, quietschende Bremsen. 3000 Kilometer, an deren Ende die Ehrenrunden am Champs-Élysées stehen würden, und danach… entweder der Gang aufs Podium und damit der Status der Unsterblichkeit in den Annalen des Radsports. Oder der undankbare und schon bald vergessene zweite Platz. Zumindest für ihn, Gaspard Aldric, den Führenden der Gesamtwertung. Alle verbliebenen 157 Starter waren schon auf der Strecke. Nach knappen 3000 Kilometer führte er 1 Minute und 36 Sekunden vor dem Zweitplazierten Jamison Quincey vom amerikanischen Team AMR-Severn Trent. Mickrige Eineinhalb Minuten. Schnell noch zog er den Verschluss seiner Schuhe noch eine Spur fester zu, dann begann der Commissaire zu seiner Rechten auch schon mit dem Herunterzählen. Sein Horizont verengte sich ganz auf die schwindenden Finger vor seinen Augen. „…Quatre … Trois … Deux … Une … Départ.“ Der Lenkervorbau seiner Vollkarbonzeitfahrmaschine knarzte, als er mit aller Wucht am Lenker zerrte und antrat. Als das Vorderrad über die Rampe hinab kippte, ließ der Widerstand in der Kurbel leicht nach. Meter für Meter nahm er Fahrt auf, und der Widerstand sank weiter. Wie ein mit Sponsorenschriftzügen überklebter Superheld schoss er an den auf dem Boden liegenden Fotografen vorbei. Nach zwanzig Metern griff er das erste Mal zu den Lenkerhörnern, um weiter hochzuschalten. 53-15. 53-14. 53-13. Der Wind rauschte durch die Schlitze seines Zeitfahrhelmes, und die Luft verlor ihre Hitze auf seinen muskulösen Beinen. Bald verließ er Buttes-Chaumont, den Außenbezirk von Paris, in dem der Start des Abschlusszeitfahrens der diesjährigen Tour de France stattfand. Die Menschenmengen am Straßenrand wurden lichter, aber immer noch standen verstreut die Gruppen von Fans aller Altersschichten und skandierten lautstark: „Allez! Allez-allez-allez!!“ Doch er hörte dies kaum noch. Ebenso wenig wie das Begleitmotorrad mit dem Kameramann und das Materialfahrzeug, das dicht hinter ihm fuhr. Er hatte die ersten Kilometer hinter sich, und das dumpfe Brennen in seinen Oberschenkel, die wie die Pleuelstangen einer Dampfmaschine die Kurbel bewegten, begann. Und es würde nun eine Stunde lang anhalten. Den Oberkörper tief über den Zeitfahrlenker gebeugt, kämpfte er gegen den Luftwiederstand und den monströsen Gang, den er gekettet hatte. Quincey, der Amerikaner, war ein begnadeter Zeitfahrer, das wussten die Medien, sein Teamchef bei SARL Cycling- und er. Eineinhalb Minuten waren nicht viel auf fünfzig Kilometer, auf denen jeder für sich gegen den Wind und die Schmerzen kämpfte. Und deshalb würde er heute bis an die Grenze gehen müssen. Vielleicht sogar darüber hinaus. In den steilen Kehren staubtrockener Pyrenäenpässe hatte er dem starken Amerikaner Sekunde um Sekunde abgetrotzt. Der bullige Fahrer, dessen Hauptstärke im Kampf gegen die Uhr lag, hatte nicht folgen können, als er damals unter dem Geschrei des dichten Spaliers an Menschen leichtfüßig angetreten war. Im Wiegetritt war er dem Ziel entgegengefahren, hatte getanzt auf den Pedalen. Angetrieben von zigtausenden Trainingskilometern, dem Geschrei der Fans, die endlich wieder einmal einen Franzosen auf dem Treppchen der Tour sehen wollten und all den Ampullen EPO, die er sich in der Vorbereitung gespritzt hatte, war er den Berg hochgerast. Völlig von Sinnen und bis an den Rand seiner Kräfte. Die