Das Leben ist schwarz...schwarzblau von WordlessPoet (Zwei Welten krachen aufeinander) ================================================================================ Kapitel 3: Kapitel 3 Teil 1 und 2 --------------------------------- Kapitel 3 Teil 1 Das Kotzen bringt keine wirkliche Erleichterung, denn mein Magen zieht sich immer noch schmerzhaft zusammen und mein Gesicht könnte allen Geistern der Welt ernsthafte Konkurrenz machen. Dann ist da auch noch Denis… Verdammt! Warum, muss er schon wieder aufkreuzen und mich in einer Lage erwischen, in der mich absolut niemand sehen sollte. Zweimal, zweimal hat er schon zu viel gesehen. Ich sollte darüber nachdenken einen guten Killer zu finden, sonst wird’s gefährlich für mich. Oh ja, ich hab es in seinen Augen gesehen… Sorge und Mitleid für mich, einen Fremden. Das passt zu ihm; die Rolle des barmherzigen Samariters, der alles aufs Spiel setzt um einem fremden Schwächling zu helfen. Solche Leute waren für mich immer schon suspekt, das kann auf Dauer nicht gesund sein. Andererseits sind sie wohl alle verkappte Masochisten, wer sonst würde sich diesem dauernden Bombardement mit Elend freiwillig aussetzten. Bei ihm bin ich mir sicher, dass es, wenn man meine Situation bedenkt, nur schlecht ausgehen kann. Andererseits ist auch die Rolle des tragischen Helden ihm wie auf den Leib geschrieben. Sie passt wie angegossen. Und mal ehrlich ein tragischer und dazu noch perverser Held ist doch was Nettes. Ich glaube allerdings nicht, dass er es bis zu mir in die unterste Hölle schaffen wird. Er wird irgendwann kurz vor dem Höllentor stehen bleiben, erschaudern, bei dem Anblick, der sich ihm dort bietet, und dann schnurstracks umkehren, ohne auch nur einen weiteren Gedanken an mich zu verschwenden. Eigentlich schade, denn trotz der immer neuen Grausamkeiten, die genug Abwechslung in diese schwelenden Gluten bringen, wäre doch ein wenig Gesellschaft manchmal nicht schlecht. Warum nur eine Sorte Grillfleisch, wenn man zwei haben kann? Mist, verdammter! Jetzt werd ich auf einmal noch sentimental. Die Einsamkeit ist, mit ihrem herrlich verzweifelten und bodenlosen Schwarz, das einzige Gewand, das mir wirklich steht. Außerdem schwören so außergewöhnliche Modeikonen, wie der Tod höchstpersönlich auf diese Farbe und so, wie der Tod niemals Rosa tragen würde, so würde ich etwas anderes als einsame Schwärze gar nicht ertragen. Ein bisschen Stil muss schon sein. In den Unterricht zurück… ich könnte vor Freude Luftsprünge machen. Mir wird erneut schlecht. Auf weiteres unentschuldigtes Fehlen kommt es sowieso nicht mehr an. Mein Schicksal ist besiegelt, sobald ich heute nach der Schule einen Fuß über die Türschwelle unseres Hauses setze. Mein Magen zieht sich noch stärker zusammen, rumort und ein unangenehmes Brennen zieht sich meine Speiseröhre hinauf. Kloschüssel ich komme! Nein! Ich kann nicht zurück, weder in den Unterricht noch nach Hause. Mein ganzer Körper ist auf einmal bleischwer, jeder weitere Schritt kostet mehr Kraft, als ich je aufbringen könnte. Der leere Schulgang beginnt von meinen Augen zu verschwimmen, alles dreht sich, wilde Formen und Muster wirbeln um mich herum. Stimmen, Bilder, Schmerzen, immer wieder Schmerzen und eine Stimme die sich aus allen anderen deutlich