Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 1 --------- Warnung: Die Geschichte ist aus der Ich-Perspektive geschrieben und die Hauptperson dürfte euch auf den ersten Blick wie ein kleines Arschloch vorkommen. Das ist durchaus gewollt. Also, kriegt mir keinen Schrecken. Blind Dragon war außerdem (und ist vielleicht noch ^_-) vor allem eine Geschichte für meine Freunde, die die darin vorkommenden Charaktere bereits kennen. Für Plotlogik, Übersichtlichkeit und Realismus übernehme ich keine Garantie - ich weiß nämlich, dass sie hier und da gewaltig auf der Strecke bleiben. ^_- Wenn das eurem Lesespaß keinen allzu großen Abbruch tut, freue ich mich dafür umso mehr über ein, zwei Zeilen Feedback von euch. Und jetzt genug gequasselt. Viel Spaß mit der Fanfic. Lethal ~~~ "Ent-schul-di-gung." Ich sah halb von meinem Computer auf. Ja, Entschuldigung. Gute Idee. Für diesen Tag sollte sich auch jemand bei mir entschuldigen. Ich war aus einem Alptraum aufgewacht, in dem mich ein Monitor, einer von diesen riesigen alten Kästen mit Bildröhre angefallen hatte, dann war ich zu meinem Arbeitsplatz gefahren, dessen Büros glücklicherweise Flachbildschirme hatten, und dabei in zwei Staus geraten, nur um dann mit dem absolut vorzeitlichen Sicherheitssystem eines kleinen Museums betraut zu werden. Ich hatte einen Trojaner in ihr System geschleust und nach wenigen Augenblicken alle wichtigen Passwörter gehabt. (Baupläne hatte ich mir gleich aus den Rechnern geholt, denn dafür hatte ich sicherlich noch Verwendung, aber das musste mein Chef ja nicht unbedingt wissen.) Kurz: Ich war genervt, übernächtigt und unterfordert. Kein Wunder, dass sich da jemand bei mir entschuldigen musste. Später an diesem Tag würde ich mir wünschen, auf die Entschuldigung verzichtet zu haben. "Ja?" murmelte ich ohne Mühe freundlich zu sein. Dies hier war schließlich eine Kollegin, auch wenn ich sie nie gesehen hatte. "Ich hab ein Problem mit meinem Computer. Zu fünf Leuten musste ich schon laufen und nun schickt man mich zu Ihnen. In den neunten Stock. Können die da unten meinen Computer nicht reparieren?" "Hey, hey, Moment. Sie sind ein Kunde?" Ich löste meinen Blick ganz vom Bildschirm. Eine hochgewachsene Frau mit asiatisch anmutendem Gesicht und den flachsten Brüsten, die ich je gesehen hatte, nämlich gar keinen, musterte mich verwirrt. Ihr Gesicht war so blass, dass ich dachte, selbst ihr Arsch müsse in ihrem Leben mehr Sonne gesehen haben. Lediglich die Wangen waren vor Ärger und Anstrengung leicht gerötet. In ihren blauen Augen las ich... nichts, wie immer. Ich bin ein Augenanalphabet. Außerdem war sie beängstigend dünn, was auch die Schlabberklamotten nicht verbergen konnten. Auf der Straße wäre sie mir nicht einmal aufgefallen, wenn ich Gefahr gelaufen wäre, sie zu überfahren. "Natürlich bin ich ein Kunde." "Und sie haben ein Problem mit ihrem Rechner." "Genau" "Wenn es allerdings nicht gerade darum geht, dass ihr Computer ein wichtiges Sicherheitssystem bewacht, sind sie bei mir falsch. Da müssen sie zum Support im ersten Stock." "Was glauben Sie, wo ich gerade herkomme?!" fauchte sie mich an. "Aus dem ersten Stock." "Woher wissen Sie das?" Ehrliches Erstaunen. Oh Gott. "Nicht so wichtig. Ich rufe jemanden vom Support. Moment." Ich wühlte in einem Wust aus CDs und Minidisks nach dem Headset und loggte mich in einen der Supportcomputer ein. Dort schrieb ich folgende Fehlermeldung: Hey, ihr Idioten, holt euren Blindgänger wieder ab! Und zwar sofort! Ich will keine DAUs in der Nähe meines Rechners! Entweder es kommt sofort jemand hoch, oder ich lösche sämtliche Festplatten eurer Abteilung. Und Übrigens: Ich weiß von den YAOI-Manga auf eurem Wechseldatenträger in Laufwerk H. Gleichzeitig sprach ich in mein nicht eingeschaltetes Headset etwas Freundlicheres, wartete eine Weile und sagte dann: "Es kommt gleich jemand." "Was machen Sie hier in dieser Abteilung? Ausbildung?" So viel zum Thema ich sähe aus wie 20. "Ich hacke mich in die Proxyserver diverser Firmenrechner ein, patche das cummulative Sicherheitsupdate und greife dann auf die Workstation zu. Wenn mir das gelingt, weil das Sicherheitssystem zu schlecht ist, was meistens der Fall ist, schwatze ich den Leuten unser Sicherheitssystem auf." ...In das ich auch reinkomme, wie jeder andere hier in der Abteilung, aber wie war das mit den Dingen, die der Chef nicht wissen sollte? "Oh", antwortete Sie in einem Ton, der verriet, dass sie genau so wenig verstand wie ich gehofft hatte. Eine Netzwerkmeldung erschien auf meinem Bildschirm: Hey, ewige Jungfrau! Wie ich es liebte, wenn jemand Witze über meinen Nachnamen machte... Wir haben hier auch ohne deine geistreichen Witze schon Personalmangel. Wenn du so'n Experte bist, bring es hinter dich und lass uns damit in Ruhe. Der Kerl heißt Nicholas Gary Mishu. Und Kori: Die Frau, mit der du letzte Nacht gebumst hast, war meine Freundin. Schön für ihn. Konnte ich ja nicht wissen. War ohnehin nicht gut gewesen. Und dann noch der Traum mit dem Monitor hinterher... "Also gut, Herr Mischu" "Sie haben gemerkt, dass ich ein Mann bin! Das ist mein Glückstag!" "Nein habe ich nicht. Die vom Support haben mir Ihren Namen geschrieben, mit dem Ihre Eltern sie eindeutig bestrafen wollten. Und ihr Rechner ist kaputt. Die Fakten sprechen also gegen einen Glückstag. Bei wie vielen waren Sie noch mal im Support?" "Fünf" Eine Pause des Nachdenkens. "Wenn man den mitzählt, der mich als Transe beschimpft und weggeschickt hat, sechs." Wie mögen bei einem solchen Glückstag seine Pechtage aussehen? "Tut mir leid für Sie." Das tat es wirklich. Jeder sollte leben wie er wollte. Solang er nicht vorhatte, mich in dieses Leben zu involvieren. Die Zahl der Menschen, mit denen ich was zu tun haben wollte, konnte ich an den Fingern abzählen. "Die Supportabteilung haben Sie also durch. Was ist denn mit ihrem Rechner?" Er beugte sich nach unten und stöhnte herum. Schließlich hievte er mühevoll einen gewaltigen Bildröhrenmonitor auf den Tisch, ein riesiges altes Ding, und sagte: "Der ist kaputt." Ich unterdrückte einen Schrei. Mein Alptraum war wahrgeworden. Der Monitor krachte über den Sockel meines Schreibtisches und beförderte Flachbildschirm, Tastatur und zu guter Letzt mich auf den Boden, wo er zielsicher in meinem Schritt landete. "Entschuldigung", sagte er ehrlich beschämt, aber überlaut, sodass auch die letzten Kollegen zu uns hersahen. Sie lachten. Das sprichwörtliche schwarze Schaaf der Abteilung hatte sich von einer Transe kastrieren lassen. Ich stand auf, drehte mich um und beschloss, wenigstens die Gesinnung der Damen der Abteilung zu ändern. "Hey!" schnauzte ich einen Kollegen an, der heute morgen mit mir im Fahrstuhl gestanden hatte. "Ich hab sehr wohl gesehen, was du mit der Sekretärin von Murasaki gemacht hast!" Die Augen der restlichen Abteilung wanderten zu meinem netten Kollegen. Nun, da ich wenigstens vor meinen Kollegen Ruhe hatte, wuchtete ich den Monitor auf meinen Schreibtisch zurück, um Flachbildschirm und Tastatur davor zu stellen. "Das ist nicht ihr Rechner, sondern ein vorzeitlicher Monitor. Kaufen Sie sich einen neuen. Support beendet." Plötzlich schien er seine peinliche Aktion vergessen zu haben. "Vergiss es! So leicht, lasse ich mich nicht abspeisen! Sag mir sofort, was mit dem Ding los ist?!" Die Kollegen schauten wieder. "Würden Sie mich bitte Siezen? Ich habe kein Interesse daran, Teil Ihres armseligen Lebens zu sein, Sie hirnverbrannter Vollidiot!" "WIE BITTE?!" "Was denn? Auch noch schwerhörig?" "So können Sie nicht mit mir reden!" "Hören Sie doch, dass ich kann", gab ich gelangweilt zurück. So sehr ich für "Political Correctness" war, langsam konnte ich den Typen verstehen, der ihn Transe genannt hatte. "Ich will wissen, was mit meinem Monitor los ist! Eher gehe ich hier nicht weg!" "Wenn das so ist, werden die Leute vom Sicherheitsdienst sie garantiert auch tragen. Vielleicht auch Ihren Monitor, wenn ein Antiquitätenliebhaber dabei ist." "Kori?" flüsterte mein Kollege vom Nachbartisch. "WAS?!" "Der Sicherheitsdienst ist gerade im Ostflügel im Einsatz." "Ha!" machte meine "freundliche Kundin" und fuchtelte mit erhobenem Zeigefinger vor meinem Gesicht herum. Ich hasste diese Geste. "Da haben Sie's! Das ist Ihre göttliche Strafe dafür, dass Sie mich so behandeln!" "Amen." Ich stöpselte den Uralt-Monitor in meinen PC und besorgte mir ein zusätzliches Stromkabel. Der Typ hatte seines nicht mitgebracht. Der Monitor knackte und lieferte ein gestochen scharfes Bild. Er flimmerte ein bisschen, funktionierte sonst jedoch einwandfrei. Ich war ehrlich beeindruckt von dem Produkt. "Wie... haben Sie das gemacht?" staunte er. Mir ging ein Licht auf. "Bücken Sie sich." "Perversling. Ich bin nicht schwul." "Ich auch nicht und Sie wären der letzte, für den ich's werden würde. Bücken Sie sich." Er tat wie geheißen. Höchst widerwillig. Bei seinem Aussehen hatte er wohl schon öfter Ärger mit Schwulen gehabt. "Sehen Sie das rote Kabel, das zu ihrem Monitor führt?" "Ja." "Sie haben den Monitor zuhause wohl nur in den PC eingestöpselt. Der Bildschirm bekommt separat Strom" Als er wieder hochkam, war der arme Trottel knallrot. Da mir jedoch noch meine Weichteile von dem Zusammenstoß mit dem Monitor schmerzten, hatte ich dieses Mal kein Mitleid. Ich wollte nur, dass er endlich ging. "Ähm, danke", sagte er noch ein bisschen grantig, aber vor allem schüchtern. "Schon gut." "Was schulde ich Ihnen?" "Kein Geld. Ich habe Angst, dass ich mir was breche, wenn sie ihr Portemonnaie rausholen. Halten Sie nur Ihr ersprechen" Verwirrung schlich sich in sein Gesicht. "Versprechen?" "Gehen Sie. Sie sagten, Sie würden gehen, wenn Sie wüssten, was mit Ihrem Monitor ist." Er lachte gekünstelt. "Ich hab mich nur doof gestellt." Ich nickte wissend und deutete den Gang entlang, der zu den Fahrstühlen führte. Er stiefelte sofort dankbar los. "Hey! Ihr Monitor!" "Ach ja!" Er machte sich daran, den Stecker meines hochempfindlichen Towers herauszuziehen. "Lassen Sie mich das machen", sagte ich hektisch, gab ihm den Monitor mitsamt Stromkabel und schob ihn zwei Meter von meinem Schreibtisch weg. "Schönen Glückstag noch!" rief ich ihm hinterher als er zielsicher die Treppe ansteuerte. Kapitel 2 --------- Es war windig und es regnete in Strömen, aber ich hatte mal wieder bis zum letzten Tag der Ausstellung gewartet, um nicht so viel Aufsehen zu erregen. Was ich wollte, würde morgen im Lager und damit für mich unerreichbar sein, aber heute lag der faustgroße Gegenstand ungeschützt in einer Vitrine. Naja, bald ungeschützt. Der Glasschneider rotierte, einige Karabinerhaken klickten und schon schwebte ich sanft wie eine - überdimensionale, pechschwarze - Feder in den Raum. Regentropfen sammelten sich auf dem Marmorboden. Ich sag ja, Teppich lohnt sich nicht... Ein leichtes Grinsen stahl sich auf mein Gesicht. Der Wind zerrte an meinem Seil, aber es war noch nicht bedenklich. Überwachungskameras surrten leise. Ich hielt mein Gesicht starr auf den Boden gerichtet. Vielleicht sollte ich meine Eitelkeit endlich ablegen und eine Maske tragen. Aber die Dinger juckten so furchtbar... Meine Füße erreichten den Boden. Ich nahm das Auge des Orion, einen grünen Edelstein aus der Vitrine und war bereits