Brüder von Mono-chan (das letzte Kapitel ist da) ================================================================================ Kapitel 42: Comeback -------------------- Das Stadion war bis auf den letzten Platz ausverkauft. Das Publikum toste. Die Gesänge und Sprechchöre waren sogar im Inneren der Umkleidekabine zu hören, wo Tsubasa auf einer Bank saß, den Kopf an die kühle Wand gelehnt und die Augen geschlossen. Er war im Moment allein, aber das störte ihn nicht, im Gegenteil. Er hatte es sich in den letzten Jahren angewöhnt, sich vor den Spielen für ein paar Minuten einen stillen Platz für sich zu suchen, um seine Gedanken zu sammeln und sich ganz auf die nächsten eineinhalb Stunden einstellen zu können. Seine Teamkameraden kannten das und ließen ihn meistens in Ruhe. Und dieses Mal brauchte er diese Minuten dringender denn je. Je lauter die Zuschauer schon jetzt auf der Tribüne tobten, je stärker ihre Gesänge und ihr Klatschen und Stampfen in dem kleinen Raum zu hören waren, desto unwirklicher erschien ihm das Ganze. Eigentlich konnte er kaum realisieren, dass er hier saß und auf den Startpfiff wartete, der in guten fünfzehn bis zwanzig Minuten durch das Stadion hallen würde. In Anbetracht der letzten Monate erschien ihm die Situation geradezu grotesk und surreal. Es war beinahe so, als wäre Hideos Amoklauf gar nicht passiert. Aber es war passiert. Daran erinnerten ihn die orthopädische Sportbandage an seinem Bein, die den Muskel entlasten sollte und ihm noch eine ganze Zeit lang erhalten bleiben würde – mit etwas Pech sogar für immer – und der schmale silberne Ring an seiner Hand. „Hey.“ Tsubasa zuckte zusammen, hob den Kopf und öffnete die Augen. Gerade noch rechtzeitig – er griff reflexartig zu und fing die kleine Flasche auf, die Carlos ihm zugeworfen hatte. „Selbstgemacht, wie immer.“ Carlos setzte sich neben ihn. „Mit vielen Grüßen von Maria.“ Tsubasa blickte auf die Flasche in seinen Händen und lächelte unwillkürlich. Zitronen-Limonade. Daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht – auch das war eine Art Ritual geworden vor jedem Spiel, bei dem sie gemeinsam auf dem Platz standen. „Danke.“ Carlos winkte ab, auch wie jedes Mal, dann musterte er Tsubasa mit leichter Neugier. „Und, wie geht’s dir? Nervös?“ Tsubasa zuckte mit den Schultern und stellte die Flasche neben sich. „Nicht mehr wie sonst, glaube ich.“ „Ehrlich? Respekt!“ „Warum?“ Carlos starrte ihn an. „Da fragst du noch? Dein erstes Spiel nach der ganzen Sache, dazu ein ausverkauftes Stadion plus die stärkste Mannschaft in der Region als Gegner – ach ja, und natürlich die Anwesenheit von allen Sponsoren und der Presse. Also ehrlich…. Wenn es um meinen Vertrag gehen würde….“ Tsubasa lächelte leicht. „Tut es ja nicht. Also kannst du dich beruhigt entspannen.“ Carlos starrte ihn immer noch an. „Also du tust nicht nur so, ja? Du bist wirklich nicht nervös?“ „Doch, schon. Aber eben nicht mehr als sonst. Es ist immerhin nur ein Spiel. Ein wichtiges zwar, aber eben nur ein Spiel.“ Das war ein Vorteil der ganzen Geschichte. Fußball war Fußball. Nicht mehr, nicht weniger. Tsubasa freute sich darauf, wieder auf dem Platz zu stehen, und er wusste, dass heute einiges auf dem Spiel stand, sowohl für ihn, als auch für Sanae. Aber es war nun einmal nur Fußball. Was konnte da schon schlimmes passieren? „Ein Spiel.“, wiederholte Carlos ungläubig und schüttelte den Kopf. „Und das von dir. Na ja. Vermutlich ist es ja eine gute Sache, dass du so entspannt da rangehen kannst. Entspannte Spieler spielen immer besser als gestresste. Aber….