hervorhebt. Wie ein Messer sticht sie in meinen Kopf und treibt mich schier in den Wahnsinn. Verzweifelt reiße ich meine Hände nach oben und presse sie mir auf die Ohren, kneife die Augen fest zusammen. Lass sie doch bitte verschwinden! Mach, dass sie sofort verschwindet! Lass mich taub werden oder lass mich einfach sterben, nur mach, dass es aufhört! Je verzweifelter ich gegen diese Erinnerungen ankämpfe, umso lauter dröhnen sie in meinem Schädel. Ich spüre den kalten Boden unter meinem Rücken; kalter Schweiß bedeckt meinen Körper… Kalt, mir ist so furchtbar kalt. Ich habe das Gefühl zu ertrinken, in einem Meer aus tiefschwarzen Erinnerungen, das mich eiskalt in die Tiefe zerrt, mir die lebensnotwendige Luft aus den Lungen presst und mich dazu zwingt immer mehr dieses schwarzen Wassers zu trinken, das wie Gift durch meine Adern pulsiert und mit jedem Herzschlag mehr Erinnerungen freisetzt. Säure in meinen Gedanken. Das Glitzern der Wasseroberfläche schwindet langsam aus meinem Blick, hinterlässt nichts als Schwärze. Einen letzten Versuch sollte ich starten… aber wozu? Selbst, wenn ich es diesmal schaffen sollte, werde ich an einem anderen Tag untergehen. Warum dann unnötig Kraft verschwenden? Lass dich doch einfach niedersinken… ertrinke… ergib dich den Erinnerungen… jetzt wäre es so einfach. Du musst nur aufhören zu kämpfen. Immer weiter gleite ich hinab… Hör auf, wehr dich nicht! Ich kann nicht… ich kann nicht! Tränen benetzen mein Gesicht. Gib auf! Was erwartet dich an der Oberfläche? … Langsam, ganz langsam gebe ich den Widerstand auf, werde ganz ruhig und lasse mich einfach mitreißen. Die Erinnerungen überfluten mich ungehindert, strömen auf mich ein und prasseln von allen Seiten auf mich nieder. Es hat niemand behauptet, dass es schmerzlos sein würde und doch bin ich überrascht. Es schmerzt, tut höllisch weh, nimmt mir den Atem. Die Oberfläche ist nicht mehr zu sehen, die Schwärze ist vollkommen, immer wieder durchzuckt von Bildern, jedes davon bohrt sich wie ein Messer in meine Brust… Das war’s also? Plötzlich verändert sich das Bild: Statt schwarzen zähen Wassers bin ich von leichten azurblauen Wellen umgeben und…warm, es ist warm? Unzählige Schauer durchrieseln meinen tiefgefrorenen Körper und geben mir Gefühl zurück. Eine Wärme, die mich hauchzart umschmiegt, die diesen tödlichen Frost vertreibt und all die schrecklichen Bilder an einen Ort verbannt, an dem sie, zumindest jetzt, nicht mehr gefunden werden können. Fast, wie zwei starke, warme Arme, die mich aus dem Wasser fischen und mich sanft wiegen. Geborgen und völlig sicher fühle ich mich in dieser behaglichen, leichten Umarmung, die eine undurchdringliche Barriere gegen die herrschende Kälte bildet. Wieder spüre ich Tränen, doch die sind nicht kühl, sie sind fast schmerzhaft heiß, als ob sie mich bestrafen wollten. Ein Schluchzen entringt sich meiner Kehle. Ich hatte mir doch geschworen niemals aufzugeben, was auch immer kommen möge, weiter zu kämpfen. Aber ich habe aufgegeben, war des Kämpfens müde, dachte es gäbe nichts wofür es sich zu kämpfen lohnt und es gibt Nichts. Nichts bis auf eines; selbst wenn es nur meiner Einbildung entspringt, dieses wohlige Gefühl, von fließenden Händen, Armen, die mich ganz sachte Hin und Her wiegen. Vielleicht