New Tomorrow von Mayana (I am what I am) ================================================================================ Kapitel 2: der schlafende Engel ------------------------------- Kapitel 2 Als ich auf der Rettungsstelle des ICU Krankenhauses ankam, herrschte eine große Aufregung auf den Gängen. Es war gar nicht leicht unter all den herumlaufenden Menschen Yuri ausfindig zu machen. Doch dann sah ich sie in sich zusammengesunken am Rand sitzend. Sie sah so aus, als nähme sie von ihrer Umgebung nichts mehr wahr. Ich ging zielstrebig auf sie zu. Als ich vor ihr stand, sah sie zu mir hoch. »Da bist du ja.« , schluchzte sie und begann wieder bitterlich zu weinen. Das Gleiche hätte ich am liebsten zu ihr gesagt, stattdessen setzte ich mich wortlos neben sie, nahm sie in den Arm und versuchte sie zu beruhigen. Es brauchte eine gewisse Zeit und viele aufmunternde Zusprüche bis Yuri halbwegs zur Ruhe kam. »Was ist eigentlich passiert?« , fragte ich vorsichtig, denn ich wollte sie nicht unnötig zum Weinen bringen. »Ich…« war alles was ich von ihr zu hören bekam. Sie schnaubte in ein Taschentuch und wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht. Man sah ihr an, dass sie sich schwer zusammenreißen musste, nicht wieder los zu weinen. Es fiel ihr schwer das Ganze wieder- zugeben. Und auch dafür war meine Geduld gefragt, da Yuri das ganze Geschehen nur bruchstückhaft berichtete. Eine Weile später hatte ich erfahren, dass sie mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war. Sie sei in Gedanken versunken gewesen und sie schwor mir, dass sie nur eine winzige Sekunde unachtsam gewesen sei. Doch da sei es auch schon geschehen und sie hätte ein Mädchen förmlich über den Haufen gefahren! Sie hatte nicht weiter gesprochen, doch als sie es versuchte, erkannte ich schon an ihrem Blick, dass sie wohl Schreckliches hatte mit ansehen müssen. Yuri tat mir leid. Warum musste ihr auch so etwas Traumatisches passieren? Gerade Yuri, die sich immer alles so zu Herzen nahm. Mich würde es nicht wundern, wenn sie nie wieder Fahrrad fahren würde. »Wo ist das Mädchen jetzt und weißt du wie es ihr geht?« Yuri schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Aber sicher nicht gut, denn ich habe sie angefahren. Und du hättest ihre aufgeregten Eltern sehen sollen. Ich wusste in dem Moment gar nicht, was ich tun sollte.« , schniefte sie. »Aber wo ist sie jetzt?« Yuri sah mich mit großen Augen an. So als wollte sie mich fragen, warum ich das wissen wolle? »Sie ist kurz bevor du kamst auf die Station 4 verlegt worden.« , sagte Yuri und wirkte bei diesen Worten wieder traumatisiert. Sie hatte wohl wirklich schlimme Dinge gesehen. Ich hoffte, dass es dem Mädchen einigermaßen gut ging. An die Folgen, die Yuri sonst erwarten würden, wollte ich lieber noch nicht denken. Schon bei dem Gedanken daran, dass ich sie wieder aufbauen müsste, hoffte ich, dass dieser Tag gut für sie ausgehen möge. Da sie schuldig war, würde daher noch einiges auf sie zukommen. Es war nur für beide Seiten zu hoffen, dass alles halb so schlimm war! Für Yuri, für mich und natürlich für die Eltern und ihre Tochter! »Magst du mitkommen? Ich möchte mich noch nach dem Zustand des Mädchens erkundigen.« , sagte ich und wartete auf ihre Antwort. Yuri nickte, erhob sich schwerfällig und trottete mir mit gesenktem Kopf hinterher. Als ich mich an der Information erkundigte, erfuhr ich, dass sich eine Etage über uns die Station 4 befand. Eine Weile später betraten wir beide die Station mit einem mulmigen Gefühl. Ich sah mich um und musste feststellen, dass auch hier einige Menschen auf den Gängen beschäftigt hin und her liefen. Ich mochte Krankenhäuser nicht, denn sie und vor allem auch das Pflegepersonal, die Ärzte, die Angehörigen und Patienten vermittelten mir immer den Eindruck von Stress und einer Art von Hilflosigkeit. Egal, wie weit unsere Medizin auch schon entwickelt ist, Hilflosigkeit ist genau das, was es noch immer ausstrahlt. Yuri zupfte mir ungeduldig am Ärmel. »Was ist? Was hast du?