Shard von MiBicci ================================================================================ Als Naoru völlig außer Atem bei der Schule seiner Schwester angekommen war, war diese die einzigste, die noch da war und wartete bereits mit in die Seiten gestemmten kleinen Armen auf ihn. Chitori hielt ihm den ganzen Heimweg über eine Standpauke und ließ sich erst besänftigen, als er ihr erklärte, er würde ihr dafür von seinem nächsten Monatsgehalt als Entschuldigung ein Geschenk kaufen. Auf der Arbeit war nicht besonders viel los. Alle freuten sich aufs Wochenende und waren nicht ganz bei der Sache, daher fiel es glücklicherweise auch nicht sehr auf, dass Naoru die ganze Zeit in Gedanken ganz woanders war. Er grübelte immer zu über Kizu nach. Der Kleine war so aufgelöst gewesen… Es musste doch irgendetwas geben, was er tun konnte um ihm zu helfen! Als er sich am Abend zur Lieferung ans Modoki aufmachte, freute und fürchtete er sich zugleich. Er wusste, dass er Kizu dort antreffen würde, was an sich ja etwas Positives war, aber der Grund dafür gefiel ihm gar nicht. Was der Junge brauchte war ein vernünftiger Job! Er lud in aller Ruhe den Lieferwagen ab und drang sich schließlich durch die Menge Richtung Bar, immer ein offenes Auge nach seinem Schützling Ausschau halten lassend. Leider erfolglos ließ er sich müde auf einen der Barhocker sinken, von denen an diesem Abend nicht gerade viele frei waren. Heute war offenbar viel los, dachte er sich, denn die ihm wohlbekannte Kellnerin wirkte irgendwie gehetzt. „Yo, Summer!“, gähnte er dem Mädchen hinter der Bar zu. „Naoru! Du bist heute aber früh dran! Wie kommt’s? Haste nachher noch n Date?“, grinste die Brünette ein wenig außer Atem, als sie ihn entdeckte. „Bloß nicht. Das letzte, was mir jetzt noch fehlt ist irgendein Mädchen, das mir an den Fersen hängt.“, seufzte Naoru, während er leicht nervös mit einem der zur Dekoration gedachten Papierschirmchen, das auf dem Tresen herumlag, spielte. Er musste sich noch dringend irgendwo Zigaretten ziehen, bevor er nach Hause fuhr. „Schlechten Tag gehabt?“, fragte Summer mit einem prüfenden Blick auf das erschöpfte Häufchen Elend, das da vor ihr auf der Bar hing, während sie weiter Bestellungen aufnahm. „Hier der wird dich aufheitern!“, erklärte sie und schob ihm einen türkis-blauen Cocktail zu, der wohl eigentlich für irgendeinen Kunden bestimmt gewesen war. Naoru betrachtete ihn skeptisch. „Der ist natürlich ohne Alkohol.“, fügte sie lachend hinzu. Der Dunkelhaarige, scheinbar durch ihre Worte beruhigt, sog kurz an dem pinken Strohhalm, stellte fest, dass das Getränk ihm ein wenig zu süß war, nahm aber trotzdem gleich noch einen Schluck. Zufrieden betrachtete das Mädchen ihr Werk, bis sie von einem Haufen Bestellungen wieder daran erinnert wurde, dass der Laden brechend voll war und sie zu arbeiten hatte. „Hey, Summer, wo bleibt mein Drink?“, ertönte eine Stimme hinter der Kellnerin, so dass diese sich, ein hitziges „Ich komm ja schon!“ rufend, umdrehte und Naoru den Rücken zuwand. „Viel zu tun, huh?“, murmelte er ihr zu, als sie sich wieder ihm widmete. Sie nickte eifrig „Zwei Kellner sind einfach viel zu wenig für diesen riesen Schuppen hier. Ich mein: Schau dir nur diese Menge Leute an! Und die wollen sich alle bis zur Besinnungslosigkeit besaufen! Dass ich hier nicht vor Erschöpfung aus den Latschen kippe ist das reinste Wunder!“, empörte sie sich wild gestikulierend und stach dabei fast einem ahnungslosem Teenanger neben ihr mit einem Cocktailschirmchen das Auge aus. „Mhh….