genug um darum zu kämpfen, vielleicht auch nicht. Jetzt völlig unwichtig. Noch enger schmiege ich mich an diese Wärme, um so viel wie möglich davon abzubekommen, bevor ich meine Augen öffne und merke, dass alles ein Hirngespinst war. Jeder Atemzug in dieser lang vermissten Sicherheit ist wie ein Geschenk von unschätzbarem Wert, das es unter allen Umständen zu bewahren gilt. Mein Körper ist vollkommen entspannt, während die Minuten verstreichen. Wenn die Zeit doch einfach nur stillstehen könnte, mich für immer diesem lauen, blauen Meer überlassen könnte. Irgendwann drängt sich die Realität wieder in mein Bewusstsein, macht mir klar, dass ich mich mitten in der Schule befinde, jeden Augenblick jemand vorbeikommen könnte und ich hier wild phantasierend auf dem Boden liege. Das wird mit Sicherheit einen guten Eindruck machen. Schweren Herzens entschließe ich mich endlich die Augen zu öffnen: Blau… Immer noch ist alles Blau, aber etwas ist anders. Es ist nicht das Wasser. Es sind zwei unglaublich blaue Augen die mich besorgt mustern und Braun… Moment mal! Blaue Augen, braunes Haar…? Denis! Was geht hier vor? Langsam quält sich die Erkenntnis, wem diese wärmenden, schützenden Arme gehören, bis in mein Bewusstsein. Ruckartig setze ich mich auf und rutsche erstmal ein Stück von ihm weg. Panik spült das wohlige Gefühl von Eben sofort hinweg. Da sind sie wieder, die altbekannten, vertrauten Gefühle: Angst, Verwirrung und Scham. Nicht nur, dass Denis mich in einem schwachen Moment erwischen musste. Nicht nur, dass er mich getröstet und mich im Arm gehalten hat. Er hat mich gerettet, hat mich vor mir selbst gerettet und mir etwas gegeben, nach dem ich mich so lange gesehnt habe, das ich genossen habe und das noch mal zu erleben, ich, wenn ich ehrlich bin, alles geben würde. Wobei das in meinem Fall wohl selbst für den ärmsten Menschen unter der Sonne ein schlechtes Geschäft wäre. Das hätte nicht passieren dürfen! Ich wollte nicht zulassen, dass jemand mir so nahe kommt und solche Sehnsüchte in mir weckt. Dann erscheint da er, der mir auf mehr Arten nahe kommt, als ich es je für möglich gehalten hätte und meine Welt mit seiner unsagbar dämlichen, fürsorglichen, aufdringlichen Art durcheinander wirbelt. Verdammt! Ein widerliches heißes Kribbeln in meinem Bauch erinnert mich daran, warum ich diese Art Menschen eigentlich hasse. Sie sind bis zum Bersten voll gestopft mit nutzlosen, überflüssigen Gefühlen; die Liebe quillt ihnen aus allen Poren, sie sind so voll von all den Dingen, die mich krank machen. Aber so sehr ich mich weiter in meinem Selbstmitleid suhlen möchte, muss ich mich dem dringenderen Problem widmen, das sich jetzt vor mir auf dem Boden befindet und mich mit einem Blick mustert, den ich lieber nicht allzu genau analysieren sollte. Wie ich mich verhalten soll ist mir schleierhaft. Ich meine, wenn man die Szene mal ganz neutral betrachtet, hat mich gerade ein Kerl im Arm gehalten, mich gestreichelt und gewiegt. So was findet man sonst nur in bestimmten Filmen oder Büchern, die in Geschäften ganz versteckt in der Ecke stehen und nur unter der Ladentheke verkauft werden, während sich sowohl Verkäufer als auch Kunde klammheimlich in ein anderes Universum wünschen. Wir sind aber nicht in so ner Schwulenschnulze, wir