Der letzte Drache von Karen_Kasumi ================================================================================ Kapitel 4: Wiedersehen ---------------------- Yelin konnte noch immer kaum atmen und starrte fassungslos auf dieses Gesicht, auf dieses ebenmäßiges Gesicht, dessen Aussehen er vielleicht besser kannte als kein anderer auf dieser Welt. Und im selben Moment, als er ihm in die dunklen, traurigen Augen sah, brach auch die Erinnerung wieder mit voller Wucht über ihn herein, so dass er sie nicht mehr aufzuhalten vermochte. Er wusste noch genau, dass es ein Tag im Sommer gewesen war, warm aber mit drohend aufgetürmten Wolken am Horizont. Er sah wieder die gewaltige Ebene, fast schwarz von den Elbenkriegern, denen sich ihr Heer entgegen stellte. Er hörte sie wieder, diese grausamen Geräusche, die er zu verdrängen versucht hatte: das Klirren von aufeinander prallenden Schwertern, das dumpfe Geräusch wenn sie auf Fleisch anstatt auf Eisen und Leder trafen. Und am schlimmsten von allem: das schreckliche Schreien der Verwundeten, der Sterbenden, die unter den unbarmherzigen Füßen und Hufen ihrer Kameraden zermahlen wurden. Dazu der Gestank: der grausige Geruch nach menschlichen Ausdünstungen, nach Tod und über alledem der allgegenwärtige, metallische Geschmack roten Blutes, von dem jeder einzelne vergossene Tropfen einer zuviel war. Sie hatten lange gekämpft, so lange, dass er sich kaum mehr an Einzelheiten erinnern konnte. Irgendwann ging alles in Monotonie über; seine Sinne wurden abgestumpft, die Bewegung immer automatischer. Er hatte Norai mit einer solchen Brutalität und Kompromisslosigkeit um sich geschwungen, dass er sich noch heute dafür hasste. Neben ihm war Korell mit der selben Gewalt, derselben vernichtenden Wut vorgegangen, immer an seiner Seite, der letzte Felsen in dieser Brandung aus Leibern. Doch dann war er gekommen. Er hatte eine schwarze Rüstung getragen, die alles Licht zu schlucken schien, doch sein Haar war von dem harten Weiß eines Schneesturms gewesen. Leichtfüßig und zu schnell, als dass das menschliche Auge ihm folgen konnte, hatte seine Klinge mit jedem Schlag neue Opfer gefunden. Wie ein gestaltgewordener Albtraum hatte er sich durch die Menge gekämpft, immer umgeben von einer Aura eiskalter Bösartigkeit, die alles andere zu verschlingen drohte. Man sah ihm nicht an, was er dachte, man sah ihm nicht an, was er fühlte. Nicht einmal seine kalten, stahlblauen Augen verrieten, was in ihm vorging. Doch eines war sicher gewesen: er hatte sich seinen Weg nicht ohne Absicht zu ihnen durchgekämpft. Sie waren schon von Anfang an sein Ziel gewesen. Dies hatt er in jenem Moment gemerkt, in dem er sich von Angesicht zu Angesicht dem schwarz Gekleideten gegenüber sah. An die nächsten Sekunden erinnerte er sich nur noch schemenhaft, doch die wenigen Fetzen waren von erschreckender Klarheit. Er sah wieder die geschliffene Klinge auf sich zusausen, war unfähig, ihr auszuweichen. Er hörte wieder jenen Schrei, diesen Schrei, so von Trauer und Angst durchdrungen, dass er ihm noch heute schmerzte. Und dann sah er wieder jenes Bild, das sich für immer in seine Netzhaut eingebrannt hatte und ihm auch jetzt noch den Schlaf raubte: Korell warf sich mit aller Gewalt vor ihn, drängte ihn so zur Seite und rettete ihn damit aus der Reichweite der scharfen Waffe. Yelin wusste nicht mehr, was danach passiert war. Das einzige, woran er sich noch einigermaßen sicher erinnern konnte, war seine Flucht, mitten hindurch durch die Reihen seiner Soldaten, immer weiter weg von dem