« , fragte ich sie. »Das sind sie!« , flüsterte sie und deutete sehr vorsichtig in die Richtung zweier Menschen, die gerade mit einem Arzt sprachen. »Das sind ihre Eltern.« Am liebsten wäre ich sofort auf sie zugegangen, um sie nach dem Zustand ihrer Tochter zu fragen, und auch um noch ein Kommentar des Arztes mitzuhören, doch Yuri hielt mich ängstlich zurück. So musste ich sie erst einmal beiseite setzen, sie ermutigen zu warten und bekam leider nur noch am Rande einige Kommentare des Arztes mit, die in mir ein sehr beklemmendes Gefühl hervorriefen. Ich sah von weitem die Eltern mit dem Arzt reden und musste feststellen, dass sie mit dem Arzt englisch sprachen. Japaner waren sie nicht. Sie kamen nicht von hier. Aber egal, woher sie kamen, das, was sie gesagt bekamen, war für jeden deutlich zu verstehen. Mitgefühl packte mich. Wenn ich eines Tages ein Kind haben sollte, würde ich möglichst niemals in so einer Situation sein wollen. »Ihre Tochter ist, in anbetracht des Unfalls, schwer und besonders ungünstig mit dem Kopf aufgeschlagen. Sie hatte zwar nur eine leichte Platzwunde, dennoch musste sie genäht werden. Eine Narbe wird zurückbleiben, aber das ist bei weitem unsere kleinste Sorge.« , hörte ich den Arzt sagen und genau wie die Eltern des Mädchens, die den Arzt erschrocken ansahen, fragte auch ich mich, was denn noch schlimmer sei. Die Tatsache, dass sie eine Kopfplatzwunde hatte, die genäht werden musste, hörte sich schon nicht gut an und sprach auch nicht dafür, dass Yuri so einfach davonkommen würde. »Nun, bei Unfällen wie diesen, können wir nicht sicher sein, dass keine inneren Blutungen vorliegen. Deswegen möchten wir sie gerne mindestens zwei Tage zur Beobachtung dabehalten. Natürlich liegt die endgültige Entscheidung bei Ihnen, aber wir würden es Ihnen raten. Im Notfall kann man einfach schneller handeln.« »Natürlich das ist gar keine Frage. Sie wird bleiben.« , sagte ihre Mutter sofort. »Wann wird sie denn aufwachen?« , fragte nun ihr Vater und man merkte, wie tief auch in ihm noch der Schock saß. »Sicher bald…« , sagte der Arzt. »Was machen wir, wenn es richtig böse um sie aussieht / steht?« , fragte Yuri mich und lenkte mich von dem Geschehen ab. »Ich weiß es noch nicht Yuri. Ich werde erst mal mit ihren Eltern sprechen und hoffe, dass man schon im Vorhinein alles regeln kann. Wenn nicht…, das sehen wir dann.« , sagte ich und wollte ihr nicht zeigen, wie ernst die Sache eigentlich war. Wenn man es nicht so klären könne, würde das für uns einiges nach sich ziehen. »Ich möchte lieber nicht dabei sein. Kann ich nicht hier auf dich warten?« , fragte mich Yuri und wirkte wie ein Kind, das sich vor einer gruseligen Herausforderung drücken wollte. »Ist gut, ich mache das schon.« , war meine Antwort und ich machte mich auf den Weg. Immer war es meine Aufgabe alles wieder geradezubiegen, dachte ich gerade trotzig. So viel zum Thema: “freien Tag genießen“. Yuri hatte, auch wenn es nicht ihre Absicht war, nichts anderes getan, als mir weitere Arbeit zu geben. Nun musste ich dringend ihren Hals retten, denn wohl oder übel hing auch meiner letztendlich da mit dran. »Ähm, Verzeihung.« , sprach ich die Eltern des Mädchens an. »Mein Name ist Aoba! Ich habe soeben von dem Unfall gehört und wollte mich auch im Namen meiner Freundin nach ihrer Tochter erkundigen.