Das Leben ist schwarz...schwarzblau von WordlessPoet (Zwei Welten krachen aufeinander) ================================================================================ Kapitel 12: Kapitel 9 Teil 2 ---------------------------- Kapitel 9 Teil 2 Ich kann mich nicht erinnern, jemals so wütend gewesen zu sein. Nicht einmal an dem Tag, an dem ich herausgefunden habe was Elijas Vater mit ihm anstellt, war ich so wütend wie jetzt. Vergeblich versuche ich das Zittern meiner Hände zu unterdrücken. Immer wieder sehe ich den Blutstropfen in den dampfenden Tee fallen. Sehe den feinen Blutstrom, der sich über sein Kinn schlängelt. Aber was mich nicht mehr loslässt sind seine Augen. Meine Hand verkrampft sich am Treppengeländer. Wie gerne würde ich etwas, jemanden schlagen, ganz egal. Am liebsten jedoch diesen grausamen Menschen, beim Wort 'Vater' wird mir in diesem Zusammenhang fast schlecht. Wie kann er! Unnötig heftig schlage ich auf den Lichtschalter, der es mir damit dankt, dass er gleich in die Aus-Position zurück springt. Nach einem erneuten Versuch reiße ich die Schranktür auf und der Verbandskasten fällt mir sofort entgegen, nicht ohne noch eine ordentliche Portion anderen Krempels unter lautem Getöse hinterher zu schicken. Schnaubend schiebe ich alles mit dem Fuß auf einen Haufen und lasse ihn so liegen, wie er ist. Noch immer sind meine Finger alles Andere als ruhig. Ich kann mich beim besten Willen nicht bremsen, obwohl ich genau weiß, dass ich muss. Im Moment muss ich einfach. Für Elija. Das Dilemma ist nur, dass meine Unfähigkeit wieder Kontrolle über meine Gefühle zu bekommen nur dazu führt, dass sich meine Wut noch weiter hochschraubt. Krieg dich wieder ein verdammt! Doch am Meisten ist es meine eigene Machtlosigkeit, die mich in den Wahnsinn treibt. Fuck! Ich kann diesen Blick nicht vergessen, diese zusammengesunkene Gestalt, die ich am Küchentisch zurückgelassen habe, die roten Tropfen auf dem Tischset. Ich kann nicht. Ich kann ihn nicht gehen lassen. Nicht wieder dorthin zurück. Mit diesem Gedanken kann ich spüren, wie die Ruhe zurückkommt, wie das Zittern nachlässt und der Wirbel in meinem Kopf sich legt. Gefasst betätige ich den Lichtschalter und gehe wieder nach oben. Als ich die Küche betrete, schaut mich Elija aus müden Augen an, keine Panik oder Angst mehr darin, jegliche Kraft scheint ihn verlassen zu haben. Ich blicke in zwei grünschwarze Abgründe, auf deren Grund nur eines zu finden ist. Traurigkeit in Hülle und Fülle, zäh, klebrig und undurchdringlich. Ich sehe ihn dort sitzen und mein Herz brennt, schmerzhaft und doch irgendwie wohltuend. Nein, ich kann ihn nicht gehen lassen. Alan beobachtet mich genau und ich weiß, was er in diesem Moment in meinem Gesicht lesen kann, weil sie mich überfällt und in ihrer Heftigkeit beinahe zu Boden zwingt, mir Tränen in die Augen treibt. Erkennen steht in seinen Zügen, die plötzlich weich werden und doch entgeht mir nicht, wie sich seine Brauen in Sorge zusammenschieben. Auf einmal habe ich Angst, dass auch Elija mich lesen kann wie ein offenes Buch, Angst vor seiner Reaktion. Aber er wendet den Kopf ab, als ob er nicht lesen, nichts sehen wolle. Beinahe vorsichtig gehe ich auf ihn zu, setze mich neben ihn und packe wortlos den Verbandskasten aus. Geduldig warte ich darauf, dass er mir sein Gesicht zuwendet. Jetzt ist nicht der Moment um ihn zu bedrängen