Schauplatz des Schreckens. Dann die grausame Gewissheit, dass er soeben seinen einzigen und besten Freund verloren hatte und das noch bei weitem schlimmere Wissen, dass es durch seine Schuld geschehen war. In jenem Moment damals war etwas in ihm zerbrochen, etwas Großes und Schweres, dessen Scherben sein Herz nur noch mehr bluten ließen. Es war leer geworden und die Trauer hatte sich still aber unbarmherzig in seine Seele gefressen, bis er es schließlich nicht mehr ausgehalten hatte. Doch auf der Flucht vor seinen Dämonen war ihm nur wieder sein Schicksal begegnet in der Gestalt eines Drachens, des letzten Drachens dieser Erde, dessen Mord er ebenfalls auf dem Gewissen hatte. Langsam lichtete sich die Flut von Bildern und Gefühlen vor seinem Inneren Augen und ließ ihn fassungslos und wie erstarrt zurück. In den ersten Momenten, nach dem er sein Gesicht gesehen hatte, so unendlich vertraut, fühlte er nichts außer vielleicht grenzenlosem, kindlichen Erstaunen. Es war wie eine zweite Chance, vom Schicksal gegeben, die Chance, seinem Freund alles zu sagen, was immer zwischen ihnen gewesen war und doch nie ausgesprochen wurde. Wie Leid es ihm tat. Wie wund er sich fühlte. Wie einsam er ohne ihn war. Sprachlos erhob er sich und ging wie hypnotisiert auf den Knieenden zu. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er jene unendliche Vertrautheit erkannte, die noch immer in allen an ihm lag. Das dunkelbraune Haar, die meergrauen Augen; die schmalen Lippen und die Nase, die ein wenig an einen Adler erinnerte. Wie sehr hatte er dieses Gesicht vermisst, hatte Tag und Nacht darum gebetet, es nur ein einziges Mal wiedersehen zu dürfen. Doch nun, wo sein sehnlichster Wunsch erfüllt worden war, brachte er kein Wort heraus; er konnte seinen Kopf an seine Brust drücken, das weiche Haar streicheln und leise weinen. Mehr nicht. Und doch war dies einer der schönsten, intensivsten Momente in seinem ganzen Leben. Erst zögerlich, dann immer schneller und schneller ließ sich Korell an ihn sinken, mit geschlossenen Augen unverständliche Worte flüsternd. Keiner von ihnen sprach, keiner von ihnen hatte je damit berechnet, dass sie sich einmal wieder begegnen könnten. Doch es tat unendlich gut, die Nähe des anderen zu fühlen und die Gewissheit, nie mehr alleine zu sein, während ihnen die salzigen Tropfen über die Wangen rannen. Sehr lange standen sie beide so da, eng umschlungen und wieder vereint nach so vielen, so unendlich langen Jahren. Kaum konnten sie sich voneinander lösen, doch es war Korell, der als erstes zurücktrat. "Yelin...." flüsterte er leise, mit einer Stimme, so gebrochen und tief, dass es ihm ins Herz schnitt. Zitternd und langsam hob er eine Hand und legte sie auf seine Wange, als könne er noch immer nicht glauben, was er sah. Dann strichen seine Finger über sein Gesicht, seine Lippen erbebten und wieder flossen ihm Tränen aus den Augen. Yelin schüttelte nur leicht den Kopf und legte ihm den Finger auf die Lippen. Dieser Augenblick, so erkannte er, war viel zu schön, um ihn mit Worten zu entweihen - er gehörte nur ihnen alleine. Nach einer unendlich scheinenden Zeitspanne schaffte es Yelin endlich, seinen Blick von seinem Freund zu lösen. Er ging ein paar Schritte zurück und bückte sich nur kurz, um seine Sachen aufzuheben, die er vorhin fallen gelassen hatte. Danach drehte er auch sofort wieder um, als hätte er noch immer Angst, dass all das nur ein weiteres Trugbild seiner Fantasie war, dass Korell ebenso schnell wieder verschwunden wie er zuvor in seinem leben aufgetaucht