Schmetterling von Hoellenhund (Man schenkte mir drei Tage) ================================================================================ Als ich den Airbus verließ und durch den Gangway in den Flughafen schritt, konnte ich kaum glauben, in einem anderen Land zu sein. Der Blick aus den Plastikfenstern der Fluggastbrücke offenbarte mir nur den riesigen grauen Betonplatz, auf dem mein Flugzeug soeben in Parkposition gefahren war und weitere große Flugmaschinen mit verschiedensten Namen und bunten Bannern. Nein, noch unterschied sich hier nichts von Amerika und doch schienen meine Beine mir nicht mehr ganz zu gehorchen, während ich nun an das noch stillstehende Fließband trat, um auf meinen Koffer zu warten. Hier und da schnappte ich Gesprächsfetzen der anderen Fluggäste auf, deutsche Gespräche, was nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedachte, dass ich gerade auf dem Flughafen Hannover gelandet war. Es fiel mir tatsächlich schwer den Wort zu folgen. Diese Erkenntnis ließ mich fast erschüttert zurück. Wie lange war ich fort gewesen? Nur ein paar Jahre – drei, oder vielleicht vier? Eine erneute Welle der Verwunderung überrollte mich: Konnte ich nicht einmal mehr sagen, wie lange ich fort gewesen war? Wie viele Geburtstage ich in „der neuen Welt“ gefeiert hatte? Aber nein, es war gleich, wie lange ich darüber nachdachte, es schien fast, als hätte mein Kopf dieses doch sehr bedeutende Detail mit Absicht verworfen, nur um mich zu zermürben. Was sollte das? Es war gleich, gleich, wie lange ich fort gewesen war, ja, ich wusste ja nicht einmal genau, wieso ich überhaupt wieder hier in Deutschland war – einem kalten Land, in dem ich kaum noch jemanden kannte, einem Land, dessen Sprache mir fremd geworden war. Nach dem Abitur hatte ich mich dazu entschlossen, eine Kunstakademie in den USA zu besuchen. Ich war noch nie sehr betucht gewesen, doch zu meinem Glück und dem Erstaunen meiner alten Freunde hatte ich es tatsächlich zu einem Stipendium gebracht. Jäh wurde ich aus meinen Gedanken gerissen, als ich einen dunklen Schemen an mir vorbeiziehen sah: Das Band hatte sich endlich in Bewegung gesetzt und die ersten Koffer machten sich auf den Weg zu ihren Besitzern zurück. Einige Zeit war ich nun damit beschäftigt meinen eigenen Koffer in der Masse zu erkennen, denn natürlich war er keiner der ersten Exemplare – eigentlich gehörte man selbst doch niemals zu diesen glücklichen Reisenden, die die Halle als erste verlassen durften. Als ich ihn nun endlich erspäht hatte, zog ich ihn schwungvoll vom Fließband und machte mich sogleich auf den Weg Richtung Ausgang. Ein Blick auf meine Armbanduhr ließ mich jedoch kurz erstarren: Wir waren fast sieben Stunden zu früh! Ich wollte schon in Panik einfach darauf los laufen, um zu sehen, ob mich dennoch jemand abholen gekommen war, als mir endlich einfiel, dass Deutschland in einer völlig anderen Zeitzone lag als die USA. Langsam entspannte sich meine Haltung und ich setzte meinen Weg etwas aufgewühlt, jedoch beruhigt, fort. „Alex! Bist du es?“, rief eine aufgeregte Stimme, als ich die Halle mit meinem Trolli im Schlepptau verlassen hatte. Verwundert wandte ich mich in die Richtung um, aus der jemand meinen Namen gerufen hatte. Einige Sekunden lang war ich davon überzeugt, dass mich der junge Mann verwechselt hatte, doch dann fiel mein Blick auf die Frau an seiner Seite, scheinbar etwas jünger als er selbst. Sie hatte goldblondes Haar, was sie auf mich wie einen Engel wirken ließ, doch es war ihr fein geschnittenes Gesicht, das eine Erinnerung in mir weckte.. „Melete! Nice to meet you. Who's that guy by your side, dear?