auf halbem Weg nach oben bevor das Wachpersonal eintrudelte. Schüsse fielen, das Glas über mir zersplitterte. Kein Problem, denn oben wickelte sich immer noch das Seil auf die Winde und solang das geschah, war ich auf steilem Weg nach - in diesem Moment stockte natürlich die Winde. Ich hing bewegungslos in der Luft. "Da haben wir wohl ein kleines Problem, hm?" höhnte der Uniformierte Wachmann von unten. Er zielte auf mein Seil. Und traf wie durch ein Wunder. Eines dieser Wunder, die immer nur den anderen geschahen. Das nächste Mal nehme ich die Tür, dachte ich als ich zu Boden sauste. Ich rollte mich über die Schulter ab, aber irgendetwas dort knackte bedenklich. Schmerz breitete sich in der rechten Schulter aus und wanderte bis hinunter in den Arm. Raus hier. Nur raus hier. Sirenen. Blaulicht. Noch mehr Leute in Uniform. Ich war noch nie so gerannt. Wäre mein Auftrag heute ein sperriges Bild gewesen, hätte das das Ende meiner unfreiwilligen Karriere bedeutet. Shadow hatten sie mich getauft. Was für eine Lachnummer. Mein Name war Kori. In meinem Heimatland bedeutete das Schatten. Ob sie das so witzig fänden wie ich es fand, wenn sie es wüssten? Da mir Kodansha Technologies auch für dieses Gebäude die Baupläne beschert hatte, fand ich einen Notausgang. Meine Lungen schienen zu brennen. Mein Schritt pochte wieder von dem schmerzhaften Zusammenstoß mit dem Monitor. Egal, ich rannte. Und prallte gegen eine gigantische Pizza. "Hey, was soll das?!" rief eine Stimme aus der Fahrerkabine des Lieferwagens. "Willst du mein Auto kaputtmachen? Das hat mir gerade noch gefehlt! Idiot!" Die Stimme kannte ich doch. Mein Freund mit dem Monitor! Ich sprang in das Auto. "Fahr!!" "Was? Hast du dir den Kopf angeschlagen? Du blutest! Vielleicht ist dein Hirn beschädigt! Ich bin doch nicht dein Chauffeur!" "Du darfst mich weiterhin duzen und ich schließe dir sämtliche Monitore deines beschissenen Lebens an, wenn du jetzt fährst!" Gut, dass ich zu Eitel für eine Maske gewesen war. So sah ich nur wie ein Typ mit einem Fable für schwarze Klamotten aus und nicht wie ein Verbrecher. "Hast es wirklich eilig, was?" Er grinste überlegen. Ich gab mir mühe, sachlich zu klingen. "Fahr oder ich bring dich um. Das ist kein Witz." "Hey! Ich kann nichts dafür, dass der Monitor dir auf die Ei-" "FAHR, HAB ICH GESAGT!!!" "Ist ja gut. Wohin willst du denn?" Ich fühlte mich, als hätte ich die Erleuchtung empfangen, als er den Motor anließ und - überraschend zügig - losfuhr. Er bog in die nächste größere Straße ein. Hauptstraße. Vierspurig. Ich sah ein paar Mal in den Rückspiegel. Meine Laufarbeit hatte sich gelohnt. Die Kerle hatten mich wohl nicht ins Auto springen sehen. "Wohin denn nun? Und wer zahlt mir die Pizza? Ich werd deinetwegen noch Ärger bekommen." Ich seufzte. "Vor wem warst du denn auf der Flucht?" "Wütende Frau." Er lachte. "Idiot. Dann eben nicht." "Ich liebe dich auch, Süßer." "Wenn das so ist, bezahlst du die Pizza. Kingsize mit Champignons und" - er verzog das Gesicht - "Zwiebeln." Ich musste grinsen. "Die wird mein Abendbrot. Fahr mich zu meinem Motorrad und ich nehm sie dir ab. Ich geb dir sogar Trinkgeld." "Du hast dir wirklich den Kopf angeschlagen", konstatierte er. "Idiot, dann eben nicht." "Das ist mein Spruch!" "Wie kommt ein Pizzabote zu einem Computer?" "Lenk nicht vom Thema ab!" "Sich um einen dummen Spruch zu streiten ist kein Thema. Da rechts ab." Er schwieg. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er das oft tat. "Wie heißt du?", wollte er wissen. "Kori." "Und vor wem bist du nun weggelaufen?" "Wie kommst du nun zu dem Computer?" "Du tust es schon wieder!" "Was?" "Du lenkst vom Thema ab!" "Da links einordnen. Hat's funktioniert?" "Nein. Wo waren wir gleich?" "Da rechts und gleich wieder links. Dann sind wir da." Er hielt vor meinem geparkten Motorrad. "Danke", murmelte ich. Das Wort hatte ich lang nicht mehr benutzt. "Ne Kawa. Nicht schlecht." Sein Blick sagte mir, dass ihm die schwarze Kawasaki Ninja mehr als nur "nicht schlecht" gefiel. "Man gönnt sich ja sonst nichts." "Apropos... Die Pizza." "Klar, Moment... Scheiße, hab kein Geld dabei." "Aus ner Bank bist du also nicht geflüchtet." Ich lächelte, wollte lachen, besann mich aber aufgrund meines Armes eines Besseren. "Nein", sagte ich nachsichtig. "Aus der Afrika-Ecke von nem Supermarkt. Wollte mir meine Verabredung für heute Abend klauen." "Ich spende dir die Pizza aber nicht." "Schade. Wär n gutes Frustessen gewesen. Warte kurz." "Lauf ja nicht einfach weg! Du schuldest mir das Geld für die Pizza und das Benzin!" "Eben" Ich stieg aus, kramte in dem Hohlraum unter meinem Motorradsitz und förderte etwas zu Schreiben zutage. Anscheinend hatte ich mir den Kopf verdammt stark angehauen, denn ich gab ihm meine Nummer. Immerhin nur die in der Firma. "Morgen sitze ich an meinem Arbeitsplatz. Ruf mich an wegen des Geldes." "Ich kann auch einfach vorbeikommen." "Untersteh dich. Meine Eier tun mir immer noch weh." "Ich sagte doch, ich kann nichts dafür!" erboste er sich. "Nimm nicht alles was ich sage so persönlich.." "Deine Pizza", grummelte er. Eine riesige, köstlich duftende Pappschachtel wechselte den Besitzer. Man möge mich leicht beeinflussbar nennen, aber ich glaubte in diesem Moment, der Typ sei doch ganz in Ordnung. Ich bedankte mich noch einmal. "Warum bist du plötzlich so freundlich? Du tust gerade so als hätte ich dir das Leben gerettet." Ich zupfte ein Taschentuch aus der Tasche und betupfte die bereits gerinnende Wunde an meiner Stirn. "Ist nur der Schlag an den Kopf.", sagte ich und ging. "Bis Morgen." Klitschnass und durchgefroren betrat ich meine Yuppie-Wohnung im siebten Stock. Ein riesiges Zimmer mit Küchenzeile, zwei kleinere Zimmer, Bad mit Fenster. Zu teuer für mich allein, zumindest für einen offiziell legal arbeitenden Schwarzen. Aber ich hatte ja meinen treuen Mitbewohner. Rick hatte ich aus drei Gründen den anderen Bewerbern um das "Zimmer mit Ausblick, komische Nachbarn, aber dicke Wände" vorgezogen: 1. Er war weiß und beruhigte damit meine Nachbarn und den Steuerprüfer. 2. Er war sowohl schweigsam als auch diskret und beruhigte damit mich. 3. Er wirkte meinen Lastern, insbesondere meinem Hang zur Unordnung, entgegen und beruhigte damit die Frauen, die meine Wohnung betraten. Später hatte sich herausgestellt, dass er noch eine vierte Fähigkeit besaß, die allein genügt hätte, um ausnahmslos jeden Bewerber auszustechen. Die Küchenzeile war wie immer tadellos aufgeräumt. Bis auf meinen Kram. Ich verstand die nonverbale Botschaft, sah den Haussegen aber noch nicht in Gefahr und ignorierte sie. Rick war vor dem Fernseher eingeschlafen. Das zu lange, fransig rote Haar hing ihm ins Gesicht. Ein schlafendes Kind von 15 Jahren. Er war von zuhause weggelaufen und gedachte nicht, zurückzukehren. Ich hatte ihn nie gefragt warum und hatte auch nicht vor, das zu tun. Immerhin arbeitete er wie ein Besessener, putzte mir hinterher (was eigentlich schon ein Job für sich war) und brachte mir immer pünktlich seinen Anteil der Miete. Wie er so dalag sah er aus wie höchstens 12. Vorsichtig schlich ich in mein Zimmer und setzte mich auf's Bett, wo ich die Pizza zu verschlingen begann, die ich mir unter den gesunden Arm geklemmt hatte. Von dem Geruch wachgeworden betrat Rick mein Schlafzimmer. Sein hungriger Blick sagte mehr als tausend Worte. "Sieh dir meine Schulter an und ich bestell dir noch eine." Er strahlte mich an. "Der Rest von der da reicht mir", erwiderte er leise. "Würdest du..." Ich entledigte mich meines T-Shirts. "Von wo bist du denn gefallen? Die ist total verrenkt", sagte er nachdem er eine Weile daran herumgedrückt hatte. "Hab bloß beim Armdrücken verloren." "Mmmh", machte Rick nur, legte die Hände auf meine Schulter und schloss die Augen. "Ich frag dich nichts, du fragst mich nichts." Eine Woge sanfter Wärme breitete sich in mir aus. Dann begann es zu knacken. Ich biss mir auf die Zunge als die Schultergelenke in ihre Ausgangstellung zurückruckten. Ricks besondere Fähigkeit. Er hatte nicht eine Medizinvorlesung besucht und konnte besser heilen als jeder Arzt in ganz Tokio. Als er die Hände von meiner Schulter nahm, fühlte sich die Schulter an, als wäre sie niemals auch nur verspannt gewesen. "Genau", stimmte ich ihm zu. "Das Recht auf ein einsames, verkorkstes Leben ist unantastbar." Kapitel 3 --------- (Gott, die Freischalter sind ja schnell hier! O__O Dann schieb ich mal noch eins nach. Das isses dann aber auch für heute, keine Sore.) Als ich am Morgen erwachte, fühlte ich mich hundeelend. Meine Zunge war so pelzig, dass ich glaubte, wenn ich in den Spiegel sähe, würde ich weiße Haare darauf erkennen. Oder grüne. Mein Kopf dröhnte, auf meiner Stirn hatte sich eine Beule gebildet und als ich aufstand gaben meine Beine im ersten Moment nach. Ich fror, fühlte mich aber so verschwitzt als hätte ich die ganze Nacht im Fieber verbracht. Mein Laken war halb vom Bett gezogen und das Kissen hatte ich wohl von mir geworfen, denn es lag neben ein paar heruntergefallenen Platinen und Computerkarten auf dem Boden. Wie auf Glatteis bewegte ich mich in die Küche. "Morgen Eintopf", begrüßte ich Rick Muligan (Engl.: Eintopf) verschlafen. "So früh schon wach, holde Jungfrau?" Die Retourkutsche... Linkisch ließ er etwas in seiner Hosentasche verschwinden. "Konnte nicht schlafen." "Hab ich... Äh, ich hab Frühstück gemacht. Möchtest du?" "Workaholic", antwortete ich nüchtern. "Apropos... Ich muss zur Schule. Ist noch Rührei da, wenn du magst." "Danke Mammi." Ich wollte nicht undankbar sein, hatte aber Zweifel, ob mein Tonfall das zu erkennen gab. Er war schon halb draußen, als ich einen Blick auf die riesige Küchenuhr in Bahnhofsoptik warf. "Rick, ich fahr dich. Mit der Bahn schaffst du's nicht mehr, aber wenn ich mich mit'm Frühstücken beeile..." Der Junge sah sich hektisch nach mir um. In diesem Moment fielen ihm einige grüne Scherben aus der Hosentasche. Sein Gesicht versteinerte. "Kori, ich... Ich wollte..." "Was ist das?" Ich ahnte schon was es war, bemühte mich aber, ruhig zu klingen und vor allem die Wut zu bekämpfen, die in mir aufstieg. "Dieses... Ding, das du... Du weißt schon... Ich... In der Küche... Du hast... ES TUT MIR LEID!" Tief durchatmen. Einmal. Zweimal. Ich hatte das Auge des Orion achtlos in die Küche gelegt. Rick hatte keine Zeit in Ausstellungen zu gehen, doch er hatte anscheinend erkannt, dass der Gegenstand wertvoll war, den er zerbrochen hatte. "Langsam", ermahnte ich uns beide. "Eins nach dem anderen. Wie ist das passiert?" "D-du bist stinksauer." "Ja. Sag mir trotzdem wie es passiert ist. Vielleicht beruhige ich mich ja wieder." "Also, ich bin früh aufgestanden, wegen der Zeitungen. Du weißt schon. Mann, mir tut das so leid. Das Ding sieht so... kostbar aus... Kori..." Seine Stimme zitterte bedenklich. Hatte er einfach nur wahnsinnige Angst, oder lag ihm etwas an mir? Ich verdrängte den Gedanken und schwieg. Unsicher fuhr Rick fort: "Also ich kam wieder rauf und wollte Frühstück machen. Weil du mir die Pizza gegeben hattest und... keine Ahnung, weil du mich so günstig hier wohnen lässt und nicht fragst und so." Verdammt, er mochte mich wirklich. "Und dann hast du plötzlich so laut geschrieen. Ich dachte vielleicht hast du dir