oder Witze zu reißen, auch wenn ich alles tun würde, um die merkwürdige Stille zu brechen und noch mehr, um ihn einfach in die Arme zu schließen. Ich spüre, dass er nur in Ruhe gelassen werden will und wie schwer es mir auch fallen mag, werde ich ihm diesen stummen Wunsch gestatten, aber nicht, ohne ihn vorher ordentlich zu verarzten. Vielleicht hat er diesen Gedanken gelesen, denn beinahe dankbar wendet er mir sein Gesicht zu, ohne mich dabei direkt anzusehen. Zum zweiten Mal in einem viel zu kurzen Zeitraum, fahre ich behutsam darüber, um es vom Blut zu befreien und es mit einer abschwellenden und desinfizierenden Salbe zu bestreichen. Diesmal ist es anders, keine knisternde Spannung zwischen uns, sondern Wärme. An seiner Haut, an meinen Fingerspitzen, im Raum zwischen unseren Körpern und in jedem noch so winzigen Molekül meiner Person. Ich genieße die Berührung, dehne sie jedoch nicht länger aus als nötig. Der Zeitpunkt wird kommen, an dem ich mir erlaube gierig zu sein, aber er ist nicht jetzt. Ich lasse meine Hände sinken. Seine Wärme liegt darauf, wie ein unsichtbarer Handschuh der allerfeinsten Seide. „Den Rest verarzte ich in meinem Zimmer“, ich strecke ihm meine Hand entgegen. „Komm“, sage ich sanft und wie damals im Schulflur, nimmt er sie erst nach leichtem Zögern. Ich helfe ihm auf und bedeute ihm voran zu gehen. Als Elija die Küche vor mir verlassen hat, drehe ich mich nochmal um. Alan sitzt immer noch schweigend am Küchentisch und mustert mich mit undeutbarem Blick. Die Fragen sind ihm buchstäblich ins Gesicht getackert. Ich muss es ihm hoch anrechnen, dass er Elija offenbar nicht bedrängt hat, aber er wird Antworten wollen, er ist ebensowenig blind wie ich. Und genauso ist er kein Mensch, der dann die Augen schließt und so tut, als wäre nichts gewesen. Ich wende ihm den Rücken zu und als ich spüre, dass Alan etwas sagen will, komme ihm zuvor. „Später.“ „Die Türe da vorne rechts.“ Elija bleibt fragend vor der entsprechenden Türe stehen und ich nicke ihm zur Bestätigung zu. Langsam betritt er mein Zimmer und bei dem neugierigen Ausdruck, der dabei kurz über sein Gesicht huscht, kann ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. In mancher Hinsicht ist auch er nur ein ganz normaler Mensch. „Du bist scheinbar auch schon länger nicht mehr zum Aufräumen gekommen“, stellt er trocken fest. Etwas schuldbewusst sehe ich mich um und muss erkennen, dass ich das Zimmer, durch mein ruheloses Umherwandern in den letzten Stunden, in ein Schlachtfeld allererster Güte verwandelt habe. Ein erleichtertes Grinsen schleicht sich bei seinen Worten auf meine Lippen. Elija steckt also noch irgendwo dadrin, in diesem müden Körper. „Das dürfte dir nichts ausmachen, du bist Bergsteigen ja gewohnt. Also zeig mir deine Künste und pflanz dich auf mein Bett, damit ich mein Werk vollenden kann.“ Mit einem leisen Schnauben sucht er nach einem sicheren Pfad durch meine Sauerei und lässt sich steif auf meinem Bett nieder, nicht ohne dabei schmerzvoll das Gesicht zu verziehen. Diesmal bleibt die Wut verschlossen, obwohl sie in meinem Inneren tobt und schreit. Sie wird erstickt von dem enormen Kloß in meinem Hals, der Schlucken beinahe unmöglich macht. Plötzlich brauche ich Elijas Nähe, komme ich nicht mehr aus ohne zu wissen, dass seine blasse Haut noch Wärme verströmt, muss ich einfach spüren, dass sein Herz noch arbeitet