“ Er zögerte. „Du musst dir wegen der Verletzung keine Sorgen machen, es ist ausgeheilt. Ich habe grünes Licht vom Sportarzt, vom Physio-Therapeuten und von Roberto.“ Zumindest mehr oder weniger. Alle hatten ihm geraten, noch ein bis zwei Wochen zu warten. Er trainierte erst wieder seit gut zwei Monaten und davon erst knappe zwei Wochen gemeinsam mit der Mannschaft. Davor hatte Roberto mit Erlaubnis des Vorstands separate Trainingseinheiten für ihn ausgearbeitet, um bei Bedarf auf seine Verletzung Rücksicht nehmen zu können und auch seine Kondition und die restliche Muskulatur schonend wieder aufzubauen. Aber länger warten kam nicht in Frage, dafür hing zu viel von diesem Vertrag ab. Sanae war immer noch in Japan in Behandlung. Die Kopfverletzung und das lange Koma hatten zwar keine bleibenden Schäden hinterlassen, was an ein kleines Wunder grenzte, aber sie musste vieles von Grund auf neu lernen. Am schlimmsten war ihre Feinmotorik betroffen ebenso wie ihre Beine. Sie machte zwar gute Fortschritte – seit kurzem konnte sie zumindest kleinere Strecken beinahe wieder ohne Hilfe laufen – aber es war immer noch ein weiter Weg, und Tsubasa wollte, dass sie jede Unterstützung und medizinische Versorgung bekam, die sie brauchte. Und das kostete Geld. Zum Glück hatten sie die letzten Jahre in Sao Paolo sehr sparsam gelebt und zumindest fürs erste mussten sie sich um die finanzielle Absicherung keine Sorgen machen, aber ewig würde das nicht reichen - unter anderem auch deswegen, weil Tsubasa im Augenblick ständig zwischen Japan und Brasilien hin und herreisen musste und weitere Kosten auf sie zu kamen. Er brauchte diesen Vertrag. Wieder wurde er sich dem schmalen, schlichten Ring an seiner Hand bewusst. Niemand hatte bis jetzt etwas gemerkt – zumindest hatte ihn niemand darauf angesprochen, und das war gut so. Wenn es sich zu schnell herum sprach, würde früher oder später vermutlich doch die Presse darauf anspringen, und das war jetzt, wo das Interesse endlich wieder abgeklungen war, das letzte, was sie brauchen könnten. Sie hatten geheiratet, kaum dass sie beide die Erlaubnis bekommen hatten, die Klinik zumindest temporär zu verlassen. Nur ihre allerengsten Freunde wussten davon – Taro, Ryo, Izawa, Kojiro, Yukari. Und natürlich ihre Familien. Es gab keine Feier, nicht einmal einen Heiratsantrag. Sie hatten nicht einmal großartig vorher darüber gesprochen. Für beide war klar gewesen, dass es nach dieser Geschichte genau das war, was sie wollte. Davon abgesehen war es so einfacher für Tsubasa, Sanaes Behandlung zu bezahlen. Aber dieser rationale Grund war ihnen ironischerweise erst ein, zwei Wochen nach der Hochzeit bewusst geworden, als es an das Ausfüllen der Formulare für Sanaes Verlegung in ein Rehabilitationszentrum ging. „Tsubasa?“ Er zuckte wieder leicht zusammen und wandte den Kopf. Carlos blickte ihn mit leicht gerunzelter Stirn an. „Sicher, dass alles okay ist?“ „Ja, alles bestens. Ich war nur in Gedanken.“ „Aha.“ Carlos wirkte nicht vollständig überzeugt, beließ es aber dabei. „Ich vermute, dass du heute Abend schon wieder zurück fliegst?“ „Ja. Ich fahre direkt nach dem Spiel zum Flughafen.“ „Und übermorgen für das nächste Spiel bist du wieder hier?“ „Ja.“ Carlos schüttelte leicht den Kopf. „Ich an deiner Stelle würde das nicht durchhalten. Sicher, dass du nicht lieber noch mal Urlaub nehmen willst, bist sich bei dir alles wieder normalisiert hat? Mit dem Umzug und so? Nicht dass es dich wieder umhaut, so kurz nach…“ Er brach ab. „Na ja, du weißt, was ich meine.