Time is falling von Chimi-mimi (One-Shots) ================================================================================ Kapitel 3: III - Free like a butterfly -------------------------------------- Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Den letzten Tag, den ich mit ihr verbringen durfte. Es war einen von vielen Tagen, an denen ich sie in ihrem sonnengelben Krankenhauszimmer besuchte. Jedes Mal hatte sie mich mit ihrem strahlenden Lächeln begrüßt und doch wusste sie, im Gegensatz zu mir, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. „Da bist du ja endlich…“, erklang ihre glockenhelle Stimme vorwurfsvoll. „Tut mir Leid, aber die Lehrerin hat mal wieder länger gemacht“, erwiderte ich geknickt, „Aber ich hab hier etwas für dich. Das hat die ganze Klasse für dich gemalt!“ Stolz gab ich meiner ältesten Freundin die vielen selbstgemalten Gute-Besserungs-Karten. Sie betrachtete jede einzelne Zeichnung intensiv und in ihren Gedanken versunken, dann lächelte sie mich wieder fröhlich an. „Die sind wunderschön! Sag allen vielen Dank von mir… Aber deine gefällt mir am Besten!“ Angesichts dieses Lobes wurde ich rot, denn ich hatte mir auch besonders viele Mühe gegeben. Ich hatte sie und mich auf einem riesigen wunderschönen Blumenfeld gemalt. Um uns herum schwebten hunderte von Schmetterlingen. Irgendwann, wenn sie wieder gesund war, daran glaubte ich damals noch, wollte ich mit ihr auf einer so großen Wiese rumtanzen und Blumen pflücken. Sie hob die Karte hoch, betrachtete sie genau und bekam diesen traurigen, so erwachsenen Blick, der mir immer Angst machte. In diesen Momenten sah sie nicht aus wie neun, sondern wie eine alte Frau. „Alles in Ordnung?“, fragte ich zögerlich in diese nachdenkliche Stille hinein. Langsam sah sie zu mir aus, dann lachte sie wieder dieses glockenhelle Lachen, das ich so liebte. „Natürlich“, erwiderte sie immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen, „Aber ich habe einen Wunsch.“ Neugierig zog ich den Besucherstuhl näher an ihr Bett und setzte mich zu ihr. Dann wartete ich darauf, dass sie endlich weiter sprach. „Ich möchte auf so eine Wiese gehen!“ Eifrig nickte ich, immerhin wollte ich das auch mit ihr zusammen machen: „Wenn du endlich wieder ganz gesund bist, gehen wir als erstes auf die große Blumenwiese hinter dem Krankenhaus! Die, von der ich dir so oft erzählt habe.“ Doch sie schüttelte heftig den Kopf und sah mich mit ihren großen Augen an: „Nein.“ Verblüfft erwiderte ich den Blick, damals verstand ich sie natürlich noch nicht, wusste nicht, was sie schon ahnte. Ihre Zeit war knapp. „Wir können auch auf eine andere Wiese gehen. Vielleicht die hinter dem alten, verwunschenen Haus?“, versuchte ich es weiter, ich dachte wirklich, sie wollte einfach nur nicht mehr zum Krankenhaus gehen. „Nein“, widersprach sie mir wieder leise, „Ich möchte heute raus gehen. Es ist so schönes Wetter, ich möchte heute auf die Wiese gehen und den Schmetterlingen zuschauen.“ Unsicher sah ich mich in ihrem Zimmer um. Da stand zwar ein Rollstuhl, aber durfte sie überhaupt raus? Fragend sah ich sie an, wusste nicht, was ich machen sollte. „Bitte!“, flehte sie mich an, „Ich möchte doch nur mal raus hier.“ „Aber… Aber darfst du das überhaupt?