Höllenqualen von Nochnoi (Rasia Reloaded - Fortsetzung zu "Pakt mit der Hölle") ================================================================================ Kapitel 5: Giftiges Essen, nervige Lords, zickige Weiber und unerwartete Enthüllungen ------------------------------------------------------------------------------------- Das japanische Dorf entpuppte sich als ein wenig fortgeschrittener, als ich zunächst vermutet hatte. Neben zahllosen ärmlichen Holzhütten fanden sich auch einige Bauten, die nicht ganz so jämmerlich wirkten. Außerdem gab es auch ein paar Trampelpfade, die man mit sehr viel Fantasie als Straßen hätte bezeichnen können. Im Zentrum des bescheidenen Städtchens war eine große Ansammlung von Fressalien aller Art aufgestellt worden. Wie für die Englänger üblich war alles sehr pompös angerichtet, sodass man ihre furchtbare Dekadenz schon aus zehn Kilometer Entfernung gegen den Wind riechen konnte. Die vereinzelten britischen Herrschaften – alle in maßgeschneiderten schwarzen Anzügen, sodass einer aussah wie der andere – schaufelten sich ungeniert ihre Teller voll und versuchten hartnäckig, die umstehenden Japaner dazu zu überreden, auch mal zu kosten. Doch nur wenige schienen etwas mit dem englischen Essen anfangen zu können. Skeptisch betrachteten sie es, als befürchteten sie, es könnte vergiftet sein. Bei den Künsten einiger englischer Köche war das auch gar nicht mal so unwahrscheinlich. „Das ist ja wirklich wundervoll hier“, sagte ich mit knirschenden Zähnen. Das schien ja echt eine Riesen-Party zu werden. Mit einem festbetonierten Lächeln folgte ich Griffin durch die große Schar von Menschen und versuchte bemüht, nicht angewidert die Nase zu rümpfen. Den menschlichen Gestank hatte ich noch nie leiden können. Einzeln waren diese Individuen ja noch einigermaßen zu ertragen, aber so ein ganzer Auflauf konnte sehr an den Nerven eines armen Teufels zehren. Auch Inuyasha merkte ich ein leichtes Unbehagen an. Das lag aber wahrscheinlich weniger an den vielen Menschen – immerhin war er an deren Gesellschaft mehr als gewohnt –, sondern eher an seiner neuen Gestalt, in der er sich klein und hilflos fühlte. Außerdem hatten schon einige Kinder begeistert ein Auge auf den süßen Wuschelköter geworfen. Schon bald würden diese Monster ihn pieksen, an den Ohren ziehen und ihn schlichtweg auseinanderreißen. Ich freute mich schon sehr auf diese kleine Show. Kinder konnten schließlich ungemein grausam sein. Während wir uns aber immer noch durch die Menge boxten, blieb Griffin plötzlich stehen, sodass ich beinahe mit ihm zusammengeprallt wäre. Nur in letzter Sekunde konnte ich eine Kollision verhindern. Mit lag ein äußerst undamenhafter Fluch auf der Zunge, doch ich schluckte ihn gewaltsam hinunter. Im meinem derzeitige Körper wäre es ein wenig verdächtig gewesen, wenn ich bösartige Verwünschungen ausgestoßen und Griffin als ‚hirnloses Trampeltier’ bezeichnet hätte. Ich blickte an Griffins dicker Birne vorbei und entdeckte vor uns einen hochgewachsenen Mann mit einem buschigen Schnurrbart und einem dermaßen breiten Grinsen, dass es mich an Shimo erinnerte. An seinem geröteten Gesicht erkannte ich jedoch, dass das dümmliche Lächeln nicht wie bei meinem Vater von abgestorbenen Gehirnzellen und dem Verlust jedweden Verstandes, sondern eher von zu hohem Alkoholgenuss rührte. Obwohl das eine das andere nicht unbedingt ausschließen musste. „Sei gegrüßt, Griffin“, meinte der Kerl vergnügt. „Wir hatten uns schon gefragt, wo du steckst. Warst mal wieder auf Erkundungstour, was?