unter der steifen, müden Hülle. Vorsichtig streckt sich meine Hand nach dem Saum seines, meines roten T-Shirts aus und trifft auf keinen Widerstand, als sie beginnt es sachte über seinen Kopf zu ziehen. Ganz leicht zittert sie dabei, nicht aus Wut, eher ist es der Drang mich zu vergewissern, ganz sicher zu sein. Ungeduld. Angst. Das Shirt fällt mit kaum hörbarem Rascheln zu Boden. Bebend kommt meine Hand nur Millimeter vor seiner Brust zum Stehen, bevor sie sich in Zeitlupe über Elijas Herz legt. Langsam hebe ich meinen Kopf und ertrinke augenblicklich in diesen seltsam, einzigartig grünen Augen, seinen, deinen großen Augen, die meinen Blick beinahe ängstlich festhalten. Während ich dich ansehe, kann ich die Wärme in meiner Hand spüren. Deine Wärme. Deine Brust hebt und senkt sich. Du atmest. Jeder deiner Herzschläge trifft mich wie ein Hammer in die Brust. Dein Herz pulsiert unter meinen Fingern, spürbar, tastbar, lebendig. Dein Herz schickt sie in Wellen, die sich mit ungeheurer Wucht an meinem Oberkörper brechen, durch mich hindurch, bis ich das Gefühl habe an ihr zu ersticken. Du verschwimmst vor meinen Augen. Jetzt kannst du sie nicht mehr übersehen. Es tut weh, zu wissen, dass du es gerne tun würdest. Du reißt unsre Blicke auseinander, aber meine Hand bleibt liegen. Ruhig, im Gegensatz zu deiner, die sich zur Faust geballt in deinem Schoß verkrampft. Es tut gut zu wissen, dass meine Hand dort liegen darf, dass sie einen Platz hat, direkt über deinem Herzen. Du weichst meinem Blick aus, deine Knöchel treten weiß hervor, aber ich bin dir dankbar. Meine Fingerspitzen ertasten einen letzten Herzschlag, bevor sie sich von deiner Haut lösen. Sie suchen und finden einen Weg an deine Wange, genauso, wie meine Lippen deine für eine unendlich leichte, flüchtige Berührung finden. Ich kann dich fühlen. „Danke“ Kaum hat das Wort meinen Mund verlassen, wage ich es ihn anzusehen. Die Verwirrung in seinen Augen springt mich schier an. Ich lächle in den winzigen Raum zwischen unsren Gesichtern. Ich streiche eine Strähne seines pechschwarzen Haares hinter sein Ohr, verharre so einen Moment und lasse mich dann mit einem Seufzer rückwärts aufs Bett zurückfallen. „Du verlangst mir hier ein ganz schönes Stück Beherrschung ab, weißt du das?“ Ich richte mich auf und wende meine Aufmerksamkeit dem aufgeklappten Verbandskasten auf meinem Kissen zu, wobei mir keineswegs der hübsche Rotton auf Elijas Wangen entgeht, den ich aber, taktvoll wie ich heute bin, dezent übersehe. Die richtigen Utensilien bereitgelegt, unterziehe ich Elijas Oberkörper dann doch einer, zumindest größtenteils, gesundheitlichen Inspektion. Einige dunkle Flecken verunstalten seine helle Haut an Brust, Armen und Rücken. Der Gedanke, dass diesmal wenigstens keine Schnittwunden zu sehen sind, klingt bitter sarkastisch, fast wie ich es sonst von Elija gewöhnt bin. „Bereit für weitere Salbungen?“ Wie erwartet bekomme ich keine Antwort. „Na dann dreh dich um, ich fang mit dem Rücken an.“ Ich bin beinahe übervorsichtig bei dem, was ich tue und trotzdem zuckt Elija mehrmals zusammen. Ich frage ihn nicht, ob es die Kälte der Salbe ist, denn ich habe sie zuvor mit meinen Händen aufgewärmt. Ihm noch mehr Schmerzen zu bereiten hasse ich, obwohl ein rationaler Teil von mir weiß, dass ich ihm eigentlich Linderung verschaffe. „Sorry... aber ich bin gleich fertig, also ertrag mich noch ne kurze Weile.