“, traute ich mich schließlich doch nervös nachzufragen. „Ja! Gestern war ich auch kurz draußen, aber nur in diesem langweiligen Park, wo die ganzen alten Leute sitzen. Ich möchte aber auf die Wiese…“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte und war dementsprechend froh, dass eine der fröhlichen Krankenschwestern hereinkam. „Oh hallo, hast du wieder Besuch?“, mit diesen Worten lächelte sie uns beide an. „Ja und wir wollten so gerne ein bisschen rausgehen! Es ist doch so schönes Wetter!“, traurig sah meine Freundin zu der Pflegerin hoch, „Dürfen wir?“ „Natürlich. Aber du musst mir zwei Sachen versprechen: Erstens, du bleibst im Rollstuhl sitzen und Zweitens, du kommst zurück, sobald es dir zu viel wird.“, ernst sah die Schwester zu uns beiden und wir nickten brav. Dann holte sie den Rollstuhl und half meiner Freundin reinzusitzen. „Pass gut auf sie auf, Großer“, zwinkerte sie mir zu und öffnete mir die Tür. Dankbar nickend schob ich den Rollstuhl vor mir her, in Richtung Aufzug. Wir schwiegen beide, ich, weil ich mir immer noch Sorgen machte, sie vor lauter Vorfreude. Es dauerte eine Weile, doch dann waren wir da. An der großen bunten Wiese. Auf dem gesamten Weg dorthin hatten wir kein Wort gesagt, doch jetzt durchbrach sie das Schweigen: „Wie wunderschön!“ Irgendwie war ich damals ziemlich stolz, ich verstand selbst nicht genau, warum eigentlich. Vielleicht, weil ich sie an diesen Ort gebracht hatte, vielleicht, weil sie diesen Moment mit mir teilte. Aber ich war stolz. „Ja, das finde ich auch!“ „Sind das… sind das etwa wirklich Schmetterlinge?“, aufgeregt deutete sie auf eine Stelle, an der viele bunte Falter tanzten. „Ja, du hast recht“, vorsichtig schob ich sie ein Stück näher, dass sie sie besser sehen konnte. „Sie tanzen…“, wenn ich heute so darüber nachdenke, klang sie sehnsüchtig und ein wenig neidisch, als sie das feststellte, „Und sie sind frei. Die Schmetterlinge können hinfliegen, wo sie wollen. Sie sind nicht an einen Rollstuhl oder das Krankenhaus und Medikamente gebunden.“ In diesem Moment, wusste ich nicht, was ich erwidern sollte. Ich war erst zehn Jahre. Heute würde mir mehr einfallen, aber damals war ich noch ein Kind. Darum schwieg ich und hörte ihr nur zu. „Weißt du…“, sie drehte sich zu mir um, „Ich habe mal gelesen, dass die Seelen der Verstorbenen zu Schmetterlingen werden. Ist das nicht schön? Selbst wenn ich sterbe, verschwinde ich nicht von der Erde, sondern komme als bunter Schmetterling zurück!“ Wieder sah sie mich mit diesen traurigen, erwachsenen Augen an und doch lächelte sie entspannt. „Danke…“, flüsterte sie leise, „Danke, dass du mich hierher gebracht hast. Das war das schönste Geschenk, das mir ein Mensch noch machen konnte.“ An diesem Tag brachte ich sie nur noch zurück in ihr Zimmer und ging dann nach Hause. Als ich am nächsten Tag wiederkam, durfte ich sie nicht besuchen. Sie lag auf der Intensivstation. Eine Woche später war ihre Beerdigung. Jetzt bin ich fast dreißig Jahre alt, bin glücklich verheiratet und habe ein kleines Kind, aber ihre Geschichte ist mir nie aus dem Sinn gekommen. Jedes Mal, wenn ich einen Schmetterling sehe, frage ich mich, ob auch sie ein Schmetterling geworden war. Und jedes Jahr besuchte ich ihr Grab, nicht an ihrem Todestag, nein, an dem Tag, an dem wir uns zum letzten Mal sahen. Heute stehe ich wieder hier, an dem Grab mit den vielen Blumen, an dem Grab, auf dem ihr Name steht. Wie jedes Jahr habe ich ein Geschenk für sie dabei. Einen Schmetterling aus Stein. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)