Herbst von -Amalthea- ================================================================================ Kapitel 1: Begegnung -------------------- Anmerkungen: Hierbei handelt es sich um die ÜBERSETZUNG einer FF aus dem italienischen von einer Bekannten namens Laura. Erste Veröffentlichtung auf Italienisch auf der Homepage „Laura’s Little Corner“ im Mai 2001 unter http://digilander.libero.it/la2ladyoscar/Fanfics/Laura_chan/autunno.htm Die Fußnoten stammen von Laura, nicht von mir ;-) Es gibt eine Fortsetzung dieser Erzählung, “Un’altra stagione (dopo Autunno)”, die von einer Bekannten namens Alexandra geschrieben worden ist. Ihr findet sie hier: http://digilander.libero.it/la2ladyoscar/Fanfics/Alessandra/Autunno2_1.htm An der Übersetzung ins deutsche arbeite ich noch ;-) Die Autorinnen möchten aber darauf hinweisen, dass es sich dabei nur um eine MÖGLICHE Fortsetzung handelt, denn Laura schreibt zur Zeit an einer eigenen. Zum Inhalt: Girondelle’s Heiratsantrag an Oscar fand im Frühjahr 1787 statt. Die Version von Andrés Verwundung ist die aus dem Manga. „Der Krieg ist vorüber Denn ich habe schon die Vögel zurückkehren sehen, Ich denke vom Meer, oder von einem anderen Ort Aber wichtig ist nur, ich habe sie zurückkehren sehen Der Krieg ist vorüber, Warum kommst du nicht zurück, ich frage dich seit Tagen Und das Meer hier ist so schön...“ Mario CASTELNUOVO, „Der Krieg ist vorüber,“ in Wie Mein Sohn Sein Wird, BGM Ariola, 1991. Wir sind einander begegnet. Ich sah ihn in der Menge. Er hatte sich nicht verändert... Gott, hatte er mir gefehlt! Sie begegneten einander. Er ging durch die Menge. Allein. Mit langsamen, aber gemessenen Schritten. Er war daran gewöhnt, durch diese ihm inzwischen vertrauten Straßen zu gehen. Ein warmer Hauch holte ihn ein, etwas, das er jahrelang nicht gespürt hatte. Und er nahm eine Anwesenheit wahr, die lange von ihm fern gewesen war. Er blieb stehen, als hätte ihn etwas getroffen, seine Haltung war gerade, die Sinne wach. Sie war da. Sie stand vor ihm. Auch sie rührte sich nicht. Sie hatte sich von der Menge treiben lassen. Ihr Gang war fast fieberhaft. Sie hatte sich nie an den Trubel gewöhnt, an die Energie, die so viele Menschen auslösen, wenn sie sich bewegen. Und auf den Straßen von Paris war viel mehr Bewegung, seit jenem Juli. Er stand vor ihr, ganz plötzlich. Aber sie hatte schon seine so vertraute Wärme wahrgenommen. Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Er hatte sich nicht verändert. Ihr Herzschlag setzte aus. Sie war sicher, dass er sie wiedererkannt hatte. Auf irgendeine Weise. „André!“ Oscar schlang die Arme um ihn, überrascht über sich selbst, glücklich, ihre Stimme war warm. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, sich zurückzuhalten, ganz im Gegensatz zu sonst. Die letzten Jahre hatten sie sehr verändert. Fast überrascht von dieser Geste, hielt er still. Lächelte. „Hallo, Oscar...“ Er hatte ein fernes, stilles Lächeln. Es fühlte sich an, als würde ihn ein ganzes Leben von ihr trennen. Und die Gefühle, lange unterdrückt, mühevoll gedämpft, kamen nur zögernd wieder. Fast fand sie sie nicht. Er hatte instinktiv die Arme zu ihrem Gesicht ausgestreckt, um ihre Gesichtszüge zu berühren, aber dann innegehalten. Ihm war bewusst geworden, dass sie diese Art von Geste nicht gewohnt war und sie falsch verstehen konnte. Er konnte nicht einfach die Mauer durchbrechen, die Oscar zwischen ihnen errichtet hatte. Oscar nahm sein Zögern war, aber sie war zu froh darüber, ihn wieder zu sehen. Sie hielt ihn an den Armen: „Also, wie geht es dir?