“ Er begann dröhnend zu lachen, als hätte er gerade den größten Witz der Welt gerissen und kniff Griffin anschließend wie ein Kleinkind in die Wange. Freudig beobachtete ich, wie mein kleiner Herr und Meister peinlich berührt errötete. „Seid gegrüßt, Lord Winston“, sagte Griffin in einem gezwungen freundlichen Tonfall. „Es tut mir leid, falls ich Probleme bereitet haben sollte. Ich war wirklich nur ein wenig die Gegend am erkunden.“ „Ein richtiger Entdecker!“ Winston klopfte Griffin anerkennend auf den Rücken, woraufhin dieser beinahe kopfüber nach vorne gefallen wäre. „Die anderen sollten sich ein Beispiel an dir nehmen. So verdreckt, wie deine Kleidung aussieht, hast du ja wirklich alle Ecken und Enden erkundet. Das nenne ich Einsatz, mein Junge!“ Winstons Augen, die unter seinen extrem ausgeprägten Brauen kaum zu erkennen waren, richteten sich unvermittelt auf mich. „Und sieh an, was du nur wieder für Schönheiten entdeckt hast. Wie heißt du denn, mein Kind?“ „Yumi, Herr“, zwitscherte ich mit glockenheller Unschuldsstimme. „Und der Kleine hier heißt Baka[1].“ Ich deutete auf das Hündchen in meinen Armen. Der Hanyou war über seinen neuen Namen zwar nicht begeistert, aber ihm blieb keine Chance, seinem Unmut Luft zu machen, da das donnernde Lachen des Lords uns alle zusammenzucken ließ. „Ein wirklich interessanter Name“, sagte er grinsend. „Wie ist so ein nettes Ding wie du bloß auf so etwas gekommen?“ Nettes Ding? Meine Güte, diese Menschen ließen sich viel zu sehr von Äußerlichkeiten beeinflussen. Um das klarzustellen: An mir war NICHTS nett! „Mein großer Bruder hat ihn so genannt, Herr“, säuselte ich so höflich, wie es mir möglich war. „Er fand das wohl witzig. Allerdings passt das auch ganz gut zu dem Hund, der arme Kerl ist nämlich etwas zurückgeblieben.“ Darüber war Inuyasha selbstverständlich noch weniger erfreut. Er begann, auf meinem Daumen herumzukauen, wohl in der Hoffnung, mir damit Schmerzen zuzufügen. Ich konnte über seinen armseligen Versuch nur grinsen. „Da hast du ja wirklich einen Schatz gefunden, Griffin!“, meinte Winston entzückt. „Sag, wo hast du sie aufgetrieben?“ „Äh, sie kommt aus einem der Nachbardörfer, Sir“, log Griffin. „Ich habe ihr von unserer Expedition erzählt und sie war daran sehr interessiert. Auch wollte sie etwas über die englische Kultur erfahren.“ Ach, wollte ich das? Ich wusste nur, dass Engländer hochnäsige und arrogante Pseudo-Obermacker waren, und das war ehrlich gesagt mehr als genug. Da konnte ich auf eine Geschichtsstunde nun wirklich sehr gut verzichten. Sich ein Messer in die Kehle zu rammen, klang da um einiges reizvoller. „Oh, wie wundervoll!“, stieß Winston hervor, der meinen Widerwillen nicht bemerkte. „Ich kann dir sehr gerne alles von unserer langen Reise berichten.