« , sagte ich. Ich wusste mich nicht besser auszudrücken. Es war bemerkenswert, wie viel mir überhaupt noch an englischen Vokabeln einfiel. Yuri als meine Freundin zu bezeichnen, war zwar nicht richtig, aber erst umständlich zu erklären in welchem Verhältnis wir wirklich miteinander standen, war mir einfach zu kompliziert. Ich hatte schon vieles im Laufe der Jahre geregelt, denn das war mein Beruf und auch dieses Gespräch wurde wieder rein beruflich. »Das ist sehr freundlich von ihnen.« , sagte die Mutter. »Momentan ist sie noch nicht zu sich gekommen, aber wenn sie wollen, können sie gerne zu ihr rein. Wir kommen etwas später, dann hätten sie auch etwas Zeit für sich.« , sagte sie und sah mich genau an. Auch ihr Mann musterte mich von oben bis unten. “Schon klar, ich bin ein Fremder!” , ging es mir durch den Kopf und ich verstand sie. Schließlich führte mich der Vater zu dem Zimmer seiner Tochter. »Lassen sie sich ruhig Zeit. Wir haben nichts dagegen, außerdem hat dann jemand ein Auge auf sie!« , sagte er mir auf die Schulter klopfend und ging. Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, war ich allein. Allein mit dem Unfallopfer. Es war alles ruhig. Ganz still. Sie lag allein in diesem Zimmer, was zu meiner Erleichterung beitrug, denn mich auch noch von anderen beobachten zu lassen, wollte ich nicht. Ich trat vorsichtig an ihr Bett heran, denn ich wollte sie nicht aufwecken. Doch dann stolperte ich vollkommen erschrocken wieder drei Schritte rückwärts. Dort lag eine junge, doch erwachsene Frau im Bett! Ungefähr in meinem Alter! Ich hatte mit einem Kind gerechnet, die ganze Zeit über war mir nicht in den Sinn gekommen, dass es eine erwachsene Frau sein könnte. Mein Herz raste, dies war ein Schock. Zwar hatte Yuri nie erwähnt, dass es sich um ein Kind handelt, aber durch ihr so geschocktes Verhalten und das der Eltern, hatte ich mit einem Kind gerechnet. Ein Kind, das von seinen besorgten Eltern umringt wurde. Aber sie war eine Frau! Ich musste mich erst einmal setzen. Noch immer saß mir der Schock tief in den Gliedern. Mit der Hand vorm Mund betrachtete ich sie. Sie sah übel aus. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und an der Stirn prangte ein gigantischer Bluterguss. Morgen wäre er sicher nur noch ein blauer Fleck, aber heute sah sie echt fertig aus. Ihre Naht am Kopf war mit einem Pflaster abgedeckt. Ich sah sie von oben bis unten an, wie sie schlafend im Bett lag und bemerkte, wie mir bei ihren Anblick das Atmen schwer fiel. Mit einem Mal fühlte ich nach, was Yuri schon die ganze Zeit empfinden musste. Bedrückung! Eine ganze Weile saß ich nur da und betrachtete das Mädchen. Ihre langen, braun gelockten Haare verteilten sich auf dem Kissen in alle Richtungen. Ich betrachtete sie, bis sie sich regte. In dem Moment war ich aus meiner Starre erwacht. Doch in dem Moment, als dieses Mädchen die Augen aufschlug, war ich erneut wie erstarrt. Trotz all der blauen Flecken, der aufgeplatzten Lippen und ihrem schmerzverzerrten Gesicht, funkelten ihre großen, braunen Augen voller Leben. Sie sah wunderschön aus, dachte ich mit einem Mal. Sie versuchte sich aufzusetzen, doch anscheinend hatte sie wirklich starke Schmerzen. Verunsichert schaute sie sich im Raum um. Anscheinend hatte sie keine Ahnung, wo sie sich befand, schoss es mir durch den Kopf. Als sie sich wieder hinlegte, schloss sie erneut die Augen. “Hat sie mich nicht bemerkt?” , fragte ich mich und spürte erstaunt einen Anflug von Traurigkeit. ~*~ Als ich zu mir kam, brummte mein Kopf höllisch. Aber nicht nur der Kopf schmerzte, auch alles Andere tat mir weh. “Gott was ist bloß geschehen?” Als ich versuchte mich aufzusetzen, scheiterte ich und beließ es bei diesem einen Versuch. Ich lag in einem Bett, so weit konnte ich die Situation erfassen. Mit geschlossenen Augen lag ich da und versuchte mich zu erinnern. Bilder von einem Flugzeug stiegen mir in den Sinn. Ich saß in einem Flugzeug und Wolken zogen an mir vorbei. Schöne flauschige Wolken, wie aus einem Bilderbuch. Von draußen drangen ungewohnt, fremde Stimmen an mein Ohr. Jetzt fiel es mir wieder ein. Ich war in Japan und war mit meinen Eltern unterwegs gewesen. Ich war glücklich gewesen und hatte mir eine Karte für Dizzy Drive gekauft. Und was war dann geschehen? Ich hatte das Gefühl, dass das schmerzhafte, pochende Gefühl in meinem Kopf zunahm, je mehr ich mich versuchte zu erinnern. Ich fühlte mich gerädert und erschöpft und war schrecklich müde. Meine Eltern mussten doch sicher irgendwo in der Nähe sein, schoss es mir in den Sinn und ich sah mich nochmals suchend im Zimmer um. Doch was ich erblickte, ließ mich an meinem Urteilsvermögen zweifeln. »Träum ich?« , fragte ich die Person die neben meinem Bett saß, denn ich war mir sicher, dass ich nicht ganz bei Sinnen sein konnte. Und als ich eine Antwort erhielt fühlte ich mich in dieser Vermutung bestätigt. »Ich denke nicht!« , sagte er und lächelte mich an. Ich versuchte ihn mir genauer anzusehen, aber immer wenn ich mich anstrengte, schmerzte mein Kopf wieder so heftig, als wolle er sich bemerkbar machen. Lächelnd schloss ich die Augen. “Es ist schon erstaunlich, was man sich alles einbilden kann.” , dachte ich. »Du siehst aus wie Ren -chan.« , flüsterte ich bevor ich wieder einschlief. ~*~ Noch immer saß ich da und sah dieses Mädchen an. Sie atmete ruhig, doch auch im Schlaf war ihr Gesicht schmerzverzogen. Sie sah so verletzlich aus und doch wirkte sie so tapfer. Sie hatte gesprochen, dachte ich und merkte, wie sich eine leichte Wärme über mein Gesicht zog. Sie hatte eine beruhigende Stimme. Ihre Stimme klang leise, doch ich war erstaunt, dass es deutsche Worte waren, die ich vernahm. Natürlich war sie keine Asiatin, aber nachdem ich ihre Eltern englisch sprechen gehört hatte, hatte ich nicht erwartet, dass sie eine Deutsche war. Mit meinem bruchstückhaften Deutsch habe ich sie verstanden und mich seit langem sogar getraut zu antworten. Die Sprache hatte mir noch nie besonders gelegen und im Schulunterricht hatte ich mich vor dem Sprechen so oft es ging gedrückt. Aber heute, habe ich es einfach getan, ohne groß nachzudenken. Versonnen betrachtete ich sie erneut. Sie hatte mich Ren-chan genannt. Und mein Herz hüpfte bei dieser Erinnerung. Sicher, ich fragte mich, wie sie auf “chan” kam, aber hatte sie mich tatsächlich erkannt? Wusste sie, wer ich war? Ich hatte zwar gewisse Zweifel daran, aber dennoch freute ich mich, dass sie mich bemerkt hatte. Ihre Augen waren so groß und sahen so aus, als hätten sie versucht, sich alles von mir einzuprägen. Ich bekam nur von der Erinnerung eine Gänsehaut. Sie war schon ein außergewöhnliches Mädchen. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Yuri hereinkam. »Ren, ich glaube ihre Eltern wollen sie jetzt sehen.« , sagte Yuri und wartete darauf, dass ich mich von meinem Stuhl erhob. »Wir sollten jetzt gehen. Ich glaube, ich habe schon genug Schaden angerichtet!« , sagte Yuri und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen, als sie das Mädchen dort liegen sah. »Hey, sag das nicht! Es war ein Unfall, Yuri.« , sagte ich und fasste sie bei den Schultern. »Ihre Eltern sind unglaublich freundlich gewesen, sicher sehen sie es genauso.