Wühlkiste von Ur (Slash Oneshots) ================================================================================ Kapitel 5: Start with a kiss ---------------------------- Für DaiDai (Leider ohne Semmeln :D) _______________ Laute Musik drang durchs Haus und aus beinahe allen Zimmern hörte man Stimmgewirr und Gelächter. Ich fragte mich immer noch dunkel, wie um alles in der Welt meine kleine Schwester so viele Leute für eine Party zusammen bekommen hatte. Kaum hieß es, sie dürfe das Haus für ihren zwanzigsten Geburtstag nutzen, wurde sie übermütig und lud an die hundert Gäste ein. Gott sei Dank, dass das Haus so groß war. In den meisten Räumen war das Licht gedämpft, nur in der Küche brannte die Deckenlampe. Ich schob mich durch die Menge in Richtung meines Zimmers, um vielleicht dort ein wenig Ruhe zu bekommen… denn mit den meisten Freunden und Bekannten meiner kleinen Schwester hatte ich nichts am Hut… »Hey Bruderherz! Du willst dich doch nicht etwa verkriechen?« Und da war sie auch schon. Das wandelnde Chaos, der Traum aller jungen Männer und hin und wieder ein solches Biest, dass ich sie gern unangespitzt in den Boden rammen würde. Meine kleine Schwester. Estelle. Eigentlich von allen nur Elle genannt. »Eigentlich hatte ich genau das vor…«, gab ich also zurück und sah in ihren funkelnd grünen Augen bereits, dass ich keine Chance hatte. Elle trug einen viel zu knappen Rock und Netzstrümpfe, ein hier und da zerrissenes, knallrotes Oberteil und Schuhe, auf denen ich mir garantiert die Beine brechen würde… Aus dem Augenwinkel sah ich, wie drei Kerle zu ihr herüber starrten. So war das immer mit ihr, immer musste sie allen Jungs den Kopf verdrehen und es war mein inoffizieller Job, diese Jungs in die Flucht zu schlagen, wenn sie Elle auf die Nerven gingen. Ihr kurzes, blondes Haar hing ihr in die Stirn und sie pustete ungeduldig, um die Strähnen zu vertreiben. Ich mutmaßte, dass die Kerle in der Ecke jeden Moment unseren Teppichboden vollsabberten, wenn sie sie weiterhin anstarrten. »Ich hoffe du weißt, dass dieses Outfit nicht besonders abschreckend auf angetrunkene Kerle wirkt«, erklärte ich ihr brummig und verschränkte die Arme vor der Brust. Über ihre Schulter hinweg sah ich zwei kichernde Mädchen zu mir herüber starren und ich fragte mich dunkel, ob ich die Party vielleicht nutzen sollte, um mal wieder ein paar Frauenbekanntschaften zu machen, auch wenn ich davon wahrscheinlich mehr als genug hegte und pflegte. Elle lachte gut gelaunt und schnappte einem vorbeigehenden Typen sein Bier aus der Hand. Erst öffnete er den Mund, um zu protestieren, dann sah er, um wen es sich bei dem Dieb handelte und er brachte nur noch ein verklärtes Grinsen zustande. Manchmal fragte ich mich, wie Elle das eigentlich anstellte. Zwar war ich bei den Frauen auch beliebt – wir waren beide mit guten Genen ausgestattet – allerdings musste ich mehr als nur mit dem Finger schnippen, damit sie mir hinterher liefen. Vielleicht würde ich Elle in einer betrunkenen Stunde danach fragen, doch jetzt stand mir eher der Sinn nach meinem stillen Zimmer… »Komm mit und amüsier dich ein wenig«, meinte Elle, hakte sich bei mir unter und ignorierte meine Bemerkung zu ihrem Outfit vollkommen. Das tat sie meistens, wenn ich etwas in diese Richtung sagte. Die meisten Jungs sahen mich halb neidisch und halb vorwurfsvoll an, während Elle mich durch die Menge bugsierte. Vermutlich wussten sie nicht, dass ich ihr großer Bruder war. »Ich hätte mir ein Shirt anziehen sollen. ‚Ich bin nur der Bruder’ oder so etwas. Ich habe das Gefühl, ich werde den Abend nicht überleben«, sagte ich seufzend und Elle lachte laut auf, nahm dann einen Schluck Bier und warf sich im Wohnzimmer auf die mit einer Wolldecke