war. Doch er stand noch immer so da, genau so, wie er ihn verlassen hatte, die Augen erfüllt von einer verzweifelten Hoffnung, wieder ein wenig menschliche Nähe genießen zu können. Gemeinsam und noch immer ohne auch nur ein Wort zu sprechen, gingen sie zu den Bäumen, die das Ufer des kleinen Sees säumten. Dort setzen sie sich nebeneinander nieder, auf die blauen Fluten des Gewässers starrend. Yelin spürte, dass Korell jetzt noch nicht davon reden würde, was ihm widerfahren war. Er wusste, dass er ihm Zeit lassen musste, die Zeit, wieder all das Vertrauen aufzubauen, das einmal zwischen ihnen gewesen waren. Dass er sich ihm noch nicht ganz öffnete, dass spürte er und es machte ihn ein wenig traurig. Aber sieben Jahre waren eine lange Zeit, auch für eine Freundschaft wie die ihre. Sanft legte er eine Hand auf Korells Arm und sah ihm in die Augen. Was er dort las, erschreckte ihn; der Schmerz, der in ihnen lag ging weit tiefer als alles andere, was er zuvor gesehen hatte. Sie schimmerten sanft und zeugten von einer Geschichte, deren tiefe Wahrheit er vielleicht nicht ertragen konnte. Hoffnungslosigkeit, Trauer und der verzweifelte Wunsch, noch an irgendetwas glauben zu können, erfüllten sie und gaben ihnen eine Tiefe, die vorher so nicht vorhanden gewesen war. Genau wie er selbst, so war auch sein Gefährte härter geworden, verschlossener, doch dies durch Ereignisse, die sich weit von den seinen unterschieden. Beide waren sie während dieser sieben Jahre zu anderen Personen geworden. Doch Yelin hoffte, dass sie das Schicksal nicht umsonst wieder zusammen geführt hatte....er würde es nicht ertragen, ihn noch einmal zu verlieren. Genau in diesem Moment fiel ihm wieder ein Satz der Yonami ein: Verloren geglaubtes wirst du finden... ja, er hatte es wieder gefunden. Seinen größten Schatz, das was er schon immer am meisten geliebt hatte. Ganz sacht machte sich am Rande seines Gesichtsfeldes eine kleine Existenz bemerkbar. Physales hatte sich bis jetzt die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, denn er hatte instinktiv verstanden, was zwischen den beiden vor sich ging. Und der Blick in ihre Gedanken sagte ihm ebenfalls mehr als genug.....Zögernd flatterte er heran und ließ sich auf den Knien von Yelin wieder. Auch er sprach nichts, ebenso wenig wie Korell der sich umblickte und ihn sah. Er verzog die Mundwinkel ein wenig und nickte dem kleinen Kerl zu, dann ließ er sich nach hinten auf das sanfte Gras des Seeufers sinken und schloss wieder die Augen. Der kleine Gúdo sah recht besorgt aus, als er an Yelins Ohren flog und ihn leise flüsternd fragte: "Warum spricht er nicht, Yelin?" Mit einem leisen, traurigen Lächeln flüsterte dieser zurück: "Gib ihm Zeit, Physales. Du weißt wahrscheinlich sogar besser als ich, was er alles durchgemacht hat; es braucht meist sehr, sehr lange, bis solche inneren Wunden heilen können. Das, was erlebt hat, ist noch immer zu schrecklich und zu nahe für ihn, um darüber zu reden, glaube ich. Wir können nur hoffen, dass er sich mir eines Tages anvertrauen wird..." "Du hast ihn sehr gerne, nicht wahr?" meinte Physales und senkte leicht den Kopf. "Oh ja, ich liebe ihn von ganzem Herzen. Jeden Tag, seit ich ihn verloren habe, habe ich ihn mehr vermisst....." "Ich hätte auch gerne so einen Freund" murmelte der Kleine, aber das so leise, das Yelin ihn nicht verstand. Dann flog er auf den Ast des nächsten Baumes und nutzte die unerwartete Pause, um ebenfalls ein kleines Nickerchen zu halten. Yelin machte sich indessen daran, den erbeuteten Hasen von vorhin