“ Oje, das klang sehr nach tödlicher Langeweile. Doch bevor der Lulatsch dazu kam, auch nur das erste Wort über seine Lippen zu bringen, tauchte neben ihm wie aus dem Nichts eine zierliche Gestalt auf. Es war ein junges Mädchen, wahrscheinlich so alt wie Griffin, mit blonden Haaren, blasser Haut und einem verkniffenen Mund. Gehüllt war sie in ein eher einfaches hellblaues Kleid, das für so eine Expedition sicher besser geeignet war als irgendein pompöses Ballkleid. „Hallo, Griffin“, sagte sie, nicht mal ansatzweise um Freundlichkeit bemüht. Mit grimmiger Miene musterte sie den Magier und anschließend auch mich. Unwillkürlich fragte ich mich, was ich dem Mädel wohl angetan hatte, dass sie mich so anfunkelte? War sie etwa eine Verehrerin Griffins, die in mir eine Konkurrentin sah? Irgendwie schwer vorstellbar. „Hallo, Beth“, begrüßte Griffin sie kühl. Ganz klar, zwischen den beiden ging irgendwas vor. Selbst Inuyasha hörte auf, an meinem Daumen zu lutschen, und betrachtete interessiert das Geschehen. Das Mädchen namens Beth wandte sich Winston zu. „Hättest du was dagegen, wenn ich die beiden mal kurz entführe, Vater?“ Der Angesprochene wirkte ein wenig enttäuscht. „Oh, na gut“, meinte er großzügig. Er war wohl die Art Vater, der seiner Tochter nichts abschlagen konnte. „Aber bring sie mir bald wieder, wir haben noch eine Menge zu bereden.“ Während ich Winston ein scheinheiliges Lächeln zuwarf, wünschte ich mir vom ganzen Herzen, dass er an einem Kirschkern ersticken würde. Beth packte derweil Griffin grob am Arm und zog ihn aus der Menschenmenge hinaus, sodass wir schon sehr bald hinter einer baufälligen Scheune vor den Blicken der anderen geschützt waren. Nur ein paar Schafe glotzten uns minder interessiert an. „Du bist so ein Idiot, Griffin!“, begann Beth zu zetern, als wir endgültig außer Hörweite waren. „So ein verdammter, verdammter, verdammter Idiot!“ Die Kleine war mir prompt sympathisch. Griffin jedoch schien von ihren Vorhaltungen weniger erfreut zu sein als ich. „Du solltest dringend an deiner Ausdrucksweise arbeiten, so spricht schließlich keine anständige Lady. Außerdem gehen dich meine Angelegenheiten überhaupt nichts an.“ Ich spitzte neugierig die Ohren. Konnte es sein, dass diese Beth über die wahnwitzigen Pläne Bescheid wusste? „Es geht mich nichts an?“ Inzwischen keifte das Mädchen ganz schön laut durch die Gegend und machte den Eindruck, als wollte sie Griffin am liebsten in den Schritt treten. In Gedanken feuerte ich sie an, ihrem Zorn Luft zu machen, auch wenn das ebenso Schmerzen für mich bedeutet hätte. Obwohl … würde ich es als Frau überhaupt merken, wenn Beth Griffin dorthin trat? Hm, eine interessante Frage. Auf jeden Fall war es wert, mal ausprobiert zu werden. Doch bevor sich Blondie dazu hinreißen ließ, wandte sie sich Inuyasha und mir mit wütender Miene zu. „Du bist bestimmt kein kleines, unschuldiges Mädchen, nicht wahr? Und du auch kein süßes Hündchen.“ Abrupt drehte sie sich wieder zu Griffin. „Wie kannst du es nur verantworten, Dämonen hierherzubringen?“ „Sie sind zu meinem Schutz da“, erwiderte Griffin, nun auch verärgert. „Wenn du nicht so leichtfertig wärst, hättest du gar keinen Schutz nötig!