abgedeckte Couch. Eher widerwillig ließ ich mich neben ihr nieder und blickte mich im Raum um. Überall standen oder saßen scherzende, lachende und Bier trinkende junge Menschen. Elle war auf Parties generell nur für Bier. Bier war auch das einzige alkoholische Getränk, das sie trank. »Alles Andere führt zu schnell zum Kotzen«, erklärte sie immer, wenn ich ihr den Genuss von Whiskey näher bringen wollte. Während ich den Blick durch den Raum hatte schweifen lassen, hatte Elle mir von irgendwoher ebenfalls ein Bier organisiert und drückte es mir in die Hand. »Nico«, sagte sie tadelnd und wuschelte mir durch die dunkelbraunen Haare, »lächle mal! Es ist mein zwanzigster Geburtstag!« Sie klang ein wenig schmollig und tatsächlich, als ich ihr das Gesicht zuwandte, hatte sie ihre Unterlippe vorgeschoben. Ich verdrehte die Augen. »Das zieht bei mir nicht«, grummelte ich und trank einen Schluck Bier. Es zog durchaus, aber das musste Elle ja nicht wissen. Es reichte schon, dass sie alle anderen Jungs um den Finger wickelte, ich wollte ihr nicht auch noch ergeben sein. Ich musste mein Großer- Bruder- Image wahren und immun gegen ihren Charme sein. »Und außerdem solltest du dich nicht beschweren, du hast von mir ein geiles Geschenk bekommen!«, fügte ich hinzu und sofort verwandelte sich ihr Schmollmund in ein Strahlen. »Ja! Das werd ich dir auch nie vergessen!«, versicherte sie und drückte mir einen Kuss auf die Wange. Ich fragte mich dunkel, ob ich eventuell einen Schwesterkomplex hatte. Ich hatte ihr Konzertkarten für Pink geschenkt und Elle vergötterte Pink. Daher würde ich nun vermutlich für mehrere Monate in ihrer Gunst steigen. Eigentlich stand ich in ihrer Gunst sowieso genauso hoch wie ihre beste Freundin Nina. Aber das tat ja nichts zur Sache. In einer Ecke stand ein schwankender, leicht grünlich angelaufener Typ. Ich ruckte mit dem Kopf in seine Richtung. Elle seufzte. »Richard«, erklärte sie mir und schüttelte den Kopf, während sie ihn betrachtete, »der ist immer schon nach zwei Stunden total dicht… Würdest du…?« Ich verdrehte die Augen, drückte ihr mein Bier in die Hand und erhob mich. Richard sah nicht so aus, als wäre er sonderlich gefährlich. Und selbst wenn. Fünf Jahre Boxtraining hatten meinen Körper gegen die meisten hirnlosen Schläger resistent gemacht. »Hey!«, sagte ich, als ich bei Richard angekommen war. Er hob den Kopf und sah mich verschwommen aus glasigen Augen an, »Ich denke, es wäre besser, wenn du jetzt gehst.« Richard hob eine Hand, um mir gestikulierend – reden konnte er wohl nicht mehr – klar zu machen, dass er noch nicht gehen wollte. Ich schnaubte, packte ihn am Oberarm und schleifte ihn unsanft hinter mir her, durch den Flur und hin zur Haustür, die ich öffnete, ehe ich ihn hinaus beförderte. Ich kam mir vor wie ein Türsteher. Richard nuschelte etwas Unverständliches. Ich verstand kein Wort, zuckte mit den Schultern und schloss die Tür, ehe ich mich umdrehte. Beinahe wäre ich Jemandem auf die Füße getreten. Ich starrte in die dunkelbraunsten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie gehörten zu einem jungen Mann mit hellblonden, ziemlich seidigen Haaren. Zwischen seinen vollen Lippen steckte eine Zigarette und er grinste mich schief an. »Kann ich mal vorbei?«, fragte er lässig. Er trug eine hellblaue Jeans mit Löchern an beiden Knien, braune Chucks und ein ebenfalls braunes T-Shirt. Ich trat beiseite. Er schob sich an mir vorbei, kramte ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche hervor und öffnete die Haustür. »Danke«, sagte er, lehnte sich in den Türrahmen – einen Fuß ließ er an der Tür, damit diese nicht zufallen konnte – und zündete sich die Kippe an. Ich hatte ihn noch nie gesehen. Weder heute, noch auf irgendwelchen anderen Parties, zu denen Elle mich mitgeschleift hatte. »Du bist Nico, oder?«, erkundigte er sich, nachdem er den Rauch in Richtung Himmel gepustet hatte. Unter seinem fransigen Pony sah er mich aufmerksam an. Ich nickte. »Ja, der bin ich«, erklärte ich. Ich mochte meinen Namen nicht sonderlich. Der Fremde grinste breit. »Elle mag ihren Namen auch nicht. Hätte mir denken können, dass das bei dir nicht anders ist«, gab er zurück und schob sich den Filter der Zigarette erneut zwischen die vollen Lippen, um daran zu ziehen. »Und wer bist du?«, erkundigte ich mich und lehnte mich ihm gegenüber ebenfalls gegen den Türrahmen. Er fuhr sich durch die hellblonden Haare, die ihm jedoch sofort wieder ins Gesicht fielen. »Jonas«, sagte er. Mir lag die Frage auf der Zunge, woher er meine Schwester kannte. Es wäre durchaus möglich, dass ich hier gerade mit einem ihrer Dates sprach, ohne es zu wissen. »Elle und ich haben uns letztens im Merz kennen gelernt. Ich bin erst vor drei Wochen hergezogen«, erzählte er und blies den Rauch diesmal gen Boden. Das konnte jedenfalls alles und nichts bedeuten. Er könnte mit ihr geknutscht haben. Dann musste ich ihn selbstredend umbringen. Er könnte mit ihr geschlafen haben. Dann musste seine Familie auch dran glauben. Vielleicht waren sie aber auch einfach nur gut miteinander ausgekommen, dann wäre es schon in Ordnung, wenn ich mich noch ein wenig weiter mit ihm unterhielt. »Das ist kein Kunststück. Immerhin ist sie fast jedes Wochenende da«, gab ich matt grinsend zurück. Jonas schmunzelte breit. »Hab gehört, du hast so nen kleinen Schwesterkomplex«, meinte er lässig und nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Ich betrachtete den Rauch, der zwischen seinen vollen Lippen hervorquoll. »Kommt auf die Situation an«, erwiderte ich lässig. Das fehlte mir gerade noch, dass ich hier als Weichei dastand! Jonas lachte leise. Mir lief ein leichter Schauer über den Rücken, ohne dass ich recht wusste, wieso. »Auf so eine Schwester würde ich auch gut aufpassen«, erklärte er amüsiert. Sofort verdächtigte ich ihn wieder, einer ihrer Lover zu sein. Meine Augen verengten sich leicht und das musste er wohl bemerkt haben, denn er blies eine weitere Wolke aus dem Mundwinkel in die Dunkelheit, ehe er wieder sprach. »Wir haben nichts miteinander, falls du das denkst«, sagte er schlicht. Das würde ich auch behaupten, wenn der ein Meter neunzig Bruder von der Angebeteten vor mir stand! »Ich bin nicht so an Frauen interessiert.« Ich hatte gerade den Mund geöffnet, um ihm zu erklären, dass er Richard folgen sollte, als mir die Worte im Hals stecken blieben. Nicht so an Frauen interessiert? Der Kerl war schwul? »Ähm…«, begann ich völlig perplex, ohne wirklich zu wissen, was ich sagen sollte, aber dann rutschte es mir doch heraus. »Du bist schwul?« Jonas grinste breit, zog ein letztes Mal an seiner Zigarette und ließ sie dann auf den Boden fallen, wo er sie austrat. »Nein. Bi«, war seine Antwort und er bückte sich nach der Zigarette, hob sie auf und schob sich an mir vorbei zurück in den Flur. Als ich aus meiner Starre erwacht war, war von Jonas bereits nichts mehr zu sehen. Ich folgte ihm zurück ins Haus, schlug die Tür zu und marschierte zurück ins Wohnzimmer, um Elle zu fragen, ob sie wirklich nichts mit Jonas gehabt hatte, aber sie saß nicht mehr auf dem Sofa, sondern auf dem Boden. In einem Kreis aus etwa fünfzehn Leuten, wovon über die Hälfte Jungen waren. In der Mitte lag eine leere Bierflasche. »Hey Nico, komm her! Wir spielen Flaschendrehen!