“, machte Naoru und drehte sich auf dem Hocker, um einen Blick in die zu der lauten Musik tanzenden Masse zu werfen. Nach kurzer Zeit entdeckte er schließlich, wonach er suchte. Am hinteren Ende des Clubs lehnte Kizu an einer Wand und warf auch seinerseits einen suchenden Blick in die Menge. Naoru betrachtete ihn einen Moment, da kam ihm just eine Idee. Er drehte sich wieder der Kellnerin zu. „Summer! Hey, Summer!“, machte er sich über den Lärm, der aus den Boxen drang, hinweg verständlich. „Was’n?“, entgegnete die Brünette, während sie versuchte ein duzend Biergläser gleichzeitig zu füllen. „Kann ich dich vielleicht um einen Gefallen bitten…?“, begann Naoru und setzte dabei sein charmantestes Lächeln auf. „Lass die Nummer mit den Wimpern, worum geht’s?“, lachte Summer. „Siehst du den Jungen dahinten? Den mit den schwarzen Haaren und den wirklich, wirklich blauen Augen?“, fragte Naoru. Summer lehnte sich über die Bar hinweg und spähte angestrengt in die Menschenmenge. „Du meinst den der gerade von dem viel zu alten Typen da abgeschleppt wird…?“ „Was!?“, stutzte Naoru und wirbelte herum. In der Tat verschwand Kizu gerade mit einem resignierendem Blick und irgendeinem Kerl im Schlepptau, der alt genug wirkte, als dass er sein Vater hätte sein können, Richtung Herrentoilette. Naoru seufzte ergeben. „Ja genau der. Hör zu…“, begann er und winkte Summer heran um das Gespräch flüsternd fort zu führen… Später an diesem Abend stand Naoru draußen mit einer Kippe in der Hand in der angenehm kühlen Abendluft und genoss das Gefühl endlich wieder atmen zu können. Er hasste die Luft in solchen Clubs. Er befand sich am Hinter- bzw. Dienstboteneingang und rauchte, während er den Himmel betrachtete. Schon nach wenigen Minuten, wurde die Ruhe, die sich um ihn ausgebreitet hatte jedoch zerstört, da die Türe zum Lagerraum knarrend aufging und die laute Musik von drinnen wieder gedämpft an seine Ohren drang. Heraus trat Kizu, der ein wenig erschöpft wirkte und einen sehr eigenwilligen Duft an sich hatte. „Hi.“, sagte Naoru und paffte munter weiter. „Hi. Hör mal…diese Summer, hat eben mit mir gesprochen… ich... eh… wollte mich bei dir bedanken! Ich würd wirklich gern hier als Kellner anfangen! Die Bezahlung klingt echt nicht schlecht und so.“, erklärte Kizu hastig. „Das heißt du nimmst den Job?“, fragte Naoru sofort und blickte Kizu erwartungsvoll in die Augen. „…Ich…ich werd noch mal mit Sakito darüber sprechen.“, versicherte er ihm. „Hmpf.“, machte Naoru daraufhin nur und wand ein wenig enttäuscht den Blick wieder ab. „Wirklich, Danke.“, wiederholte Kizu noch einmal. „Nichts zu danken.“, erklärte er und betrachtete weiterhin den Abendhimmel. Sie schwiegen einen Moment. „Was…was ist das wonach du riechst?“, fragte er nach einer Weile, nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte. Kizu wurde knallrot. „…Der Typ von eben hat zu viel Aftershave benutzt.“, murmelte er kaum hörbar und sehr knapp. „Ich muss wieder los. Bis Montag dann.“, sagte er hastig und verschwand so schnell er konnte wieder in den Club, um nicht länger Naorus Blick standhalten zu müssen. Der Zurückgebliebene nahm zitternd einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Ihm war ganz und gar nicht klar, wie dieser Sakito es schaffte Abend für Abend neben seinem Freund einzuschlafen, wenn dieser nach einem andern Mann roch, ohne dass es ihn innerlich vor Eifersucht zerriss. Die Stille wirkte plötzlich unerträglich. Es ergab sich, dass sie sich bereits vor dem nächsten Montagmorgen in der Schule wieder sahen. Es war Samstag und Naoru hatte sich wie jedes Wochenende um sechs Uhr Morgens zur Arbeit aufgemacht. Ende der Woche schuftete er immer zusätzlich zu seiner Beschäftigung in dem Getränkehandel in einer Gärtnerei. Es war zwar ein Knochenjob, aber er hatte seinen Spaß dabei. Es war kurz nach Acht als er endlich fertig war und erschöpft