Der Sohn des Händlers von Karopapier ================================================================================ Kapitel 1: Der Sohn des Händlers -------------------------------- Die alte Frau beugte sich über ihren Patienten. Sie wusste, er hatte nicht mehr lange zu leben, alles was sie tun konnte, war, ihn so lange sie konnte in seinem Kampf zu unterstützen und zu beten. Aber wirkliche Hoffnung hatte sie nicht mehr. Sie hatte schon zu viele sterben gesehen, zu viele Junge. Ihr Patient war vielleicht sechzehn. Sie hatten ihn vor drei Tagen hergebracht, aber da war es schon zu spät gewesen. Spätestens bei dem Blick auf die ausgehungerte Gestalt vor ihr und dem Kommentar, man habe den Patient schon mehrmals zur Ader gelassen und ihm verdünntes Flohextrakt injiziert, hatte sie gewusst, dass sie nicht mehr viel tun konnte. Aber sie hatte den jungen Mann trotzdem aufgenommen, allein schon, um seinem geschundenen Körper die Möglichkeit zu geben, sich ohne die penetranten und eher schädlichen als nützlichen Eingriffe von außen selbst zu heilen. Ihr war klar, dass sie einen Bewohner der oberen Burg vor sich hatte, und sie wusste genau, dass man sie zudem noch als Hexe betrachtete. Wäre der Junge nicht ein Mitglied einer der wichtigsten Händlerfamilien, hätte man ihn wohl auch eher sterben gelassen als ihn zu ihr zu bringen. Wahrscheinlich wäre das für ihn wohl auch das Beste gewesen. Dass er Pilze gegessen hatte, bevor es zu diesen schlimmen Symptomen gekommen war, war das einzige gewesen, was man ihr hatte sagen können. Das und wie lange er schon den choleraartigen Durchfall hatte, der ihn zusammen mit den schlimmen Bauchkoliken heimsuchte. Anhand der Beschreibung hatte sie sich denken können, was es für Pilze gewesen waren. Und hätte sie nicht durch die wenigen Besucher und die vielen Patienten, die sich nur widerwillig zu ihr in den Wald trauten, von der Hungersnot gehört, die das Land plagte, hätte sie dem Kranken zuallererst eine Standpauke gehalten, die sich gewaschen hätte, krank hin oder her. Wenn ein Pilz bitter schmeckte oder auch scharf, sollte man ihn besser nicht essen. Das war eine ihrer ersten Lektionen gewesen, die sie gelernt hatte. Nur hatte sie im Gegensatz zu ihrem momentanen Patienten direkt nach dem Essen des giftigen Täublings eine Portion Kohlepulver verabreicht bekommen und ihren Körper nicht noch zusätzlich zu dem Gift mit Aderlässen gequält. Vorsichtig setzte sie den Jungen auf und flößte ihm Tee ein, nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Mal für diesen Tag. Aber sie wusste nur zu gut, dass das Gift nicht mehr aus dem Körper zu spülen war. Nur die Nachwirkungen des Durchfalls konnte sie noch eindämmen. Als ihr Patient wieder zu würgen anfing, hielt sie ihm ganz automatisch den Eimer hin. Sein Zustand verschlimmerte sich stündlich. Sie gab ihm noch maximal zwei Tage. Während einer kurzen Verschnaufpause, als der junge Mann gerade eingeschlafen war, ging sie hinab in das kleine Loch, das ihr als Keller diente. Es lag unter einer Falltür, die von ihrem alten Bärenfell versteckt lag. Das Bärenfell war ihre letzte Erinnerung an ihren Mann, der vor inzwischen bald fünfzehn Jahren gestorben war. Damals war die Zeit gewesen, als sie noch als respektable, wenn auch etwas eigenwillige Frau angesehen wurde, die ein großes Wissen hatte. Dass sie eine Hexe war, hatte man sich damals aufgrund des großen Einflusses ihres Mannes nur hinter vorgehaltener Hand zu munkeln getraut. Aufgrund dessen, dass sie sich mit Heilkräutern und anderen Pflanzen so gut auskannte und außerdem auch noch gut mit Tieren umzugehen wusste, war sie nach der langwierigen Krankheit ihres Mannes allerdings immer mehr in Verdacht geraten, mit dem Teufel im Bund zu sein. Dass sie zusätzlich dazu aufgrund ihres kleinen Gärtchens hinter dem Haus alles besaß, was