“ „Gut...“ antwortete er langsam. Es war kein ganzes Leben, das sie voneinander trennte. Es war die Traurigkeit. Die bittere Traurigkeit seines fernen, verlorenen Blicks, seiner ruhigen Stimme. „Und du? Wie geht es dir bei der Nationalgarde?“ Er sprach nicht über sie, bemerkte Oscar. Aber er hatte offenbar von ihr gehört. „Ich...“ Sie machte eine Pause. Unzählige Worte stiegen an ihre Lippen. Sie hätte ihm so viel sagen wollen, ihm erzählen wollen, was mit ihr in all den Jahren geschehen war. Statt dessen sagte sie knapp: „Ich bin ernüchtert. Wie immer...“ scherzte sie. „Das weißt du doch, oder?“ „Ja...“ Er lächelte, endlich, sanft. „General... wie dein Vater wünschte, oder?“ warf er hin, ein wenig provozierend. „Schon...“ schüttelte sie den Kopf. „Aber er stellte sich nicht vor... auf der... falschen Seite...“ scherzte sie, erleichtert über seinen Tonfall, der den alten André zu erkennen gab. André wollte ihr antworten „Ich dagegen war mir völlig sicher...“ aber er schwieg. So, wie er es auch während der letzten Jahre getan hatte. Weil er wusste, dass man Gelegenheiten ergreifen muss. Aber er wusste auch, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte, Jahre zuvor. Und diese Entscheidung wollte er respektieren. Am Anfang hatte er es kaum glauben können. Er konnte nicht glauben, dass sie ihn liebte. Und er hatte nie begriffen, warum sie es getan hatte. Sie hatte es ihm selbst gesagt, eines abends - es war der Sommer des Jahres 1787 -, indem sie sich ihm anvertraute wie einem alten Freund. Oder besser, wie mit jemandem, der so sehr zu dir und zu deinem Leben gehört, dass du ihn als selbstverständlich annimmst... Das war es, was er für sie war. Etwas Festes und Unveränderliches, mit Sicherheit. Nicht ein Mann. Nicht einmal, nachdem er ihr seine Liebe gestanden hatte. Und doch fürchtete Oscar ihn, das fühlte, das wusste er. Aber sie hatte seine Liebe nicht sehen wollen. Sie wusste, dass sie ihn mochte. Aber sie ging davon aus, dass das etwas völlig anderes wäre. „Ich habe Girondelle’s Heiratsantrag angenommen...“ In ihrer Stimme war ein nervöser Unterton mitgeschwungen, während sie in den Besitzungen ihres Vaters im Park spazieren gingen. Sie schien fast traurig. Und André war bis zu diesem Augenblick beinahe glücklich gewesen. Er war zusammengeschreckt, wortwörtlich eingefroren bei dieser Nachricht, und er hatte nichts dazu gesagt. Girondelle’s Antrag lag seit einiger Zeit in der Luft. Er war angehalten worden und dann doch zum Ziel gekommen. André wusste nicht, warum und wie er es geschafft hatte, sich weiter zu bewegen. Zu handeln. So zu tun, als hätte sich nichts geändert. Äußerlich betrachtet. In seinem Kopf dagegen war alles starr geworden. Und wenn er jetzt daran dachte, Jahre danach, war sein Herz immer noch dort, an jenem Abend. André wusste nicht einmal, warum sie diesen Antrag angenommen hatte. Oscar hatte fast nie darüber gesprochen. Und er glaubte nicht, dass sie in ihn verliebt war. Nicht einmal, dass sie ihn mochte. Er sah nur eine Oscar, die er nicht verstehen konnte, vielleicht eine müde Oscar. Wieder einmal dem Willen ihres Vaters gebeugt. Dieses Mal verstand er sie nicht. Er wusste nur, dass er an jenem Abend Oscars Sätze nur fetzenweise wahrnahm, eingetaucht in einem zunehmenden Rauschen, das ihn betäubte... Er hörte seine eigene Stimme, die ihr antwortete, ihren dumpfen Klang und