seine Sachen zusammen packte. Draußen dunkelte es bereits, aber er beschloss noch kurz einen Abstecher zum Ufer zu machen um sich ein wenig zu entspannen. Chitori wartete zu Hause auf ihn und da seine Mutter an diesem Wochenende auf einer Geschäftsreise war, würde er sowieso nicht lange bleiben können. Nichtsdestotrotz machte er sich auf den Weg. Er brauchte wirklich dringend mal ein wenig Ruhe. Diese Woche war einfach viel zu viel passiert. Zeit zum Nachdenken kam ihm da wirklich sehr gelegen. Er stieg also in die nächste Straßenbahn und setzte seinen Weg Richtung Stadtrand fort. Irgendwo in der Nähe der Altstadt stieg er aus und wollte sich die Hauptstraße überquerend in Richtung der Uferpromenade aufmachen, da fiel ihm etwas ins Auge, das er so leicht nicht ignorieren konnte. Ganz in der Nähe im Licht einer Straßenlaterne gut zu erkennen saß Kizu auf einer erniedrigten Ziermauer und ließ in Gedanken versunken die Beine baumeln. Der Kleine hatte wirklich ein Talent immer wieder direkt vor seiner Nase aufzutauchen, wenn er es am wenigsten erwartete. Naoru spazierte auf ihn zu und setzte sich schweigend neben ihn. Erst in diesem Moment schreckte Kizu hoch und bemerkte seine Anwesenheit. „Naoru!“, sagte er verdutzt und schlang aus irgendeinem Grund seine Jeansjacke enger um sich. „Was machst du denn hier?“, wunderte er sich laut. „Das gleiche könnte ich auch dich fragen!“, erklärte der Ältere lediglich. Kizu seufzte bedrückt. Naoru musterte ihn für einen Moment. Kizus blaue Augen wirkten tieftraurig und waren zwar auf den Boden gerichtet, schienen aber nicht wahrzunehmen, was vor ihm lag. „…Was ist los?“, fragte Naoru schließlich behutsam. Kizu antwortete nur zaghaft. „Sakito…“. Naoru verkniff es sich laut ‚Der schon wieder!’ zu rufen. Stattdessen verdüsterte sich lediglich sein Blick und er besann sich darauf stillschweigend weiter zu zuhören. „Ich hab ihn angesprochen auf die Sache mit dem Job im Modoki und … er …naja er hielt nicht so viel davon.“, erklärte der kleine Schwarzhaarige langsam. „Er meint das bringt nicht genug Geld ein und…und, dass ich mich nicht so anstellen soll. Ich wäre viel zu bequemlich. Faul oder so was sagte er…ich weiß nicht mehr.“, murmelte Kizu ehe seine Stimme ihm versagte. „Und dann?“, fragte Naoru schließlich, als Kizu nicht weiter sprach. „Er…er hat mich rausgeworfen. Meint ich brauch gar nicht erst wieder zurück zu kommen…und…“, erklärte Kizu und schluchzte. „Was mach ich denn jetzt nur, Naoru?“, fragte er verzweifelt mit bebender Stimme und blickte den Anderen mit stark verheulten Augen hilfesuchend an. „Wenn Sakito mich verlässt, dann…“, schniefte er und brach plötzlich verwirrt ab. Naoru hatte ihn mit einem Arm an sich heran gezogen und strich ihm tröstend durchs seidigweiche Haar. „Alles halb so wild. Ich bin ganz sicher er meinte es gar nicht so. Morgen kommt er angekrochen und entschuldigt sich, hm?“, erklärte Naoru sachte, obwohl es ihm gar nicht in den Kram passte, dass Kizuato so sehr an diesem Dreckskerl hing. Kizu seinerseits war zwar nicht wirklich von Naorus Worten überzeugt, da es in der Regel immer er selbst war, der angekrochen kam, aber Naorus Streicheleinheiten und seine tiefe Stimme beruhigten ihn irgendwie. Eine ganze Weile verharrten sie beide so und Kizu, der ursprünglich vor Kälte gezittert hatte, wurde durch das Anschmiegen an Naoru allmählich warm. „Und…was machst du jetzt wegen dem Job im Club?“, fragte Naoru schließlich in die Stille hinein. Kizu überlegte kurz. „Ich denke ich werd’s trotzdem tun. Egal, was Sakito davon hält.“, erklärte er und klang dabei relativ bestimmt. „Das ist gut.“, lächelte Naoru ihn ermutigend an. Kizu nickte dankbar für Naorus Unterstützung und wand sich ein wenig aus Naorus halber Umarmung. „Was ist...?