sie zum Leben brauchte, und das Wenige, das sie nicht selbst anbauen konnte, von ihren Patienten als Bezahlung bekam, schürte das Misstrauen der Bevölkerung nur noch. Während sie Unkraut zupfte und Brunnenkresse, Betonienblätter und Kamillenblüten schnitt und in kleine Säckchen füllte, sank die Sonne schnell um einige Handbreit. Müde seufzte sie und ging wieder ins Haus, um nach dem Kranken zu sehen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, ohne das unregelmäßige Atmen zu hören, an das sie sich inzwischen so gewöhnt hatte, fühlte sie nicht mehr als einen kleinen Stich. Noch bevor sie den Puls kontrollierte, wusste sie, dass der Junge tot war. Langsam und vorsichtig zog sie ihn aus, wusch seinen Körper und seine Kleidung und legte ihn dann auf eine saubere Decke. Er war schwer und sie hatte Schwierigkeiten, ihn von der Stelle zu bewegen, aber sie war auch jetzt noch harte Arbeit gewöhnt. Er war schließlich nicht ihr erster Patient, für den sie nichts hatte tun können. Emotionslos holte sie den kleinen, selbstgezimmerten Karren aus seinem Unterstand hinter dem Haus, ihr wertvollster Besitz, und bettete den Leichnam auf das letzte Bisschen Stroh, das sie besaß. Dann schleppte sie mühselig aus ihrem kleinen Vorratskeller getrocknete Früchte, Wurzeln und Nüsse herauf, zusammen mit allen Medikamenten, die sie besaß, und lud sie ebenfalls auf den Karren, den sie mit einer leichten Decke abdeckte, um ihn vor neugierigen Blicken zu schützen. Auch ihre anderen Habseligkeiten lud sie auf, alles, was ein Mensch zum Überleben brauchen konnte. Dann spannte sie ihren Esel vor den Karren und fuhr in die Stadt. Sie besaß nicht viel und so wurde der Esel recht gut mit der Last fertig. In den Straßen ging man ihr aus dem Weg, so gut man konnte. Sie wurde angestarrt und manche sahen demonstrativ weg, aber das war ihr egal. Den neugierigen Kindern, die ohne Scheu näherkamen, wenn ihre Eltern sie nicht rechtzeitig zurückziehen konnten, drückte sie das Essen und die Decken in die Hand, das Feuerholz, das sie noch vom Winter übrig hatte, einfach alles, bis nur noch der Leichnam auf dem Wagen lag. Sie wusste genau, hätte man nicht so große Angst vor ihr als Hexe, hätte man in der großen Not, die herrschte, auch noch die Decke genommen, die über dem Toten lag. Die Menschen waren nicht mehr dünn, sie waren mager, viele sahen einer Vogelscheuche ähnlicher als einem Menschen. Und ausnahmslos stanken sie nach Schmutz und Krankheit. Die alte Frau zog weiter. Es war ein langer Weg, bis sie zur Burg gelangen würde. Außerdem war der Weg steil, was sie noch zusätzlich behinderte. Sie musste viele Pausen einlegen, was ihr gar nicht so unrecht war. Es gab ihr Zeit, nachzudenken, ob sie noch etwas vergessen hatte, ob alles so platziert war, dass diejenigen, die es finden sollten, es auch wirklich bekamen. Etwas später jedoch schalte sie sich eine törichte dumme Frau: Die Plünderer und Neugierigen würden schneller sein. Doch andererseits: Was hatte sie noch groß zu verlieren? Sie war eine alte Frau, sie hatte ihr Leben gelebt. Der Herr würde sich ihrer erbarmen. Dass sie gesehen worden war, wurde allein schon aus der Begrüßung ersichtlich, die man ihr zuteil werden ließ. Nicht, dass sie nicht verwundert gewesen wäre, wäre es anders gewesen. Aber die abweisende Kälte, mit der man ihr begegnete, nachdem sie das Tor passiert hatte, stimmte sie dennoch traurig. Sie wurde unwirsch beiseite geschoben und ein lautes Stimmengewirr aus vielen verschiedenen Männerkehlen machte es ihr unmöglich, auch nur ein einziges Wort zu verstehen. Stattdessen begnügte sie sich damit, die Menschen, die neugierig dem Treiben zusahen, eingehender zu mustern. Sie waren, wie der junge Mann, alle abgemagert. Die Kleidung schlackerte um ihre dünnen Gestalten und die alte Frau beschlich das leichte Gefühl, unter