“, fragte ich, als ich nahe genug an sie herangetreten war, um Lichtpunkte auf ihrer blau-grauen Iris entdecken zu können. Sie antwortete nicht, warf dem Mann neben ihr einen kurzen Blick zu. „Ich hoffe du erinnerst dich auch noch an deine Muttersprache“, meinte dieser mit einem leicht ironischen Unterton in der Stimme. Ich war verwirrt. Wovon um alles in der Welt sprach er bloß? Einige Sekunden blickte ich irritiert zwischen den beiden halb Fremden hin und her, um dann zu dem Schluss zu kommen, dass ich Englisch gesprochen haben musste. „Verzeihung“, sagte ich, wobei ich dieses Mal genau auf meine Worte achtete. „Na siehst du, geht doch“, grinste der Mann, „Deine Mutter hat uns offiziell beauftragt, dich abzuholen. Ihr Wagen musste überraschend in die Werkstadt, sprang nicht mehr an, das alte Teil. So etwas passiert natürlich immer nur, wenn man die Kiste braucht. Nicht, dass wir dich nicht auch so abgeholt hätten..:“ Er musste meinen verwunderten Blick bemerkt haben, denn nun unterbrach er seinen Redeschwall, um einzuschieben: „Du kennst uns doch noch, oder?“ Ich erkannte ihn nicht, doch das konnte ich ihm unmöglich sagen. Diese Art beinahe ohne Punkt und Komma zu sprechen, rief eine alte und verschlafene Erinnerung in mir wach, doch noch konnte ich sie nicht richtig einordnen. Dennoch nickte ich, um ihn nicht zu verärgern und die Mühe anzuerkennen, die er sich gemacht hatte, um mich abzuholen. Verstohlen warf ich dem blonden Mädchen neben ihm einen Seitenblick zu. Ja, Melete hatte ich die Jahre über nicht vergessen, wie hätte ich das gekonnt? Schon als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte sie immer auf meinem Schreibtisch gesessen und gewollt, dass ich sie zeichnete und ich hatte es immer gern getan. Fast könnte man sagen, dass sie der Grund war, aus dem ich das Zeichnen zu keinem Zeitpunkt angezweifelt hatte und somit der Grund, aus dem ich es so weit gebracht hatte. Dieser Gedanke erinnerte schmerzlich daran, wieso ich eigentlich nach Deutschland zurückgekehrt war, doch ich mochte nicht darüber nachdenken. „Du lügst, ich sehe es dir an der Nasenspitze an. Du warst noch nie ein guter Lügner. Aber ein bisschen enttäuscht bin ich schon, das wirst du verstehen. Nun, ich habe mich vielleicht sehr verändert..:“ Den Rest von Florians Rede erreichte nicht mehr mein Gehirn, denn ich hatte mich erneut Melete zugewandt, welche sich scheinbar sehr interessiert in der Flughalle umblickte. Florian – Fast wäre ich erschrocken zusammengezuckt. Er hatte mir seinen Namen noch nicht genannt, er war mir tatsächlich wieder in den Sinn gekommen. Natürlich, ich war stets mit ihm in einer Klasse gewesen und wir hatten einigen Schabernack getrieben, doch all dies schien in unerreichbare Ferne gerückt. Fast, als wäre es nie geschehen, als hätte ich vor längerer Zeit einen Film darüber gesehen – über mein Leben. „Du bist sicher erschöpft vom langen Flug, sollen wir dich gleich nach Hause fahren?“, war der erste Satz Florians, der mich wieder erreichte. Ich war einfach zu viel mit mir selbst beschäftigt, so war es schon immer gewesen. „Nein, ich würde lieber noch einen Kaffee trinken gehen und erfahren, was ihr beide in den letzten Jahren gemacht habt, wie ihr jetzt lebt. Immerhin ist der Briefkontakt schon vor langer Zeit abgebrochen“, gab ich zurück und machte mich auf den Weg in Richtung Parkplatz. „In Ordnung. Wieso hast du eigentlich nicht mehr geschrieben?“, kam die prompte Rückfrage. Das war nicht ganz die Wahrheit, denn ich hatte geschrieben, jedoch war es immer seltener geworden und als ich dann ein Mal keine Antwort aus Deutschland mehr erhalten hatte, hatte ich es schließlich aufgegeben. Was hieß das schon, „aufgegeben“? Es hatte keinen Sinn, wir waren uns bereits zu fremd geworden, es gab nichts mehr, über das wir hätten sprechen können, denn wir hatten keine gemeinsamen Interessen mehr gehabt. Das war vermutlich bis heute so. „Du hast auf meinen letzten Brief nicht mehr geantwortet“, verteidigte ich mich also. Ein verdutzter Blick Florians war die Antwort: „DU hast nicht mehr geantwortet!