was getan und bin einfach losgerannt und dabei..." Er brach ab und schluckte hörbar. "... hast du das Teil von der Ablage gefegt." Ein Nicken. Kaum mehr als eine Andeutung. Meine Wut war verflogen. Stattdessen hatte ich das Gefühl, mein Magen verdrehe sich in sich selbst wie ein Waschlappen beim Auswringen. "Ich arbeite das ab, versprochen!" "Wann? Zwischen der Schule, den Zeitungen und dem Putzjob? Selbst wenn du jede Nacht in zwielichtigen Gegenden an der Straße jobben würdest, könntest du das nicht abbezahlen. Zeig mal her." Mit hastigen Bewegungen beförderte er die Splitter des Steines aus seiner Tasche. Wie hatte er in so viele winzig kleine Teile zerbrechen können? "Zu reparieren ist da wohl nichts mehr.", stellte ich fest. "Was hattest du damit vor?" Rick sagte nichts. Stattdessen betrachtete er seine Füße. "Was hattest du vor?", fragte ich nachdrücklicher. "Dieses... Ding... Ich hatte gehofft, jemand, den ich kenne, könnte es zusammensetzen." Angesichts der Scherben kam es mir vor als wolle er mich zum Narren halten. "Selbst wenn... Ich hätte die geklebten Stellen doch sofort bemerkt." Zu meiner Verwunderung schüttelte er den Kopf. "Nicht, wenn das ein magischer Gegenstand ist. Dann gäbe - gibt es vielleicht eine Möglichkeit, das wieder in Ordnung zu bringen." "Rick", entgegnete ich. "Das ist kein guter Zeitpunkt für Scherze." "Das ist kein Scherz. Erinnere dich doch daran, was ich mit deinem Arm gestern gemacht habe." Dieses Argument war verdammt gut und das behagte mir gar nicht. "Wir können das später klären. Ich werf mich in Schale und fahr dich. Du kommst noch - Mein Gott, deine Eltern müssen ähnlich geredet haben." Zum ersten Mal seitdem er hier war, fand ich sein Schweigen unangenehm. Ich sah zu, dass ich ins Bad kam und mir was über zog. 45 Minuten und einen kleinen Umweg später war ich in der Firma. Keine Staus dieses Mal. Dafür war ich ruhelos und fühlte mich immer noch kränklich. Es war Zeit für meine nächste Ration, aber die würde nun wohl ausbleiben, weil die Bezahlung in Einzelteile zerlegt und somit inakzeptabel war. Der Mistkerl würde mich meinem Schicksal überlassen. Wo wir schon beim Thema sind... Meine Schicksalhafte Begegnung von gestern spazierte an meinen Schreibtisch. Dieses Mal wenigstens ohne einen mörderischen Monitor im Gepäck. Ich rückte einige Gegenstände vom Rand meines Tisches weg. Man konnte nie wissen. "Hi, Kori!" begrüßte er mich fröhlich. "Begrüß mich nicht, als würde ich dich kennen. Die Leute hier erinnern sich noch an dich." "Bin dir wohl peinlich, was?" Seine gute Laune kotzte mich mit jedem Wort mehr an. "Hast's erraten. Was kriegst du von mir?" Er nannte mir die Summe. Für Pizza und Benzin ein angemessener Preis, den ich ihm prompt zahlte. "Das wär's", brummte ich. "Danke für gestern. Tschüss." "Hast du die Tage oder wird deine Laune einfach zum Abend hin immer besser?" "Bist du nur schwerhörig oder nimmst du wirklich an, ich wäre an einem Gespräch interessiert?" "Ich glaube ja, du machst das mit Absicht", sagte er schnippisch. "Was?" "Dass du immer mit Gegenfragen antwortest und dich wie'n Arsch benimmst, wenn man mal nett zu dir ist." "Ich bin so, weil ich Spaß dran habe, Menschen zu quälen. Und jetzt zieh Leine." "Wenn du das nächste Mal in Schwierigkeiten bist, helfe ich dir garantiert nicht", schnaubte er. "Und nur so nebenbei: Du hast noch nie beschissener ausgesehen." "Ich seh aus wie immer." "Dann haben wohl auch Scheißhaufen sonnige Tage und gestern war so einer bei dir." "Es hat geregnet und deshalb bin ich jetzt erkältet. Hau ab!" "Wenn du laut wirst, werden die dich wieder anstarren." Er hob den Zeigefinger. Im Geiste sah ich mich das Ding von seiner Hand brechen. Kori, du böser, böser Junge, du. Ich konnte sogar das Knacken der Knochen hören. "Sag mal, du Trottel, legst du's drauf an mir auf die Eier zu gehen?" fauchte ich. "Tut's noch weh?" Ich packte mein Headset. "Sicherheitsdienst? Hier ist eine junge Frau mit einer Kamera in der Sicherheitsabteilung." "Junge Frau", höhnte er. "Arschloch. Außerdem hab ich keine Kamera." "Jetzt schon", antwortete ich und hängte ihm meine auf Firmenkosten gekaufte Nikon um den Hals. "Danke", maulte er und verzog das Gesicht. "Glaub ja nicht, dass ich dir die wiedergebe." Dieses Mal nahm er den Fahrstuhl als er das Weite suchte. Spätestens, wenn er die Kamera kaputtgemacht hatte, was sicherlich nicht lang dauerte, würde sie wieder den Weg in meine Hände finden. Ironischerweise hatte ich plötzlich einen riesigen Appetit auf Pizza. An diesem Nachmittag machte ich freiwillig Überstunden. Ich durchsuchte das Internet nach einem Objekt, das dem Auge des Orion ähnlich war, fand aber nichts vergleichbares, was ich meinem Auftraggeber unterschieben konnte. Meine Kopfschmerzen waren weg, doch ich fühlte mich immer noch schlaff und ausgepumpt. Später würde das Zittern einsetzen. Zusammen mit der glühenden Hitze in meinem Rücken. Ich konnte es gar nicht erwarten. Schließlich holte ich Rick von seinem Putzjob ab. Er wirkte immer noch niedergeschlagen, aber sein Gesicht hatte auch einen seltsam starren Ausdruck, den ich nicht recht deuten konnte. Als er sich bei mir wegen des Zimmers vorgestellt hatte, hatte ich diesen Ausdruck bereits gesehen. Sonst war sein Gesicht noch weich und jugendlich. "Lass uns zu diesem Mann fahren, von dem ich dir erzählt hab. Bitte." Nach seinen Reden am Morgen beschränkte er sich nun wieder auf das Nötigste. Er meinte seinen Bekannten. Mir gefiel es nicht, noch mehr Leute davon wissen zu lassen, was sich illegalerweise in meinem Besitz befand. Noch weniger gefiel mir jedoch die Aussicht auf das, was mir bevorstand, wenn der Tausch nicht stattfand. Heute Nacht wollte ich das gute Stück zum Zwischenhändler bringen. Widerwillig stimmte ich zu und wir fuhren ein ganzes Stück aus der Stadt hinaus. In einem Vorort befand sich ein kleines, altmodisches Haus, vor dem Rick mich zu halten anwies. Während er sich den Helm vom Kopf zog, riet er mir: "Der Mann ist ein Wahrsager. Versuch auf keinen Fall, ihn zu belügen." "Lass das mal meine Sorge sein", entgegnete ich. "Ich meine nur, weil ich glaube, dass du jemand bist, der viel lügt", sagte er und betrachtete wieder seine Füße. "Es ist gefährlich, ihn anzulügen." "So? Sagst du das?" Abwesend schlenderte ich auf das Haus zu. Langsam glaubte ich, Rick hatte einfach die falschen Bücher gelesen oder zuviel vor dem Fernseher gehockt. Er betrat das Haus, ohne anzuklopfen. Es war nicht verschlossen. Weil der Hausherr Besuch erwartet. Unbewusst schüttelte ich den Kopf. Im Inneren des Hauses war es dunkel. Alle Jalousien waren heruntergelassen. Da scheute wohl jemand das Tageslicht. Irgendwie roch es nach Hund. Nach einem großen Hund. Dessen Herr, wenn es hier denn einen Hund gab, war ebenfalls ein Riese. Er musste sich leicht bücken, als er durch eine der Türen in den Flur kam. Er schien erfreut uns zu sehen, aber keineswegs überrascht. Guter Schauspieler. Oder mein Mitbewohner hatte ihn vorgewarnt. Rick begrüßte ihn. "Du warst heute gar nicht in der Sonne", sagte er. "Ich dachte mir, wenn du mich mit einem blinden Drachen besuchst, sollte ich ihn nicht gleich zu Anfang verschrecken. Da habe ich die Jalousien unten gelassen." Meinte er mich damit? "Außerdem habe ich Regen gehört. Demnach hätte es sich nicht gelohnt. Kommt, im Wohnzimmer ist Licht. Sehen wir uns den Schaden doch einmal an." Ich stieß Rick verärgert in die Seite. "Du hast ihm davon erzählt?" "Nein. Er ist ein Wahrsager. Er wusste, dass wir kommen." Verächtlich rümpfte ich die Nase. Wir folgten dem Riesen in ein dezent beleuchtetes Zimmer. Keine okkulten Verzierungen, keine Kristallkugel. Wenigstens sparte der Mann sich den üblichen Hokuspokus. Es sah alles völlig normal aus. Ein bisschen spießig für meinen Geschmack, aber der Raum wirkte trotzdem warm. Wir nahmen auf einem weichen Sofa platz, an dessen Ende eine Wolldecke mit schwarzen Hundehaaren lag. Nur, wo war der Hund? "Der Wolf kommt in einer halben Stunde wieder", sagte Herrchen. Der Mann war ein aufmerksamer Beobachter. Er hatte gesehen, dass mir die Decke aufgefallen war. Ich konnte mir gut vorstellen, dass viele ihn für einen Wahrsager oder etwas Ähnliches hielten. Auch sein Äußeres trug zu diesem Eindruck bei. Er mochte Anfang bis Mitte zwanzig sein, doch sein Gesicht hatte etwas Weises. Einige winzige Falten umringten seine Augen, sein Gesichtsausdruck war wach und aufmerksam. Langes, schwarzes Haar, im Nacken zusammengebunden und drahtig wie der sprichwörtliche Pferdeschwanz nahm seinen kantigen Zügen die Schärfe. Jemand, der vertrauenswürdig aussah. Er hätte einen guten Psychologen abgegeben. "Mein Name ist übrigens Ronga", stellte er sich vor. Rick machte keine Anstalten mich vorzustellen und ich hatte nicht das Bedürfnis, meinen Namen zu nennen. Gerade weil er so vertrauenswürdig wirkte, misstraute ich ihm. "Darf ich einen Blick auf das Malheur werfen?" fragte er freundlich. Rick bot ihm die Splitter des Steines dar. Unser Gegenüber nahm einen davon von dem flachen Glastisch in der Mitte der Sitzgruppe und wog ihn prüfend in der Hand. Irgendwie hatte er so noch mehr von einem weisen alten Mann. Ich musste an den alten Zauberer aus Tolkiens Herrn der Ringe denken. Eine Weile gespannter Stille verging, bis Ronga schließlich den Blick senkte und den Splitter zurücklegte. "Das Auge des Orion. Ich habe es lang nicht mehr gesehen. Viele Legenden ranken sich darum, aber keine entspricht der Wahrheit. Dennoch gibt es einige, die wissen, wie man es benutzt. Du hast es gestohlen, Kori, hab ich recht?" "Ich stehle nicht, aber legal erworben habe ich es auch nicht. Ich wüsste nicht, warum es wichtig sein sollte, wie ich an das Teil herangekommen bin." "Ich war neugierig, ob du lügen würdest." "Kannst du sowas nicht vorhersehen?" "Ich sehe immer nur bis zur nächsten Weiche. Versuche nie wieder, mich anzulügen. Deine Zunge ist geschwollen. Du hast dir daraufgebissen, als Rick dich geheilt hat. Ein Wachmann hat dich von der Decke geschossen und du hast dir den Arm beim Sturz verrenkt." Der Kerl machte mich wütend. Rick war noch hier und ihn ging das nichts an. "Er wird sich nicht erinnern, wenn er geht. Nicht an das, was er nicht wissen darf. Belüge mich nicht wieder und ich helfe euch." "Warum ist dir das so wichtig?" "Weil ich insbesondere von Schwarzmagiern nicht gern angelogen werde." "Ich versteh kein Wort von deinem Gefasel." Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert freundlich. Kein Anzeichen von Ungeduld oder Ärger. Vielleicht hatten wir beide unsere Art eines Pokerfaces. "Kannst du uns nun helfen, das Ding zusammenzuflicken oder nicht?" Rick zuckte angesichts meines unhöflichen Umgangstons leicht zusammen. Er benahm sich, als hätte ich einen Heiligen beleidigt. Zugegeben, Ronga war der geschickteste "Wahrsager", der mir bisher untergekommen war. Im Gegensatz zu Rick ignorierte er meinen Umgangston vollkommen. "Du hast heute einen jungen Mann aus deinem Büro geworfen", antwortete er ruhig. Er wird dir helfen, den Stein in seine Ursprungsform zurück zu wandeln. Gegen eine Gegenleistung. Außerdem wird sein Ungeschick dich von der Geißel befreien, die dich hergeführt hat." Ich runzelte die Stirn. "Ich meine die chemische Substanz, die du nicht entschlüsseln konntest." Er war wirklich mit Abstand der beste Wahrsager, den ich kannte. Ich bekam im Tausch gegen das Diebesgut stets eine Spritze, die das Zittern und Glühen zurückhielt. Teile der darin enthaltenen Flüssigkeit hatte ich einigen mir bekannten Chemikern gegeben, die sich an der Zusammensetzung die Zähne ausgebissen hatten. Woanders war das Namenlose Zeug nicht zu bekommen und so hatte ich mich damit abgefunden, dass ich abhängig von dem Kerl war, der mich diese Gegenstände stehlen ließ. Nie hatte ich einer Menschenseele davon erzählt. Plötzlich wollte ich nur noch weg. Wenn ich länger bliebe, so fürchtete ich, würde der Kerl mein gesamtes Inneres nach außen kehren. Hektisch sammelte ich die Splitter ein und stand auf. Die dadurch gewonnene Größe gab mir etwas Sicherheit. "Wenn du so ein großer Hellseher bist wie Rick sagt, dann erzähl mir doch mal, wo ich den Tollpatsch finde." Ronga legte sein Pokerface ab und lächelte amüsiert. "In einem Telefonbuch natürlich. Schneller geht es aber über die Auskunft, wenn ich es recht bedenke." "Danke vielmals." "Gern geschehen. Übrigens hat das Ganze auch einen Preis." "War ja klar." Ich verdrehte die Augen. Nun sollte ich für Onkel Rongas Märchenstunde auch noch bezahlen. "Keine Märchenstunde. Du zahlst dann, wenn alles so eintrifft, wie ich es dir vorhergesagt habe." Eisige Schauer liefen mir den Rücken hinunter. Wie zum Teufel machte er das? Hastig verabschiedete ich mich und ging zur Tür. Als ich auf der Schwelle stand sagte Ronga: "Wenn alles eintrifft, bring mir den Stein. Du wirst ihn nicht mehr brauchen und ich will nicht, dass er dem Mann in die Hände fällt, für den du sammelst. Halte dich dran. Sonst nehme ich dir das, was du im Moment als deinen kostbarsten Besitz erachtest." "Ach, und was soll das sein?" versetzte ich. Meine Stimme klang wie sonst, aber ich wagte nicht, mich zu ihm umzudrehen. "Die Fähigkeit, dich selbst zu belügen", hörte ich ihn sagen. Ich öffnete die Tür und das letzte Tageslicht fiel in den Hausflur. Als ich die Tür hinter mir schloss, hatte ich den Eindruck, Krallen auf dem Parkettfußboden im Flur klicken zu hören. Kapitel 4 --------- Entgegen einer beunruhigend tiefroten Sonne fuhren wir zurück in die Stadt. Während der Fahrt ließ ich mir das Gesagte noch einmal durch den Kopf gehen. Mein logisches Denken befand sich im Zwiespalt. Logisch gesehen konnte Ronga all die Dinge, meinen Namen eingeschlossen, nur durch eine übersinnliche Macht wissen. Ich glaubte Rick, dass er ihn nicht vorgewarnt hatte. Und keine Quelle hatte ihm von meinen Gedanken während des Gespräches berichtet haben. Doch aus dieser logischen Erkenntnis folgte etwas für mich erschreckendes. Sie zwang mich, an Magie und Wahrsagerei zu glauben und damit meine Definition der Realität über Bord zu werfen. Um von solch philosophischen Gedankengängen fortzukommen, konzentrierte ich mich auf das, was wirklich geschah. Ich musste Rick nachhause bringen und dann zu diesem Trottel fahren, der heute in meinem Büro gewesen war. Nein, nicht fahren, denn das Zittern würde bald anfangen. Das Zauberwort hieß "öffentliche Verkehrsmittel". Deswegen wollte ich Rick ja heimbringen. Ansonsten würde ich meine Kawasaki zu Schrott fahren. Zwar erhoffte ich mir nicht viel von der Begegnung mit Mr. Monitor, doch wenn man sonst gar keine Hoffnung hatte, war "nicht viel" ja schon eine ganze Menge. Ricks Stimme riss mich aus meinen Gedanken. "Kori!" rief er hinter mir. "Falsche Ausfahrt!" Ich war auf der Stadtautobahn eine Ausfahrt zu früh abgebogen. Gerade suchte ich nach einem geeigneten Ort, um zu wenden, als ich eine hochgewachsene Bohnenstange mit einem Pizzakarton unterm Arm in ein Hochhaus rennen sah. Na das nannte ich Arbeitsmoral. Ruckartig hielt ich das Motorrad an. Ricks Kopf knallte gegen meinen Rücken, der augenblicklich im Takt meines Herzens zu pochen begann. Mir wurde warm als hätte ich Hitzewallungen. Und das als achtzehnjähriger junger Mann. "Kannst du allein nachhause kommen? Ich muss noch was erledigen", erklärte ich. Rick deutete auf die nahe Bushaltestelle und gab mir meinen Zweithelm. Ohne ein Wort des Dankes sprang ich vom Motorrad und wetzte die Treppenstufen hinter Nicholas Gary Mischu her. Mein Gott, was für ein Scheißname. Ich hatte immer gedacht, mit Nachnamen Virgin zu heißen wäre eine Strafe. Aber Gary klang wie "Gay" und Mischu eignete sich für einige anzügliche Buchstabendrehereien. Ich fand ihn im vierten Stock, wo er die bestellte Pizza einem offensichtlichen Fast-Food-Junkie übergab. Wieder stieg mir der Geruch frischer, warmer Pizza in die Nase, woraufhin mein Magen leise knurrte. Mischu kassierte und lächelte erfreut, als man ihm einen honorablen Bonus für die schnelle Lieferung dazugab. Ich musste an meine Schulzeit denken und an die bebrillten oder zumindest irgendwie immer bebrillt aussehenden Streber. Mischu hätte da voll und ganz reingepasst, fand ich. Ich leider auch, wäre es nur nach meinen Noten gegangen. Die Haustür fiel zu, er drehte sich um und stand mir genau gegenüber. Sein Atem, leicht keuchend und flach von dem Treppensprint, wurde von einem erstaunten "Du?" unterbrochen. "Ja, ich", sagte ich nur, weil mir nichts besseres einfiel. "Verfolgst du mich?" Seiner Stimme war anzuhören, dass er noch immer wütend auch mich war. Der sollte mir helfen? "Nein", gab ich kurz angebunden zurück. "Wie kommt es dann, dass du hier bist?" Immer noch der gleiche ärgerliche Unterton. "Hast du hier Bekannte?" Mein Kopf flog fast hin und her. Bekannte? Ich wusste ja gar nicht mal genau, wo ich hier hingefahren war. "Es ist mir verdammt unangenehm, das zu sagen, aber mir bleibt wohl nichts anderes übrig..." "Bist du doch schwul?" unterbrach er mich. "Nein, hattest du Hoffnungen, Hase?" feixte ich zurück. "Bloß nicht. Also, was ist dir so unangenehm?" "Ich brauch deine Hilfe." "Ach? Wirklich?" Natürlich musste er sich da erst einmal in Pose stellen. Er schien mindestens zehn Zentimeter zu wachsen und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. So konnte er wenigstens nicht die Zeigefingergeste machen. Ein sehr leises "Ja" entrang sich meiner Kehle. Unbemerkt ballte ich meine Hände zu Fäusten und löste sie wieder. Ich war wütend und beschämt, doch ich durfte nicht dem Impuls nachgeben, meine Faust in sein überlegenes Gesicht zu pflanzen. "Tja, da hast du Pech gehabt", sagte er von oben herab. "Ich hab dir ja gesagt, ich helfe dir nicht mehr." Wie auf ein Stichwort wurde mein Rücken noch ein wenig heißer. Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. Fehlte nur das Zittern. Panik streckte ihre Finger nach mir aus. "Doch, das wirst du", entgegnete ich scharf und griff mir Mischu, um ihn zu dem Fahrstuhl zu zerren, den wir beide links hatten liegen lassen. "Heeeh! Was soll das?!" schrie er mich an und wehrte sich, indem er sich wie eine Schlange wand und mit den Armen fuchtelte. Wenigstens tat er nicht mehr so überheblich. Ohne genau zu wissen warum fuhr ich aufs Dach. Mischu hatte ich gegen die Wand gepresst. Wenn jetzt jemand zustieg, war ich geliefert. Doch das Glück war mir hold. Die Türen glitten erst ganz oben auf und ein frischer Wind wehte uns entgegen. Der Pizzabote wurde von mir aus dem Fahrstuhl geschubst, strauchelte und schlug der Länge nach hin. "Was SOLL das?!" kreischte er wieder und drehte sich auf den Rücken. "Was willst du?!" "Ich will, dass du dir das hier ansiehst", antwortete ich überraschend ruhig und gab ihm einen der Splitter vom Auge des Orion. Innerlich sah ich mich schon auf dem Boden meiner Wohnung liegen. Verängstigt und schreiend. So wie er jetzt. Ich hatte das Bedürfnis, ihm aufzuhelfen, kam ihm aber bewusst nicht nach. Vielleicht war es für mich von Vorteil, wenn er Angst hatte. Er streckte seine Hand aus, die vom Abfangen des Sturzes verdreckt und teilweise aufgeschürft war, und nahm den Stein entgegen. Erst dann wagte er, aufzustehen. Ähnlich wie Ronga wog er den Stein in der Hand. Dann zuckte er mit den Schultern und stellte die Handfläche der freien Hand zur Schau. "Was immer das war, jetzt ist es kaputt", sagte er hilflos. "Deswegen sollst du dir das ja ansehen. Wenn ich dir die anderen Einzelteile gebe, kannst du es dann zusammensetzen?" Möglichst, ohne es hinterher auf mich fallen zu lassen, fügte ich in Gedanken hinzu. Zu meiner großen Erleichterung versuchte er nun, mich anzulügen. "Wie kommst du darauf? Du weißt wie ungeschickt ich bin. Und mit was soll ich das bitteschön zusammenbauen? Holzleim?" "Nicholas?" Ein Mundwinkel zuckte, als er mich seinen Namen sagen hörte. "Sag Nick, okay?" "In Ordnung, Nick. Warum lügst du?" Resigniert antwortete er: "Ich kann's also immer noch nicht... Okay, okay, ich weiß vielleicht, wie man das Ding wieder heile kriegt. Aber woher weißt du, dass ich es weiß? "Tut das was zur Sache? Ich will nur, dass du das Ding reparierst, wenn du's kannst." "Da, schon wieder. Eine Gegenfrage." "Du versuchst doch nicht vom Thema abzulenken?" flötete ich. "Nein" Das kam eine Spur zu laut. "Nick?" "Was?" Ebenfalls zu laut. "Du kannst nicht lügen." Er seufzte. "Also gut. Mal angenommen, du hast die anderen Einzelteile. Warum sollte ich dir helfen?" Er wird dir helfen, den Stein in seine Ursprungsform zurück zu wandeln. Gegen eine Gegenleistung, hatte der Wahrsager behauptet. "Vielleicht kann ich mich ja revanchieren", bot ich an. Er stutzte. "Dass ich nicht lache! DU?!" "Weißt du nicht mehr wie pissfreundlich ich sein kann, wenn es um mein Leben geht?" "Dann bist du das letzte Mal vor jemandem geflüchtet, der dich umbringen wollte?" "Was wäre wenn?" "Dann würd ich mich ärgern, weil ich dir geholfen hab. Immerhin wäre ich dich jetzt los." "Nick", sagte ich ernst. "Hilfst du mir nun oder nicht?" Zitterten meine Hände, weil es hier oben so kühl war, oder hatte dieses andere Zittern schon angefangen? "Was springt für mich dabei raus?" "Sag mir was du willst und ich geb es dir", sagte ich eilig. Er hob die Hand an den Mund. "Hmmm", machte er. "Man sagt doch, Frauen stehen immer nur auf Machos. Die Männer, die wirklich gut für sie sind, lassen sie links liegen... Da du so ziemlich der größte Macho bist, den ich kenne und angeblich nicht schwul..." Ich hatte tatsächlich immer gute Flirtchancen, obwohl ich fand, dass ich eher mittelklassig aussah. "Okay, ich helf dir. Wie heißt sie?" "Ich weiß nicht." Na wunderbar, dachte ich. Aber er hatte ein Foto, das er mir hinhielt. Ein schlechter Schnappschuss zeigte eine junge Frau, etwa in seinem und meinem Alter, inmitten einer tanzenden Meute. Ihr blaues Haar wehte ihr leicht um den Kopf, ihre Haut, von der sie nicht wenig zeigte, sah trotz der miserablen Belichtung zart und gesund aus. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkte selbst auf einen Griesgram wie mich ansteckend. Für Nick war sie eindeutig eine Nummer zu groß, aber eine solche Frau würde leicht zu finden sein, wenn sie sich öfter dorthin begab, wo er sie fotografiert hatte. "Okay, ist gebongt. Ich helf dir." Bemüht, die Hände ruhig zu halten, gab ich ihm die restlichen Splitter. Dann ging alles sehr schnell. Er warf sie allesamt hoch. Ich schrie entsetzt auf, erinnerte ich mich doch noch an seine Schusseligkeit. Die Luft schien sich in lauter kleinen Wirbeln zu bewegen. Nick streckte die Arme von sich, führte seine Hände kurz wie zum Gebet zusammen und formte anschließend eine Schale aus seinen vom Sturz verdreckten Handflächen. Das Auge des Orion fiel als Ganzes hinein. Es glühte eine Weile, in der ich befürchtete, es würde wieder auseinanderfallen. Doch dann hielt er es mir nur stillschweigend und mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck unter die Nase. Ich griff nach dem Stein, doch er zog seine Hände wieder weg und verstaute den Gegenstand in seiner Jackentasche. Nun war es an mir, zu fragen was das sollte. "Den bekommst du erst, wenn ich sie zu meinem ersten Date einlade." "Das geht nicht!" begehrte ich auf. "Ich muss ihn noch heute Nacht weitergeben! Wir erledigen das mit dem Mädel gleich morgen! Ich geb dir mein Wort!" "Woher weiß ich, dass du mich nicht bescheißen willst?!" "Idiot, dann eben nicht", zitierte ich ihn und packte ihn erneut. Er zappelte, schlug nach mir, traf aber nicht. Ich hatte die Hand in seiner Jackentasche (heilfroh darüber, dass er nicht die Hosentasche als Zwischenlager gewählt hatte) als er wieder versuchte, sich aus meinem Griff zu lösen. Er rutschte aus und ging zu Boden. Damit tat er das Einzige, womit ich nicht gerechnet hatte. Auch hatte ich nicht bemerkt, wie nah wir dem Rand des Daches gekommen waren. Ich kippte nach vorn und über die Brüstung. In Filmen schrie man in solchen Momenten gern. Ich war so überrascht, dass ich keinen Laut herausbekam. Ronga hatte recht gehabt. Den Stein brauchte ich jetzt nicht mehr. Intermezzo: Drachensteigen -------------------------- Wild mit den Armen rudernd, brachte ich Stockwerk um Stockwerk im Sturzflug hinter mich. In rasender Geschwindigkeit kam der Erdboden näher. Ich überschlug mich einige Male. Das Zittern schwoll augenblicklich an, mein Rücken schien zu verbrennen. All das binnen tausendstel Sekunden. Schockiert schloss ich die Augen und wartete auf den Moment, in dem das Leben angeblich an einem vorüberzog. Jenen Teil des Todes, vor dem ich mich am meisten fürchtete. Doch plötzlich riss mich etwas in die Höhe. Alle Luft wurde mir aus den Lungen gepresst. Was zur Hölle war das? Der Deus ex Machina, der an schlecht getarnten Fäden auf die Bühne herabgeschwebt kam? Mit aller Kraft sog ich Luft ein und zwang mich, die Augen wieder zu öffnen. Irgendetwas zog an meinen Schulterblättern. Nein, es fühlte sich an, als hätte ich davon noch ein weiteres Paar. Und auch zwei weitere Arme. Verstört sah ich hinunter, während ich auf die Geräusche eines Hubschraubers oder eines anderen fliegenden Objektes lauschte. Die Straße unter mir entfernte sich wieder. War ich gerettet? Ich versuchte, meinen Körper zu drehen, um zu sehen, was über mir war. Das jedoch hätte ich besser gelassen. Wie ein Stein fiel ich wieder hinunter. "Nein!" brüllte ich gegen die an mir vorbeisausende Luft. "Nein, verdammt, ich will nicht!!!" Dieser Satz beschwor mir ein Bild herauf. Eisig kalte, himmelblaue Augen. Wie gründlich war ich doch darin gewesen, sämtliche Erinnerungen an sie zu tilgen. So fühlt sich die Hölle an, Kleiner, hatten die dazugehörigen Lippen zu mir gesagt. Das brachte meinen Verstand zum Aussetzen. Wie in Trance riss ich die Arme auseinander. Über mir hörte ich ein Geräusch, das ich aus Kindertagen kannte. Es klang, als würde ich einen Drachen steigen lassen. Nur war ich dieses Mal der Drachen. Und tatsächlich stieg ich. Ich flog. Zwei gigantische Drachenschwingen zogen mich durch die Luft nach oben. Kräftig schlug ich damit, um sogleich im Segelflug über die Dächer und Leuchtreklamen Tokios zu gleiten. Ich spürte den Wind, wie er sich unter meinen "zweiten Armen" sammelte und mir Auftrieb gab. Leider war mein Flug nur von kurzer Dauer. Mein Herz raste, mein Atem ging schwer und meine Seiten begannen zu stechen. Die Flügel auf meinem angenehm kühlen Rücken fühlten sich an wie meine Beine nach einem langen Arbeitstag oder einer dieser furchtbaren Nächte, in denen ich mit Kissen um mich warf: Untrainiert und schwach. Sobald ich ein Dach erblickte, dass nicht allzu tief unter mir war, ließ ich mich - extrem unbeholfen - fallen. Der Aufprall war hart. Jeder Teil meines Körpers schmerzte, wie nach der schlimmsten Kneipenschlägerei meines Lebens. Noch nie war ich darüber so glücklich gewesen. Diese paar Schrammen würde ich von Rick nicht heilen lassen. Sie bezeugten, dass ich lebte. Magie und Realität hin oder her. Ich lag hier, hörte meinen rasselnden Atem in den Lungen, berührte verdreckten Beton mit meinen Händen, roch den Gestank der Stadt. Ich lebte. Mit dieser Gewissheit wichen Todesangst und jegliche verbliebene Kraft aus mir. An Ort und Stelle schlief ich in genau der Haltung ein, in der ich gelandet war. Kapitel 5 --------- „Hey, Junge, alles in Ordnung?!“ Jemand schüttelte mich. Vorsichtig öffnete ich die Augen. Die Sonne stand schon fast im Zenit. Ich hatte bis Mittag auf dem Dach gelegen und geschlafen. Meine Flügel waren verschwunden, aber meine Kleidung war dort, wo sie durchgebrochen waren total zerrissen. „Alles bestens“, sagte ich zu einem Mann mit grauen Haaren und grauem Kittel. Offensichtlich der Hausmeister des Gebäudes. Prüfenden Blickes betrachtete er mich. „Bist du n Straßenjunge?“ Kopfschüttelnd versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Ich war gefallen, weil ich Nick das Auge des Orion hatte abnehmen wollen und dann war ich geflogen. Mit einem Mal war ich Teil der magischen Welt, deren Existenz ich bis gestern trotz Ricks Wunderheilerqualitäten geleugnet hatte. Mir fiel ein, warum ich den Edelstein gebraucht hatte und kalte Schauer liefen mir den Rücken herunter. Nick hatte ihn immer noch. Die Spritze würde ausbleiben. Aber Moment! Ich zitterte nicht und mein Rücken fühlte sich zwar verspannt aber sonst völlig normal an. Schlagartig wurde mir klar, was das für eine Flüssigkeit gewesen war. Sie hatte verhindert, dass das, was in mir schlummerte und mich seit einem halben Jahr wahnsinnig machte ausbrechen konnte. Ich erinnerte mich daran, wie Ronga gesagt hatte, Nick würde mich von dem Zeug befreien. Durch sein Ungeschick. Jeder Teil seiner Prophezeiung war eingetroffen. Der Hausmeister starrte mich immer noch an, offensichtlich verwirrt. „Wie hast du es geschafft, durch die verschlossene Tür hier raufzukommen?“ Das würde ich ihm lieber nicht erklären. Stattdessen fragte ich zurück, ob ich einen Schluck Wasser haben könne. Danach würde ich mich auf den Heimweg machen. „Heimweg, ja?“ meinte der Hausmeister skeptisch. Ich nickte. „Ich muss nur mein Motorrad, finden und...“ Die Kawasaki! Ich hatte völlig vergessen, sie zu sichern! Sogar der Zündschlüssel hatte noch gesteckt! Das Wasser war vergessen. Blitzschnell war ich auf den Beinen, ließ den Hausmeister stehen und rannte zum Fahrstuhl. Als ich das Gebäude endlich wiedergefunden hatte, sah ich, was ich zu sehen erwartet hatte. Die Kawa war nicht mehr da. Resigniert ging ich zur selben Bushaltestelle, die mein Mitbewohner gestern noch benutzt hatte und fuhr nachhause. Dort angekommen wusch ich mich, aß und trank reichlich und hatte dann das plötzliche Bedürfnis, mir eine Packung Streichhölzer zu suchen und damit zu kokeln. Feuerzeuge konnte ich nicht ausstehen. Da war ich altmodisch. Es ging nichts über den leichten Schwefelgeruch eines entzündeten Streichholzes. Nach einer halben Stunde hatte ich die ganze Packung leergekokelt und mich immer noch nicht an dem Feuer sattgesehen. Ich kaufte mir neue Hölzer (im Vorratspack) sowie eine Tüte Teelichter und zündete alle Fünfzig davon auf einmal an. Als ich den gesamten Wohnzimmertisch mit den kleinen Kerzen vollgestellt hatte, fühlte ich mich endlich wohl genug, um an etwas anderes zu denken. Ich meldete mich auf der Arbeit krank, wo man mich bereits vermisst hatte. Es waren einige Anrufe für mich gekommen, also rief ich die Voicemail an. Ich hörte die Ansage. Wir formulierten sie in der Firma alle gleich: „Sie sind verbunden mit Kodansha Technologies, Sicherheitsabteilung. Arbeitsplatz Nummer 377, Kori Virgin. Zur Zeit ist niemand zu erreichen. Bitte teilen Sie uns Ihr Anliegen nach dem Piepton mit.“ Das Band kam nur bis Sicherheitsab-, dann hatte ich die rettenden vier Ziffern meiner PIN gedrückt. Wie ich diese Ansage hasste. Der Absender der einzigen Nachricht fand sie allerdings grandios. Bevor er zu Wort kam, begann er schallend zu lachen. „Oh mein Gott! Und ich dachte, mein Name wäre schlimm. Jungfrau!! Ich lach mich tot!“ Die nächste Lachsalve ließ darauf schließen, dass dazu wirklich nicht mehr viel fehlte. Zu meiner Freude verschluckte er sich irgendwann. Als er sich wieder beruhigt hatte, fuhr Nick fort: „Du hättest mir ruhig sagen können, dass du fliegen kannst. Ich meine, es wäre mir natürlich egal gewesen, wenn du Matsch gewesen wärst, aber du wärst auf deinem schönen Motorrad gelandet. Weißt du, wie ich mich erschrocken habe?“ Wann würde der arme Tropf die vergeblichen Versuche des Lügens aufgeben? „Wiiiie auch immer... äh... Ehe, du die Polizei rufst... äh... Ich hab sie mitgenommen als du nach über einer Stunde nicht wiedergekommen bist. Die stand da noch wegfahrbereit draußen... Der Stein ist auch noch hier. Aber wie ich schon sagte... Den gibt’s erst, nachdem du mir geholfen hast.“ „Aaaaah!“ ertönte es in meinem leeren Wohnzimmer. „Meine Kawa ist bei diesem Tollpatsch?!“ Dabei konnte ich froh sein, dass nichts Schlimmeres passiert war. Ich war sogar problemlos in meine Wohnung gekommen. Glücklicherweise gehörte ich zu den Menschen, die ihre Schlüsselbunde klein hielten. Den Zündschlüssel führte ich immer separat mit. In diesem Moment hörte ich einen weiteren Schlüssel. Es war später Nachmittag und Rick kam zurück von einem weiteren Minijob. Er schnüffelte hörbar. „Kori? Bist du da? Ich glaub, hier brennt was!“ Dann sah er den voll beladenen Wohnzimmertisch und die verkokelten Streichhölzer. Er pfiff anerkennend durch die Zähne. „Für welchen Damenbesuch gibst du dir denn so viel Mühe?“ „Ich erwarte keinen Besuch. Anscheinend bin ich heute selbst die Frau. Wenn’s nach mir ginge, könnten wir hier ein gigantisches Lagerfeuer machen. Warst du bei Ronga oder jobbst du jetzt in nem Tierheim? Hier riecht’s nach Hund.“ In diesem Moment kam ein gigantischer schwarzer Schäferhund leichtfüßig um das Sofa herumgelaufen. „Rick? Ich bin zwar nicht dein Vater, aber ich darf hier keine Haustiere halten. Wo immer du den her hast, bring ihn wieder zurück.“ Als hätte er mich verstanden, schüttelte sich der schwarze Hund heftig und ließ sich auf meinem zweiten Sofa nieder. Rick machte Anstalten, sich daneben zu setzen, doch mitten in der Bewegung hielt er plötzlich inne, murmelte ein leises „Okay“ und verzog sich in sein Zimmer. Merkwürdiger Junge. Aber offensichtlich Magiebewandert. Ich würde ihn später fragen, was es mit den Flügeln auf sich hatte. „Das wird nicht nötig sein“, sagte Rongas Stimme. Ich schrak zusammen und starrte den Hund entgeistert an. „Nun schau nicht so. Du hast doch mein Haus gesehen. Tagsüber gehe ich eben auf vier Beinen. Du fliegst ja neuerdings auch. Also, wo ist das Problem?“ „Dann warst du das gerade wirklich?“ Er schenkte sich die Antwort. „Es heißt übrigens Wolf. Nicht Hund. Ich mag das nicht.“ „So wie das mit dem Lügen, was?