sein Herz, das zu Stein wurde, erschwert vom Schmerz. Von diesem Abend hatte er noch das betäubende Rauschen der Blätter im Garten in Erinnerung; das fast heftige Wehen dieses Windes, der vorher sanft gewesen war. Er erinnerte sich an Oscars Stimme, die ihm in den Ohren widerhallte. Aber an den Klang seiner eigenen Stimme konnte er sich nicht erinnern. Auch jetzt hatte er noch den Eindruck, dass diese zitterte, dass die Worte nicht herauswollten. Vielleicht hatte er auch nichts gesagt. Nein, er wusste, dass er ihr geantwortet hatte… er wusste nicht einmal wie… Vielleicht war es dann er selbst gewesen, der sich hatte einreden wollen, dass Oscars Entscheidung keine selbständige gewesen war. Sie hatte sie zusammen spazieren gehen sehen, nahe beieinander. Sie sahen gut zusammen aus, und Girondelle schien Oscar sehr zu achten. Und dieses einzige Mal hatte Oscar ihm gesagt, dass sie sich bei Victor wohl fühlte. Und ihm, der sich geschworen hatte, sie zu beschützen, war nichts geblieben, als ihre Entscheidung schweigend zu akzeptieren, seinen Vorsatz stumm weiterzuführen. Und zu hoffen, dass wenigstens alles weitergehen könnte wie zuvor. Aber er würde nicht fortgehen, auch wenn er sich fragte warum, auch wenn er am liebsten alles vergessen, das Herz zum Schweigen gebracht und das zu klare Hirn vernebelt hätte. Nicht er. Er wollte ihr folgen, so lange er konnte... Und alles schien unverändert. Außer, dass Oscar nicht mehr mit ihm zusammen nach Hause kommen würde. Sie würden ihre Abende nicht mehr gemeinsam verbringen. Sie würden nicht mehr zusammen trinken. Nein, es war nicht nur das. Oscar, war es wirklich möglich, dass sie Girondelle heiratete? „Gott, lass mich den Verstand verlieren!“ „Lass mich alles vergessen!“ Sie würde einem anderen gehören... Er versuchte, sich kühl darüber klar zu werden, während Oscar sich von ihm verabschiedete. Vielleicht würden sich die Dinge nicht sehr ändern... Er bildete sich ein, sich an einem Bild festhalten zu können, das im Schwinden begriffen war. Aber er wusste, nachdem diese erste Phase durch Festhalten an jener Hoffnung überwunden war, dass er die Wahrheit würde akzeptieren müssen. Er nannte sich selbst einen Verrückten, während er angespannt jedem ihrer Worte lauschte - es waren die letzten, die sie so frei tauschten. Oder besser… die letzten, bevor Oscar endgültig einem anderen gehören würde. Denn im Grunde genommen war Oscar bis zu diesem Zeitpunkt seine Oscar gewesen. Ihres war ein Leben zu zweit gewesen. Er litt. Er litt unsäglich. Auch wenn sie ihn noch als Freund akzeptierte, es wäre nie mehr das gleiche gewesen. Er konnte sich auch einreden, um den Schock zu überwinden... aber er wusste... Oder vielleicht... vielleicht… Und auch Oscar spürte an diesem Abend, dass es ein Abschied war. Auch wenn André keinerlei Forderungen an sie gestellt hatte. Und sie konnte den Gedanken nicht unterdrücken, dass es schön gewesen wäre, wenn sich die Dinge nie geändert hätten. Aber sie waren dabei, sich zu ändern. Und wer ihnen eine neue Richtung vorgab, mehr als alle anderen, war sie selbst. Es gibt Dinge, die nicht nur schwer zu ändern sind, sondern auch, wenn man auf bestimmte Art erzogen wurde, sogar undenkbar sind. Undenkbar. So war es für Oscar. Es war undenkbar für sie, ernst über André nachzudenken, es war absurd, sich auch nur vorzustellen, dass er sich in sie verlieben könnte. Es konnte nicht sein. Das war nicht der natürliche Lauf der Dinge. So war es für Oscar