“ Unwillkürlich mussten wir lachen. Eigentlich war nichts Lustiges an diesem Missverständnis, doch es lag bereits so weit zurück, dass es uns nur noch absurd erschien. Der Kaffee in dem kleinen Lokal war zu stark für mich, sodass ich gleich nach dem ersten Schluck husten musste: Natürlich, ich war nur noch den amerikanischen Wasserkaffee gewöhnt, denn mehr war es „drüben“ auf keinen Fall gewesen. „Jetzt erzähl du aber zuerst von dir. Was hast du die ganzen Jahre drüben getrieben?“, wollte Florian schließlich von mir wissen. Er war klüger gewesen, er hatte sich ein Kännchen Milch zum Kaffee bestellt, nach dem ich nun nach einem fragenden Blick, der mit einem Nicken beantwortet worden war, griff. „Ich habe wie geplant die Kunstakademie besucht. Es gab dort eigentlich keine Jungen, zumindest bin ich nie einem begegnet“, begann ich schließlich, woraufhin Florian mir direkt den Arm um die Schultern legte: „Klasse man, du konntest sie sicher alle haben.“ Ich zuckte nur mit den Achseln und blickte in das nun angenehme Hellbraun meines Kaffees hinab. Sicher hatte er Recht, es war nicht anders gewesen und doch hatte ich in Amerika nie eine feste Freundschaft mit einer der jungen Damen schließen können. Sie hatten für mich geschwärmt, da ich ihre Kunstbegeisterung teilte, ich hatte das Tuscheln wohl bemerkt, das mir immer gefolgt war, als ich durch die Gänge der Akademie geschritten war. Doch das war alles gewesen, was sie an mir fanden, und es hatte mir nicht genügt. „Nein“, sagte Melete schließlich langsam, es war das erste Mal, dass sie sprach, seitdem ich die beiden getroffen hatte. „Alexander hat die Seele einer Jungfrau.“ Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, doch ein Teil meines Herzens sagte mir, dass sie Recht hatte. Vielleicht lag es nur an all den Jahren, die ich unter Frauen verbracht hatte, ohne nur eine von ihnen zu begehren. „Ach, Melete, du redest schon wieder daher“, stichelte Florian; in dieser Hinsicht hatte er sich wirklich nicht verändert. Sie senkte nur den Kopf und konterte nicht, so still, wie sie auch gewesen war, als ich sie verlassen hatte. Jäh überkam mich die Erinnerung an den letzten Tag hier in Deutschland. Sie hatte geweint, geweint und mir nachgerufen, ich solle nicht gehen, doch mein Blick war zu starr in die Zukunft gerichtet gewesen, um sie zu erhören. Ich wusste nicht warum, warum jetzt, nach all den Jahren, doch ich verspürte das Bedürfnis mich bei ihr zu entschuldigen. Aber ich wagte es nicht, vielleicht aus Furcht ihren Schmerz neu zu entflammen, vielleicht aus dem Glauben heraus, niemand würde diesen plötzlichen Sinneswandel verstehen. Wie sollten sie auch, wenn ich es selbst nicht konnte? So schwiegen wir drei für eine geschlagene Minute, bis Florian fröhlich begann von seinem Leben zu berichten. Er war mit einer Frau zusammengezogen, er hatte sie auf der Arbeit in der Anwaltskanzlei kennen gelernt, tatsächlich hatte er einiges in seinem Leben erreicht – ich fürchtete fast mehr als ich es je vermögen würde. Nur Melete schwieg. Und als mich die beiden vor meinem Elternhaus absetzten, legte sie die Arme zum Abschied um meinen Hals, nur um dann ohne ein Wort zurück ins Auto zu steigen. Florian würde sie nach Hause fahren. Noch vor dem Einschlafen schwebte immer noch ihr zartes Gesicht vor meinem inneren Auge. Die porzellanerne Haut schimmerte im Mondlicht, das Blondhaar klebte feucht an ihrem Rücken, als sie nun aus dem kleinen See stieg, mit nichts als eben dieser Haut bekleidet. Fast erschien sie mir wie eine Elfe, die aus der Tiefe des Wassers aufgestiegen war, um mein Leben zu verändern, mich zu erretten. Ich hatte nicht bemerkt, wann genau ich in den Schlaf hinübergeglitten war. „Gibt es das in Amerika auch?