zu häuten und auszunehmen. Damit war er bis in den frühen Nachmittag hinein beschäftigt. Zum späten Mittagessen begannen die beiden endlich, ein wenig miteinander zu reden. Es waren nur vage, oberflächliche Gespräche, die sich vor allem um Physales drehten. Dieser erzählte Korell breitwillig noch einmal dasselbe, was er auch Yelin gesagt hatte. Sein Freund schien den kleinen Kerl ebenfalls nicht allzu unsympathisch zu finden. Yelin selbst beobachtete die beiden, ein leichtes Lächeln auf den Lippen und sah, wie sein Freund sich wenigstens ein bisschen zu öffnen schien. Wieder war er dem Gúdo dankbar, dieses Mal dafür, dass er sich mit seiner Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen, zurückhielt und Korell dazu brachte, mit ihnen zu reden. Er nutzte diese Gelegenheit noch einmal, um seinen früheren Gefährten genauer zu betrachten. Schon damals war er ein recht dünner Mensch gewesen, woran auch seine Muskeln, die im Laufe der Zeit immer stärker geworden waren, nicht viel hatten ändern können. Doch jetzt war er geradezu abgemagert und auch sein schmales Gesicht machte eher den Eindruck eines Asketen als eines jungen, mitten im Leben stehenden Mannes. Sein Haar war noch genau so dicht wie eh und je, bloß dass es jetzt eindeutig ein wenig verschmutzter und vor allem länger aussah. Dieser Eindruck wurde noch durch die oft geflickte und abgetragene Kleidung verstärkt, die er am Leib trug. Außerdem wurde ihm mit einem mal bewusst, dass das Flimmern, dass er nun schon fast unbewusst wahrnahm, sich um seinen Gefährten ein wenig verdichtete. Es war genau so wie bei Physales, bloß nicht in diesem großen Ausmaß. Erst jetzt fiel ihm auch auf, dass er seine beiden Hände bedeckt hielt mit zwei langen Ärmeln, deren Ende er jeweils mit einem dünnen Ring um seine Finger geschlungen hatte. Fast unbewusst sah Yelin auf seine rechte Hand hinab, die er mit einem dünnen Stoffstreifen umwickelt hatte, so dass man die Narbe nicht sehen konnte. Er wollte nicht, dass man sie auf den ersten Blick erkannte und ihn sofort darauf ansprach. Korell bemerkte natürlich, dass Yelin ihn beobachtete; er sah auf und ihre Blicke trafen sich. Er lächelte sanft und bemerkte erleichtert, dass sein Freund dieses Lächeln anzunehmen schien und es sogar ein klein wenig erwiderte. Dem kleinen Gúdo war dies natürlich nicht entgangen und er versuchte mit immer größerem Eifer, seinen Freund von den düsteren Gedanken abzubringen, die ihn wie eine schwarze Wolke zu umgeben schien. Nachdem er den beiden noch ein wenig zugehört hatte, kam Yelin unbewusst eine Frage in den Sinn, die er den beiden auch sogleich stellte: "Korell, Physales.....was wisst ihr über die Enuya?" Seit Korell wieder da war, war ihm die Prophezeiung nicht aus dem Kopf gegangen. Und jetzt, wo sich ein Teil von ihr tatsächlich bewahrheitet hatte, zweifelte er auch kaum mehr an dem Rest der Aussage. "Die Enuya?" Korell runzelte die Stirn. "Nicht mehr als du, denke ich. Nur alte Legenden und Geschichten, nichts Greifbares. Manche nennen sie die "alten Weisen" und angeblich sind sie so etwas wie alte Götter. Keiner weiß, wo sie leben, doch es wird erzählt, sie seien sehr mächtig." Das war ungefähr auch das, was Yelin über sie wusste - also nicht gerade viel. "Und du, Physales?" richtete er sich an den kleinen Erdgeist, der bisher nur stumm zugehört hatte, was sonst gar nicht seine Art war. "Ich weiß nicht....." antwortete dieser zögernd. "Aber als Korell die "alten Weisen" erwähnt hat, da ist mit irgendwie etwas eingefallen. Bei uns heißt es, dass