“, fragte dieser daher. Kizu wurde mit einem Mal knallrot. „N-nichts.“, log er schnell. Naorus Augenbraue schoss in die Höhe. „…Es ist nur….Ich war eben noch mit so nem Typen zusammen und …eh…hab zu Hause keine Zeit zum Duschen gehabt…“, murmelte Kizu sehr leise und wurde, wenn dies überhaupt möglich war, noch röter als er es ohnehin schon war. Naorus Blick wandelte sich augenblicklich in eine Mischung aus Mitleid und Mitgefühl. Er zog Kizu enger an sich heran. „…Lass das Naoru. Ich fühl mich schmutzig.“, nuschelte Kizu kaum hörbar. „Wo bleibst du heute Nacht?“, fragte Naoru ihn. „Ich weiß noch nicht. Ich hab niemanden bei dem ich bleiben könnte…“, erklärte er kleinlaut. „Willst du…willst du mit zu mir kommen?“, überwand sich der Ältere schließlich zu fragen und blickte zu Kizu hinunter direkt in seine blauen Augen. Der Kleinere schluckte kurz und nickte dann langsam. Zuhause bei Naoru angekommen schloss dieser die Tür auf und schaltete das Licht im Flur an. Sie entledigten sich beide ihrer Schuhe und Kizu schaute sich interessiert um. Das Haus wirkte erstaunlich ordentlich und vor allem ziemlich groß auf ihn, da er lediglich sein schmutziges Zweizimmerapartment gewohnt war. „Kann ich eh…vielleicht kurz duschen gehen?“, fragte Kizu leise. Naoru wuschelte ihm kurz durchs Haar. „Klar. Das Bad ist da vorne links. Handtücher liegen auf der Kommode. Sag Bescheid, wenn du irgendwas brauchst.“, erklärte sein Gegenüber und wies auf eine weiße Holztür am Ende des Flurs. „Danke.“, murmelte Kizu verlegen. „Lass dir ruhig Zeit.“, sagte Naoru. Kizu betrat das Badezimmer, welches weiß gefliest war, aber dennoch angenehm warm wirkte. Er entkleidete sich schnell und stieg in die Dusche. Wie immer wirkte es unglaublich erleichternd, als das Wasser seine Haut berührte. Nachdem er sich gründlich überall gewaschen hatte, um dieses widerliche Gefühl, das er immer zum Ende eines jeden solchen Tages verspürte, abzuschütteln, ließ er das heiße Wasser noch eine ganze Weile über sich laufen. Es wirkte furchtbar entspannend und die Tatsache, dass sein Freund ihn soeben eiskalt vor die Tür gesetzt hatte, schien ihm plötzlich weit entfernt und völlig irreal. Als er das Wasser wieder abstellte war, wie er geschockt feststellte, eine geschlagene Stunde vorbei und er griff schnell nach einem der flaumigen Handtücher um sich abzutrocknen. Er streifte sich rasch seine Hosen und das ausgewaschene schwarze T-Shirt mit dem er auch gekommen war wieder über verließ sich mit dem Handtuch die Haare trocken rubbelnd das Bad. Im Flur sah er sich angesichts der vielen Türen ein wenig verwirrt um, stellte aber kurz darauf fest das aus dem Raum zu seiner Rechten Geräusche drangen. Er öffnete die Türe vorsichtig und stieß auf ein hell beleuchtetes und freundlich eingerichtetes Wohnzimmer. Auf der Couch gegenüber dem Fernseher, der leise lief, saßen Naoru und ein kleines schwarzhaariges Mädchen, das scheinbar gerade mit dem in ein Buch vertieften Naoru diskutierte. Als Kizu den Raum betrat blickte sie interessiert auf. „Wer bist du denn?“, fragte sie völlig verwundert. „Das ist Kizu. Er bleibt für heute Nacht hier. Kizu, das ist meine kleine Schwester Chitori.“, stellte der Schwarzhaarige die beiden einander vor. Kizuato blickte verwundert auf. „Chitori ist deine Schwester?“, fragte er Naoru erstaunt. ‚Dann hat er keine Freundin…?’, schoss ihm kurz durch den Kopf, doch schon im nächsten Moment empörte sich das Mädchen lauthals. „Na klar, wer sollte ich denn sonst sein?“, fragte sie und sah ihn an als wäre der Junge von Sinnen. Es war seltsam, Kizu konnte es sich nicht so recht erklären, aber aus irgendeinem Grund fiel ihm ein Stein vom Herzen. „Setz dich.