“, wollte Florian grinsend von mir wissen. Wir hatten einen kleinen Spaziergang durch mein Heimatdorf gemacht und saßen nun auf einer Bank am Rande einer ungenutzten Weide. Wilde Blumen wucherten hier und verströmten einen süßlichen Duft an diesem schönen Sommertag. „So ähnlich“, antwortete ich und lächelte matt. Florian verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte zum Himmel empor, an dem weiße Wölkchen vorüber zogen. Ich hatte sie immer gern gezeichnet, diese Sommertagswolken. „Aber sag doch mal: Wieso bist du so plötzlich wieder zurückgekommen? Wir dachten wirklich, wir würden dich nie wieder sehen“, fuhr mein Gesprächspartner nun in wesentlich ernsterem Tonfall fort. Ich zögerte. Es hatte auf der Hand gelegen, dass mir jemand diese Frage stellen würde, nachdem die erste Wiedersehensfreude verflogen war, doch noch hatte ich nicht damit gerechnet. Ich wusste es natürlich, doch ich brachte es kaum fertig daran zu denken, geschweige denn wollten die Worte über meine Lippen. „Na sag schon“, drängte er ohne mich anzusehen. Ich war ihm dankbar dafür, seine durchdringend grünen Augen auf mich gerichtet zu spüren, hätte es mir schwerer gemacht das zu sagen, was nun gesagt werden musste. Noch einige weitere Sekunden verstrichen, bis ich mich schließlich räusperte: „Ich kann es nicht mehr.“ Nun wandte Florian den Kopf doch zu mir um und musterte mich durchgehend, Verwunderung lag in seinem Blick: „Was kannst du nicht mehr?“ „Zeichnen.“ Nur der laue Wind, der die Grashalme der Weide und die Blätter der Bäume zum Rascheln brachte, war zu hören. Fast schien es, als würde Florian mir nicht glauben, was ich gesagt hatte, doch dann: „Verstehe.“ Es gab nichts mehr zu sagen. Erneut frischte der Wind auf, als ein kleiner weißer Schmetterling mit nur einigen Zentimetern Abstand an meinem Gesicht vorbei flatterte. Fast irritiert schaute ich ihm nach. Sein Anblick hatte meine Gedanken zurück zu Melete getrieben: „Sie ist wunderschön geworden. Natürlich war sie es schon immer, doch schöner, als sie es jetzt ist, wird kein Mensch je sein.“ „Du meinst Melete?“, grinste Florian plötzlich scheinbar erneut hell auf begeistert. „Natürlich“, nickte ich. „Sie scheint mir wie dieser Schmetterling geworden zu sein. Zerbrechlich, still und wunderschön.“ „Ich hoffe nur, dass du damit nicht Recht behältst.“ Verwundert wandte ich den Kopf zu Florian um, der den Schmetterling interessiert zu beobachten schien: „Diese Insekten haben nur ein sehr kurzes Leben. Gerade einmal drei Tage lang erfreuen sie uns mit ihrer Schönheit.“ Florian hatte mir auf dem Heimweg noch berichtet, dass sich Melete gerne mit mir treffen wolle. Natürlich war ich alles Andere als abgeneigt gewesen, doch als er mir sagte, ich solle mein Zeichenmaterial mitbringen, hatte ich einige Sekunden gezögert. Wozu? Es hatte keinen Sinn! Doch schließlich hatte ich mich doch dazu entschlossen, Melete diesen Gefallen zu tun, sodass ich nun auf dem Weg zu ihrem Haus war, ein großes Fachwerkgebäude, das einmal zu einem kleinen Bauernhof gehört hatte. Nun, da ich wieder zurück in der alten Umgebung meiner Heimat war, erstaunte es mich fast selbst wie schnell die Erinnerungen wieder auf mich einströmten; fast, als hätten sie die ganze Zeit über in einer Schublade gelegen, zu der ich jetzt erst den Schlüssel wiedergefunden hatte. Es war fast beängstigend, welche Details