sie die einzigen außer Yonami sind, die schon seit Anbeginn dieser Welt existieren. Angeblich sind sie unsterblich und eine Art....Herren über diese Welt, die ihre Geschicke aus der Distanz beobachten und dafür sorgen, dass alles seinen gewohnten Gang geht....Einige bei uns sagen, dass die Sanuki diejenigen sind, die etwas von ihrem Geist geerbt haben sollen, so etwas wie ihre geistlichen Nachfahren. Obwohl sie alle nicht sterben können, sehen sie doch unterschiedlich aus. Es gibt alte und junge unter ihnen, Männer und Frauen. Und alle tausend Jahre wird ein neuer von ihnen geboren. Ihr Heim ist angeblich ganz aus schwarzem Marmor erbaut und überall blühen rote Blumen wie Blutstropfen. Dort ist eine immerwährende, alles umfassende Stille, die nur durch ihre leisen Stimmen und durch die Vögel, die bei ihnen zu Gast sind, durchbrochen wird. Alle geflügelten Wesen sind ihre Boten, es wird sogar gesagt, dass sie damals Drachen hatten, die für sie durch die Länder dieser Welt flogen. " Keinem von ihnen beiden entging Yelin's Zusammenzucken bei der Erwähnung des Wortes "Drachen". Mörder....hallte es in seinem Kopf. Mörder des letzten Drachen dieser Welt! Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, nicht einfach loszuschreien. Er wollte diese Stimme nicht mehr hören! Was konnte er nur tun, um dieses unglaubliche Verbrechen zu sühnen und aus seinem Gewissen zu tilgen.....er musste die Enuya finden. Blut wird durch Blut gesühnt....wieder kamen ihm die Worte der Prophezeiung in den Sinn. So geh und finde / Den Schrein der uralten Macht / Der bei den Enuya ruht. "Weißt auch noch irgendetwas über einen Schrein in ihrem Heiligtum?" fragte er und bemühte sich, nicht allzu aufgeregt zu klingen. Korell sah ihn nachdenklich an, als ahne er bereits mehr, als Yelin ihm erzählt hatte. "Nein." Der Kleine schüttelte den Kopf. "Das, was ich euch eben gesagt habe, ist auch gleichzeitig alles gewesen, was ich über sie weiß. Tut mir Leid, Yelin, aber ich kann dir wirklich nicht mehr sagen." "Schon gut." meinte dieser mit einem kleinen Lächeln. "Du hast mir trotzdem schon ein wenig geholfen, vielen Dank." "Warum willst du denn so dringend etwas über die Enuya wissen?" fragte Korell endlich und blickte ihn interessiert an. "Ich...." Yelin wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Eigentlich sollte er seinem Gefährten mühelos alles erzählen können, was ihm in der Zwischenzeit widerfahren war, aber irgendetwas hielt ihn davon ab, ihm dies anzuvertrauen. Korell schien zu spüren, wie nahe ihm dieses Thema immer noch ging und drang nicht weiter in ihn. Doch der ehemalige Prinz wusste genau, dass er ihn verletzt hatte. Er sah es in seinen Augen, so war es schon immer gewesen. Um sich selbst und auch seine Reisegefährten von diesem Thema ablenken, schlug er eine andere Gesprächsrichtung ein. "Weißt du genau, wie weit es noch von hier aus bis zum Rande des Alten Waldes ist?" wandte er sich an Physales. "Na ja...." dieser wiegte den kleinen Kopf hin und her, als er nachdachte. "Für mich wäre das ungefähr ein dreiviertel Tag Flugzeit. Das bedeutet, dass wir spätestens morgen Abend dort sein dürften, wenn wir früh aufbrechen." Mit einem Nicken nahm Yelin dies zur Kenntnis. Er hatte diese alten, dicken Stämme zwar lieb gewonnen, doch plötzlich sehnte er sich danach, wieder einmal freies Land zu sehen und einen direkten Blick auf die Sonne zu haben, wie sie ihre Bahn am Himmel zog. Korell schien es ganz ähnlich zu gehen, denn er bemerkte, wie er ihm einen erleichterten Blick zuwarf. "Und wohin