“ „Geht schon... Langsam kriegst du ja genug Übung“, kommt es zynisch zurück. So verdammt bitter. Schweigend setze ich meine Tätigkeit fort, mir fällt nichts ein, was ich dieser Wahrheit entgegen setzen könnte und genau das macht mich krank. Ich halte inne und lasse meine Arme sinken. „Elija?“ Kein Zeichen, dass er mich überhaupt gehört hat. „Elija, ich... warum... du, also-“, ich unterbreche mich um meine Gedanken zu ordnen, straffe meine Schultern für die Frage die ich ihm stellen muss. „Warum?“ Noch immer kein Signal, doch seine Schultern sinken kraftlos nach unten. Er hört mich, hat mich genau verstanden. All diese warums, die ich auf eines geschrumpft habe, eines, das mehr als ausreicht. Mir ist klar, dass er nicht antworten wird, trotzdem schweige ich und warte, reibe den letzten Rest Salbe auf sein Schulterblatt. „Fertig“, murmle ich kaum hörbar. Als er sich umwendet, sieht er wieder genauso müde aus, wie unten in der Küche. Er braucht mir nicht zu antworten, ich sehe es ganz deutlich in seinen Augen, sie flehen mich an: 'Nicht jetzt' Und auch diesmal gebe ich seinem Wunsch statt, doch ich bin eigennützig, dieser Ausdruck in seinen Augen ist mehr, als ich ertragen kann. Der Rest dieser Verarztungsaktion verläuft in Stille, die ich kurz vor dem Ende noch einmal durchbreche: „Du gehst nicht zurück.“ Schweigend starren wir uns an. „Du bleibst hier.“ Blau und Grün bohren sich ineinander und Grün gibt nach, wendet sich ab. Die entstellteste Version eines Lächelns, die ich je gesehen habe, quält sich auf seine Züge. Er sieht so unfassbar alt aus während er spricht. „Ich hab keine Wahl.“ Ich möchte ihn schütteln, ihn beschwören, ihn anschreien. Ich tue es nicht. Stattdessen nehme ich sanft seine Hände in meine und drücke sie leicht. Fest sehe ich ihm in die Augen, lasse sie nicht so leicht entkommen. „Man hat immer die Wahl. Immer!“ „Nein“, sagt er bestimmt, der Blick hart und unnachgiebig, „Es gibt Momente, in denen hat man keine Wahl.“ Ein Schatten legt sich in Elijas Blick und er bricht ein weiteres Mal mit meinem, fixiert unsere verschlungenen Hände ohne sie wirklich zu sehen. „Egal, wie sehr man es sich wünscht, manchmal hat man einfach keine Wahl.“ Die Worte sind schwer, obwohl sie sich kaum mehr sind als ein Flüstern, ein Hauchen in erkalteter Luft. Lange sitze ich schlicht da und beobachte ihn, wie er in Gedanken offenbar an ganz andern Orten weilt. Der Anblick schmerzt, zieht sich glühend durch mein Inneres. Wenn ich doch nur wüsste, was ich tun kann. Wenn ich wüsste... Aber bis dahin, beschließe ich, tue ich einfach das, was ich kann. „Dann-“, er zuckt bei der Lautstärke meiner Stimme zusammen, „Dann..., wenn du keine Wahl hast, ich habe eine.“ Elija blickt auf. „Du gehst nicht zurück, nicht, wenn ichs verhindern kann. Niemand hat das Recht dir weh zu tun. Ich. Werde. Dich. Nicht. Zurückgehen lassen. Verstehst du!“ Feurig blicke ich in sein erstarrtes Gesicht, mit den weit aufgerissenen Augen. „Das lasse ich nicht zu!