“, bot ihm Naoru an. Kizu folgte der Aufforderung und ließ sich zwischen den beiden auf dem freien Platz auf der Couch nieder, das Handtuch über seinen Schultern liegend. „Also…Bist du ein Freund von Nii-chan?“, fragte Chitori ihn und musterte ihn kritisch. Kizu wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte, doch zu seiner Erleichterung nahm Naoru ihm diese Aufgabe ab. „Ja, ist er.“, sagte er ohne den Blick von seinem Buch zu heben, als wäre es das verständlichste auf der Welt. Wie schon zuvor, als Naoru ihn seinen Freund genannt hatte, verspürte Kizu dieses kleine Glücksgefühl in seinem Bauch. Chitori lächelte breit. „Weißt du, Nao-nii-chan bringt sonst nie Freunde mit nach Hause.“, erklärte sie Kizu. „Wirklich nicht?“, fragte Kizu erstaunt. Das konnte er sich kaum vorstellen. „Nein~, nie!“, trällerte Chitori und schüttelte vehement den Kopf, so dass ihre Zöpfe wild umher flogen. „Du plapperst wieder mal viel zu viel, Chitori.“, schmunzelte Naoru und knuffte die Kleine, ehe er umblätterte. Seine kleine Schwester streckte ihm zur Antwort die Zunge heraus. Danach kletterte sie auf Kizus Schoß und begann dort an seinem nassen Haar, welches er momentan offen trug, zu zupfen. „Darf ich dich Kizu-nii-chan nennen?“, fragte sie ihn mit großen grünen Augen, die ihn stark an ihren Bruder erinnerten. „Ehm…natürlich.“, erklärte er ein wenig verdutzt. „Toll!“, strahlte sie und zupfte weiter an den schwarzen Strähnen herum, die Kizu ins Gesicht fielen. „Du hast vielleicht lange Haare!“, staunte die Kleine. „Du musst gerade reden!“, lachte Kizu und zupfte seinerseits an einem der beiden Zöpfe, die das Mädchen trug. Chitori kicherte. „Mama würde sagen, schnipp-schnapp ab das Haar!“, erklärte sie und nickte überzeugt. Kizu lachte. Naoru sah den beiden aus den Augenwinkeln belustigt zu, während er sich mit seinem Buch befasste. „Apropos, wo ist denn deine Mama gerade?“, fragte Kizu, da das Haus mit Ausnahme dieses einen Zimmers ziemlich verlassen schien. „Mama ist dieses Wochenende gaaanz weit weg um zu arbeiten.“, erklärte Chitori und nickte. „Geschäftsreise nach Okinawa.“, murmelte Naoru Kizu zu. „Mama ist oft lange weg, deswegen passt Nao-nii-chan viel auf mich auf.“, lächelte Chitori breit und wies dabei gestikulierend auf ihren großen Bruder. „Und was ist mit deinem Papa?“, hakte Kizu nach. Chitori wurde still. „Papa ist…“, begann sie, wurde aber von Naoru unterbrochen, der laut sein Buch zuklappte. „Es wird langsam spät. Zeit für dich ins Bett zu gehen, Chi!“, lächelte er seine kleine Schwester an, nachdem er sich von seinem Platz erhoben und zu ihr heruntergebeugt hatte. „Ich bin aber noch überhaupt nicht müde!“, behauptete die Kleine und zog ernst die Augenbrauen zusammen. „Hopp, keine Wiederrede. Marsch ab ins Bad Zähne putzen!“, erklärte Naoru und beförderte Chitori mit sanfter Gewalt aus dem Zimmer. Zurück blieben nur er und Kizu. Ersterer griff nach seinem Buch und stellte es zurück ins Bücherregal zu seiner Rechten. „Hab ich…ehm…was falsches gesagt?“, fragte Kizu schließlich schüchtern, als Naorus Stille anhielt. „Lass gut sein.“, murmelte Naoru nur und kramte weiter im Bücherregal. Kizu beäugte ihn einen Moment lang besorgt, da wurden sie auch schon wieder von Chitori unterbrochen die ins Zimmer gesprungen kam und verkündete, sie sei bettfertig. Kizu und Naoru brachten die Kleine gemeinsam zu Bett. Zwar protestierte sie noch eine Weile, doch noch während Naoru ihr einen Gutenachtkuss auf die Stirn drückte gähnte sie schläfrig, so dass ihr wenig später, als ihr Bruder das Licht ausschaltete und die Tür anlehnte, bereits die Augen zu fielen. Kizu und Naoru setzten sich wieder ins Wohnzimmer. „Willst du was trinken?