“ Und so ging es dann eine ganze Weile weiter. Die beiden hatten zwar keine Ahnung, wie man sich richtig stritt – anstatt derben Flüchen und Todesdrohungen redeten sie immer noch so hochgestochen wie eh und je –, dennoch war es sehr amüsant, sie dabei zu beobachten. Schade nur, dass keiner auf den anderen mit einem Messer losging. Das wäre dann wirklich extrem witzig gewesen. Schließlich aber richtete sich Beths Blick wieder auf uns. Na ja, besser gesagt, auf den putzigen Welpen in meinen Armen. „Der Knabe heißt nicht zufällig Inuyasha, oder?“, fragte sie, von ihrer kleinen Kabbelei noch immer etwas geladen. Der Hanyou schaute überrascht drein, durfte sich aber immerhin auf Griffins Befehl nicht dazu verleiten lassen, seine Stimme zu benutzen oder sich unhundetypisch zu verhalten. Trotzdem war deutlich zu sehen, wie er vor Spannung beinahe platzte. Griffin schließlich sprach die Frage auf, die Inuyasha wahrscheinlich quälend auf der Zunge brannte: „Woher weißt du das?“ Beth deutete hinüber auf die große Menschentraube. „Dort sind ein Mädchen und ein Mönch, die nach ihm suchen. Sie haben mir beschrieben, wie er aussieht, und als sie mir dann noch die Einzelheiten seines Verschwindens erläutert haben, war mir alles klar.“ Sie seufzte schwer. „Meine Güte, Griffin, ist dir eigentlich klar, dass du ihn entführt hast? Seine Freunde machen sich schreckliche Sorgen um ihn. Du hast nicht das Recht, das Leben eines anderen zu verpfuschen, egal ob es nun ein schrecklicher Dämon ist oder einfach ein Kerl mit Hundeohren …“ Während Beth mit ihrer Moralpredigt weiterfuhr, trat ich ein paar Schritte zurück, sodass ich eine bessere Sicht auf die Partygesellschaft hatte. War ich zuvor noch eher wie ein blinder Fisch durch diese Menschenmasse gewandelt, darauf achtend, dass mich bloß keiner berührte, untersuchte ich nun intensiver die einzelnen Gesichter. Neben pausbäckigen Engländern und skeptisch bis verschreckt dreinblickenden Japanern entdeckte ich letztlich auch das unverschämt kurze Miniröckchen von Kagome. Sie unterhielt sich gerade mit irgendeinem Kerl in einem abgetragenen Kimono, dem sie ihren Gesten nach zu urteilen gerade von Inuyasha erzählte. Den Hoshi jedoch konnte ich weit und breit nirgends erblicken. „Siehst du das, kleiner Inu? Dein geliebtes Schätzchen ist hier!“ Inuyasha bewegte sich unruhig in meinen Armen und knurrte tief. Wahrscheinlich hätte er mich jetzt am liebsten ohne Punkt und Komma mit irgendwelchen Banalitäten zugequatscht, wenn er nicht eine Maulsperre verpasst bekommen hätte. Im Moment konnte ich über diese Wortkargheit ziemlich froh sein, aber irgendwie hatte ich das dumpfe Gefühl, dass Inuyasha das Verpasste schnell wieder nachholen würde, wenn er die Chance dazu erhielt. Ich ließ mir von diesen negativen Gedanken aber im Augenblick nicht die Laune verderben. Ich musste es doch ausnutzen, dass dieser Idiot gerade mundtot war. „Die Nervensäge scheint sich ja kein bisschen verändert zu haben“, fuhr ich ungerührt fort, weiterhin Kagome beobachtend, deren theatralische Gesten inzwischen beängstigende Ausmaße erreicht und den Japaner in die Flucht geschlagen hatten. „Wirklich schade, dass der Drache sie nicht gefressen hat. Vielleicht sollte ich sie bei der nächsten Gelegenheit einfach mal eine Klippe runterschubsen.