“ Und ich sehe, wie sich eine Träne aus seinem Augenwinkel löst und klanglos seine Wange hinunter rollt, wie sich seine Lippen stumm aufeinander pressen, er schmerzvoll die Augen zukneift und doch den Tränenstrom nicht am Durchbrechen hindern kann. Kein Ton verlässt seinen Mund. Kein Schluchzer entkommt ihm, obwohl sich sein Körper schüttelt. Im Licht meiner Schreibtischlampe glitzern seine feuchten Wangen. Ruhig sitze ich neben ihm und streiche die Tränen von seinem Gesicht. Jede einzelne. Ich warte. Warte bis er sich etwas beruhigt hat, drücke ihn dann sanft ins Bett und bevor er sich wehren kann, decke ich ihn mit meiner Decke zu. „Schlaf ein bisschen, ruh dich aus, ich weck dich dann, wenn es was zu Essen gibt.“ Erschöpft lässt er mich gewähren, sagt nichts. Ich schalte das Licht aus. Sehe in der Tür nochmal auf die zusammengerollte Gestalt zurück. Ich schließe die Tür hinter mir. Und fange an zu weinen. Ich weiß nicht wie lange ich schon da im dunklen Flur stehe und die gegenüberliegenden Wand anstarre, während mir die Tränen übers Gesicht laufen. Aber ich kann mich nicht dazu bringen sie abzuwischen und wieder nach unten zu gehen. Ich höre meine Mutter in der Küche werkeln, viel zu laut und Schritte auf der Treppe, viel zu nah. Ich bleibe einfach stehen, kann mich nicht dazu durchringen mich zu bewegen. Jemand kommt in den Flur, bemerkt mich und schält das Licht nicht ein. Selbst den Kopf zu wenden um nachzusehen, wer da auf mich zu kommt, bringe ich nicht fertig. Erst als er direkt vor mir steht, kann ich Alan durch den Tränenschleier erkennen. Ich will, will wirklich lächeln um ihm zu zeigen, dass er sich keine Sorgen machen muss, dass alles in Ordnung ist. Nichtmal ein Zucken der Mundwinkel. Es ist nicht alles in Ordnung. Er legt mir schwer seine Hand auf die Schulter und bugsiert mich durch das Dämmerlicht in sein Zimmer. Ich werde auf sein Bett gedrückt und das Licht geht an. Es sticht in meinen Augen. Alan schmeißt mir eine Familienpackung Taschentücher in den Schoß und wirft sich mit voller Wucht neben mich auf die Matratze, sodass es mich beinahe auf den Boden katapultiert. „Ich glaubs einfach nich“, belustigt schüttelt er den Kopf, „Hätte nich Mum dich eben im Flur aufgabeln können... Ich bin ne echte Niete in sowas.“ Ein breites, vertrautes Großer-Bruder-Grinsen strahlt mir entgegen und es reicht, um mir ein zaghaftes Lächeln zu entlocken. Mit einem Schiefen ziehe ich eines der Tücher aus der Packung und befreie mich von der Nässe in meinem Gesicht. Ich beobachte, wie das übernatürliche Grinsen langsam abebbt und Alans Gesicht wieder einen ernsten Ausdruck annimmt. Eine Weile lang sagt keiner von uns ein Wort, sieht keiner den anderen an, jeder wartet, dass der andere beginnt. Keiner weiß so genau, wie er anfangen soll. Mal davon abgesehen, dass ich meiner Stimme im Moment noch nicht so ganz traue. Ich spüre, wie mein Bruder neben mir unruhig hin und her rutscht und vernehme ein trockenes Schlucken. Er fixiert mich mit sehr bestimmtem Gesichtsausdruck, aber als er beginnt zu sprechen, werden seine Züge weich, sein Blick sanft. „Du magst diesen Elija wirklich sehr gern.“ Es ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Es ist keine Antwort nötig und trotzdem muss ich eine geben, weniger für ihn als für mich. „Ich liebe ihn.