«, sagte Elle vergnügt und ich sah bereits das gierige Funkeln in den Gesichtern dieser Kerle. Nur einer schien eher an seinem Bier interessiert. Und das war Jonas, der Elle direkt gegenüber saß und mich nun von unten herauf verschmitzt anlächelte. Vielleicht wäre es wirklich besser, wenn ich mich dazu setzte, falls einer dieser Kerle mehr versuchte, als meine Schwester nur zu küssen. »Auf amerikanische Art«, erklärte Jonas amüsiert. Ich starrte Elle an, die breit grinste, mit den Schultern zuckte und die Flasche drehte, nachdem ich mich neben sie gesetzt hatte. Ich ahnte Böses, aber das Glück war mir hold und die Flasche zeigte auf eines der Mädchen. Währen Elle und die Unbekannte sich küssten, fielen mehrere Unterkiefer herab und ich konnte nur die Augen verdrehen. Vielleicht war ich aber auch einfach immun gegen diesen Anblick, weil es sich um meine Schwester handelte. Die nächsten Runden blieben Elle und ich verschont, bis schließlich der erste Kerl den Jackpot zog und sie küssen durfte. Als Elle wieder drehte, beobachtete ich die Flasche gelangweilt. Bis sie auf Jonas zeigte. Jonas fuhr sich durch die hellblonden Haare. Seine Augen funkelten amüsiert und Elle kicherte, was mich wieder misstrauisch werden ließ. Vielleicht hatte er ja gelogen, um seine Haut zu retten? Elle krabbelte auf allen Vieren in die Mitte des Sitzkreises, Jonas kam ihr entgegen. Er hielt sich sehr zurück, doch sie schob ihre Hand in seinen Nacken und zog ihn zu sich. Manchmal fragte ich mich, ob ich meine Schwester vor den Typen retten musste… oder doch anders herum. Die beiden küssten sich ziemlich lange. Ich grummelte stumm vor mich hin, als Elle sich wieder von Jonas löste und sich erneut neben mir nieder ließ. »Jonas küsst ziemlich gut«, sagte sie grinsend und leckte sich über die Lippen. Jonas sah völlig unbeeindruckt von dem Kuss aus. Das machte ihn mir irgendwie sympathisch. Ein Mann, der meiner Schwester widerstand, das musste so etwas wie mein Traummann sein. Natürlich rein im übertragenden Sinne. »Das ist mir ehrlich gesagt ganz schön egal«, erwiderte ich gelassen und sah zu, wie Jonas die Flasche drehte. Die Mädchen hechelten, Elle grinste, die Jungs beteten, dass es sie nicht treffen würde… und dann traf es mich. Ich starrte die Flasche an, dann starrte ich Jonas an. Er grinste breit und krabbelte den ganzen Weg zu mir hinüber, da ich mich kein Stück bewegte. »Ich beiße nicht«, raunte er mir zu und ich spürte, wie sich die Härchen in meinem Nacken und auf den Armen aufstellten. Und dann küsste er mich. Ich wusste von dem Augenblick, als seine Lippen meine berührten, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte das dringende Bedürfnis, meine Arme um den jungen Mann zu legen und ihn näher zu mir zu ziehen, denn Elle hatte eindeutig Recht. Jonas küsste gut. Sehr gut. Und ich war beinahe an dem Punkt angelangt, da ich vergaß, dass er ja ein bisexueller Kerl war… als der Kuss schon wieder aufhört. Die Mädchen quietschten begeistert, ich saß da wie vom Donner gerührt und fragte mich halb verwirrt, halb entrüstet, wieso er so lange mit Elle geknutscht hatte und mit mir nicht. »Nico…du musst drehen!«, sagte Elle amüsiert zu mir und stupste mich an. Es dauerte einige Sekunden, bis ich verstand, wovon sie eigentlich redete. Also drehte ich die Flasche und beobachtete, wie sie an Jonas vorbeidrehte, was mich bei jeder neuen Drehung ärgerte. Ich sollte dringend den Whiskeyvorrat aus meinem Zimmer leer machen, dachte ich bei mir, während die Flasche auf ein ziemlich hübsches Mädchen zeigte, das mich anstrahlte. Ich konnte mich nicht recht für sie begeistern. Insgeheim fragte ich mich, wieso die Flasche nicht einfach noch mal auf Jonas hatte zeigen können. Später am Abend war ich ordentlich angetrunken. Die Flasche hatte den Rest des Spiels nur noch auf Frauen gezeigt. Eigentlich hätte ich froh darüber sein sollen, ich fand mich von dem