“ Bevor Inuyasha die Chance erhielt, meine Todesfantasien gebührend zu quittieren, tauchte vor uns plötzlich ein Junge auf, der uns mit einem undefinierbaren Lächeln musterte. Sein Alter schätzte ich auf etwa zwölf bis dreizehn Jahre und seine Tracht war eindeutig englisch. Bis auf das dunkle Haar und die etwas markanteren Gesichtszüge erinnerte mich der Bengel sehr an Griffin. Genähert hatte er sich dank seiner Fähigkeiten als Magier völlig geräuschlos, dennoch war eine geübte Teufelin wie ich selbstverständlich nicht so einfach zu überlisten. Um jedoch den Schein zu wahren, tat ich so, als würde sein unvermitteltes Auftauchen mich überraschen. In seinem Schatten befand sich ein weiterer Junge, etwa im selben Alter, in japanischer Kleidung, der nach meinen Maßstäben relativ durchschnittlich und unauffällig wirkte. Zumindest hatte er ein Gesicht, wie man es zu Tausenden finden konnte. Nichts erschien besonders an ihm … und trotzdem spürte ich instinktiv, dass mit dem Knaben irgendwas nicht stimmte. Vage Erinnerungen längst vergangener Ereignisse stiegen in mir auf, von denen ich mir nicht sicher war, warum ich ausgerechnet in diesem Moment an sie denken musste. „Ein nettes Hündchen hast du da“, ergriff der erste Junge das Wort und riss mich damit aus meinen Grübeleien. Seine Stimme hatte erstaunlicherweise einen noch arroganteren Tonfall als Griffins, obwohl ich geglaubt hatte, dass es gar nicht mehr schlimmer gehen konnte. Tja, ich hatte mich wohl geirrt. Äußerlich jedoch ließ ich mir meine Missbilligung nicht anmerken. Ich lächelte naiv-dümmlich und sagte mit einer süßen Zuckerstimme: „Vielen Dank, Herr!“ „Und du bist wirklich schön“, fuhr er fort, weiterhin mit diesem geheimnisvollen Lächeln. „Ausgesprochen schön sogar.“ Er streckte seinen Arm aus und wollte meine Wange berühren, ich aber trat rechtzeitig einen Schritt zurück und spielte die Schüchterne. „Aber, Herr …“ Soweit kam’s noch, dass mich so ein frühreifer Bengel betatschen durfte! Schein hin oder her, ich musste mir schließlich nicht alles bieten lassen. „Und gut schauspielern kannst du auch noch“, meinte er. „Alle Achtung!“ Nun war ich verblüfft und für einen kurzen Moment bekam meine Maske der Unschuld bedenkliche Risse. Schnell aber konnte ich mich wieder sammeln. „Ich verstehe nicht ganz …“ Der Knirps schnaubte. „Du brauchst gar nicht erst die Ahnungslose zu spielen, ich weiß längst, dass du ein Teufel bist. Also hat sich Griffin tatsächlich in die Hölle gewagt. Das hatte ich dem Feigling gar nicht zugetraut.“ Ich blinzelte verdutzt. Wie vielen Deppen hatte Griffin denn von seinen Weltherrschaftsplänen erzählt? Offensichtlich einer ganzen Menge, allem Anschein nach hatte der hirnrissige Prahlhans nicht dichthalten können. „Mich nennst du einen Feigling?“ Griffin stand plötzlich neben mir und funkelte den Jungen zornig an. „Und was ist mit dir, Emmerett? Du bist auch kein strahlender Held!“ Mir kam langsam aber sicher der Verdacht, dass Emmerett dieser spezielle Jemand war, von dem Griffin vor unserem Aufbruch zum Bankett noch so hasserfüllt erzählt hatte. „Kannst du denn überhaupt mit einem Teufel umgehen?“, erkundigte sich Emmerett spöttisch. „Du musst dir ja ein ziemlich schwächliches Exemplar ausgesucht haben, dass es dir gehorcht.