willst du dann gehen?" fragte die kleine Stimme des Erdgeistes. "Ich weiß es nicht," antwortete Yelin ehrlich. "Aber ich denke mal, dass wir uns das erst überlegen werden, wenn wir an seinem Rand stehen. Jetzt ist es noch zu früh, das zu sagen, denn ich habe leider keine Ahnung, wo wir sein werden, wenn wir ihn verlassen...." Mit dieser vagen Aussage war auch der Abend über sie herein gebrochen. Die Gespräche zwischen ihnen hatten den ganzen Nachmittag überdauert, so dass sie beschlossen, hier am Ufer des Sees zu übernachten und, ganz wie es der Gúdo gesagt hatte, am frühen Morgen ihre Reise anzutreten. Die Nacht war unruhig, Yelin konnte kaum Schlaf finden. Korell, der neben ihm lag, schlief zwar, doch es schien kein sehr erholsamer Schlaf zu sein. Er wälzte sich hin und her und manchmal wurde er durch ein Schluchzen oder einen kleinen Schrei aus dem Dämmerzustand gerissen. Mehr denn je wünschte Yelin sich, den Schmerz mit ihm teilen zu können, der sich so tief in sein Herz fraß. Doch jetzt konnte er nichts tun, als neben ihm liegen und hoffen, dass er sich ihm eines Tages anvertrauen würde. Am Morgen hatten sie beide Ringe unter den Augen und waren in keiner besonders guten Stimmung. Yelin erwähnte kein Wort von dem, was er in der Nacht beobachtet und belauscht hatte und auch Korell sagte nichts. Selbst Physales sah merkwürdig bedrückt aus und anstatt wie sonst immer ununterbrochen zu reden, blieb er ebenfalls still. In demselben Schwiegen verzehrten sie ihr Frühstück, packten dann schnell ihre Sachen zusammen und machten sich auf den Weg. Yelin mit Norai im Gürtel und Korell mit seinem kostbaren Bogen in der Hand. Noch immer sprachen sie kein Wort, so dass Yelin in Ruhe seinen Gedanken nachhängen konnte. Zwei Dinge erschienen ihm sehr seltsam. Es fiel ihm erst im Nachhinein wirklich auf, aber hatte noch immer keinen Blick auf Korell's Handrücken werfen können. Er hatte selbst in der Nacht seine vorgezogenen Ärmel anbehalten und somit vermieden, dass er irgendetwas sah. Auch am Morgen hatte er sich so angezogen, dass Yelin nichts von seiner Haut auf dem Rücken oder an den Beinen hatte sehen können. Dies erschien ihm ungewöhnlich, denn früher hatte sein Freund damit keinerlei Probleme gehabt. Dazu kannten sie sich zu gut. Und dann sein Bogen: Er konnte sich noch sehr gut an die Tage nach der Schlacht erinnern, in denen er den Ort des Geschehens immer wieder verzweifelt durchsucht hatte. Damals war ihm diese schreckliche Ungewissheit, was passiert war, beinahe noch schlimmer vorgekommen, als wenn er seine Leiche gefunden hätte. Doch nicht einmal sein Bogen war ihm in die Hände gefallen. Und jetzt...jetzt sah er ihn wieder, wie Korell ihn trug. Das ließ nur einen Schluss zu: Die Elben musste ihn mitgenommen haben. Und irgendwie hatte er es tatsächlich geschafft, ihnen zu entkommen und dabei noch seine Waffe mitzunehmen......Dies erschien ihm komisch. Die Elben waren nicht gerade für ihr Mitgefühl bekannt, wenn es um Gefangene ging. Genauer gesagt, hatte man noch niemals jemanden lebendig wiedergesehen, der in ihre Hände gefallen war..... Yelin zwang sich fast gewaltsam, nicht mehr darüber nachzudenken. Er durfte nicht zulassen, dass die sieben Jahre, die sie nicht gesehen hatten, einen solchen Keil des Misstrauens zwischen sie trieben. Er konnte und er wollte es nicht. Das, was sie beide damals verbunden hatte, war unendlich stark gewesen, stärker als alles andere, was er je verspürt hatte. "Aber das ist jetzt nicht mehr so..."dachte er leise und traurig. Er merkte es immer