mir wieder in den Sinn kamen und erstaunlich, wie wenig Nutzen sie zu haben schienen. Als ich um die Ecke bog, konnte ich Melete schon im Garten ihres Hauses auf einer alten Schaukel sitzen sehen, die an einem mächtigen Ast einer Eiche befestigt war. Sie war mir sofort ins Auge gesprungen, denn mit ihrem goldenen Haar und in ihrem weißen Kleid schien sie wie ein herabgestiegener Engel in fremder Umgebung. Als ich genauer über diesen Gedanken nachdachte, fiel mir auf, wie ähnlich sie mir damit war. Sicher, dieses Land, dieses Dorf, war unbestritten meine Heimat, doch war sie mir in den letzten Jahren auch unglaublich fremd geworden. Kaum, da mich Melete bemerkte, winkte sie mir und deutete mit dem Zeigefinger auf ein Tor im Holzzaun, welches ich dann benutzte, um zu ihr in den Garten zu gelangen. „Guten Morgen“, begrüßte ich sie und lächelte, fast ohne es wahrzunehmen. Sie nickte, scheinbar erfreut, dass ich erschienen war. Dann bemerkte sie den Zeichenblock unter meinem Arm: „Du hast ihn mitgebracht, ich freue mich sehr.“ „Ja“, begann ich langsam, ich befürchtete allmählich zu ahnen, aus welchem Grund sie mich hier her zitiert hatte. „Aber...“ Doch sie unterbrach mich, was ich nicht von ihr gewohnt war. Es brachte mich zu fast erschrockenem Schweigen. „Ich weiß, das ist erst dein dritter Tag in Deutschland. Aber bitte: Zeichne mich“, sprach sie leise und freundlich. Ich hatte ihre sanfte Stimme schon immer sehr gemocht, wie selten sie auch immer zu hören gewesen war. Als sie jedoch diese Worte ausgesprochen hatte, hatte sich mein Herz unwillkürlich zusammengezogen: „dritter Tag“. Vor meinem geistigen Auge schwebte ein schneeweißer Schmetterling vorüber, wurde langsamer, die Schwingen erschlafften. Schließlich sank er zu Boden, seine Flügel streifen die Wasseroberfläche einer kleinen Pfütze – bis er in ihr versank. Nein, es war nichts als eine Metapher gewesen! Und eine Metapher musste nicht in allen Eigenschaften dem Original entsprechen, so war es nicht in der Kunst. Sie war noch so jung, es gab keinen Grund für sie, heute zu sterben. Und dennoch keimten Zweifel an meiner eigenen Theorie in meinem Herzen auf. Selbst wenn dies der Tag sein sollte, ich würde es nicht zulassen. „Zeichne mich“, sagte Melete noch einmal leise, jedoch eine Spur flehentlicher. Es stimmte mich traurig diesen Unterton in ihrer Stimme zu hören, sodass ich mich einige Meter von ihr entfernt im Gras nieder ließ und ohne eine Idee, wie ich anfangen könnte, meinen Zeichenblock aufklappte. Sie lächelte und begann erneut zu schaukeln. So war es doch immer gewesen, sie hatte schon immer bekommen, was sie wollte. Nur dieses eine Mal nicht – dieses Mal, als ich in den Flieger stieg, sie zurück ließ mit ihren Tränen. Traurig gestimmt blickte ich auf das weiße Blatt hinab, so weiß wie ihr Kleid, und zog einen Bleistift aus der Hosentasche. Ich konnte sehen, dass meine rechte Hand zitterte und spüren, wie Schweiß auf meine Stirn trat. Keinen Strich vermochte ich zu Papier zu bringen, genau, wie es auch in Amerika gewesen war, wie es seit einigen Monaten war, ohne Aussicht auf Besserung. Ich wollte Melete diesen Gefallen tun, doch ich konnte es nicht. Nach einer geschlagenen Minute legte ich den Bleistift ab und blickte zu ihr auf: „Verzeih mir, ich kann es nicht.“ Sie ließ die Beine baumeln und gab keinen Abschwung mehr, bis die Schaukel zum Stillstand kam, erst dann antwortete sie: „Bin ich dir nicht mehr gut genug, nachdem du für reiche Kunstsammler in Amerika gezeichnet hast?“ „Nein!“, fuhr ich erschrocken auf. „Das ist es nicht. Wirklich, du bist wunderschön, noch viel schöner, als du es vor einigen Jahren warst.“ „Warum zeichnest du mich dann nicht?