Toten zu sein. Sie selbst war ebenfalls nicht gerade wohlgenährt, aber im Vergleich zu den ausgemergelten Menschen um sie herum fühlte sie sich regelrecht gemästet. Mit etwas Glück, schoss es ihr durch den Kopf, werde ich wenigstens den Hunden etwas Gutes tun können. In der Zwischenzeit schwollen die Stimmen zu einem erschrockenen und gequälten Geräusch an, das aus der Richtung des Karrens kam. Die Männer hatten den Leichnam gefunden. Die Alte wehrte sich nicht, als sie von erstaunlich starken Händen gepackt und zum Burgherrn gezerrt wurde, der dem Treiben von einer Tür aus zugesehen hatte. Sie wehrte sich auch dann noch nicht, als der Vater des Jungen auf sie zukam, sie anzuschreien begann und schließlich sogar mit den Fäusten auf sie losging. Es war ihr gänzlich egal, dass man ihn, von drei Männern gepackt, wegschleppen ließ, und sie kümmerte es auch wenig, dass man sie weiterschleifte und in eines der dreckigsten Löcher warf, die sie je gesehen hatte. Die Schmerzen, die bei ihrem Aufprall durch ihren Körper zuckten, waren ein Schock für sie, aber außer einem leisen Stöhnen gab sie keinen Laut von sich. Am Morgen würde sich alles entscheiden. Sie hatte ihren Frieden mit sich gemacht. Sie wusste, dass ihr Tod kein angenehmer sein würde. Sie war in den Augen der Menschen eine Hexe, etwas, das man so grausam wie möglich behandeln musste. Ein Schandfleck der Gesellschaft, eine eiternde Wunde, die es auszubrennen galt. Sie machte sich keine Illusionen: Sie würde hier nicht lebend rauskommen. Aber das hatte sie schon gewusst, als sie den Jungen zu ihr gebracht hatten. Die Wahrheit war, dass sie schon seit Langem nicht mehr weiterleben wollte. Seit Langem schwebte ihr der Gedanke an ihren nahen Tod vor Augen, ein baldiger Tod – oder eine lang anhaltende Krankheit, die schließlich dazu führen würde, dass sie vor sich hinsiechte. Sie konnte schon jetzt aufgrund ihrer nachlassenden Sicht nicht mehr vielen helfen, ihren Garten pflegte sie mehr schlecht als recht. Sie brauchte für die kleinsten Aufgaben bedeutend länger als vor noch recht kurzer Zeit. Sie wurde alt. Alt – und unglaublich verletzlich. Und sie wusste das. Die Nacht kam, die Nacht ging. Für sie waren es Stunden unruhigen Schlafs auf dem harten Steinboden, das Warten auf das Ende. Sie atmete auf, als man sie schließlich aus dem Gemäuer holte und an ein Pferd band, neben dem sie bis hinunter in die Stadt zu laufen hatte. Sie ertrug die Demütigung, das Schimpfen und die Beleidungen der Städter und bemühte sich, auf den Beinen zu bleiben. Selbst als man sie auf dem Scheiterhaufen, der nun da stand, wo sie noch gestern Decken und Lebensmittel verteilt hatte, festband und sie mit Öl übergoss, sagte sie noch kein Wort. Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln... Sie hörte das Knistern des dünnen Reisigs unter sich, hörte die Schmähungen, fühlte den Schmerz, als ihre geschundenen Glieder mit Steinen und anderen Dingen beworfen wurden. Aber innerlich war sie bereits weit, weit weg. Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück-... Rauch stieg ihr in die Nase und in den Mund und brannte in ihren Augen. Lange würde sie nicht mehr haben, aber es machte ihr nichts aus. Sie hatte keine Angst vor dem Tod. Sie hatte ihren Frieden gestern vor dem Einschlafen gemacht. ...denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Ihr wurde immer wärmer, die Hitze brachte sie zum Schwitzen. Sie spürte, wie ihr der Schweiß die Beine hinunterlief, wie er ihr im Nacken ausbrach und in den Kniekehlen. Bis zum letzten Moment betete sie und blendete alles aus. Sie nahm die schreienden Menschen nicht wahr, da waren nur noch sie und ihre Gebete. Erst, als die Flammen sie berührten und an ihren ölgetränkten Kleidern hochzüngelten, fing sie an zu schreien. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)