“, fragte Naoru beiläufig, da er ohnehin vorhatte in die anliegende Küche zu gehen um sich einen Tee zu machen. „Hm, ja bitte.“, murmelte Kizu und nutzte die Gastfreundschaft Naorus aus. Er pflanzte sich zurück aufs Sofa, während Naoru in der Küche herumwerkelte und schließlich mit zwei dampfenden Tassen zurück ins Wohnzimmer kam. Dankend nahm Kizu die seine entgegen und pustete kurz über die heiße Flüssigkeit hinweg in der Hoffnung sie würde dadurch ein wenig abkühlen. Naoru seinerseits setzte sich mit seiner Tasse neben ihm auf die Couch und starrte lediglich in das dampfende Gebräu. „Naoru?“, durchbrach der kleine Schwarzhaarige die Stille. „Hm?“, gab der Ältere lediglich zur Antwort von sich. „Was…was ist mit euerm Vater?“, fragte Kizu schließlich wagemutig. Naoru seufzte. „Tot.“ Kizus Blick senkte sich augenblicklich. „Das tut mir Leid.“, erklärte er und klang tatsächlich ein wenig betrübt. „Ist schon okay. Es ist nur das Chitori mit diesem Thema nichts anfangen kann. Sie war zu klein um sich richtig an ihn zu erinnern…“, erklärte Naoru und trank einen Schluck aus seiner Tasse. Der Kleinere tat es ihm gleich. „Was ist mit deinen Eltern?“, fragte Naoru ihn und winkelte sein Bein ein wenig an um es sich gemütlicher zu machen. „Mh…ich…ich bin nicht sicher.“, erklärte Kizu und drehte die heiße Tasse ein wenig in seinen Finger, die langsam wieder kalt geworden waren. „Wie meinst du das? ‚Nicht sicher’?“, fragte sein Gegenüber ein wenig verwirrt. „Naja…ich hab seit etwa vier Jahren nicht mehr mit ihnen geredet.“. Naoru blickte erstaunt drein. „Nun…also meine Mutter war alkoholkrank, wirklich schlimm. Und mein Vater…hat irgendwann genug von ihr gehabt und ist einfach abgehauen und hat mich und meine zwei Geschwister mit ihr zurückgelassen. Naja und irgendwann mit vierzehn hab ich dann Sakito getroffen.“, erzählte Kizu und vergrub sich tiefer in den Sofakissen. „Ich war richtig verliebt. Er war mein erster richtiger Freund und so…“. Kizu errötete leicht. „Wegen ihm bin ich von zu Hause abgehauen. Das war vor etwa vier Jahren. Damals bin ich auch mit ihm zusammen gezogen. Zu Anfang war eigentlich alles in Ordnung und dann irgendwann ist eben alles schief gegangen…Ich weiß nicht. Er hat seinen Job verloren und wir brauchten dringend Geld. Dazu kam, dass er an diese scheiß Drogen geraten ist und-“, erklärte der Kleine leise, verstummte aber, als Naoru, der derartig hochgeschreckt war, dass Kizu beinahe seinen Tee verschüttet hätte, ihn unterbrach: „Er nimmt Drogen?!“, fragte er ungläubig und sah Kizu mit entsetzten Augen an. „Naja. Hin und wieder. Das tut doch aber gar nichts zur Sache…!“, erwiderte dieser, sich sehr wohl bewusst, dass Sakito definitiv nicht nur hin und wieder mal fixte. Naorus Blick verfinsterte sich stark. Er wusste sehr genau, warum er diesen Sakito ganz und gar nicht leiden konnte. Er begriff einfach nicht, was der Kleine in ihm sah. Kizu fuhr unbeirrt mit seiner Geschichte fort. „Jedenfalls war das Geld knapp geworden und ich hab mich auf die Suche nach Arbeit gemacht. Hab’s wirklich überall probiert. Aber wer stellt schon einen Vierzehn- bis Fünfzehnjährigen für was anderes als ne Aushilfe ein, geschweige denn nimmt ihn in die Ausbildung? Hat jedenfalls alles nicht genug Geld gebracht. Und naja.“, er zögerte kurz. Scheinbar brauchte er einen Moment um sich zu überwinden weiter zu sprechen. „Irgendwann saßen Sakito und ein paar seiner Freunde bei uns in der Wohnung rum und sie haben was getrunken und viel geredet und so…Nach einer Weile hat jedenfalls einer von ihnen behauptet, wenn Sakito ihn mal an mich ranlassen würde, würd er auch was dafür zahlen. Ich hielt das erst für nen ziemlich schlechten Scherz, aber Sakito meinte es wäre ne gute Idee und…nun…wir haben ne Weile diskutiert und ich hab… eingewilligt es mal zu versuchen...