sind in der Wirklichkeit. Ich will wirklich nicht wissen, was er gerade von mir denkt. Ich glaub mir wird schon wieder schlecht. Darum mache ich mir aber noch die wenigsten Sorgen, er hat mich immerhin von sich aus getröstet, was schon merkwürdig genug ist; mehr beunruhigt mich die Tatasche, dass er mich, am Boden liegend, vor Angst wimmernd, zitternd und weinend, ohne meine schützende Maske gesehen hat, dass er erkennen konnte, wer ich wirklich bin. Ganz egal, was ich ihm jetzt noch vormache, er wird mir nichts davon glauben, weil er „Mich“ gesehen hat. Hässlich, mickrig, abstoßend, widerlich und erbärmlich. Eigentlich könnte er einem ja Leid tun; so was sollte man niemandem zumuten. Würde ich diese Scheußlichkeiten nicht jeden Tag aus nächster Nähe begutachten, hätte ich wahrscheinlich jede Nacht Alpträume von diesem Anblick. Unter seinem wachen Blick, der unverwandt auf mich gerichtet ist, fühle ich mich nackt und ausgeliefert, wie ein Soldat, der mit nichts als seiner Haut ausgerüstet hinaus aufs Schlachtfeld treten muss. All meine altbewährten Kampftechniken kann ich hier nicht anwenden, er hat mich durchschaut und auf die hinterhältigste Art handlungsunfähig gemacht, die man sich nur vorstellen kann: er gibt mir das Gefühl in seiner Schuld zu stehen. Etwas in mir sträubt sich dagegen ihn erneut abweisend zu behandeln und dieses widerwärtige Etwas meint doch tatsächlich, ich solle sogar nett zu ihm sein. Nett ist ein Wort, das in meinem Wortschatz nicht vorkommt. Der Eintrag: Wie bin ich nett zu meinen Mitmenschen; eine einfache Anleitung für soziale Krüppel aus meinem inneren Lexikon ist so vergilbt und eingestaubt, dass ich nichts entziffern kann. Wie ein Fisch öffne und schließe ich meinen Mund, ohne auch nur einen Laut von mir zu geben. Ich schaffe es immer wieder mich noch tiefer in die Scheiße zu reiten. „Ist schon gut, du muss nichts sagen, wenn du nicht willst.“ Warum muss er nur so verdammt verständnisvoll sein und mir damit noch mehr schlechtes Gewissen verpassen. Reib’s mir ruhig unter die Nase. Ich bin unsozial. Noch immer haben wir uns nicht vom Platz gerührt. Er wartet auf etwas ganz Bestimmtes. Ich war nie gut in so was und dass ich es jetzt überhaupt versuche, zeigt schon wie viel schlechtes Gewissen er mir gemacht hat. Verdammt soll er sein, mich so weit zu treiben. Schon einmal war ich zu feige meinen Mund aufzumachen, diese Blöße will ich mir nicht ein weiteres Mal geben. Vor ihm habe ich mich sowieso schon mehr zum Affen gemacht als gesund ist. Ich hoffe bloß, er hat keine Affinität zu Zootieren. „Danke…Denis.“ Das Lächeln, das sich diesmal in seinem Gesicht ausbreitet macht mir seltsamerweise nichts aus, im Gegenteil, es fühlt sich gut an, sehr gut sogar. Der Gedanke, dass ich jetzt gerne zurückgelächelt hätte, rast durch mein Hirn und ich habe den überwältigenden Drang mich dafür sofort einweisen zu lassen. Ich kann nur froh sein, dass meine Gesichtsmuskeln sich so lange nicht mehr zu dieser Art von Grimasse verziehen mussten, dass ich schlicht und ergreifend vergessen habe wie. Meine Maske sitzt wieder tadellos, sie ein weiteres Mal in seiner Gegenwart zu verlieren könnte fatal sein. Eine Hand reckt sich in mein Gesichtsfeld: „Was hältst du davon, wenn wir erst mal aus der Schule verschwinden. Ich glaube ein bisschen frische Luft könnt dir echt gut tun.