“ „Genau. Ich bin übrigens hier, weil ich noch was von dir bekomme.“ Er blieb todernst, was mich gehörig verunsicherte. „Als Wahrsager solltest du wissen, dass es nicht hier ist“, erwiderte ich trocken. „Ich werde ihn heute Abend holen.“ „Ich denke, es wird länger dauern, denn ich will nicht, dass du ihn stielst.“ „Soll ich dem Trottel vielleicht helfen, eine Frau herumzukriegen, die nie was von ihm wollen wird?“ Nicht länger als eine Schrecksekunde lang hatte ich das vorgehabt und Ronga wusste das offensichtlich. Sein Kopf wippte auf und ab. Das Nicken eines Werwolfes, der sich mit dem Timing vertan hatte. „Ich bin nur gekommen, um dich an meine Bezahlung zu erinnern.“ Seine Stimme klang bedrohlich. Äußerlich knurrte der Wolf nur leise, aber seine Kiefer blieben bewegungslos. Er musste zu irgendeiner mir unbekannten Form der Telepathie fähig sein, denn ich hörte ihn wirklich in meinem Ohr. „Du bist mir unheimlich“, teilte ich ihm mit. „Deswegen wirst du mich sicherlich für meine Weissagung von gestern entlohnen.“ Es gefiel ihm wohl, ein bisschen bedrohlich zu sein. „Aber vom Wie war nie die Rede“, beschwerte ich mich. „Du hast mir von Anfang an misstraut. Da hättest du dir denken können, dass die Sache einen Haken hat.“ Hörte ich da einen lachenden Unterton? Oh ja, ganz deutlich. Missmutig gelobte ich, Nick zu helfen, geleitete Ronga zur Tür und rief erneut meine Voicemail an, um Nicks Nummer zu bekommen. Ich landete bei seinem Pizzaservice und fragte mich zu ihm durch. „Hey, ich hab zwischendurch in der Firma nach dir geschaut, aber du hast dir wohl freigenommen.“ Woher nahm er diese entsetzlich gute Laune? „Wollte mein neugewonnenes Leben genießen. Eigentlich ohne dich“, gab ich zurück. „Aber wir haben da ja leider diese Abmachung.“ „Hat sich wohl gelohnt, den Stein zu behalten.“ „Jaja“ Du mich auch. „Heute ist Freitag. Da ist sie immer im Lethal Nightmarez. Kennst du das?“ Eine meiner Lieblingsadressen. Ausgerechnet da wollte ich mich nicht so gern mit ihm sehen lassen. „Wo ist sie die anderen Tage?“ „Keine Ahnung. Ich seh sie immer nur da. Ich fand es unfair, ihr hinterher zu spionieren.“ „Du meinst, du wolltest dich nicht durch irgendwelche Tollpatschigkeiten verraten.“ Ein Seufzen am anderen Ende. „24 Uhr an der Bar?“ „Sagen wir, ne Stunde früher. Das ist zwar uncool, aber man versteht wenigstens noch sein eigenes Wort.“ Künstlerpause. Dann: „Vielleicht brauchst du Einweisungen.“ „Ha-ha“ Er ärgerte sich. Ein kleines Erfolgserlebnis an diesem Tag. „Achso, und ich hol dich ab. Meine Kawa fährst du keine 100 Meter weit, solang ich das verhindern kann.“ „Mann... Da fällt mir ein... Wie hast du die so aufgemotzt, dass man damit so rasen kann? Und diese vielen Knöpfe...“ „Du hast ja wohl keinen davon gedrückt?!“ „N-nur einen“, beteuerte er. „Da kam Musik im Helm. Leider nur Metal...“ Glück im Unglück, dachte ich, ließ mir seine Adresse geben und machte mich auf den Weg. Ich musste über anderthalb Stunden mit der Hochbahn und dann noch eine ganze Weile Bus fahren bis ich endlich zu einer schmucken Villa am äußersten Stadtrand gelangte. Als ich das Haus sah, fühlte ich mich verarscht. Er war Pizzabote und er konnte nicht lügen. Wie hatte er es geschafft, mir diese Adresse als sein Zuhause zu nennen? Doch dann sah ich meine Kawa im Hof stehen. Auch das Klingelschild verriet mir, dass er nicht gelogen hatte. Meinem ohnehin angeknackstem Weltbild blieb ein weiterer Riss erspart. Also sammelte ich Nick ein und nahm ihn mit zu besagtem Club. Jener wurde hauptsächlich von Gothics und anderen schwarzgekleideten Menschen aufgesucht. Nick hatte sich an diesen Klamottenstil angepasst, wodurch er noch schlanker wirkte. „Isst du eigentlich genug, mein Junge?“, fragte ich ihn, als ich geparkt hatte. „Jaja“, machte er. „Ich kann auch nichts dafür.“ Es war noch nicht viel los. Die Tanzfläche war bis auf einige Mutige noch leer und an den Seiten waren noch einige Ecken mit Tischen frei. Ich ließ mich auf eine der Sitzbänke an der Wand fallen und sah mich um. „Normalerweise kommt sie erst später“, erklärte mir Nick. In diesem Moment fand ich sie an der Bar. „Ist sie das nicht, Blindfisch?“ fragte ich meinen Begleiter. „Wow, tatsächlich!“ Augenblicklich begann er, nervös zu werden. Er rutschte unruhig auf seinem Platz herum und knetete die Hände ineinander. „Sag mal... Du hattest aber schon mal ne Freundin, oder?“ „Ja“, versicherte er mir ungelogen. (Wie denn auch sonst?) „Die ist aber auf mich zugekommen.“ „Hatte wohl Mitleid“, vermutete ich und stand auf. „Ich hol uns was zu trinken. Wenn ich kann, bring ich sie mit.“ Zur Antwort zeigte er mir den Mittelfinger. Perfektes Teamwork. Dann konnte es ja losgehen. Ich bestellte zwei Drinks und näherte mich ihr möglichst unaufdringlich. Dann sprang ich ins kalte Wasser. Zwar hatte ich eine gewisse Routine, aber mein Herz schlug trotzdem etwas schneller, als ich sie ansprach: „Hey, ich weiß, das ist ne ziemlich abgewetzte Anmache, aber wenn ich dich frage, ob du öfter hier bist, kann ich wenigstens stolz sein, dass ich nicht gesagt habe, deine Augen wären so schön wie Sterne. Also: Bist du öfter hier?“ Wie erhofft, lächelte sie. „Jede Woche“, antwortete sie. „Hab dich sogar schon n paar Mal gesehen. Du bist jedes Mal mit ner Anderen weggegangen.“ Ihr Lächeln bekam etwas Gehässiges. „Ganz schön mutig, mir sogar n Drink mitzubringen.“ „Tut mir leid, deine heimlichen Hoffnungen enttäuschen zu müssen“, entgegnete ich streitlustig. „Aber der ist für meinen Kumpel da drüben. Er ist weder hübsch noch charmant, noch sonderlich klug, aber verglichen mit mir hat er dennoch einen entscheidenden Vorzug.“ Sie folgte meinem Blick und erspähte den immer nervöser werdenden Nicholas. „Und der wäre?“, fragte sie provozierend. „Im Gegensatz zu mir hat er ein Herz“, sagte ich. „Anscheinend hat er sogar genug Herz, mit jemandem wie dir hier herzukommen.“ „Erstaunlich, oder?“, grinste ich. Sie lachte. „Allerdings. Was gibst du ihm dafür?“ „Botengänge zur Bar und Verkupplungsservice. Hilfst du mir bei der Arbeit?“ „Na ja“, erbarmte sie sich. „Ich kann ihn mir ja mal ansehen. Solange du ihn verkuppelst, gräbst du immerhin keine naiven kleinen Mädchen an.“ „Ganz meine Meinung“, flötete ich, gab ihr nun doch einen Drink aus und führte sie zu unserem Sitzplatz, wo ich Nick seinerseits das Getränk vor die Nase knallte. „Dieser hier geht auf mich, aber mehr Mitleid werde ich nicht für dich aufbringen.“ „Sowas wie Mitleid hast du bestimmt gar nicht“, antwortete Nick erstaunlich schlagfertig. Nervös befeuchtete er seine Lippen als seine Angebetete sich an unseren Tisch setzte. „Hi“, sagte er kaum hörbar. „Hi, freut mich dich kennen zu lernen. Das erste Mal, dass du verkuppelt wirst?“ „KORI! Warum hast du ihr das gesagt?“ Sie beantwortete ihm die Frage an meiner Stelle: „Weil dadurch seine Anmache besser zog. Er sagte, du hättest ein Herz im Gegensatz zu ihm.“ Nick lachte schallend. „Das stimmt garantiert!“ Verschwörerisch grinsten sich die beiden an und waren zu meinem großen Erstaunen in Windeseile warm miteinander. Als Zettel mit Telefonnummern über den Tisch wanderten, klinkte ich mich aus und sah zu, dass ich aus dem Laden herauskam. Mir war nicht nach Feiern zumute. Das hatte ich zuhause mit der Packung Streichhölzer zur Genüge getan, fand ich. Draußen atmete ich tief die regenschwangere Luft ein und trödelte auf dem Weg zum Motorrad. Die kalte Dusche war eine Wohltat und der typische Regengeruch eine willkommene Abwechslung zu Smog und Benzingestank. Doch schließlich stieg ich auf die Maschine (sollte Nick doch zu ihr fahren, wenn er nachts nicht in seine Villa am Stadtrand kam) und freute mich nur noch auf mein warmes Bett und eine Mütze Schlaf. Kapitel 6 --------- Das, woran ich mich von dem, was in der nächsten Stunde geschah, ab deutlichsten erinnern kann ist dieses dumpfe Poltern, das sogar durch die geschlossene Tür deutlich zu hören war. Es ging mir durch Mark und Bein, denn von diesem Moment an wusste ich, dass nicht nur Rick in meiner Wohnung war und dass irgendetwas absolut nicht stimmte. Geräuschlos öffnete ich die Tür. Es gab keinen Flur. Ich blickte direkt ins Wohnzimmer, auf dessen Laminatboden ich Rick liegen sah. Obwohl er offensichtlich in Gefahr war, machte er keine Anstalten, aufzustehen. Über ihm stand ein Mann, etwa 1,90 m groß, breitschultrig, der ihm einen mächtigen Tritt in die Flanke versetzte. Wie gelähmt stand ich da, der Eindringling stand mit dem Rücken zu mir. „Wo ist er?!“ brüllte der Kerl. Ricks Stimme jagte mir kalte Schauer die Wirbelsäule hinunter, als er gequält antwortete: „Er besucht einen Freund. Das sagte ich Ihnen schon. Ich weiß nicht mehr.“ Er sagte die hundertprozentige Wahrheit und nicht der geringste Vorwurf klang in seinen Worten mit, doch er flehte auch nicht. Vielleicht war es das, was den Fremden so verärgerte. Er ging in die Hocke, packte Rick an den Haaren und spuckte ihm ins Gesicht, welches er mit Fäusten und Füßen entstellt hatte. „Und dieser Freund, wie heißt der? Verarsch mich nicht wieder“, sagte der Mann eindringlich. Rick erzählte ihm weiterhin die unangenehme Wahrheit. „Ich weiß es nicht. Er erzählt mir sowas nicht.“ „Und sein Freund hat ihn auch nie hier besucht, was?“ „Vielleicht kennen sie sich noch nicht so lang. Außerdem reden wir nie - “ Indem er Rick die Faust der freien Hand ins Gesicht rammte, brachte er ihn zum schweigen. Der Junge hustete. „Er wollte sagen, wir reden nie über unser Privatleben“, erklärte ich dem Mann. Meine Stimme war so eisig, dass ich glaubte, sie gehöre nicht mir. Ich kochte vor Wut und war gleichzeitig völlig ruhig. Der Riese riss Rick ganz hoch, der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Er legte ihm einen Arm um den Hals und drückte. „Du warst sonst nie unpünktlich mit der Lieferung“, stellte er fest. „Also, wo hast du den Stein? Beim Zwischenhändler ist nie etwas angekommen.“ „Lass ihn los und ich sag es dir“, forderte ich. Das Ganze fühlte sich an, als stünde ich neben mir und sähe mir zu. Ähnlich wie im Traum, wenn man sich selbst aus allen Perspektiven sehen konnte, obwohl man der Protagonist war. „Andersrum wird’n Schuh draus. Ich hab gehört, der Erstickungstod ist der Schlimmste von allen.