“, fragte sie weiter nach, blickte mir dabei scharf in die Augen. Ich verspürte das Bedürfnis den Blick zu senken, wie es ein demütiger Hund vor seinem Herren tat, doch ich wagte selbst das nicht. Nachdem ich einige Zeit nicht geantwortet hatte, stand Melete auf und setzte sich zu mir ins Gras, las den Bleistift auf, der auf den Boden gerollt war, nachdem ich ihn so achtlos auf dem Zeichenblock abgelegt hatte. „Es ist doch nicht schwer, du konntest das schon immer, seit ich denken kann“, sagte sie ruhig. „Nimm den Stift.“ Ich blickte sie kurz verwundert an, tat dann allerdings wie geheißen. „Und jetzt schließ die Augen.“ Sie legte ihre zarte Hand um die Meine, welche vom häufigen Zeichnen schon recht kräftig geworden war und führte den Stift zum Papier. Während ich immer noch die Augen geschlossen hielt, konnte ich spüren, wie sie etwas zeichnete, doch nicht erahnen, was es war. Als sie schließlich meine Hand losließ, schlug ich sogleich die Augen auf und entdeckte einen mächtigen Baum, der auf meinem Block gebannt war. Er schien stark und alt wie die Welt. „Siehst du, du kannst zeichnen“, lächelte Melete und erhob sich, um wieder auf der Schaukel Platz zu nehmen. „Aber Melete, du hast das gezeichnet, nicht ich“, widersprach ich ihr, doch sie schüttelte nur entschieden den Kopf: „Zeichne mich!“ Ich schlug das bemalte Blatt um und sah mich erneut mit einem dieser leeren Seiten konfrontiert, die mir die letzten Monate zur Hölle gemacht hatten. Eine Ewigkeit schien ich nur darauf zu starren, dann umschloss ich den Stift mit fester Hand und schrieb oben auf die Seite: „Für Melete.“ Es dauerte eine ganze Weile, bis ich registrierte, dass dieses Blatt bereits nicht mehr leer war. Zwar war es nicht mit keiner Zeichnung gefüllt, doch immerhin trug es schon einen Schriftzug: „Für Melete.“ Einige Sekunden nur blickte ich auf das Weiß des Papiers, weiß wie das Kleid meines Engels – dann zeichnete ich. Ungewöhnlich für mich, begann ich mit dem Kleid, welches so wunderbar zu diesem Blatt zu passen schien, der Rest kam fast von allein dazu. Fast von Geisterhand zauberte sich binnen einiger Stunden das gesamte Panorama mit dem alten Fachwerkhaus im Hintergrund in meinen Zeichenblock, so einfach, wie es schon immer gewesen war, so leicht, wie es mir immer gefallen war. In dieser Nacht schlief ich kaum, stattdessen arbeitete ich die Bleistiftzeichnung, die ich angefertigt hatte, in ein großes Ölgemälde um. An dieser Stelle musste ich meinen Eltern dankbar sein, dass sie meine gesamte Ausstattung aufgehoben und sogar neue Farben besorgt hatten, wohl in dem erstaunlichen Vertrauen, ich würde erneut malen, wie ich es eigentlich schon immer getan hatte. Es sollte das schönste Bild werden, das ich jemals angefertigt hatte – für meinen Engel. Als der Morgen schon fast wieder graute, war ich über und über mit Farbe bekleckert, doch das Bild war fertig und ich war sehr zufrieden damit. In dem Grün, welches das Bild dominierte, strahlte Meletes weißes Kleid fast genauso schön, wie es das auch am Morgen in der Realität getan hatte, darauf hatte ich großen Wert gelegt. Schließlich fiel ich müde auf mein Bett, selbst das Umziehen für die Nacht war mir zu mühsam. Als ich erwachte, stand die Sonne bereits hoch am Himmel. Ich war fast verärgert, dass mich niemand geweckt hatte, denn ich wollte das Ölbild so schnell wie möglich zu Melete bringen, damit sie es in ihrem Zimmer aufhängen konnte, wie sie es mit allen meinen Zeichnungen von ihr getan hatte. Doch auf der anderen Seite war ich für die Rücksicht meiner Mutter sehr dankbar. Sie musste wohl gesehen haben, dass ich die ganze Nacht gemalt hatte, und hatte mich ausschlafen lassen wollen. Vielleicht hatte sie auch befürchtet, ich