« fügte ich hinzu und verließ mit Yuri das Krankenzimmer. Als wir erneut auf die Eltern des Mädchens stießen, bedankte ich mich noch einmal dafür, dass ich ihre Tochter besuchen durfte und entschuldigte mich für den Unfall. Yuri sah den Eltern nicht in die Augen, sondern lief mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei. »Yuri!« , rief ich und rannte ihr hinterher. »Mein Fahrrad ist kaputt, der Ruf der Band ruiniert und die Eltern des Mädchens sähen mich am liebsten tot.« , sagte Yuri und war vollkommen aufgelöst. »Jetzt hör aber auf!« , sagte ich und wurde langsam wütend auf sie! »Unserer Band wird diese Sache keinen Schaden bringen, ihre Eltern wollen dich sicher nicht tot sehen und dein Fahrrad lässt sich doch locker ersetzten! « Yuri sah mich zweifelnd an. »Dass du nur immer so optimistisch bist.« , lächelte sie. Sie glaubte mir nicht, aber sie würde es später genauso sehen wie ich. Sie musste nur erst mal einen klaren Kopf bekommen. “Nur gut, dass du nicht alleine bist.“, dachte ich. Wozu Yuri in dieser pessimistischen Stimmung fähig sein würde, wollte ich besser nicht wissen. Es war spät geworden, als wir endlich bei Yuris Wohnung ankamen. Die Aussage bei der Polizei, dir Yuri noch tätigen musste, hatte länger gedauert, als erwartet. Danach war Yuri so fertig, dass ich sie keinesfalls alleine nach Hause laufen lassen wollte. Es war schon recht unpraktisch gewesen, dass keiner von uns mit dem Auto unterwegs gewesen war. So blieb uns nichts anderes übrig, als zu laufen. »Oh Gott, Ren, das wird uns noch nachhängen, was?« , sagte Yuri und wirkte am Boden zerstört. »Ich weiß gar nicht, wie mir das passieren konnte. Es tut mir leid, dass ich dir auch noch deine Zeit geraubt habe!« , schniefte Yuri. Sie war in einem schrecklichen Zustand. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie überhaupt einmal so gesehen zu haben. »Yuri, komm schon! Was heute geschehen ist, hätte nichts daran geändert, dass es momentan nicht besonders gut bei uns läuft. Lass uns ‘ne Pause einlegen. Jeder von uns sollte erstmal sein Leben auf die Reihe bekommen.« Doch dies waren anscheinend die falschen Worte gewesen und Yuri legte ihre Arme um mich, bettete ihren Kopf in meine Halsbeuge und weinte. Weinte so bitterlich, dass ich mir Sorgen machte, so mit ihr gesehen zu werden. Man könnte bei diesem Anblick viel zu leicht falsche Schlüsse ziehen. »Yuri? Lass uns hochgehen ja?« Ich wollte nicht, dass man uns sah. Der Gedanke mit Yuri so Arm in Arm gesehen zu werden war mir unangenehm. Mit feuchten Augen sah sie mich an. »Du kommst mit hoch? Bleibst du heut Nacht bei mir?« Eigentlich wollte ich nicht. Und Yuris flehende Augen zeigten mir, dass sie sich dem durchaus bewusst war. Ich war mir nicht schlüssig, darum wog ich Vor- und Nachteile ab. Eigentlich sprach nicht viel dagegen ein weiteres Mal bei Yuri zu übernachten. Vor ein paar Monaten, als wir noch in einer WG zusammen gewohnt hatten, hatte ich das jeden Tag getan. Was sollte nun anders sein? Nur mein Gefühl sprach dagegen, aber reichte das aus, um Yuri alleine zu lassen? »Na schön, aber nur für heute Nacht.« , sagte ich bestimmt und führte Yuri mit einem sanften Druck endlich in ihre Wohnung. Es war ein merkwürdiges Gefühl wieder hier zu sein. Versonnen sah ich mich um. Seit ich ausgezogen war, war ich nicht mehr hier gewesen. Verändert hatte sich kaum etwas. Alles schien genauso zu sein, wie sonst. »Dein Zimmer hat noch niemand bezogen. Es steht immer noch leer!« , sagte Yuri und sah mich dabei an, als wolle sie mich dazu auffordern wieder einzuziehen. Ich ignorierte diese Bemerkung. Sicher war sich Yuri gar nicht bewusst, was sie für unterschwellige Signale sendete, dachte ich und war ein wenig beleidigt. Ich wusste nur zu gut, dass Yuri damals nicht sehr erfreut gewesen war, dass ich ausziehen wollte, aber dennoch hatte ich es getan. Warum auch nicht? Ich hatte ja nicht ewig vor mit meiner besten Freundin zusammen zu leben. »Dann schlafe ich heute auf der Couch.