“ Er drückte heftiger und Rick spuckte einen Schwall dunkelroten Blutes. Beinahe dieselbe Farbe, die seine Haare hatten. Mir platzte der Kragen. Ich weiß noch, wie ich tief einatmete und meine Kräfte sammelte, um mit dem Kerl zu kämpfen und mich wunderte, dass ich wie festgenagelt stehen blieb. Dann spuckte ich eine gigantische Stichflamme. Rick riss den Mund auf und ich dachte, er würde schreien, aber stattdessen sog er das Feuer aus der Luft auf. Doch auch das genügte nicht. Beide gingen in Flammen auf. Mein Verstand versank im Nebel - oder Feuerrauch, wenn man so will. Es war nicht wie bei meinem ersten Flug mit den Flügeln, sondern wie nach viel zuviel Alkohol. Man meint, genau zu wissen, dass man das, was einem die Freunde berichten niemals getan hat, aber die Beweise sprechen dagegen. In meinem Fall bestanden die Beweise aus einem Aschehaufen, aus dem noch einige glühende Knochen ragten, dem Geruch von verbranntem Fleisch, so beißend, dass mir übel wurde, sowie Ricks leblosem Körper, der zwar schlimme Brandwunden aufwies, aber verglichen mit dem Aschehaufen noch erstaunlich unversehrt war. Zitternd saß ich in einem Kreis aus makellosem Laminat, der in der schwarz verkohlten Wohnung völlig fehl am Platze wirkte. Das Feuer verschwand genauso schnell wie es gekommen war und das war gut so. Wie man mir später mitteilte, hätte keine Feuerwehr der Welt es löschen können. Von Ferne hörte ich Sirenen. Ich fühlte wieder die Flügel auf meinem Rücken, doch was mir letzte Nacht noch als Segen erschienen war, kam mir jetzt vor wie ein furchtbarer Fluch. Ich hatte einen Mann getötet und einen Menschen schwer verletzt, der mir, wie ich angesichts der tiefen Trauer, die ich empfand zugeben musste, lieb und teuer geworden war. Es war schrecklich. Ich hatte ihn beschützen wollen, nicht in Lebensgefahr bringen. Lebte er denn überhaupt noch? Schwach erhob ich mich und sah nach ihm. Die Flügel lösten sich in duzende kleine Leuchtfeuer auf, die wiederum unsichtbar wurden. Es kam mir vor, als wären sie lebendig. Als Rick meine wankenden Schritte hörte, drehte den Kopf in meine Richtung. Mir fiel kein Stein vom Herzen, sondern eine ganze Geröllhalde. „I-ist es... vorbei?“ flüsterte er ängstlich. Ich hoffte es, also nickte ich vorsichtshalber. „Du musst dich heilen“, bat ich hastig. „Schaffst du das?“ „Kann nicht... bei mir selbst...“ er brach ab. Jedes Wort schien ihm Bärenkräfte abzuverlangen. „Okay, dann bring ich dich in ein Krankenhaus. Vielleicht ist ja auch schon ein Krankenwagen unterwegs.“ „Wenn du...“ wieder unterbrach er sich, um zu Kräften zu kommen. Dann plötzlich war seine Stimme fest und kräftig. „Wenn du das tust, muss ich zurück zu meinen Eltern. Dahin will ich auf keinen Fall wieder. Bring mich zu Ro-“ Wir hatten nur einen gemeinsamen Bekannten, dessen Name mit „Ro“ begann. Im Eiltempo holte ich einen Mantel aus meinem Zimmer, das nicht ein Flämmchen abbekommen hatte, ebenso wie das Bad, wo ich den Mantel durchnässte. Ich wickelte Rick darin ein und band mir den Jungen auf dem Motorrad auf dem Rücken fest. Nie war ich so schnell gefahren. Innerhalb einer Viertelstunde hatte ich Rongas Haus erreicht, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich es überhaupt wiederfinden würde. Dieses Mal war ich froh über seine hellseherischen Fähigkeiten, denn er erwartete mich bereits und wenig später lag Rick schlafend und ohne einen Kratzer im Gesicht auf einem Sofa. Ich saß auf dem anderen, eine Decke um die Schultern gelegt, die ich wirklich brauchte, wie ich feststellte. Dabei war es so warm draußen gewesen. Meine Wangen fühlten sich an, als hätte ich geweint und ich hatte mich irgendwann gewaschen. Die ganze Zeit beobachtete ich Rick, als fürchtete ich, der Zauber der Heilung könne jeden Moment von ihm abfallen. Wie lang ich schon dort saß und was ich zwischendurch sonst noch alles getan hatte, konnte ich beim besten Willen nicht sagen. „Du stehst unter Schock“, teilte Ronga mir mit. Seine Stimme klang beruhigend wie Baldrian, doch mich regte er gewaltig auf. „Hör endlich auf, meine Gedanken zu lesen“, zischte ich, leise, um Rick nicht zu wecken. Kaum hatte ich das gesagt, tat es mir schon wieder leid. Immerhin war er es gewesen, der Rick das Leben gerettet hatte. So zerschlagen wie er aussah, war es wohl anstrengend gewesen. Er hatte sich Tee gekocht, schlürfte einige Schlucke aus der Tasse und nickte mir zu. Konnte man ihn eigentlich irgendwie beleidigen? Was ich gesagt hatte, schien an ihm abzuperlen wie Wasser an einer Ente. „Tut mir leid. Du brauchst deine Privatsphäre, aber ich weise dich nur deshalb so deutlich darauf hin, dass ich deine Gedanken lesen kann, damit du es merkst, wenn es jemand tut. Man entwickelt mit der Zeit ein Gefühl dafür. Es ist keine Angeberei oder gar ein Versuch, dir zu schaden. Die, die dir wirklich schaden wollen, solltest du doch in deinem Kopf bemerken können, findest du nicht?“ Nachdenklich lächelte ich. „Gehört’s zu deinem Wahrsagerjob so zu reden?“ „So altertümlich?“ „So kompliziert.“ „Nein. Nennen wir meine Sprache einfach eine Eigenart von mir.“ „Davon hast du ne ganze Menge. Du liest Gedanken, heilst halbtote Menschen und noch dazu bist du der erste Wahrsager, den ich kenne, der wirklich die Zukunft vorhersagen kann.“ Ronga lächelte verlegen und wirkte plötzlich unglaublich jung, als er sich kurz und unbewusst hinter dem rechten Ohr kratzte. Auf dem Weg zurück näherte sich seine Hand seinem Mund und fand dann doch den Weg zurück in ihre Ausgangsposition. Er schwieg. Anscheinend legte er keinen Wert darauf, seine Fähigkeiten zu erklären. Mein Blick wanderte zurück zu Rick, der mit leicht geöffnetem Mund dalag. Ein Sabberfaden machte sich auf den Weg Richtung Sofapolster. Er sah wieder aus wie der Rick, den ich kannte. Leise klickte die Teetasse auf dem Tisch. Die Eigene hatte ich schon vor Ewigkeiten geleert und keinen Gedanken mehr daran verschwendet. Mein Kopf quoll über vor lauter Fragen. Woher kamen diese Kräfte? Wie hatten Ronga und Rick es geschafft, in Einklang damit zu leben? War ich denn der einzige, der sich davor fürchtete? Gerade als ich anfangen wollte, Ronga zu löchern, lag dieser friedlich zusammengekauert auf dem Sessel, den er schon als Mensch als seinen Sitzplatz ausgewählt hatte. Das erste Sonnenlicht hatte sich in die Beleuchtung des Zimmers gemischt und er war wieder ein Vierbeiner. Bei seinem Anblick fiel mir ein wie hundemüde ich war, also löschte ich das Licht und legte mich hin. Ich meinte, ein Augenlid des Wolfes leicht zucken zu sehen, als ich mich in die Decke wickelte und eine bequeme Lage suchte. Intermezzo: Sehend ------------------ Mühsam zog ich mich aus dem Wasser. Das Betttuch, mit dem ich mich bei meiner Flucht bedeckt hatte, klatschte an meine Beine. Es war viel zu lang, denn ich war ein kleiner Junge. Vielleicht sechs Jahre alt. Das schien mir unlogisch, denn ich hatte das Bettlaken doch erst benutzt, als ich 17 gewesen war. Und wie war ich überhaupt ans Meer gekommen? In diesem Alter hatte ich wenig anderes Wasser gesehen, als das, was von oben kam und von solcher Gewalt war, dass man Kopfschmerzen bekam, wenn man zu lange draußen blieb. Ich schmeckte Salz und etwas anderes, das ich nicht einordnen konnte. Nicht mehr. Als ich zu schwimmen begonnen hatte, da hatte ich auch gewusst, was es war. Kraftlos ließ ich mich auf die Knie sinken und betrachtete den schneeweißen Sandstrand. Das Meer rauschte und das Licht war grausam hell. Zu lange war ich im Dunkeln gewesen. Durst. Wenn doch nur etwas Süßwasser zu finden wäre. Jemand reichte mir eine Flasche aus grünem Glas. Ich trank und trank. Kühles Wasser rann meinen Hals hinab, breitete sich in der Magengegend aus bis sich alles dort verkrampfte. „Hey, hey, langsam“, sagte mir ein steinalter Mann. Sein Gesicht war von tiefen Falten und vielen Narben gezeichnet. Er sah abstoßend aus, aber für mich hatte er das freundlichste Gesicht der Welt, denn er hatte mir das Wasser gegeben. Seine Augen waren so grün wie die Flasche und strahlten. Ich konnte alles über ihn darin lesen. Ich fand ein gutes Herz, ein ausgeglichenes Wesen, Trauer um die Vergangenheit und unendliche Freude zugleich. Er freute sich diebisch am Leben selbst. Nichts liebte er mehr. Das wiederum schien mir nicht ganz so unlogisch. Als kleiner Junge hatte ich diese Fähigkeit noch besessen. Mit einem Blick hatte ich das Wesen eines Menschen erfassen können. Langsamer, aber immer noch gierig leerte ich die Flasche. Sie glitzerte im Sonnenlicht, als ich sie dem Alten wieder hinhielt. „Mehr!“ verlangte ich. „Danke heißt das“, erwiderte eine jüngere Stimme. Ich erblickte einen kleinen Jungen, mindestens zwei Jahre jünger als ich, aber blitzgescheit. Er führte ein schwarzes Fohlen, dessen Kopf fehlte. Statt eines Halfters hatte es einen Strick um den Halsansatz gebunden, der am Handgelenkt des Jungen endete. Bei genauerem Hinsehen sah ich, dass er das Tier nicht führte, sondern beide einfach zusammengebunden waren. „Tschuldigung“, antwortete ich dem Kind und seinem unheimlichen Pferd. „Danke, alter Mann.“ Der Alte grinste mich zahnlos an. „Ich wünschte, ich könnte noch mehr von dem Wasser trinken, aber ich gehe wohl besser schnell weiter“, fuhr ich fort. „Auf der anderen Seite des Meeres ist die Hexe, die mir die Flügel abgeschlagen hat. Sie will, dass ich zurückkomme. Ich kann nicht fliegen, also muss ich laufen, so schnell ich kann.“ „Armer Kleiner“, sagte der alte Mann. Dann zu dem Jungen: „Töte das Pferd, damit ihm seine Flügel schnell nachwachsen. Er ist ein Drache. Das Blutopfer sollte ihn fliegen lassen.“ Sofort schickte sich der Junge an, das kopflose Pferd zu erstechen. „Nein!“ kreischte ich. „Lieber soll sie mich kriegen als dass er das tut!“ Das schien den alten Mann zu freuen, denn er bedeutete dem Jungen, das Pferd leben zu lassen, während sein Lächeln noch einige Zentimeter wuchs. „Da sag ich’s dir, kleiner Mann“, sagte er zu ihm. „Er ist ein Drache, aber er fühlt menschlich. Nicht alles ist wie es scheint. Merk dir das.“ Der Kleine nickte gehorsam und kletterte auf sein Pferd. Er schnaubte und schüttelte seinen Kopf, als wäre es der des Pferdes. Mühsam beugte sich der alte Mann zu mir herunter und sah mich direkt mit seinen wachen, klugen Augen an. „Die beiden werden dich tragen, aber von hier aus kann man nur auf’s Meer hinaus, oder in die Stadt. Diese macht die sehenden Drachen blind. Zumindest die deines Blutes.“ „Lieber blind als wieder bei ihr“, gab ich zurück. „Ist es weit?“ „Sehr weit, aber wenn du gut auf ihn aufpasst, wird mein kleiner Reisebegleiter dich tragen.“ „Gut, ich pass auf“, schwor ich. „Willst du das wirklich?“ „Ja!“ versicherte ich aufgeregt. Ich hatte es schrecklich eilig. „Das freut mich“, sagte der Alte, ließ mich auf das Pferd steigen und schickte uns von Dannen. „Aber vergiss nie, dass du erblindest. Schon auf dem Weg in die Stadt.“ Kaum waren das Meer und der alte Mann aus unserer Sichtweite, rieselte eine weiße Feder auf mich hinab, wie sie auch die Hexe gehabt hatte, denn sie war keine Hexe, sondern ein Engel. Sanft wiegte der Wind sie, ließ sie vor meinen Augen tanzen. „So fühlt sich die Hölle an, mein Kleiner“, flüsterte der Wind. „Aber selbst du kennst nur einen Bruchteil. Freue dich, dass ich sie dir nicht ganz zeige.“ Ich wollte schreien, aber aus meiner Kehle kam kein Laut. Stattdessen kam Feuer. Junge und Pferd gingen in tosenden Flammen auf. Als sie vor meinen Augen zu brennen begannen, sah ich aus dem Augenwinkel, dass die Feder einer harmlosen Taube gehört hatte. Ein Falke kreiste über ihr. Das Pferd, mit dem flammenden Inferno des kleinen Jungen auf dem Rücken, stieg auf die Hinterbeine. Ich fiel. „Schon auf dem Weg in die Stadt“, hallte es in meinem Kopf wider. „Die Angst macht sie blind.