“ Irgendwie konnte ich sehr gut verstehen, warum Griffin diesen Kerl nicht leiden konnte. Er war hämisch, unfreundlich und hatte jeglichen Sinn für die Realität verloren. „Ganz im Gegenteil, sie ist ziemlich mächtig“, meinte der andere Junge unvermittelt. Während Emmerett diese überaus wichtige Information nur mit einem Schulterzucken abtat, betrachtete ich den anderen Knaben noch etwas genauer. Etwas war falsch an ihm … aber gleichzeitig auch vertraut. Was war das nur? Als der Junge dann aber lächelte, fiel bei mir endlich der Groschen. Schockiert starrte ich den Bengel an, der so unscheinbar wirkte, aber in Wahrheit hinter der harmlosen Fassade bloß seine wahre Natur versteckte – genau wie ich. Aber im Gegensatz zu mir war er kein Höllenbewohner. Oh nein, ganz gewiss nicht. Unsere Welt musste für ihn noch abartiger sein als dieser Ort hier voller Menschen. Denn nach seine Aura zu schließen war er das genau Gegenteil eines Teufels. „Ein Engel!“, zischelte ich wie eine aufgebrachte Schlange. Hasserfüllt musterte ich den Knaben, während dieser eins dieser fürchterlich verständnisvollen und gütigen Engelslächeln aufgesetzt hatte. Diese Viecher mit ihren großen, weißen Flügeln waren uns Teufeln selbstverständlich von Haus aus mehr als nur zuwider. Zwei völlig unterschiedliche Pole, wie Feuer und Wasser. Glücklicherweise war ich in meinem Leben noch nicht sehr vielen Engeln über den Weg gelaufen. Normalerweise mieden wir uns gegenseitig, so gut es ging. Ab und zu hatte es zwar im Laufe der Geschichte Streitigkeiten zwischen unseren beiden Völkern gegeben, aber nie war es zu größeren Eskalationen gekommen. Ein paar Intrigen, ein bisschen Mord und Totschlag, ein wenig vergossenes Blut – mehr war da kaum gelaufen. Der letzte Kampf solcher Art war noch vor meiner Geburt geschlagen waren, mittlerweile lebten wir mehr oder weniger parallel nebeneinander und versuchten, die Existenz des anderen zu ignorieren. Deswegen hatte ich verständlicherweise nur wenig Kontakt zu Engeln gehabt, höchstens durch einige Forschungsteams des Himmels, die wagemutig genug waren, die Eigenheiten der Hölle zu untersuchen, oder Botschafter, die Verhandlungen darüber geführt hatten, ob man sich nun in einen Krieg, eine Pestepidemie etc. der Menschen einmischen sollte oder nicht (wobei die Engel selbstredend den gepeinigten Menschen stets helfen wollten, während die Teufel heiß darauf waren, ein paar Menschen die Köpfe einzuschlagen). Meinem ersten Engel war ich als Kind begegnet, als dieser mich davon abgehalten hatte, einem nervtötenden Kobold Feuer unter dem Hintern zu machen. Er hatte irgendwas von Nächstenliebe und Vergebung gefaselt, während er mich mit diesem charakteristischen Heile-Welt-Lächeln bedacht hatte, das ich sogar bis zum heutigen Tage als schlimmer empfand als das breite Grinsen meines geistesgestörten Vaters. Und nun stand ich wieder einem Engel gegenüber, der mich so furchtbar anlächelte. Aber was machte der Kerl nur hier? War er hergekommen, um Griffins verrücken Eroberungsplan Einhalt zu gebieten? In diesem Fall hätte ich seine Anwesenheit sogar irgendwie begrüßt. „Hallo, wie geht’s?“ Der Engel trat vor und streckte mir freudig strahlend die Hand entgegen, während ich ihn böse anfunkelte. „Mein Name ist Saphiel. Und mit wem habe ich die Ehre?“ Ich knirschte mit den Zähnen und schaute hinüber zu Griffin, der knapp nickte und mir damit die Erlaubnis erteilte, frei zu sprechen. „Rasia“, stellte ich mich widerwillig vor. „Aber ich glaube kaum, dass dir das eine Ehre sein wird.