“ „Nichts einzuwenden.“ Ich ergreife seine dargebotene Hand und lasse mir vom Boden aufhelfen. Offenbar ist mein Selbstschusssystem noch nicht ganz hochgefahren. Die Wärme, die von ihr ausgeht, lässt mein Herz schneller schlagen. Ich bewege mich auf einem gefährlichen Grat; links und rechts von mir ist nichts als Dunkelheit. Ich werde seine Hand schon sehr bald loslassen müssen, wenn ich nicht fallen will und dennoch ist sie, in dem Eissturm, der unaufhörlich über diesen Grat fegt, so wunderbar warm… Kapitel 3 Teil 2 Elija wankt im Moment neben mir her, wie eine wandelnde Leiche, von der er sich ungesunderweise auch die Farbe abgeschaut hat. Feuchte Spuren auf seinen Wangen glitzern im Sonnenlicht, der Wind spielt mit seinen tiefschwarzen Haaren und wirft sie ihm mit sanfter Wucht in die erstaunlich grünen Augen, aus denen er sie mit unwirschen Bewegungen wieder entfernt. Noch immer sieht er ziemlich mitgenommen aus, obwohl schon ein bisschen Leben in sein Gesicht zurückgekehrt ist. Die ganze Zeit kann ich fühlen, wie er in meinen Armen lag. Hilflos, weinend, zitternd und beängstigend kalt. Ich konnte nicht anders, als ihn zu umarmen und ihn zu trösten. Schock. Angst. Sorge. Mitleid. Hilflosigkeit. Sie alle überfielen mich, haben mich auch jetzt noch fest in ihrem Würgegriff. Nie habe ich einen Menschen so gesehen. So verängstigt, so vollkommen verloren, so allein. Wie ein kleines Kind, das nichts nötiger hat, als eine einfache Umarmung und ein bisschen von der Zuwendung, die jedem Kind selbstverständlich und ohne nachzudenken zusteht. Die es braucht, genauso wie Essen und ein Dach über dem Kopf. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, dass ich ihn tatsächlich wie ein Baby im Arm gehalten habe, verspüre ich ein leichtes Brennen in meinen Wangen. Ich habe ihn Hin und Her gewiegt und ihn sogar gestreichelt, das Brennen verstärkt sich. Bewusst versuche ich das Gefühl abzuschütteln. Was ist nur in mich gefahren, jeder, absolut jeder hätte in dieser Situation das Gleiche getan. Kein Grund gleich Rot zu werden. Ich kann fühlen, wie sein Blick mich streift und die Röte auf meinen Wangen vertieft sich noch. Mann ist das peinlich! Ich steuere eine Bank am Ende des Schulgeländes an, merke jedoch auf halbem Weg, dass er immer noch an der Stelle steht an der ich ihn zurückgelassen habe und mich seltsam mustert. „Elija, jetzt beweg dich schon her!“ Während er sich, zu meinem Erstaunen, langsam in Bewegung setzt um meiner Aufforderung Folge zu leisten, beobachte ich ihn genau, zum x-ten mal an diesem Tag. Ein gebrochener Junge kommt da auf mich zu, die Schultern eingezogen, wie ein geschlagenes Tier, den Blick gesenkt, einen Fuß vor den Anderen setzend, wie unter großer Anstrengung, von Oben bis Unten in Schwarz gehüllt. Kraftlosigkeit und Müdigkeit liegen auf seinen Bewegungen und eine ganz und gar unpassende Aura von Alter umgibt seine junge Gestalt. Wieder schnürt es mir die Brust zu. Kein Junge im meinem Alter sollte so aussehen. Er macht den Endruck eines Menschen, der des Lebens bereits müde ist und das noch bevor es überhaupt richtig begonnen hat. Kurz bevor ich ihn in diesem Flur in die Arme nahm, wurde seine angespannte