würde nun, da ich wieder zeichnen konnte, zurück nach Amerika gehen, doch das hatte ich nicht vor. Ich wollte bei ihr bleiben, ihr den Wunsch erfüllen, den ich ihr vor drei oder vier Jahren verwehrt hatte. Sogleich stellte ich mich unter die Dusche und zog mich anschließend um, sodass ich Melete ihr Bild überreichen konnte, ohne mich meiner selbst schämen zu müssen. Immer, wenn meine Gedanken zu ihr abschweiften, breitete sich ein angenehmes Kribbeln in meiner Brust aus, was mir gänzlich unbekannt war. Ich freute mich so sehr, ihr glückliches Gesicht zu sehen, war auf ihre Reaktion gespannt. Denn von meinem Bild war ich voll und ganz überzeugt. Ich war gerade dabei Zeichenblock und Bleistift in einem Rucksack zu verstauen, um für den Tag ausgerüstet zu sein, als es an der Haustür läutete. Eilig und ohne einen Verdacht, wer davor stehen könnte, ging ich die Treppen ins Erdgeschoss hinab und öffnete. Florian stand leicht außer Atem auf dem Kiesweg, der zu meinem Elternhaus führte, er sah wirklich nicht gut aus, war ganz bleich im Gesicht. „Was ist denn los? Komm erst mal rein“, sagte ich leicht perplex, etwas Besseres war mir auf die Schnelle nicht eingefallen, also führte ich meinen alten Freund erst einmal ins Wohnzimmer, damit er sich setzen konnte. Einige Sekunden war alles still, doch dann rannen ihm stumme Tränen über die Wangen, zeigten mir seinen Schmerz intensiver, als ich es je erwartet hatte. „Sie ist tot“, schaffte er es schließlich mit belegter Stimme hervorzupressen. Es fühlte sich an, als schlösse sich eine Hand aus Eisen um mein Herz, um es zu erdrücken. Mit einem Mal schien die Welt leer und kalt, obwohl vor dem Fenster die Sonne schien, das Zwitschern der Vögel schien verstummt, obwohl sie nichts davon ahnen konnten. Florian musste nichts mehr sagen, ich wusste, dass er von Melete sprach, wir wussten es beide. Fast von selbst schlossen sich meine Arme um Florian, den, der einmal mein bester Freund gewesen war, und den ich nun kaum noch kannte. Er konnte seine Tränen nicht länger zurückhalten und ich vermochte es nicht, sie zu vergießen. Sie schienen sich als tiefer Schmerz auf meinem Herzen abzulagern und mich zu erdrücken, bis ich kaum noch Luft bekam. Alles war fort. Mein Leben in Amerika war schon vor vielen Monaten zu einem Aschehaufen verkümmert, das Leben hier, welches nun mein „Alles“ gewesen war, schien sich vor meinen Augen aufzulösen. Sie war fort. Und alles Andere nur nutzloses Beiwerk. Es dauerte mehrere Monate, bis ich mir meinen Schmerz von der Seele weinen konnte, bis ich endlich wirklich begriffen hatte, was geschehen war. Es ist nicht bloß eine Metapher gewesen, keiner ihrer Kosenamen ist je eine Metapher gewesen: Meine Ankunft in Deutschland war fast genau 72 Stunden her gewesen, als mein Engel von mir ging. Tatsächlich bin ich nicht mehr nach Amerika zurückgekehrt, zu viele schlechte Erinnerungen verbinden mich mit diesem Kontinent. Heute lebe ich in Frankreich, der Stadt der Reichen und Schönen, sagt man, doch seither hat mein Herz für keine andere Frau so geschlagen wie für Melete. Vielleicht hatte sie Recht gehabt, vielleicht bin ich wirklich in der Seele Jungfrau - vielleicht muss man das als Künstler auch sein. Das letzte Bild, welches ich von Melete gemalt habe, ist mein begehrtestes Stück und viele Kunstsammler haben mir einige Tausend Euro für es angeboten, doch ich verkaufe es nicht. „Die Muse“ habe ich es genannt, doch ob jemand außer mir den Titel versteht, weiß ich nicht. Und es ist mir gleich. Es ist die letzte Erinnerung an meine Muse, meinen Engel, meinen Schmetterling, den der Himmel mir gesandt und wieder genommen hat. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)