“, Kizu stoppte. Die Erinnerungen von damals stürzten nur so über ihn herein. Es war, als würde sich ihm der Hals zu schnüren. „Ich hab die ganze Zeit geheult dabei…“, erinnerte er sich und schmunzelte traurig mit Augen, die abermals kurz davor waren in Tränen zu ertrinken. Er schloss sie einen Moment, klammerte sich an die Tasse in seinen kalten Händen, als hinge sein Leben an ihr. Er wollte das ganze am liebsten ausblenden, vergessen, doch es gelang ihm nicht. Zu real war die Erinnerung an diesen Abend. Er zitterte leicht und erschrak, als Naoru ihn plötzlich aus seiner Trance riss, indem er ihm vorsichtig die Tasse aus der Hand nahm sie zu seiner auf den Couchtisch stellte und ihn dann in seine Arme zog und eine Wolldecke über sie beide ausbreitete, so dass er warm und gemütlich in der Umarmung des Älteren lag. Zuerst war Kizu ein wenig perplex doch, dann schmiegte er sich unbedenklich an den warmen Körper des anderen, der ihm sanft durchs inzwischen trockene Haar strich. Die Tränen, die ihm noch eben in den blauen Augen standen, hatte er ganz vergessen, so sicher und geborgen fühlte er sich in der warmen Umarmung Naorus. Sie verharrten noch eine ganze Zeit lang kuschelnd in dieser bequemen Position. Kizus Nase lag unter der weichen Wolldecke verborgen und Naorus Hand streichelte Kizu in einem fast automatischen Rhythmus. Der Kleinere genoss das Ganze sehr, da Naorus Atem und sein gleichmäßiger Herzschlag, dem Kizu lauschen konnte, ihn beruhigten und ein wenig schläfrig machten. Umso mehr tat es ihm darum Leid die angenehme und behagliche Ruhe so einfach zu durchbrechen, doch es war ihm ein Gedanke gekommen, der ihm schon seit Tagen im Geiste herum wanderte und ihn immerzu verunsicherte, wenn er sich in der Nähe des Älteren befand. „Naoru?“, fragte er zaghaft und durch die Decke leicht gedämpft. „Hm.“, brummte der Angesprochene nur und setzte seine Streichelbewegung fort. „Sag mal…warum tust du das alles eigentlich für mich? Ich meine… Du hilfst mir ständig, kümmerst dich um mich…warum das ganze? Du…“, Kizu stockte, ebenso wie das Streicheln Naorus. Seine Hand ruhte auf Kizus Kopf und Stille trat ein. Naoru seinerseits überlegte angestrengt. Warum kümmerte er sich um Kizu? Die Frage war berechtigt, doch die Antwort wollte ihm nicht in den Sinn kommen. Warum fühlte er sich verpflichtet ihn in Schutz zu nehmen, ihm zu helfen? Er wusste es nicht… Vielleicht fühlte er sich wegen seiner Rolle als großer Bruder ja von Kizu angesprochen? Er wirkte nun einmal so hilflos… Kizu lauschte still auf eine Antwort Naorus. Er schwieg, da er nicht wagte seine Gedanken in Worte zu fassen. Insgeheim befürchtete er immer noch, dass Naoru ihn wirklich nur ausnutzen wollte. Was, wenn er es tatsächlich nur auf das eine abgesehen hatte? Wenn er ihn wirklich nur ins Bett kriegen wollte? Er wollte es nicht glauben, aber die Zweifel nagten dennoch an ihm. „Kizu?“, sagte Naoru schließlich leise bei Kizus Ohr, so dass dem Kleineren ungewollt ein leichter Schauer über den Rücken lief. Er drehte sich leicht in seinen Armen, um ihm ins Gesicht blicken zu können. Seine Mine wirkte besorgt. „Kizu….ist es schlimm, wenn ich jetzt noch keine Antwort auf diese Frage habe?“, fragte er zaghaft und klang zum ersten Mal in Kizus Ohren wirklich unsicher bei dem, was er sagte. Der Jüngere betrachtete ihn einen Moment lang. Naoru war nicht der Typ, der jemanden so schamlos ausnutzen würde. Bestimmt nicht. Mit diesem Gedanken schüttelte er lächelnd den Kopf und verneinte somit Naorus Frage. „Ist in Ordnung.