“ Tsubasa lächelte schwach. Das war ein interessantes Phänomen. Niemand redete großartig darüber. Nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte, im Gegenteil – aber die meisten seiner Teamkameraden hier schienen eine stumme Übereinkunft getroffen zu haben, ihn nach Möglichkeit unter keinen Umständen an die ganze Geschichte zu erinnern und ihn in Ruhe zu lassen. Und niemandem schien das so schwer zu fallen wie Carlos. Auch das war wiederum kein Wunder, immerhin war Carlos der erste, mit dem er sich hier angefreundet hatte. Ein einziges Mal, gute zwei Wochen, nachdem Tsubasa nach Sao Paolo zurück gekehrt war, hatte Carlos seinen Mut zusammen genommen und ihn gefragt, ob die Gerüchte stimmten und wie es Sanae ging. Danach nie wieder. Genau genommen war jetzt das zweite Mal, dass er es zumindest indirekt ansprach. „Ich schaffe das schon, keine Sorge. Ich will nicht schon wieder Urlaub, ich war lange genug weg.“ Davon abgesehen war das Wort „Urlaub“ im Moment noch eindeutig negativ behaftet. In der Hinsicht hatte Roberto mit seiner halb ironisch gemeinten Bemerkung im Krankenhaus gar nicht unrecht gehabt…. „Trotzdem.“, beharrte Carlos. „Ich meine, du fliegst so oft nach Japan im Moment, und oft am selben Tag dann wieder zurück. Der Jetlag muss mörderisch sein! Und dazu hast du die Sachen für deine Familie hier organisiert und für diesen Freund von dir – wie hieß er noch mal?“ „Taro.“ „Ah, richtig. Wann kommt der eigentlich?“ „Mit mir zusammen, wenn ich am Sonntag zurückfliege.“ „Ah.“ Carlos schwieg kurz, dann redete er weiter. „Na ja, was ich sagen wollte – es wäre viel einfacher, wenn du frei hättest.“ „Das passt schon so.“ „Aber…“ Carlos wurde unterbrochen, als Roberto die Kabine betrat. „Noch fünf Minuten. Carlos, die Anderen wärmen sich schon auf dem Platz auf, besser, du fängst auch damit an.“ Carlos zögerte, aber nur für eine Sekunde. Dann drückte er kurz Tsubasas Schulter. „Na dann. Dein letztes Spiel als Reserve-Spieler. Viel Glück!“ Damit verließ er die Kabine, und Tsubasa war mit Roberto allein, der ihn prüfend musterte. „Du bist dir sicher?“ „Ja.“ „Du weißt, dass du noch warten könntest. In vier Wochen wäre vermutlich die nächste Chance…“ Tsubasa schüttelte nur den Kopf, und Roberto beließ es dabei. „In Ordnung. Denk daran, dass du unnötige Sprints vermeidest – teil dir deine Kräfte gut ein und halt dich an das, was wir gestern im Training durchgesprochen haben. Dann dürfte eigentlich alles gut gehen. Die Sponsoren haben dich schon öfter spielen sehen und ich denke nicht, dass sie deine Aufnahme in die Stamm-Mannschaft von einem Sieg abhängig machen. Aber es würde die Sache natürlich erleichtern.“ Tsubasa nickte wieder, dann stand er ebenfalls auf und verließ die Kabine, Roberto dicht hinter ihm. Mit jedem Schritt wurde das Getöse auf dem Stadion lauter, und mit einem Mal kam ihm ein neuer Gedanke. Kenji und Hideo hatten genau das hier verhindern wollen. Der Gedanke, dass sie in mehr als einer Hinsicht gescheitert waren, erfüllte ihn mit einer Art grimmigen Befriedigung. Sie hatten sein Leben nicht unbedingt positiv beeinflusst, aber trotzdem hatten sie es nicht geschafft, ihm das wegzunehmen, was es ausmachte. Ganz im Gegenteil – er wusste jetzt, was ihm wirklich wichtig war, und er würde dafür sorgen, dass es so blieb. Und mit diesem Gedanken atmete er ein letztes Mal tief durch und betrat das Fußballfeld. Das letzte Spiel als Reserve-Spieler, und dann zurück zu Sanae….. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)