nicht schwierig gewesen, alle Zweifel beiseite zu räumen… Und es war auch nicht unnatürlich gewesen, sich jemanden an ihrer Seite vorzustellen, der von gleichem Rang war. Victor. So war es dann. Und so war es geschehen. Aber die Dinge waren nicht mehr die selben. Oscar hatte immer weniger Zeit für ihn gehabt, auch als Freund. Sie selbst hätte ihn gern weiter getroffen, aber die Dinge hatten ihren Lauf genommen. In einem war Oscar aber standhaft gewesen: nach der Eheschließung hatte sie nichts davon hören wollen, die Soldaten der Garde zu verlassen. André hätte nicht sagen können, ob es schmerzvoller war, sie nicht mehr zu sehen oder zu wissen, dass sie jetzt einem anderen gehörte. Und nach und nach hatte er sich immer mehr in sich selbst verschlossen. Mit Oscar sprach er immer weniger... Auch wenn sie ihn bei jeder Gelegenheit an ihrer Seite haben wollte. Auch wenn sie wollte, dass er an allem teilnahm, so wie als ihr Assistent bei der Königlichen Garde. Sie wollte ihn immer bei sich wissen. Sie wusste, dass auf ihn Verlass war. Er fehlte ihr, seine Wärme, seine Fröhlichkeit. Aber sie verstand nicht. Wollte nicht verstehen. Konnte nicht akzeptieren. Und verbarg vor sich selbst den Grund, aus dem sie sich nicht von ihm entfernen konnte. Der Grund, warum allein sein Anblick sie wärmte, sie beruhigte. Und er konnte nicht umhin, zu denken, wie alles ganz falsch verlaufen war... Wie Girondelle nur eine weitere von Oscars ungezählten Fluchten war. Ihre Hinnahme des väterlichen Willens, der vorgeschriebenen Gebräuche, dessen, was sich gehörte. „Der Mob… der Mob… sie werden uns in Stücke reißen…“ „Gott! Oscar, Oscar!!!“ „Wo bist du!“ „Wo bist du?“ Andrés zusammenhanglose Gedanken, während er ohnmächtig in der Kutsche lag, die sie zurück nach Hause brachte… Oscar betrachtete ihn, immer noch durcheinander, während sie seine Schulter abstützte und sein Haar streichelte. Er hatte nichts davon mitbekommen… davon, was sie in Gegenwart von Graf von Fersen geschrieen hatte. Oscar schloss die Augen, sie war müde. Müde. Dies war ihre Entschuldigung gewesen bisher, um ihren Gedanken nicht begegnen zu müssen. Gleich darauf riss sie die Augen verwundert wieder auf. Sie wollte ihn jeden Augenblick ansehen, nicht eine Sekunde verlieren. Sie nannte sich selbst eine sentimentale Idiotin. Sie musste sich davon überzeugen, dass ihr diese Worte aus der Situation entschlüpft waren, aus der Angst, ihn zu verlieren. Dass sie ihn liebte, aber wie einen Bruder. Davon musste sie sich unbedingt überzeugen. Und doch, während sie die Wärme und das Gewicht seines Körpers neben ihrem spürte, während sie mit den Fingerspitzen seine Wange berührte, während sie erstaunt die Berührung seines Haars auf ihrer Haut wahrnahm, die Neigung seines Kopfes, der fast ihr Gesicht berührte, seinen Atem, der kaum wahrnehmbar war; während sie sich überlegte, dass sie vor ihrer Verheiratung nie gewagt hätte, ihn so zu berühren, während es ihr jetzt natürlich vorkam; während ihr all das den Atem verschlug, das Herz zum Rasen und ihre Wangen zum Glühen brachte; während sie diese brennenden Gefühle verglich mit den kühlen Empfindungen, die sie bei ihrem Gatten suchte - man konnte nicht einmal sagen, dass sie sie empfand - zwang sie sich dazu, die Situation kühl zu betrachten. Und so wollte sie ihren eigenen Worten kein Gewicht beimessen. Beurteilte sie als Ergebnisse eines Impulses, geboren aus der Angst, die sie in dem Moment empfunden hatte. Dem Gefühl gegenüber blieb sie taub. Es konnte nicht sein. Es war nicht richtig. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, André zu lieben. Und doch trug sie Sorge, über sein Befinden Nachrichten zu bekommen. Es war vor der Nationalversammlung, als sie sich ihrem Gatten gegenüber fand. Auch wenn sie ihn vor ihren Forderungen zurückweichen sah, gewann dieser Zusammenstoß in ihren Gedanken allmählich eine neue Bedeutung, und vor allem eine immer tiefere, immer mehr in Zusammenhang mit einem Abstand, den Victor nie wahrgenommen hatte, während er für Oscar von Anfang an ein Abgrund gewesen war, den sie hartnäckig geleugnet hatte. Der Abgrund, der sie von einem Mann trennte, der zwar freundlich war, aber zu weit entfernt von ihr. Warmherzig, aber ihr im Grunde genommen fremd. Klug, aber auf unpersönliche Weise durchschnittlich. Und für Oscar endete dieser Abgrund in einem Gefühl grenzenloser Einsamkeit, in dem glasklaren Bewusstsein all der Unzufriedenheit, der Unrichtigkeit, der nicht erwiderten - nie erwiderten! - Gefühle. Und es ging dabei nicht nur um Liebe: es ging um die Einsamkeit, die man empfindet, wenn man mit jemandem lebt, der nicht die gleichen Leidenschaften teilt, die gleichen Interessen, die gleichen Ideale. Mehr noch, der sie nicht nur nicht teilt, sondern sie auch gar nicht in Betracht zieht, nicht die mindeste Achtung davor hat. Gott, das war es gewesen! Und sie wusste es. Sie wusste es genau. Nur hatte sie es nicht zugeben wollen. Sie, deren Seele immer so voller Feuer gewesen war, obwohl sie kühl erschien, sah jetzt in diesem Widerspruch alles, was sie von ihm gewollte hätte und was er nie gewesen war. Und dieser stetig fallende Regen schien ihr eigenes Weinen zu sein, still und voller Trauer. Weil sie alles sehen musste, was nie hätte sein dürfen. Und doch war es, schmerzvoll, so. Es war der Beginn von etwas Unaufhaltsamem, etwas, wovon sich Oscar allmählich bewusst wurde, was sie nur langsam akzeptieren konnte. Aber die Dinge hatten ihren Lauf genommen und die Figuren waren auf dem Schachbrett bewegt worden. Sie konnte die Klärung noch aufschieben. Mit Victor genauso wie mit André. Und sie tat es, vor allem mit André. Mit Victor war es alles in allem einfacher, nach der Kränkung, die sie ihm zugefügt hatte. Aber es war Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen… Sie beschlossen, vor allem aufgrund von Oscars Entscheidung, sich vorläufig zu trennen, in Erwartung einer endgültigen Entscheidung. Die Oscar am 12. Juli traf, als sie, nach einem Arztbesuch, ihrem Gatten einige wenige Zeilen schrieb, Abschiedszeilen, freundlich und gleichzeitig traurig. Begangene Fehler muss man verbüßen. In den Tagen der Bastille waren Oscar und André einander wieder näher gekommen. Danach hatten sie sich aus den Augen verloren, er war verletzt, sie schwer krank. André war zurück zum Palais Jarjayes gebracht worden, Oscar war in ihrem neuen Haus, getrennt von ihrem Gatten. Die Nacht von Andrés Verwundung war auch die letzte gewesen, in der sie einander nahe gewesen waren. „Bleib am Leben, André! Stirb nicht!,“ flehte sie ihn an, während sie ihm gemeinsam mit Alain zu Hilfe eilte. „Wir müssen einen Arzt finden!“ Sie waren zum Platz der Tuilieries aufgebrochen, und Oscar war verzweifelt. Sie weinte, während sie im Galopp dahinraste. „Nein! André, nein! Ich will dich nicht verlieren! Ich will dich nicht verlieren! Ich will dich nicht verlieren...