Haltung plötzlich weich. Gegen was auch immer er gekämpft hatte, er gab auf, ließ sich einfach fallen, als ob ihm alles egal wäre. Ich muss sagen, das macht mir Angst. Zum Einen, weil ich ihn nicht verstehe und zum anderen, und gerade diese Tatsache macht mir zu schaffen, weil ich ihn nicht verstehen will. Ein kleiner Teil meines Kopfe weigert sich beharrlich allzu tief einzutauchen und mit einem Schaudern und dem Bild von Elija mitten auf dem Schulgang, frage ich mich, ob er nicht einen guten Grund dazu hat. Elija lässt sich neben mir auf die Bank fallen und schaut in den Blauen Himmel. Einen kurzen Moment sind seine Augen leer und leblos, bevor er angestrengt blinzelt, um den teilnahmslosen Schleier aus ihnen zu verbannen. Was ist dir nur geschehen? Die Stille, die uns umgibt ist nicht drückend und feindselig sondern eher ruhig. Nicht nur die Stille hat sich verändert, auch zwischen uns ist etwas anders. Schon vorhin, als er sich bedankt hat, habe ich es gespürt. „Weist du, ich war ehrlich überrascht, dass du ich bei mir bedankt hast, a…“, fange ich an. „Und ich erst.“ „Ähhh...?“ „Ich meinte: Ich war auch überrascht. Diese Funktion hatte ich eigentlich aus meinem Programm gelöscht. Jemand anderes hätte auch keinen müden Ton zu hören bekommen“, er murmelt noch ein paar ärgerliche Worte hinterher, die ich aber, wahrscheinlich glücklicherweise, nicht verstehen kann. Ein Grinsen formt sich auf meinem Gesicht. „Willst du damit andeuten, ich bin was Besonderes für dich?“ „So ein Schwachsinn…“, ein leichter Rosaschimmer liegt auf seien Wangen, während er mit der sorgfältig beachteten Schuhspitze einen bemerkenswerten Graben in die Erde ritzt. Ich glaub ich spinne! Das ich das mal erleben darf. „Ich nehm’ das jetzt mal als ja. Ich fühle mich geehrt.“ Das meine ich auch so. Wer kann schon von sich behaupten einer seiner Auserwählten zu sein; ich schätze mal, die kann man an ein bis zwei Fingern abzählen. Elija dagegen scheint nicht besonders begeistert zu sein, wie sich unschwer an seinen zusammengezogenen Augenbrauen erkennen lässt, und es folgt ein langes Schweigen, in dem jeder von uns seinen Gedanken nachhängt. „Darf ich mal was fragen?“ „Mhm…“, gedankenverloren starrt Elija gen Himmel. „Du musst mir nicht antworten, wenn du nicht willst. Wenn es dir unangenehm ist, dann…ich will dich zu nichts zwingen…i-“ „Jetzt fang schon endlich an, bevor ich’s mir anders überlege!“, genervt sieht er mich an. „Da vorhin im Flur…“, sein Gesicht verdüstert sich, „Was ist da mit dir passiert, ich meine, dass du so, so…“ „Nichts!“, kommt es sofort zurück. Ich ziehe skeptisch eine Braue nach oben. „Wenn es etwas gibt, was mehr von 'Nichts' abweicht als die Szene von gerade Eben, dann fress ich ein Dutzend Besen und zwar mit der Bürste voran.“ „Stell mich nicht vor lösbare Aufgaben, du könntest Magenprobleme bekommen. Sag mir auf jeden Fall Bescheid, wenn du dein Mahl zu dir nimmst, das darf ich nicht verpassen,“ gereizt funkelt er mich an. „Ich kann dir auch gern bei der Auswahl deiner Speisen behilflich sein, du weißt ja, mit Putzkram kenn ich mich aus.“ Ungerührt sehe ich ihn weiter an. So leicht lasse ich ihn nicht vom Haken. „Meine Fresse, du nervst!