deutlicher: da war etwas, was sie unbarmherzig voneinander trennte, eine unsichtbare Wand, die verhinderte, dass ihre Beziehung wieder zu dem wurde, was sie einst gewesen war. Das, was sie alles erlebt hatten, hatte Narben auf ihrer Seele hinterlassen, die zu tief waren, als dass die Zeit sie hätte heilen können. Sowohl er als auch Korell waren während dieser langen, getrennten Spanne zu anderen Menschen geworden, das musste er nun schmerzhaft erkennen. Und er wusste auch, dass ihre Freundschaft sich selbst zerstören würde, gelänge es ihnen nicht, sich endlich wieder so tief und innig zu vertrauen wie zuvor. Doch vielleicht war auch alles, was sie brauchten, ein wenig Zeit.... Solche Empfindungen wälzte er in seiner Seele auf und ab, bis es Nachmittag wurde und schließlich wieder auf den Abend zuging. Das aufgeregte Hüpfen von Physales auf seiner Schulter riss ihn schließlich aus den düsteren Gedanken. Der kleine Gúdo deutete aufgeregt mit seinen dünnen, spitzen Fingern nach vorne und sprang auf und ab, hektisch mit seinen Flügeln schlagend. "Seht nur!" rief er aufgeregt. "Was ist denn?" fragte Yelin mit einem leichten Stirnrunzeln. Er konnte beim besten Willen nichts erkennen. Doch dann fiel es ihm auf: Die Bäume lichteten sich! Erst langsam, dann unmerklich wurden sie immer weniger und weniger, bis er endlich sogar die ferne Kontur eine Hügelkette durch die Stämme hindurch erkennen konnte und die hellen Strahlen der Abendsonne, welche die Grasebene vor dem Wald erleuchteten. Trotzdem brauchten sie noch ein wenig mehr als eine halbe Stunde, um den Waldrand endgültig zu erreichen. Doch endlich lagen keine Blätter mehr unter ihren Füßen, das Moos zog sich zurück und selbst das seltsame Flimmern vor Yelins Augen erlosch fast augenblicklich, als sie auf das trockene Gras hinaus traten. Mit einem tiefen Seufzer genoss er das Panorama vor ihm, das nun nicht mehr durch die großen Bäume begrenzt wurde. Der Himmel erstrahlte in einer wahren Sinfonie aus Rot, Gelb, Violett und Blau, als die Sonne sich dazu anschickte, am Horizont ihre letzten Minuten zu verbringen und die Erde danach wieder dem kalten Leuchten des Mondes zu überlasen. Vor seinen Augen breitete sich eine sanfte, leicht gewellte Graslandschaft aus, die nur durch den Osaki, einem der größten Flüsse dieser Welt, durchbrochen wurde. In der Ferne erhoben sich Hügel, deren Rundungen nun im letzten Glanz der Sonne erstrahlten. Als er sein Kopf ein wenig nach links wandte, erkannte er dort die Konturen einer großen, steil aufragenden Bergkette. Wie ein Blitz durchfuhr ihn der Schauer des Erkennens. Er war nicht mehr sehr weit von seiner Heimat, Hagi entfernt! Das vor ihm, das waren die letzten Ausläufer der Trockenen Ebenen, während das Gebirge linker Hand die Gipfel der Namuren waren, die selbst im Sommer nie schneefrei blieben. Unbewusst hatte ihn sein Weg wieder ganz in die Nähe seines ehemaligen Zuhauses geführt. An dem Zusammenzucken von Korell neben ihm bemerkte er, dass auch dieser nun wusste, wo sie sich befanden. Erinnerungen stiegen in ihnen beiden hoch, Erinnerungen an die gemeinsame Kindheit, die sie hier durchlebt hatten. Und doch..... Hagi war inzwischen für sie beide nicht mehr als ein Name, ein Ort, an dem sie vor langer Zeit einmal gemeinsam gelebt hatten. Keiner von ihnen verspürte Heimweh oder das Verlangen nach Hause zu kehren. Das, was sie erlebt hatten, hätte sie für immer von den anderen unterschieden, die Rastlosigkeit, die sie beide verspürten, würde sie nie für sehr lange an einem Ort verweilen lassen. Yelin