“ „Oh“, meinte Saphiel überrascht, meinen bissigen Kommentar völlig ignorierend. „Du bist tatsächlich Rasia? Hast du nicht die Oberteufel gestürzt?“ Meine Güte, war diese blöde Geschichte etwa bis hoch zum Himmel hinaufgedrungen? Heutzutage konnte man ja auch wirklich nichts mehr für sich behalten! Ich entschied mich, seine Frage einfach geflissentlich zu übergehen. „Was macht eigentlich so ein Engelchen wie du hier in dieser schrecklichen Welt?“, erkundigte ich mich stattdessen. Mit Vergnügen beobachtete ich, wie das nervige Lächeln des Heinis ein wenig von seiner Intensität verlor. „Hat man dir noch nicht Bescheid gesagt?“ Es war Emmerett, der diese Frage stellte. „Also wirklich, Griffin! Das arme Ding weiß noch nicht mal, warum es hier ist!“ Natürlich begriff ich nicht so recht, was er damit andeuten wollte, aber ich verschaffte ihm nicht die Genugtuung, verwundert aus der Wäsche zu schauen. Diesen Spaß gönnte ich der Pissnelke nun gar nicht. Somit behielt ich meine grimmig-tiefsinnige Miene bei und ließ mir meine Verwirrung nicht anmerken. „Zeig’s ihr!“, meinte Emmerett in Richtung Saphiels. Der Engel nickte ergeben, griff an seinen Kragen und zog sein Oberteil ein wenig hinunter, sodass ich das Siegel des Helios auf seiner Brust bestens sehen konnte. Eisern behielt ich meinen unbeteiligten Gesichtsausdruck bei, aber einfach war es diesmal nicht. Nicht nur Dämonen, Teufel und Gnome waren in diese Sache verwickelt, sonder auch Engel? Meine Güte, das war ja richtiggehend pervers! Ich konnte es verstehen, wenn Menschen Youkai und Teufel knechteten, da wir für sie den Inbegriff von Schlechtigkeit und Bösartigkeit darstellten, aber wie bitte schön war es für ein menschliches Wesen moralisch vertretbar, einen Engel zu versklaven? Man musste wirklich schon die Seele eines Teufels besitzen, um sich zu so etwas hinreißen zu lassen. Ich warf einen Blick auf Emmerett. Offenbar hatte er den Engel zu seinem persönlichen Diener gemacht, immerhin hatte er Saphiel eben noch befohlen, sein Siegel der Öffentlichkeit zu präsentieren, und dieser hatte widerspruchslos Folge geleistet. Also war Griffin nicht der einzige, der übernatürliche Kreaturen sammelte wie andere Leute Bücher, Waffen oder die gespaltenen Schädel ihrer Opfer. Mir gefiel diese neue Erkenntnis gar nicht. War etwa das ganze englische Expeditionsteam von diesem Fieber befallen, sich mal eben ein paar Youkai und sonstige Geschöpfe an die Backe zu kleben und sie mit hirnrissigen Befehlen durchs ganze Land zu schicken? War das zum neuen Volkssport geworden? „Du solltest deine Diener schon ein wenig besser informieren, Griffin“, meinte Emmerett spöttisch. „Wir wollen doch schließlich nicht, dass sie unvorbereitet in den Kampf ziehen. Das ist ja auch deinen beiden Dämoninnen zum Verhängnis geworden.“ Ich bemerkte, wie Griffin neben mir zusammenfuhr, als wäre er geschlagen worden. „Akako und Hisa? Du … du hast was mit ihrem Verschwinden zu tun?“ Emmerett zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Sie standen mir nun mal im Weg.