“, spuckt Elija mir förmlich entgegen, bevor er sich merklich zusammenreißt, „Ich weiß es auch nicht so genau... Erinnerungen... es sind wohl ein paar alte Erinnerungen hochgekommen…“ „Und woran hast du dich erinnert?“ Erschreckend kalt kommt es zurück: „Das, geht dich nichts an!“ Er scheint mein Zurückzucken bemerkt zu haben, denn er setzt nach: „Tut mir Leid - nein eigentlich nicht- aber du hast nun mal eine Frage gestellt, auf die ich dir keine Antwort geben kann und will. Ich kenne dich nicht und selbst wenn… es gibt niemanden, lebend, tot oder irgendwas dazwischen, der mich so weit bringt, zu ihm auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Also schmink’s dir gleich ab.“ „Verstehe.“ Deutlicher braucht er es mir nicht zu sagen. Verwundert bin ich dagegen nicht wirklich, ich hatte nie erwartet, dass er tatsächlich mit etwas herausrückt. Einen Versuch war es wert und dass er mich überhaupt einer Antwort für würdig befunden hat, muss ich schon als gigantischen Erfolg verzeichnen. Dieser Kerl erfordert ganz neue Maßstäbe. Im nun folgenden Schweigen kann ich seine Augen unverwandt auf mir spüren, bis es mir schon fast unangenehm ist, auch wenn ein keiner aberwitziger Teil von mir sich abartig geschmeichelt fühlt. Ich muss seinen Blick irgendwie in andere Bahnen lenken, vorzugsweise weit weg von mir. „Was machen wir denn jetzt. In den Unterricht zurück zu gehen, ist glaube ich keine so gute Idee. Wie wär’s, wenn wir in die Stadt gehen. Ich hab schon lang nicht mehr Blau gemacht.“ Wie erwartet folgt erstmal keine Antwort. Dann sehr zögerlich: „Ich mache mir nichts aus so was. Vielleicht sollte ich lieber nach Ha…“, er stockt mitten im Satz. Seine Augen weiten sich ein wenig und er wird wieder blass. Etwas ist definitiv nicht in Ordnung. Ich traue mich allerdings nicht mehr zu fragen. Er scheint mit sich zu ringen und würgt dann ein nicht sehr überzeugendes „OK“ heraus. Mehr kann ich von ihm nicht erwarten. Immerhin kommt er mit. Innerlich klopfe ich mir für diesen Verdienst auf die Schulter. Voller Vorfreude springe ich auf und werfe mir meinen Rucksack über sie Schulter. Er schaut mich an als wäre ich der Yeti höchstpersönlich. „Welche Pillen schluckst du denn? Bist du sicher, dass du nicht zu viele erwischt hast, das ist doch nicht mehr normal!“, meint er kopfschüttelnd. Ich kann mir ein breites Grinsen nicht mehr verkneifen und klopfe ihm wohlmeinend auf die Schulter. „Wenn du willst kannst du gerne was abhaben, allerdings befürchte ich, dass selbst meine enormen Vorräte nicht ausreichen um dir gute Laune zu verschaffen.“ Jetzt wo ich so darüber nachdenke habe ich ihn wirklich noch nie mit auch nur ansatzweise guter Laune erlebt. Ich würde zu gerne wissen, wie er aussieht, wenn er lächelt. Was für ein absurder Gedanke. Ich laufe zum dem Eisentor, das in alter Gefängnismanier, die Schüler von der Außenwelt trennen soll. Vielleicht lerne ich ihn ja ein bisschen besser kennen, jetzt, wo das Eis gebrochen ist. Und vielleicht werde ich ja auch sein Lächeln zu Gesicht bekommen. Was mir daran allerdings so diebische Freude bereitet, dass mein Herz wie wild klopft, ist mir nicht klar. Ich wende mich vor dem Schultor noch mal um. Er ist mir nicht gefolgt. „Wo bleibst du denn! Der nächste Bus in die Innenstadt fährt gleich.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)