“ Einmal ausgesprochen, weiß ich, das es genau das ist, was ich tue. Mein Gott, ich liebe ihn. Ich liebe ihn wirklich. Ich habe sie gespürt, die Wellen von Zuneigung, als ich Elija vorhin in der Küche sitzen sah, als ich den Schmerz in seinem Gesicht lesen konnte, während er sich auf meinem Bett niederließ. Sie haben mich beinahe umgehauen, in ihrer Wucht, mich völlig unvorbereitet getroffen, in ihrer Heftigkeit. Noch immer fühle ich Elijas Herz unter meiner Hand schlagen, seinen Atem unter meinen Fingern, seine Wärme an meiner Haut. Diesen Augenblick kann ich nicht mehr vergessen. Ein Herzschlag genügte und ich war plötzlich so schmerzhaft voll von Liebe zu ihm, dass ich glaubte daran zu ersticken. So dankbar. Es war schlicht genug, dass er einfach da war, dort mir gegenüber, atmend, warm und lebendig. Lebendig... „Hey, nich weinen.“ Meine Finger tasten ungläubig über meine feuchten Backen, ich kann doch spüren, dass ich lächle... Ich begegne Alans besorgtem Blick, bin aber unfähig, auch nur einen geraden Ton heraus zu bringen. „Es ist in Ordnung. Ok? Es ist in Ordnung, dass du einen Junge liebst.“ Alan drückt meine Schulter, fest und nachdrücklich, als wolle er ganz sicher gehen, dass ich verstehe, ernst nehme, was er mir sagt. „Ich freue mich wirklich und ehrlich für dich, das musst du mir glauben und ich bin mir sicher auch Mama und Paps werden das so sehen. Es wird zwar immer Leute geben, die dir vorwerfen, dass du... du schwul bist, aber... Verdammt noch mal!“, er springt von Bett auf und läuft energisch im Zimmer auf und ab, „Scheiß auf die, du bist schlau genug um zu wissen, dass an Liebe nichts falsch sein kann! Egal, wie sie im einzelnen aussehen mag. Wir, ich werd dich immer lieb haben und unterstützen und... und hör doch jetzt einfach auf zu weinen, ja?“ Seine Stimme, die mit Fortschreiten dieser feurigen Rede immer lauter geworden ist, nimmt jetzt einen bittenden Ton an. Er wirkt leicht verzweifelt. „Liebe ist was Schönes, etwas das dich zum Lachen bringen sollte. Also lach wieder. Es ist vollkommen in Ordnung, einen Jungen zu lieben.“ Ich starre ihn einfach nur an und habe plötzlich das drängende Bedürfnis meinen nervigen, albernen und furchtbar lieben großen Bruder ganz fest in den Arm zu nehmen. Stattdessen schüttle ich nur den Kopf und versuche meine Stimme wieder zu finden. „Danke“, und das meine ich wirklich, „aber das Problem ist nicht, dass ich einen Jungen liebe, es ist eher der ganz spezielle Junge, den ich liebe.“ Der Kloß in meinem Hals ist zurück, begleitet von einem bekannten Brennen in meiner Brust. Alan hat inzwischen damit aufgehört, wie ein Wahnsinniger im Zimmer hin und her zu laufen und setzt sich wieder ruhig neben mich, den Blick abwesend auf die gegenüberliegende Wand gerichtet. Es herrscht ein langes, aber nicht unangenehmes Schweigen. Noch immer in die Ferne starrend, sagt Alan plötzlich: „Er sieht ziemlich einsam aus... traurig. Elija ist ganz schön fertig, oder?“ Erneut schafft sich die Stille ihren Platz im Raum, weitet sich aus, aber ich lasse nicht zu, dass sie ihn vollkommen ausfüllt. „Ich hätte nie gedacht, dass es so verdammt weh tut, jemanden, den man liebt, leiden zu sehen.“ Eine warme Hand legt sich beruhigend auf meinen Rücken. Gemeinsam starren wir in die Ferne, jeder in seine eigenen Gedanken verstrickt und ich genieße den stillen Beistand, den die Hand an meinem Rücken ausdrückt. „Denis, was ist mit Elija passiert? Ich meine, er sieht ziemlich lädiert aus und...