« , war mein Kommentar dazu, woraufhin Yuri nur mit dem Kopf nickte. Was war nur los mit ihr? Klang mein Ton jetzt zu schroff? Meine taffe Yuri wirkte so… befangen. Hatte sie dieser Unfall so mitgenommen? Instinktiv ging ich auf sie zu und schloss sie in meine Arme. »Hey das wird schon. Wir bekommen das alles wieder hin. Wir haben es bis jetzt doch immer geschafft. Oder haben wir schon mal aufgegeben?« , versuchte ich sie aufzubauen. Das zaghafte Lächeln auf Yuris Gesicht schien jedoch nicht die Intensität zu haben, die ich mir erhofft hatte. »Ich mach dir dein Futton fertig.« , befreite sie sich aus meinen Armen und machte sich im Wohnzimmer zu schaffen. »Ok, du kannst.« , sagte sie und verschwand wieder. Ich sah Yuri noch nach und fragte mich wieder mal ,was los war. Allein im Wohnzimmer fielen mir die vielen Fotos auf, die anscheinend erst nach meinem Auszug hier ihren Platz gefunden hatten. Beim näheren Betrachten fiel mir auf, dass viele Fotos von mir darunter waren. Ein Lächeln erschien auf meinem Gesicht, wobei ich mir die Frage stellte, warum sie wohl so viele Fotos von mir aufgestellt hatte. So sehr konnte ich ihr doch gar nicht gefehlt haben. Immerhin sahen wir uns ständig auf Arbeit. Ist sie noch immer nicht darüber hinweg, dass ich ausgezogen bin, fragte ich mich, als ich eines der Bilder genauer betrachtete. »Ähm?« , wurde ich in meinen Überlegungen unterbrochen, als Yuri erneut in der Tür stand. Im Arm hielt sie einen Schlafanzug, den sie offensichtlich für mich mitgebracht hatte. Sie schien verunsichert und stand immer noch in der Tür. »Danke, Yuri.« ,sagte ich und lächelte sie an. Doch sie wurde daraufhin nur noch steifer, was mir nicht entging. »Du hast dir die Fotos angesehen?« ,fragte sie und eine leichte Röte überzog ihre Wangen. Auch diese entging mir nicht, denn sie konnte sie unmöglich verbergen. Was war nur mit ihr los. Irgendwas schien ich falsch zu machen, dachte ich, oder was war anders als sonst? »Ja, sie sind schön.« , sagte ich. Eigentlich lagen mir hunderte von anderen Sätzen auf der Zunge. Wie gern hätte ich sie geneckt und gefragt, ob sie mich etwa so vermisst hatte. Aber ich ließ es bleiben. Heute schien nicht ihr Tag zu sein und wer weiß, wie sie darauf reagiert hätte. Ich hatte nicht vor mich nachher noch mit ihr zu streiten, denn sicher hätten meine Worte einen Streit ausgelöst. »Der ist von deinem Cousin, oder?« , fragte ich auf den Schlafanzug deutend, den Yuri noch immer in den Armen hielt, um von den Fotos abzulenken. »Ja.« , sagte sie und legte ihn ab. Ein schüchterner Blick folgte. »Er ist momentan für ein paar Wochen bei seiner Freundin. Darum bin ich auch ganz allein hier.« , sagte Yuri und wagte es dabei kaum mich anzusehen. Ihr Cousin war der dritte Mitbewohner unserer kleinen WG gewesen und ich verstand mich sehr gut mit ihm. Meistens habe ich die Abende mit ihm verbracht und mir jede Menge Videospiele mit ihm angetan. »Schade, ich hätte mich gerne noch mit ihm unterhalten.« , sagte ich und griff nach dem Schlafanzug. »Aber vielleicht ergibt es sich ja demnächst mal.« Zwinkerte ich Yuri zu. Sie sah merkwürdig und unentschlossen aus und schien sich nicht ein bisschen zu freuen. Der Unfall schien sie ganz schön zu beschäftigen. Es war schon besser, dass ich heute Nacht hier schlafen würde, dachte ich und bereute nun nicht, dass ich mich dafür entschieden hatte. »Ja, demnächst vielleicht.