“ Nun gut, allmählich nahm das Ganze noch bizarrere Züge an. Nicht nur, dass diese beiden Trottel offenbar das Siegel des Helios ausgesprochen leichtfertig benutzten und damit um sich warfen, als wäre es nur eine Belanglosigkeit, darüber hinaus schienen diese Hirnis noch nicht mal auf derselben Seite zu stehen. Anstatt sich zu unterstützen, befahlen sie ihren Dämonen, sich gegenseitig umzubringen. Das konnte ja noch heiter werden. „Du kannst mich nicht schlagen, sosehr du dich auch anstrengst“, höhnte Emmerett wie ein Kleinkind, dass das größte Stück Fleisch ergattert hatte. „Du wirst immer hinter mir zurückstehen, merk dir das! Japan gehört mir!“ „Moment mal!“ Ich schaute überrascht auf. Hatte ich das gerade richtig verstanden? „Du willst Japan etwa auch erobern?“ Ich konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. „Aber warum denn? Was ist so toll an diesem Land, dass ihr Idioten sogar euer Leben dafür aufs Spiel setzt? Gibt es hier versteckte Goldminen, von denen keiner was weiß?“ Vage hatte ich in Erinnerung, dass die Menschen total auf dieses funkelnde Zeug standen. Wieso genau, wusste ich auch nicht so recht zu beantworten. Im Grunde waren es nicht viel mehr als dumme Steine. „Darum geht es ihnen gar nicht.“ Beth, die sich seit Emmeretts Auftauchen erstaunlich still verhalten hatte, ergriff nun wieder das Wort. Und ihre Stimme klang mehr als bitter. „Wenn es ihnen um Gold, Schätze oder auch nur um Ruhm gehen würde, wäre ich ja noch einigermaßen zufrieden. Aber alles, was sie interessiert, ist diese verdammte Wette!“ Eine Wette? Oh nein, das hörte sich gar nicht gut an. Diese sogenannten Mutproben, bei denen testosterongesteuerte Männer wie die Affenbande vom Dienst ihre Muskeln spielen ließen, endeten immer in furchtbaren Katastrophen. Da brauchte man nur meinen Cousin Alfred den Dreiundvierzigsten zu fragen, der aufgrund von hirnverbrannten Wetten alle seine Extremitäten, sein linkes Ohr, seine Nasenflügel, sein Haupthaar, seine Männlichkeit, seine Frau, seine Steuererklärung und seine extravaganten Gartenzwerge verloren hatte. „Was hat das zu bedeuten?“, hakte ich zischelnd nach. Ich ahnte bereits das Schlimmste, Menschen waren immerhin für ihren grenzenlosen Wahnsinn bekannt. „Wer als erstes Japan erobert hat, gewinnt“, klärte Beth mich auf. „Viel mehr Tiefsinn steckt da nicht hinter. Es ist im Grunde der größte Unsinn, den ich je gehört habe.“ Nun ja, der größte Unsinn war für mich die Wahl Lucifers zum Herrscher der Hölle und die Hochzeit meiner Eltern. Das war einfach durch nichts und niemanden zu toppen. Aber diese hirnverbrannte Wette war zumindest sehr nahe dran. War ich etwa wirklich wegen der Muskelspielerei einiger Halbstarker in diese verrückte Welt geschleppt worden? War ich das Opfer eines überehrgeizigen Knirpses, der es nicht leiden konnte, wenn sein Rivale ein Stück besser war als er? Ich war tatsächlich vom Pech verfolgt. _____________________________________________ [1] Baka = Idiot Wahrscheinlich ist diese Worterklärung für die meisten eh überflüssig, aber ich schreib's doch mal lieber hin, falls jemand wirklich nicht Bescheid wissen sollte ^^ Dann wollte ich mich an dieser Stelle auch nochmal für eure lieben Kommentare bedanken ^.^ Es freut mich, wenn Rasias Höllentrip zu gefallen weiß! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)