Betreuer seines Teams hatten ihn vom Rad heben müssen, und seine Beine hatten für alle sichtbar gezittert, als er sich das gelbe Trikot des Gesamtführenden übergestreift hatte im Blitzlichtgewitter der Fotografen. Niemand hatte ihn aber fotografiert, als er sich vor dem Mannschaftsbus übergeben hatte. Er war an seine Grenze gegangen, aber er lag vor seinem großen Konkurrenten. Nur das zählte. In gebrochenem Französisch gab ihm sein belgischer Teamchef die erste Zwischenzeit durch. Sein Vorsprung schmolz, und es wunderte ihn nicht. Die gewaltigen Oberschenkel des Amerikaners, die angeblich den größten Umfang im gesamten Peloton haben sollten, frästen einen unglaublichen 51er Schnitt in den Asphalt. Gaspard Aldric wurde übel. Ob von der Zwischenzeit seines Verfolgers oder von der Anstrengung konnte er nicht sagen. Seine Lunge begann ebenfalls zu brennen und trat in dieser Hinsicht in Wettbewerb mit seinen Beinen. Den Mund weit geöffnet wie ein Rochen sog er verzweifelt Luft ein. Die lähmende Milchsäure in seinen Muskelfasern nahm langsam, aber sicher Überhand. Der rettende Sauerstoff, der sie abbauen konnte, schwand immer mehr. Die alten Häuser, die eilig aufgestellten Reklametafel, die immer das gleiche brüllenden Zuschauer am Straßenrand; dies alles gerann zu einem Kaleidoskop der Schmerzen und der Verzweiflung. Der vorbeirauschende Asphalt, das Wummern der Karbonlaufräder, die leisen, aber eindringlichen Anweisungen seines sportlichen Leiters über Funk; dies alles begann seinen Kopf quälend auszufüllen. Immer wieder richtete sich sein Kopf schmerzhaft auf, um die nächste Kurve erkennen zu können. Die aerodynamische Haltung auf einem Zeitfahrrad zwang den Körper in eine widernatürliche Position, die Wirbelsäule und Nacken extrem überstreckte. Ein Zeitfahren wird im Kopf entschieden, hieß es oft. Gaspard Aldric war es im Begriff zu verlieren. Die dritte Zwischenzeit. Er liegt fast gleich auf, sagte sein sportlicher Leiter. Er liegt fast gleich auf, wiederholte er mehrmals in einem besorgten Tonfall. Die Gespräche mit dem Hauptsponsor lagen noch bevor, und der Erhalt des Teams für die nächste Saison war alles andere wie gewiss. Das Unternehmen hatte viel Geld in die Mannschaft investiert, und nun wollten sie einen Toursieger. Gaspard Aldric kümmerte dies alles nicht mehr. Er rang verzweifelt mit der Kurbel, mit dem zu großen Gang, mit dem rauen Asphalt, mit dem Wind- und dann sah er das Ziel. Verschwommen tauchten die Absperrungen auf dem letzten Kilometer vor seinen glasigen Augen auf und schwirrten Käfiggittern gleich an ihm vorbei. Sekunden, nur noch Sekunden lagen zwischen ihm und seinem Konkurrenten. Zwischen dem Gesamtsieg bei der Tour de France und den Schmähartikeln der Zeitungen, die ihn in den Wochen zuvor als großen Favoriten tituliert hatten. Die Schmerzen in seinen Beinen drohten jegliche Konzentration aus seinem Kopf hinweg zu spülen, als er aus dem Sattel ging und zum Endspurt ansetzte. Unendlich langsam nur kam die Ziellinie näher, als der 19 Millimeter schmale Hinterreifen immer wieder seitlich wegrutschte. Mit einer Kraft, von der er nicht mehr wusste, woher sie kam, beschleunigte er auf den letzten Metern noch einmal- und rollte über die Ziellinie. Sofort umringte ihn eine Traube aus Betreuern, Fotografen und Reportern. Den Funkknopf in