Gedanken besessen, Jonas noch einmal küssen zu wollen. Die vollen Lippen, die sich so tastend gegen meine bewegt hatten, der leichte Geruch nach Zigarette, irgendwo dazwischen ein Hauch Cherry- Mint… Und die vorsichtige Zunge, die kurz über meine Lippen geglitten und dann so schnell wieder verschwunden war. Ich ertappte mich dabei, wie ich die Zunge verfluchte, weil sie so schnell wieder verschwunden war. Wunderbar. Ich war angetrunken, sonst würde ich so einen Mist gar nicht denken. Und angetrunken wie ich war, saß ich auf dem Sofa, eine Tüte Erdnussflips in der einen und ein neues Bier in der anderen Hand, während ich mich mit einem Mädchen unterhielt, das ziemlich deutlich mit dem Zaunpfahl winkte, dass sie gerne mit mir auf mein Zimmer verschwinden würde. Ich war schon kurz davor, nachzugeben und mir Jonas' Kuss einfach aus dem Kopf zu vögeln, als Elle zu mir herüber kam und sich strahlend mein Bier schnappte. »Nico, sei so gut und hilf mir kurz!«, sagte sie überschwänglich. Das Mädchen, dessen Namen ich schon wieder vergessen hatte, sah sie missmutig an. Ich erhob mich leicht wackelig und drückte der Sitzengelassenen die Flips und mein Bier in die Hand. „Ist es wieder ein Betrunkener?«, fragte ich sie und folgte ihr durchs Wohnzimmer. Wir gingen an Jonas vorbei, der sich mit zwei anderen Typen unterhielt und lachte. Als ich an ihm vorbei ging, streiften sich unsere Unterarme und ich spürte einen neuerlichen Schauer durch meinen Körper laufen. Elle manövrierte durch die Menge, die Treppe hinauf und schließlich schloss sie die Tür zu ihrem Zimmer auf, schubste mich sanft hinein und schloss die Tür hinter uns. »Was wollen wir denn hier?«, erkundigte ich mich misstrauisch. Wollte sie mir jetzt ihren festen Freund vorstellen, der gleich mit einem Überraschungsknall aus dem Schrank sprang? »Es geht um Jonas«, sagte sie und mein Blick verfinsterte sich, während mein Herz einen heftigen Sprung machte. »Nico, hast du schon mal drüber nachgedacht, dass du schwul bist?« Eine dröhnende Stille trat ein. Da stand sie, mit ihren grünen Augen und dem Schmollmund und den kurzem, blonden Haaren, die ein wenig an Pink erinnerten. »Wa…nein!«, sagte ich entrüstet und starrte sie wütend an. Sie seufzte. »Also ehrlich gesagt, du sahst komplett verklärt aus, nachdem Jonas dich geküsst hat«, meinte sie schlicht. Ich wollte im Boden versinken. Und meine Schwester würgen. Und ich wollte Jonas auf der Stelle teeren und häuten, dafür, dass er sich in meine Gedanken geknutscht hatte. »Ich…«, begann ich, doch sie fuhr schon fort. »Jonas meinte, er findet dich nett. Aber er meinte auch, dass du nicht küssen kannst. Woran liegt das? Du knutscht doch ständig mit irgendwelchen Mädchen?« Ich konnte es nicht fassen. Ich sollte nicht küssen können? Was war das für eine absurde Unterstellung? Ich schnaubte verächtlich, doch meine Gedanken rasten. Das würde natürlich erklären, wieso er mich nur so kurz geküsst hatte und Elle so lang. Oh Gott, ich wollte gar nicht darüber nachdenken. Es konnte natürlich sein, dass nur Jonas fand, dass ich nicht küssen konnte. Aber was, wenn das auch die Mädchen dachten, mit denen ich herummachte? Das würde meinem Image schaden! Das war eine Schande! Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, mein alkoholisiertes Gehirn befahl mir, Jonas zu finden und ihn darauf anzusprechen. Meine Vernunft riet mir, mich in mein Bett zu verziehen und dort drin zu sterben. Konnte es wirklich sein, dass ein vierundzwanzigjähriger Maschinenbaustudent wie ich plötzlich zu Minderwertigkeitskomplexen neigte? »Naja, mach dir nichts draus«, meinte Elle lächelnd und kam zu mir herüber, um mir auf die Schulter zu klopfen, »nur weil ein Kerl das sagt, heißt das nicht…« »Wo ist er?