“ Eine besessene Litanei hämmerte in ihrem Kopf, hinderte sie daran, zu denken. „Sie müssen ihn retten!!!“ hatte sie den Arzt angeschrieen, der André untersuchte, während Alain sie zurückhielt. Sie war neben ihm auf die Knie gesunken. „Wie fühlst du dich?“ Sie hatte seine Hand ergriffen. „Hast du große Schmerzen?“ „Oscar...“ André atmete schwer. Er hatte keine Kraft mehr. „André, verlass mich nicht! Lass mich nicht allein...“ Oscar weinte, ihre Stimme brach, während ihr Gesicht neben dem von André war. Er hatte die Hand gehoben, um ihr Gesicht zu berühren. Dieses Gesicht, das er berühren, das Haar, das er streicheln wollte. Sein Atem ging keuchend. Da hatte Oscar es verstanden. Verstanden, was er vor ihr verborgen hatte. Sie hatte seine Hand gehalten, sie an ihr Gesicht gelegt. Sie weiter gehalten, während die Ärzte sich um ihn bemühten. Die ganze Zeit war sie bei ihm geblieben, hatte bei ihm gewacht, zusammen mit Alain. Verzweifelt. André war kurz vor der Operation bewusstlos geworden. Sie hatten sich angestrengt, die Kugeln aus seinem Körper zu entfernen, und jetzt lag er verbunden im schwachen Licht einer Kerze. Oscar hielt immer noch seine Hand. Und als sie ihn zum Palais Jarjayes brachten, war sie bei ihm, aber nur für kurze Zeit. Sie konnte nicht unter diesem Dach bleiben, eine Tochter, die in Trennung lebte und an der Revolution teilgenommen hatte. Sie hatte ihn begleitet, seine Hand in ihrer gehalten. Sie hatte ihn angesehen, während sich die Ärzte um ihn kümmerten. Sie hatte ihn der Pflege der Großmutter anvertraut und war dann wieder davongeritten, unter dem strömenden Regen, das Bild von André vor Augen, wie er unbeweglich auf dem Bett lag, [1] bewusstlos. Und sie? Was hätte sie tun sollen? Sie war nach Hause zurückgekehrt, um ihre Sachen zu packen, um endgültig fortzugehen. Und danach… danach… Oscar war sehr krank gewesen. Sie hatte sich pflegen lassen müssen. Und Victor, vernünftig wie immer, hatte alles getan, damit sie bei ihm blieb, zumindest bis sie sich erholt hatte. Und auch André hatte nichts mehr von ihr gehört. Wie seltsam, sich an den Gedanken zu gewöhnen, sich von dem Menschen, den man liebt, endgültig zu entfernen... Und doch war es geschehen. „Warum?,“ fragte Oscar sich. „Er war doch mein bester Freund...“ „Nein... es nützt nichts, sich etwas vorzumachen,“ lächelte sie. „Sinnlos, nach jener Nacht. Und unmöglich...“ Sie dachte wieder an das, was geschehen war. Kaum war sie genesen, hatte sie sich von Victor getrennt. Sie hatte begriffen, dass es ein Fehler gewesen war, und hatte ihn endlich verlassen. Weil inzwischen ein unüberwindlicher Abgrund zwischen ihren Denkweisen war, ihren Ansichten, den Seiten, für die sie sich entschieden hatten. Und weil sie ihn nicht liebte. Es gab nichts mehr, das sie teilen konnte, nichts gemeinsames. Es gab keine großen Szenen. Er wusste, dass er sie nie besitzen würde. Er hatte diese kurze Ehe gelebt wie eine Ausnahmezeit. Etwas, das sich nicht wiederholen würde. Außerhalb der Normalität. Sie verließ ihr gemeinsames Haus, sein Haus. Er blieb in seinem Büro eingeschlossen, während sie fortging. Sie kehrte nicht zum Palais Jarjayes zurück. Das konnte sie nicht. Und sie wollte auch nicht, dass wieder irgend jemand Rechte forderte und Ansprüche an sie stellte. Auch wollte sie sich nicht die Vorhaltungen ihres Vaters anhören, weil sie die Krone verraten hatte. Sie war frei. „Warum habe ich so ein Herzklopfen?