seinem Ohr hörte er in dem Geschrei längst nicht mehr. Von allen Seiten wurden ihm Mikrofone und Trinkflaschen ins Gesicht gehalten. Hände griffen nach seinem Rad und zogen es unter ihm weg. Die Betreuer seiner Mannschaft hatten alle Mühe, die Reporter zumindest ein Stück von ihm wegzudrängen. Verzweifelt versuchte der kleinwüchsige Franzose über die Menschenmenge hinweg einen Blick auf die Anzeigentafel zu erhaschen, die seinen Triumph- oder seine Niederlage- präsentieren würde. „Merde… geht doch zur Seite!!“ brüllte er sie an, doch sie überschütteten ihn nur mit Fragen, die er in dem Durcheinander sowieso nicht verstand. Dann, endlich lichtete sich das Gedränge um ihn geringfügig, und er sah die Anzeigentafel. Er war bereit, alles hinzunehmen, was immer ihm diese Anzeigentafel nach über 3000 entbehrungsreichen Kilometern zeigen würde. Sein Atem zitterte, als er die Augen schloss. Seine Hand tastete nach dem goldenen Kreuz, das unter seinem Zeitfahranzug baumelte. Seine Gedanken wanderten zu seiner Frau und seinen beiden Kindern, die er wegen seines Berufes oft monatelang allein lassen musste. Bitte… Bitte…, waren seine Gedanken, als er ganz langsam die Augen wieder öffnete. Seine Ohren waren schon halb taub von dem Geschrei um ihn herum, als er es sah. Schemen gleich schwebten die Leuchtziffern an seinem Geist vorbei. „Leader Classement Général Provisoire… Gaspard Aldric, FRA, Team SARL…“ Stoßweise verließ die Luft seine Lungen, und er fiel auf die Knie. Die Hände der Betreuer griffen nach ihm und stützten ihn auf dem Weg zur Siegerehrung. Der Bürgermeister von Paris überreichte ihm das gelbe Trikot. Diesmal würde er es bis ans Ziel tragen und nicht scheitern wie die Jahre zuvor. Die letzte Etappe hatte nur noch zeremoniellen Charakter; es war ihm hiermit sicher. Mit zitternden Händen streifte er es über und präsentierte es den Fotografen, deren Bilder in Kürze um die ganze Welt gehen würden. Er schloss die Augen und ließ seinen Tränen der Erschöpfung, der Erleichterung und der Freude freien Lauf. Dass Fernsehstationen das Bild eines wie ein Kind weinenden Mannes in dutzende Länder übertragen würden, kümmerte ihn nicht im Mindesten. Er hatte alles gegeben. Er war bis an seine Grenzen gegangen, und ein kleines Stück darüber hinaus. Die Sieger der Olympiaden, der Weltmeisterschaften… an keinen von ihnen würde sich in ein paar Jahrzehnten noch jemand erinnern können. Doch der Sieg bei der ‚Grande Boucle‘, bei der Tour de France meißelte den Namen seines Triumphanten in Marmor und würde ihn kommende Radsportgenerationen andächtig wiederholen lassen. Dies zählte in Wahrheit mehr als die 400.000 Euro Preisgeld, den sicheren Platz in einem Team für die nächsten Jahre oder die Sponsorenangebote. Man war unauslöschlicher Teil der Geschichte, und selbst noch nach seinem Ableben würde man Vorbild und Idol für junge Sportler in aller Welt sein und bleiben. Dies hatte aber einen Preis. Man musste bis an seine absolute Grenze gehen. Und darüber hinaus. ENDE © by C.S., auch bekannt als Rahir Wöchentliche Schreibaufgabe vom 07.06.08 Kapitel 5: Wöchentliche Schreibaufgabe vom 21.06.08 --------------------------------------------------- Am Tag danach Es war der 2.Juli 1982. Es war der Tag danach. Die Wolken über dem beinahe spiegelglatten Lake Tahoe hingen wie gigantische