« , wiederholte Yuri meine Worte monoton, warf mir erneut einen flüchtigen Blick zu, wurde rot und verschwand. Schon aus der Tür rief sie noch “gute Nacht” und ich hörte wie ihre Tür ins Schloss fiel. Yuri benahm sich merkwürdig. Es war dunkel, als ich erwachte und ich brauchte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass ich nicht, wie erwartet, in meinem Bett lag. Mein Kopf fühlte sich so schwer an, als hätte ich mich gestern gnadenlos betrunken! Schwer rappelte ich mich auf und sah mich um. “Fünf Uhr morgens und ich bin schon wach.” dachte ich und schüttelte den Kopf, vielleicht könnte ich dann klar denken. Es war Yuris Wohnzimmer, fiel es mir ein. Sicher, ich hatte ja hier übernachtet. Müde schmiss ich mich in mein Kissen zurück! Ich hatte so gut geträumt. Nur worüber? Ich kam nicht darauf, aber ich weiß noch, dass es ein sehr schöner Traum gewesen war. Lag das daran, dass ich bei Yuri geschlafen hatte? Ich kann mich nicht erinnern, je bei mir so gut geträumt zu haben. War das echt Yuris Einfluss? Nun dachte ich an Yuri, wie sie sich gestern Abend verhalten hatte. Gestern konnte ich es nicht begreifen und hatte es noch für eine Nachwirkung des Unfalls gehalten, doch je mehr ich darüber nachdachte, je mehr viel mir auf, dass sich Yuri schon eine ganze Weile so verhielt. Auf der Arbeit wie privat! Was beschäftigte sie? Vielleicht sollte ich in einem ruhigen Moment noch einmal unter vier Augen mit ihr reden? Sicher würde sie sich mir offenbaren, denn unsere Bindung war etwas Besonderes und ich weiß, dass ich ihr viel bedeute, sicher würde ich am meisten bei ihr ereichen. “Wenn es bei ihr doch auch so wäre, wenn sie nur bei mir wäre.“ , erschrocken setzte ich mich auf. “Worüber mache ich mir da eigentlich Gedanken.” , schallt ich mich. Warum konnte ich in Gedanken nicht einfach bei Yuri bleiben? Aber nein, dieses Mädchen von gestern, sie war es gewesen, die den Platz in meinem Kopf eingenommen hatte. Ihre großen, braunen, leuchtenden Augen, warum? Warum beschäftigt sie mich so? Es machte mich fertig an sie zu denken. Was wusste ich schon über sie? Gar nichts. Nicht ihren Namen, nicht ihr Alter, nichts. Nichts was mir helfen würde sie je wieder zu sehen. Noch erschrockener über diese Erkenntnis, stürzte ich förmlich ins Badezimmer, um mich fertig zu machen. Yuri würde nun sicher ohne mich zurecht kommen. Ich musste so schnell wie möglich zu diesem Mädchen, solange ich noch wusste, wo ich sie finden würde. Alle bedenken Yuri allein zu lassen waren wie weg! Dieses Mädchen dagegen,… ich wollte bei ihr sein! Und wenn es das letzte Mal sein sollte, Hauptsache ich sehe noch einmal ihr wunderschönes Antlitz. Im ICU Krankenhaus, stand ich da und konnte einfach nicht weiter gehen. “Was mach ich hier?”, fragte ich mich und ging unruhig hin und her. “Sie hat dich nicht mal gesehen, wenn du nun einfach reinplatzt, wird sie sicher nicht begeistert sein und was soll ich dann zu ihr sagen?”, fragte ich mich und konnte mich einfach nicht überwinden in den Fahrstuhl zu steigen, um zu ihr zu gehen. Ich setzte mich auf eine der Wartebänke und versuchte meine Gedanken zu ordnen. Ich war überstürzt hier her gekommen, ohne zu wissen was ich sagen sollte. Ich war nicht mit ihr Verwandt und auch kein Freund, wenn ich Pech hätte, würde ich nicht einmal zu ihr dürfen. “Und wer sagt das du Pech hast?”, flüsterte der mutigere Teil meines Selbst. “Versuch es doch einfach!” So stand ich auf und stieg in den Fahrstuhl ein, drückte mit zitternden Finger die Taste “OG” und sah zu wie die Türen sich schlossen. Während der Fahrstuhl sich mit einem Ruck in Bewegung setzte, versuchte ich nochmals meinen Mut zusammen zusammeln, um mit festen Schritt auf die Tür zu zugehen, hinter der das Mädchen lag, das mir keine Ruhe ließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)