“ Sie wusste es nicht. Oder besser, sie fand keine Antwort darauf. Sie hatte aus der Entfernung Nachricht über ihn erhalten, vage und bruchstückhaft, nach ihrer Verheiratung. Nach der Bastille hatte sie nach Informationen gesucht. Aber er war wie in Luft aufgelöst. Man hatte ihr bestätigt, dass er blind geworden war. Und hatte damit weitergemacht, ihn nicht zu vergessen, an ihn zu denken... aber sie hatte nicht gedacht, ihn je geliebt zu haben. Sie hatte nie daran gedacht, dass sie ihn geliebt haben könnte. Aber woher kam dann diese Aufregung? Und wie hatte er in diesen Jahren gelebt? Was hatte er getan? Um sie herum gingen die Menschenmassen weiter. Gleichgültig ihnen gegenüber. Nur mit sich selbst beschäftigt. Oscar sah die Menschen vorübergehen, André hörte ihre Schritte, fühlte sie um sich herumfließen. „Wie…“ Sie brachte die Worte nicht heraus. Oscar fühlte sich unglaublich dumm. Unfähig. „Ich…“ Ja… sie hätte ihm sagen wollen, dass sie jetzt frei war. Aber danach? Was für ein Recht hatte sie? Was ließ sie denken, dass er in all diesen Jahren auf sie gewartet hätte? „Oh Gott, warum? Warum kann ich nie sagen, was ich denke, was ich wirklich möchte?“ In Oscars Kopf war ein heilloses Durcheinander. „Möchtest du etwas bei mir trinken?“ kam er ihr zuvor. Oscar errötete. Feige sagte sie sich, ein Glück, dass er mich nicht sehen kann. „Natürlich…“ Ihre Stimme zitterte, verriet ihre Aufregung. Sie fühlte, wie Andrés Hand ihren Arm ergriff. Sie zuckte zusammen, und André spürte es. Dann nannte sich Oscar wieder einen Dummkopf, weil sie diese Geste als ein Zeichen von Freundschaft gewertet hatte, diese Geste, die für einen Blinden alltäglich sein musste. Blind… ihr Herz zog sich zusammen. Sie wusste, dass er sie nicht sehen konnte, fand aber nicht den Mut, ihm ins Gesicht zu sehen. Als ob er das merken könnte… „Habe ich mich sehr verändert?“ Wieder kam er ihr zuvor, überraschenderweise. „Nein…“ Oscar wunderte sich. Als ob er ihre Gedanken lesen könnte. „Ach Gott,“ dann lächelte sie. „Lass mich einmal sehen…“ Und so zwang sie sich, ihm ins Gesicht zu sehen. Es war seltsam, in seine Augen zu blicken, während diese in die Ferne zu sehen schienen. Und traurig kamen sie ihr auch vor. „Also?,“ hakte er nach. „Nein... du hast dich nicht verändert…“ „Nein, ich glaube auch nicht…,“ erwog er. Dann sofort, als wollte er diese Worte übermalen: „Und du?“ Oscar hatte mit dieser Frage gerechnet. Und sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Nicht einmal, wo sie anfangen sollte. Es war nicht einfach. Auch wenn sie irgendwie dazu verpflichtet war. Und so erzählte sie ihm von jenen Jahren, ihrem neuen Leben, ihrer Einsamkeit und ihrer Freiheit. Sie sah, wie er jeden ihrer gemeinsamen Augenblicke zu kosten schien, mit der Aufmerksamkeit, die man einer kostbaren und unwiederbringlichen Sache widmet. Sie sah, wie sich sein Gesicht erleuchtete. Sie hörte auch ihm zu, während sie sich von ihm durch die Straßen führen ließ, während sie die im Dunkeln liegenden Steinstufen eines hohen und schmalen Gebäudes hinaufstiegen. So erfuhr sie, dass er als Erzieher arbeitete [2] und nahe der Wohnung von Rosalie und Bernard lebte. [3] Auch dass er, ohne ihr Wissen, den Kontakt mit Alain aufrecht erhalten hatte, der bis heute zu ihren Männern gehörte. Sie wunderte sich, wie man manchmal die einfachsten, selbstverständlichsten Dinge nicht wahrnehmen will. Die, über die zu sprechen am schwierigsten ist. [4] Sie betrachtete die beiden Zimmer, die André bewohnte, in einer Dachwohnung mit sichtbaren Holzbalken, deren Stufen für ihn nicht leicht zu erklimmen sein mussten, trank alles durstig in sich ein, wie einen Schatz. Sie folgte jeder seiner kleinsten Bewegungen, während er ihr einen Tee zubereitete, sich vor sie setzte und ihr die dampfende Tasse reichte. „Wie machst du das denn mit dem… Unterricht?