“ Ich habe mich vor dieser Frage gefürchtet, doch mir war klar, er würde sie mir früher oder später stellen. Ich habe nur einfach gehofft, dass es später passieren würde. Dann, wenn ich mir im Klaren bin, was ich ihm darauf antworten kann. Ich habe ein Versprechen gegeben, eines, das wichtiger ist als alle, die ich je gegeben habe, eines, das zu brechen mich Elija kosten könnte. Aber ich habe mir auch geschworen nicht tatenlos zuzusehen, zu tun, was ich kann und im Moment fühle ich mich damit restlos überfordert. Wie gut es tun würde die Last zu teilen, mir vielleicht einen Rat, Hilfe zu holen und wie verdammt egoistisch ist es, Elijas Geheimnis preiszugeben, sein Vertrauen zu verraten, nur um es mir leichter zu machen. Ich habe so gehofft diese Frage nicht zu bald zu hören, weil ich sie nicht beantworten kann. Ich kenne eine hässliche Wahrheit und doch ist da noch so viel mehr verborgen, so viel mehr Schmerz vergraben hinter Elijas bröckelnden Mauern. So viel, von dem ich keine Ahnung habe. Ich kann diese Frage nicht beantworten. Selbst wenn ich wollte könnte ich nicht. Ich knete meine Hände und hänge dem unsinnigen Tagtraum nach, dass Alan vielleicht vergessen wird, was er gefragt hat, wenn ich nur lange genug warte. Ich warte lange, eigentlich lange genug, ohne dass er Anzeichen von Amnesie zeigt, bis es mir unerträglich wird. „Ich kann es dir nicht sagen, ohne Elija vorher zu fragen.“ Ich kann das wenige Vertrauen, das ich Elija abgerungen habe nicht enttäuschen. „Es ist kompliziert und ich weiß selbst nur sehr wenig, aber ich habe ein Versprechen gegeben und daran gedenke ich mich auch zu halten. Warte-“, unterbreche ich Alans Einwand, noch bevor er ausgesprochen ist. „Er hat Probleme, und bevor du weiter stocherst“, ich muss trotz des ernsten Themas grinsen, als ich das angesäuerte Gesicht meines Bruders sehe, „ mehr wirst du im Moment nicht von mir hören.“ Ich weiß, dass dieses Mückenfürzchen an Information ihn nicht lange bei Laune halten wird, aber für den Moment muss es reichen. Diesmal ist es mir wichtig, dass er versteht: Hier kann ich keine Fehler machen. „Er hat Probleme, ja, aber ich... ich tu, was ich kann um ihm zu helfen, auch wenn ich nicht weiß... und ich kann jetzt einfach nicht darüber sprechen. Ich... du darfst aber auch nichts sagen, weil...“ „Gut.“ Erstaunt blicke ich auf, ich hatte mit mehr Widerstand gerechnet. Ich warte auf weitere Proteste, aber er scheint es ernst zu meinen. „Gut... nicht gut, aber... Gut.“, seufzt er resigniert, während er sich die Haare rauft. „Irgendwas muss ich falsch gemacht haben. Warum werd ich mit so einem herzensguten, Samariter gestraft, der sich für auserwählt hält, die ganze Welt vor ihren Problemen zu erretten? Das ist doch unfair, neben so einem kann man ja nur schlecht aussehen. Und wie soll ich denn je-“ Ein Tritt in seine Seite beendet diese Jammerei und er stürzt sich erbost auf mich um mich zur Rache ordentlich durchzukitzeln. Als ich mich schließlich schweißgebadet aus seinem Griff befreien kann, schmerzt mein Bauch vor Lachen. Wütend kann ich nicht auf ihn sein, im Gegenteil. Irgendwie ist jetzt alles leichter, weniger unschaffbar. Ein letztes Zungerausstrecken bevor ich mich aus seinem Zimmer verabschiede um mich in der Küche über den Fortschritt des Essens zu erkundigen und, bei dem Gedanken, füllt sich mein gestresster Bauch mit einem angenehm warmen Gefühl, einen zusätzlichen Esser anzukündigen. „Ach Denis“, ich warte gespannt, „Man muss nicht alles alleine schultern... dafür sind selbst deine Schultern nicht breit genug. Also denk dran, wenn du soweit bist: Vorher immer anklopfen!“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)