«, erkundigte ich mich bemüht lässig. Elle sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen hin. »Was willst du denn jetzt tun?« Ich schnaubte und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ihn darauf ansprechen, was sonst?«, gab er zurück. Sie schmunzelte. »Vielleicht gibt er dir ja ein wenig Nachhilfe…«, flötete sie plötzlich gut gelaunt, warf mir ihren Zimmerschlüssel zu und verschwand einfach. Ich starrte ihr nach. Ihre Worte hatten ein neuerliches Chaos in meinem Kopf ausgelöst. Aber es stimmte, dass ich Jonas noch einmal küssen wollte. Oder auch zweimal. Wahlweise auch dreimal, aber das spielte ja keine Rolle. Also ging ich ihn suchen. Es dauerte einigermaßen lange, bis ich seine hellblonden Haare endlich ausfindig gemacht hatte. Er stand in der Küche und hatte sich ein Glas Saft besorgt. Lässig lehnte er gegen den Kühlschrank, während er sich mit einem mir unbekannten Typen unterhielt. Ich stapfte zu ihm hinüber. »Kann ich dich kurz sprechen?«, fragte ich recht angriffslustig. Er schien verblüfft, nickte aber und hob kurz die Hand in Richtung des fremden Typen, der uns nachsah, als ich Jonas vor mir her durch die Menge und die Treppe hinaufschob. Ich beorderte ihn ohne Umschweife in mein Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu. Jetzt standen wir im Dunkeln, aber das machte mir nichts und ich hatte auch keine Lust, nach dem Lichtschalter zu suchen. »Elle hat mir gesagt, was du ihr erzählt hast«, erklärte er ihm ohne Umschweife. Jonas sagte nichts. Irgendwie beunruhigte mich das. Vor allem, da ich nicht sehen konnte, ob er grinste. »Ach, hat sie das«, sagte er schließlich. »Ja, allerdings.« »Und, was mache ich dann jetzt hier in deinem Zimmer…? Im Dunkeln?« Ich wurde irgendwie nervös. Ja, wir waren allein, in meinem Zimmer, im Dunkeln. Aber er hatte gesagt, dass ich nicht küssen konnte! »Kommt drauf an. Elle hat mich schon gefragt, ob ich schwul bin. Und du bist dran Schuld!« Erneut herrschte eine Weile lang Schweigen. Dann spürte ich eine Hand, die sich sachte um mein Kinn schloss. Sofort zuckte ein Blitz durch meinen Körper. Jonas musste sein Saftglas irgendwo abgestellt haben, denn seine zweite Hand legte sich behutsam auf meinen Oberkörper. »Und, bist du denn schwul?«, erkundigte er sich leise. Mein Herz hatte sich verabschiedet und flatterte durchs Fenster davon. »Nein«, krächzte ich. Ich war hier der Ältere. Ich durfte mich nicht so unterbuttern lassen. »Dann vielleicht bi. So wie ich?«, fragte er weiter. Seine Stimme klang im Dunkeln noch… intensiver. Ich bekam schon wieder eine Gänsehaut, als sein Atem mein Ohr streifte. »K…keine Ahnung…«, murmelte ich. Dann sollte er mich gefälligst noch mal küssen. Von mir aus würde ich es mir auch beibringen lassen, aber zur Hölle noch mal, wenn er so weiter machte, dann würde ich ihn einfach gegen die Tür drücken und… »Ich auch nicht… willst du’s rausfinden?«, erkundigte er sich und ich hörte ihn grinsen. Ein Grummeln verließ meine Kehle. »Ich dachte, ich könnte nicht küssen?«, erwiderte ich angriffslustig. Er lachte leise. »War gelogen. Ich wollt nur nicht vor aller Augen über dich herfallen. Und ich hab Elle nach deinen Schwächen gefragt. Sie meinte, es seien vor allem dein Stolz und dein Schwesterkomplex… da dachte ich, pack ich dich bei deinem Stolz«, flüsterte er. Mir lief es heiß und kalt und den Rücken hinunter. »Ach…warst du…interessiert…«, nuschelte ich undeutlich. Er lachte leise und erneut stellten sich die Härchen in meinem Nacken auf. »Hmm…«, machte er nur. Wahrscheinlich war ich wirklich bi…, schoss es mir durch den Kopf. Und dann küsste er mich. Dieses Mal sehr viel länger, als beim ersten Mal. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)