“ „Rosalie hilft mir…“ er lächelte, „bei den schriftlichen Sachen.“ Oscar schaute sich um. Ja, es waren Bücher da… sehr viele sogar. „Wusstest du, dass sie und Bernard einen kleinen Sohn haben? Er heißt François…“ Und die Zeit folg dahin, während sich ihre Worte langsam wieder umeinander wanden. Während ihrer beiden Leben sich wieder berührten, für einen kurzen Augenblick, fast mit Schüchternheit. Dann wurde es dunkel. Und über beide brach die Verlegenheit herein. Zeit zu gehen. Oscar fand es merkwürdig, nicht erwähnen zu wollen, dass sie dankbar wäre für eine Kerze, auch wenn das Zimmer und die Dächer noch von der untergehenden Sonne erleuchtet waren. Sie wollte nicht danach fragen, aber am Ende konnte sie nicht umhin, auf dem Tisch danach zu suchen, sie anzünden zu wollen. André bemerkte es und konnte nicht verhindern, zur Realität zurückzukehren. Und der Zauber zerbrach. Ihr Gespräch fand ein Ende. Verlegenheit überfiel sie wieder. Und all die vergangenen Jahre, die Entfremdung, wurden wieder spürbar. „Ich sollte besser gehen.“ Oscar stand auf. André stand ebenfalls auf. „Die Zeit…,“ fing Oscar an, während ihre Augen verräterisch feucht wurden, „ist… schnell vergangen.“ Ihre Stimme zitterte. Sie fühlte sich wie eine Idiotin. Warum? Warum muss man nur immer so tun als ob? Aber andererseits wusste sie auch selbst nicht genau, was sie wollte… Sie fühlte, als ob etwas riesengroßes, unendlich trauriges und dunkles sie umhüllen würde, während sie diesen Augenblicken ein Ende bereitete. Wenn André sie doch nur aufhalten würde. Ja, aber was dann? Was würde sie dann tun? Würde ihre genauestens abgestimmte Verhaltensstrategie sie nicht dazu zwingen, trotzdem zu gehen, jedes Hindernis abzuweisen, das sich ihr dazu in den Weg stellte? Was für eine Situation… traurig… Ja, die einzige Art, sie zu beschreiben, war vielleicht „traurig“. „Oscar…“ begann André, während er schon ihre Schritte hörte. Oscar drehte sich zu ihm um. Sie stand bereits im Türrahmen. Sie richtete sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange, während sie ihm mit der Hand durchs Haar strich. „Adieu,“ sagte sie leise zu ihm, während er kaum ihre Hand berühren konnte, die sich seiner schon entzog. Oscar rannte die Stufen fast hinunter, kämpfte mit den Tränen, während André in der Tür stehen blieb, unbeweglich, still. Sie kam unten an. Öffnete das Tor. Sie schloss es schnell wieder, lief wieder die Treppe hinauf. Er stand noch in der Tür. „Kann ich…“ Ihr Atem ging schwer. Ihre Stimme bebte. Tränen standen ihr in den Augen. Unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf. „Kann ich bei dir bleiben?“ [1] Noch ein Zitat von Migliavacca, „Il romanzo di Lady Oscar,“ Mailand, Fabbri, 1982, Seite 144. [2] Ich bedanke mich noch einmal bei Daniela, die mir vor gut einem Jahr diese Idee von André als Erzieher gegeben und mit mir geteilt hat... und einen Gedanken für Fiammetta... ^-^ Sie weiß schon, warum... [3] Dank an Elena, von der ich die Idee für diese Unterbringung übernommen habe... ^-^;;; [4] Und ein Gedanke für Alexandra, die mich mit den Liedern von Gabriel Yacoub bekannt gemacht hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)