wusste, dass er seine Suche und seinen Auftrag, der damit verknüpft war, beenden musste, denn eher würde er nicht zur Ruhe kommen. Das Erbe des Drachen und die Prophezeiung würden sich immer weiter in seine Seele fressen, gelänge es ihm nicht, die Enuya zu finden. Fast unbewusst trat er näher an Korell heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. "Komm," sagte er leise "lass uns gehen." Mit einem stummen Nicken stimmte ihm dieser zu und sie beide wollten sich auf den Weg zum nahen Flussufer machen, als plötzlich eine Stimme hinter ihnen ertönte. Physales hatte sich noch immer nicht aus dem Alten Wald heraus gewagt und sah sie mir einer seltsamen Mischung aus Trauer und Unsicherheit an. "Yelin....ich....." "Was ist los?" rief dieser ungeduldig, als ihnen der Kleine nicht folgte. Doch als dieser ihn nur weiter mir diesem seltsamen Blick ansah, da fiel es ihm auf einmal wie Schuppen aus den Augen. Er war ganz automatisch davon ausgegangen, dass der Gúdo mit zu ihrer Reisegesellschaft gehört, aber das stimme natürlich nicht. Bis jetzt hatten sie keine weitere Abmachung getroffen, als dass er sie bis zum Rande des Waldes begleiten würde. Und außerdem......er hatte hier eine Aufgabe zu erfüllen, er musste sich um seine Physalis kümmern und konnte nicht einfach so von seinen Artgenossen scheiden. Der Alte Wald war sein Zuhause, aus dem sie ihn jetzt beinahe unbewusst heraus gerissen hatten. Langsam ging er zu dem kleinen Erdgeist zurück und sah ihn verständnisvoll an. "Ist schon in Ordnung, Physales," meinte er sanft und schenkte ihm ein Lächeln. "Du musst nicht mitkommen. Dein Platz ist hier, in diesem Wald, nicht wahr?" Er sah noch immer sehr verlegen aus, als suche er nach Worten, um ihm etwas Bestimmtes zu erklären. "Aber ich....ich möchte nicht wieder zurück, Yelin. Da ist etwas.....ich kann es dir nicht erklären, aber ich habe das Gefühl, dass ich mit euch mitgehen müsste. " "Und deine Aufgabe?" "Ach.....es hat so viele Erdgeister, einer mehr oder weniger macht da auch nicht mehr so viel aus..." meinte er mit einem leicht verunglückten Lächeln. "Dann gibt es keinen Grund für dich, noch länger hier zu verweilen. " sagte Yelin zärtlich und streckte seine Hand aus. "Korell und ich würden uns sehr freuen, wenn du dich dazu entschließt, mit uns zu gehen." Der kleine Gúdo flatterte zögernd mit den Flügeln. Dann schien er sich einen Ruck zu geben und mit einem tiefen Atemzug ließ er sich auf Yelins Finger senken. Dieser lächelte und setzte den Kleinen auf seine Schulter. Dann folgten sie Korell, der sich schon auf den Weg gemacht hatte, hinunter zum Flussufer. Nach einigen Schritten hatten sie ihn eingeholt und auch er begrüßte den Erdgeist mit einem kleinen, warmen Lächeln, das dieser prompt erwiderte. Nach nur wenigen Minuten waren sie an dem strömenden Wassern des Osaki angekommen und beschlossen, ihn erst am nächsten Morgen an einer geeigneten Stelle zu überqueren und für diese Nacht hier Rast zu machen. Da Korell ebenfalls Proviant bei sich gehabt hatte, war das Abendessen für sie kein Problem. Dieses Mal erfüllte den Platz ein warmes, erschöpftes Schweigen stummer Verbundenheit. Auch die Nacht war wesentlich ruhiger als die vorhergehende. Yelin fand endlich den Schlaf, den er dringend brauchte und auch Korell schien weniger von seinen inneren Dämonen geplagt zu sein als letztes Mal. Es war fast, als hätten sie mit dem Alten Wald auch ein Stück Intensität ihrer Gedanken und Gefühle hinter sich zurück gelassen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)