“, erklärte er und kuschelte sich wieder an den leicht muskulösen Körper des anderen. Naoru lächelte bei diesem Anblick aus ihm nicht ersichtlichen Gründen in sich hinein und fuhr mit seinem Streicheln fort. Seltsam, aber manchmal hatte Kizu etwas von einer Katze, dachte er bei sich, während er den Kleineren kraulte. Als dieser bereits kurz vorm einnicken war, streckte Naoru sich schließlich ausgiebig, so dass er leicht von dem Älteren herunterrutschte. „Soll’n wir langsam mal schlafen gehen? Ist schon spät und ich muss morgen früh raus um ehrlich zu sein.“, erklärte Naoru mit einem skeptischen Blick auf die Uhr an der gegenüber liegenden Wand. Kizu nickte und erstickte ein Gähnen. Er folgte dem Anderen eine Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Kizu versuchte sich, während er ihm in den Raum hinein folgte, in der Dunkelheit, in der das Zimmer lag, zu recht zu finden und sich so gut es ging umzublicken. Gerade wollte Naoru ihn warnen und sagte: „Es ist nicht wirklich aufgeräumt, also pass besser auf wo du hintrittst, Ki-“, doch bereits in diesem Moment war der Kleinere hinter ihm über einen im Weg liegenden Stapel Bücher gestolpert und ins Wanken geraten. Er war im Begriff mit der Nase voraus auf dem Boden zu landen, da fing Naoru ihn geschickt auf, so dass Kizu wiederholt an diesem Abend in seinen Armen landete. „D-danke…“, murmelte er leicht erschrocken und blickte durch die Dunkelheit direkt in Naorus Gesicht, welches seinem erstaunlich nahe war. Er blickte ihn mit forschenden grünen Augen an, die sich nicht von ihm lösen wollten, so dass er nicht wagte seinem Blick auszuweichen. Gerade wollte er Naoru, der scheinbar nicht vorhatte sie allzu bald aus dieser Position zu entlassen, darauf hinweisen, dass er ihn jetzt los lassen könnte, da befiel ihn erneut eine Befürchtung, die er am liebsten ausgeblendet hätte. Naorus Zimmer, sie beide allein im Dunkeln, so nah beieinander- lief es im Endeffekt doch alles nur auf Sex hinaus? Er spürte, wie Naorus Hand seine Seite hochwanderte und schließlich auf seiner Wange verharrte, wo sie leicht über seine blasse Haut strich. „N-naoru…“, versuchte Kizu zu sagen, doch nur ein Flüstern verließ seinen Mund. Das Ganze war ihm zugleich unerträglich und, zu seiner Verwunderung, doch irgendwie erschreckend angenehm. Naorus Blick lag immer noch auf Kizu und tauchte tief in seine Augen ein, während seine Hand inzwischen sanft über die Lippen des Kleineren strich. Kizu zitterte leicht. Das war alles ganz furchtbar falsch! Er war hin und her gerissen. Er wusste nicht, wie er Naoru einschätzen sollte und hatte zudem das Gefühl Sakito zu betrügen. Wenn er so etwas mit einem seiner Freier tat, war es etwas anderes. Das mit Naoru war wesentlich ernster! Sein Gefühl sagte ihm es war das Richtige den Älteren hier und jetzt zu küssen. Sein Kopf allerdings schrie das Gegenteil. Zudem war er immer noch verunsichert, darüber was es war, das der andere letztendlich von ihm wollte. Seine Gedanken rasten, als Naoru immer näher kam. Verdrießlich schloss er die Augen. ‚Also doch…’, war sein letzter trauriger Gedanke, ehe er sich für das Kommende bereit machte. Scheinbar hatte er sich in ihm getäuscht… Er konnte bereits Naorus Atem spüren, als sämtliche Berührung plötzlich abriss. Naoru war zurück gewichen und hielt sich erschrocken die Hand vor dem Mund. In der Dunkelheit konnte Kizu seinen Blick nicht ausmachen, doch er hörte ihn deutlich ein „Ich geh kurz duschen. Brauch ne Abkühlung…“ murmeln und folgte ihm mit den kristallblauen Augen, als er das Zimmer räumte und ihn, irgendwie erleichtert darüber nichts wohlmöglich dummes oder unüberlegtes getan zu haben, zurückließ. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)