Wattebäusche am tiefblauen Himmel; so kitschig, so schön. Die Bäume reckten ihre grünen Zweige hinaus über den See und trotzten der Hitze des Tages. Zufrieden mit sich und der Welt saß Wolfgang Güllich am Ufer des Sees im groben Schotter und ließ dieses idyllische Bild auf sich wirken. Zum ersten Male seit einer Woche spürte er diese unbeschwerte Freiheit. Von seinem Zwang, von seiner Manie, hatte er sich befreit. Die Route ‚Grand Illusion‘ in der biederen Mittelgebirgslandschaft von Nevada galt damals als die schwierigste Kletterroute der Welt. Nach der Erstbegehung durch den phänomenalen Tony Yaniro bissen sich die folgenden drei Jahre über die besten Kletterer der vereinigten Staaten die Zähne an ihr aus. Schnell waren die ‚Experten‘ bei der auf zwölf Meter Höhe neun Meter überhängenden Route mit dem Adjektiv ‚unmöglich‘ zur Stelle. Wolfgang hatte von dieser Route gehört und wie so viele ambitionierte Sportkletterer von ihr geträumt. Ganz oben war sie auf seiner Liste gestanden, als er den Sommer des Jahres 1982 seine Reise in die USA angetreten war. Und als er dann letztendlich unter dem ehrfurchtgebietenden Rissdach gestanden war, hatte ihn fast der Mut verlassen. Aber nur fast. Sieben Tage. Eine ganze Woche voller Anstrengung und Erschöpfung, voller hartnäckiger Versuche. Eine Woche des Scheiterns, wenn seine abgetapten Finger wieder mal aus dem schmalen Riss herausgerutscht waren und die Schwerkraft ihn unerbittlich ins Seil gerissen hatte. Bis zum letzten Tag. Die Welt fühlte sich so anders an. Die Luft war klarer, das Wasser des Sees frischer und das Licht der Sonne heller. Er hatte es geschafft und die Tage der totalen Erschöpfung, nach denen er kaum hatte schlafen können, überwunden. Sein Körper hatte reagiert mit Appetitlosigkeit, Brechreiz und allen anderen Symptomen der Entkräftung, mit denen sich der überforderte Körper wehren konnte. Doch letztendlich hatte er es geschafft und die schwerste Sportkletterroute Nordamerikas und wahrscheinlich der ganzen Welt wiederholt. Nun war er wieder mit sich zufrieden, hatte seine innere Ruhe wiederhergestellt. Ein Scheitern hätte ihn nicht mehr losgelassen, zu wichtig war dies für ihn gewesen. Und das nicht für die Titelseiten der Kletterzeitschriften, nicht für die Sponsorenverträge und auch nicht für die Bewunderung seiner Kollegen und Freunde in der vertikalen Zunft. Nein, nur für sich selbst, für seine Art zu leben und fühlen, dafür hatte er es getan. Dafür hatte er all das auf sich genommen und seinen Körper bis ans Äußerste getrieben. Die ‚Grand Illusion‘ war keine Illusion mehr, der zehnte Grad war Wirklichkeit. An diesem Tag danach fühlte er sich wieder in seinem Lebensmotto bestätigt. Auch wenn sein Tun auf Außenstehende befremdlich, ja fanatisch wirken musste, all dem lag sein Kredo zugrunde. ‚Klettern heißt frei sein‘. Auch wenn er zeitweilig wie ein Gefangener seiner Projekte, seiner Routen wirkte, die Freiheit nach einem gelungenen Durchstieg war mit nichts zu vergleichen und ließ seine Seele weit über allen Alltagschwierigkeiten schweben. Dafür lebte er. Dadurch war er wirklich lebendig. Dies spürte er in diesem Moment mehr als je zuvor in seinem Leben, an diesem Tag danach. ENDE © by C.S., auch bekannt als Rahir Wochenbeitrag vom 21.06.08 Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)