“ Kapitel 7 --------- Japsend wie ein Fisch auf dem Trockenen lag ich auf dem Fußboden von Rongas Wohnzimmer. Er hatte sich in dem Sessel aufgerichtet und beobachtete mich aufmerksam. Auch Rick war aufgewacht und betrachtete mich sorgenvoll. Die Situation hatte etwas Beklemmendes. „Morgen allerseits“, sagte ich scherzhaft in dem Versuch, die Spannung zu lösen. Zu meiner Überraschung war es Ronga, der mich rettete. „Guten Mittag, die Herren“, übermittelte er uns auf seine Art der Telepathie, die mir in diesem Augenblick völlig normal erschien. Er sprang vom Sessel, den Schwanz fast zwischen den Hinterbeinen und den Kopf demütig gesenkt, trottete zum Kühlschrank und sein Magen knurrte wie auf Kommando. Rick und ich antworteten mit schallendem Gelächter. Der große Meister scheiterte an einer Kühlschranktür und musste seine Gäste ums Essen anbetteln. So würdevoll er sonst wirkte, so königlich amüsierten wir uns darüber. Meinen Traum hatten wir alle vergessen. Dafür schwemmte mein Gedächtnis Bruchstücke des letzten Abends an. Meine Wohnung war zur Hälfte eine schwarze Höhle und garantiert wimmelte es dort von Menschen, die der Ursache dieses unnatürlichen Brandes auf den Grund gingen. Außerdem würde es Leute geben, die sich fragten, ob der Aschehaufen mit den menschlichen Knochen zu mir gehörte, oder zu dem Boten, den sie geschickt hatten. Es würde nicht lange dauern, bis sie Antwort bekämen. Ich konnte nicht zurück. Nur wohin? Wenn ich zu meinen wenigen Freunden oder zu meinen Geschwistern zog, würde ich diese in Gefahr bringen. Sie würden erleben, was Rick erlebt hatte. Vielleicht Schlimmeres. Alles, wo viele Menschen waren fiel als Bleibe aus. Ronga wohnte außerhalb und würde mich sicher eine Weile aufnehmen, aber seine Praktiken waren mir immer noch nicht geheuer. Selbst jetzt fürchtete ich ihn immer noch mehr als die Männer, die hinter mir her waren. Ich brauchte Zeit, um abzuwägen, wem ich das Auge des Orion nun geben sollte. Außerdem brauchte ich eine Bleibe für Rick und mich, denn auch er wollte nicht bei Ronga bleiben, obwohl ich den Eindruck hatte, die beiden verstünden sich gut. Ich musste zu irgendjemandem, dessen Gefährdung mir nichts bedeutete. Jemandem, der mit völlig egal war. Einige Zeit später standen wir vor dem Haus von Nicholas Mischu. Er hatte mindestens zwei Zimmer übrig. Verschlafen öffnete er uns. Seine Freundin vom Abend war nicht bei ihm. Dafür eine Flasche Wodka und eine Fahne erster Güte. Es stimmte mich ausgesprochen fröhlich, ihn so zu sehen. „Na? Heute wieder einer deiner Glückstage?“ begrüßte ich ihn. „Was willst du?“ knurrte er. „War neugierig, wie’s mit der Kleinen aus dem Club gelaufen ist.“ Er hielt sich den Kopf und stöhnte auf als wäre ich für seinen Kater und seine Trunkenheit verantwortlich. „Sowas passiert wirklich nur mir“, nuschelte er. „Klingt super. Bekomm ich n Kaffee?“ Nick verdrehte die Augen und seufzte: „Ich hasse mein Leben.“ Er drehte sich um und machte Anstalten, mir die Tür vor der Nase zuzuknallen. Ich hielt sie auf, was bei seiner wenigen Kraft nicht weiter schwer war. Die Flasche fiel ihm aus der Hand. Rick und ich stiefelten an ihm vorbei, fanden die chaotische Küche auf Anhieb und kochten uns Kaffee. Im Eingansbereich hörten wir Nick die Scherben aufkehren. An seiner Stelle würd ich lieber wieder mit den Armen fuchteln, dachte ich. Den Handfeger in der Hand erschien er im Türrahmen der Küche, in der sich Kaffeeduft ausbreitete. Selbiges tat auch ich, indem ich mich auf einen Stuhl am Esstisch setzte und die beschuhten Füße hochlegte. Fühl dich wie zuhause, sagte ich mir. Nicks Gesichtsausdruck wurde finster wie tiefste Nacht. „Raus“, sagte er wütend. Ich streckte mich demonstrativ. Unterdes hatte Rick die Kaffeebecher gefunden. „Milch? Zucker?“ fragte er seelenruhig in die Runde. „Schwarz“, antwortete ich, während Nick entrüstet schwieg. Rick musterte unseren Gastgeber wider Willen und drückte ihm schließlich einen Kaffee mit einem Schuss Milch in die Hand. „Du siehst aus, als könntest du ihn brauchen. Tut mir leid, dass es mit der Frau nichts geworden ist. Aber wenn du dich so gehen lässt wird’s bei der Nächsten auch nichts.“ Er klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und lächelte aufmunternd. Normalerweise hätte eine solche Geste mich wütend gemacht, aber in diesem Fall wirkte sie entwaffnend ehrlich. Ich prustete, während Nicks Unterkiefer herunterklappte. Es sah aus, als hätte er ähnlich gedacht. „Darf ich dir meinen Mitbewohner Rick vorstellen?“ flötete ich. „Rick und Nick... Das ist wirklich nicht sehr komisch Kori“, maulte Nick. „Ist wirklich nur Zufall“, versicherte ich ihm und nahm meinen Kaffee in Empfang. Rick holte sich O-Saft aus dem Kühlschrank. Ich kannte ihn schon als Kaffeehasser. „Also, was ist schiefgegangen? Ihr habt euch doch bestens verstanden.“ „Sie dachte, ich wäre ne Frau, die sich als Mann ausgibt.“ „Wirkte gar nicht so, als wär sie vom anderen Ufer...“ meinte ich abwesend. „Ist sie aber. Zumindest zur Hälfte.“ „Und als der Groschen gefallen ist, warst du uninteressant und sie hat dich abserviert.“ Nick nickte niedergeschlagen. „Blöde Kuh“, sagten Rick und ich wie aus einem Munde. „Kori?“ Nick musterte mich höchst misstrauisch. „Was ist los? Du willst doch irgendwas.“ „Du lernst es langsam“, lächelte ich. „Abgesehen davon, dass ich noch meinen Stein wiederbekomme, quartiere ich mich n paar Tage bei dir ein. Wird nicht lange dauern.“ Nick räusperte sich. „Ich wüsste nicht, wann ich dir erlaubt hätte, hier zu wohnen.“ „Ich auch nicht“, überrumpelte ich ihn. „Aber los wirst du mich auch nicht.“ „Ich zeig dich an wegen Hausfriedensbruch.“ „Dann zeig ich dich an wegen Besitzes von Diebesgut.“ „Den Stein hab ich von dir.“ „Nick, wer redet denn von dem Stein? Ich hab dir doch gar nicht erzählt, wo ich den her habe... Wusstest du etwa, dass du mir etwas abnimmst, was ich gestohlen habe? Und dann bringst du es nicht zur Polizei? Sooowas...“ „Ich, äääh... WIIEE auch immer...“ „Willkommen zu Hause, wolltest du sagen.“ Ich schenkte ihm ein honigsüßes Lächeln. „Und Schatz, wo ist mein Zimmer?“ Er schnaubte, woraufhin Rick lächelte. Mein Traum kam mir in den Sinn und mit ihm der Junge auf dem kopflosen Pferd. „Es ist wirklich nur für ein paar Tage. Kori muss anscheinend ein paar Dinge klären, dann ziehen wir wieder aus“, versprach mein Mitbewohner. „Ihr seid unterschiedlich wie Tag und Nacht“, stellte Nick fest. „Rick würd ich sofort hier einziehen lassen, aber du machst mir doch garantiert Ärger.“ „Nick, ich wohne bereits hier“, erklärte ich ihm und stapfte los, um mir ein Zimmer zu suchen. „Das ist MEIN HAUS!!“ keifte er mir hinterher. „Ich wahais!“ trällerte ich zurück. Es dauerte nicht lange und ich hatte ein Zimmer gefunden, dessen Bett frisch bezogen war. Es roch frisch, aber nirgends waren Spuren des Bewohners zu sehen. Ein Gästezimmer. Nebenan fand ich sogar ein kleines Bad. Ein richtiges kleines Hotel. Die perfekte Bleibe. Rick war mir gefolgt. Ich machte eine ausholende Geste durchs Zimmer. „Das hier wird meins. Ob er wohl noch eins für dich hat?“ „Das bestimmt, aber sollten wir ihm nicht irgendwas dafür geben, wenn wir uns ihm schon so aufdrängen?“ „Denk nicht so höflich. Nick ist da sicherlich nicht pingelig.“ „Ich denke doch... Jedenfalls scheint er nicht gerade begeistert“, antwortete Rick. „Ich werde Miete zahlen.“ „Gut, mach das.“ Für mich war das Problem gelöst. „Der arme Tropf geht dir tatsächlich am Allerwertesten vorbei, was?“ setzte er plötzlich nach. „Hatten wir nicht gesagt, persönliche Themen sind tabu?“ maulte ich ihn an. „Ja, weil ich Angst hatte, dass du mich behandelst wie meine Eltern, wenn du zuviel über mich weißt. Gutes Ablenkungsmanöver übrigens, aber findest du nicht, dass wir deinen Freund ganz schön überrumpeln? Wirst du ihm überhaupt sagen, dass er jetzt in Lebensgefahr schwebt, wenn er dir das Auge des Orion nicht gibt?“ Er war ein weitaus besserer Rhetoriker als Nick und er wollte unbedingt persönlich werden. Bitte sehr. „Wie haben dich deine Eltern denn behandelt?“ fragte ich bissig. „Kori, bitte lass das.“ „Du setzt dich über die Abmachung hinweg. Warum soll ich dich nicht fragen?“ Seine Augen glänzten verdächtig. Der für mich nicht lesbare Gesichtsausdruck war wieder da. Zusammen mit einer Portion dunkelroten Zornes. „Ich setze mich drüber weg, weil du die Abmachung als Alibi benutzt, um dich wie der letzte Arsch aufzuführen!“ brüllte er. „Und wenn du es unbedingt wissen willst: Meine Eltern haben mich im Abstellraum eingesperrt, weil sie Angst vor meiner Magie hatten und weil sie Menschen sind! Vollständige!“ Er warf sich herum. Krachend fiel die Tür des Gästezimmers ins Schloss. „Ach, fick dich doch!“ donnerte ich zurück und schlug gegen die Tür. Als ich vier gewesen war, hatte mein Vater mir folgendes Sprichwort beigebracht: „Hinter den Tränen ist Wut; hinter der Wut sind Tränen“. Als dieser Tag vörüberging und ich das Gästezimmer nicht hatte verlassen müssen, spürte ich, wie viel Wahres daran war. So langsam konnte ich mich selbst nicht mehr leiden, so wie ich mich aufführte. Bis spät in die Nacht blieb ich auf dem Zimmer und schlug gegen die Wände aus Wut oder biss mir auf die Unterlippe, um meines Schamgefühls Herr zu werden. Das Erste, was ich am Morgen tun würde war, mich bei Rick zu entschuldigen. Kapitel 8 --------- Mein Vorsatz verflüchtigte sich auch nicht nach einer weiteren Nacht lebhafter Träume. Noch in Schlafshorts und vor dem Zähneputzen schlurfte ich runter in die Küche und traute meinen Augen nicht. Im Gegensatz zu mir hatte Rick den letzten Tag nicht mit Selbstmitleid vertrödelt. Stattdessen hatte er Nick beschwichtigt und mit ihm zusammen die gesamte Villa auf Hochglanz poliert. Ich kam mir vor wie ein schlammtriefender Straßenköter in einem Designerbad. Nick warf mir etwas zu. Reflexartig fing ich es und hatte das Auge des Orion in meinen Händen. „Dein Freund und ich haben herausgefunden, dass du wohl deshalb so viel Ärger hast. Bring’s besser zu deinem Auftraggeber, du Meisterdieb. Sonst steckst du mein Haus auch noch in Brand.“ War hier beim Aufräumen zufällig ein schwarzes Loch gefunden worden? Ich wünschte mir eines, um darin zu versinken. „Wir finden noch ne Frau für dich“, röchelte ich, weil mir die unausgeruhte Stimme versagte. „Und Rick – äh...“ „Schon gut. Mir auch“, strahlte Rick und zog dann eine Grimmasse. „Aber die Abmachung bleibt hinfällig, damit das klar ist.“ „Du hast das „Idiot“ vergessen“, sagte Nick. „Und dass er heute abwaschen muss.“ Ich lachte erleichtert. „Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!“ „Ronga sitzt übrigens vor der Tür“, erklärte mein Schützling. „Du hast heute Unterricht. Also beeil dich besser mit dem Abwasch. Er hat zwar ne Engelsgeduld, aber irgendwann kriegt auch er schlechte Laune. Den Beiwagen für dein Motorrad hab ich gestern schon bestellt. Ihr werdet ne Weile fahren müssen. Nimm Badesachen mit.“ „Ihr werdet mir unheimlich“, sagte ich. Ronga... Ich war immer noch unschlüssig. Was würde geschehen, wenn ich ihm den Stein nicht gab? Mit was hatte ich zu rechnen, wenn ich einen Magier erzürnte, der mächtig genug war, um einen Jungen zu heilen, der dem Tod so nahe wa?. Waren seine zerstörerischen Kräfte genauso ausgeprägt wie seine heilenden? Inständig hoffte ich, dass er nicht nach dem Diebesgut fragen würde. Gezwungenermaßen brachte ich meine morgendlichen Verrichtungen hinter mich – ja, auch den Abwasch. Ronga saß bereits in dem Beiwagen als ich endlich aus dem Haus kam. Zu sagen, dass er grinste wäre unlogisch gewesen, denn ein Wolf konnte nicht die dazu erforderlichen Muskeln im Gesicht haben, aber irgendwie kam es mir so vor als grinse er wirklich. Wir fuhren bis Mittag die Küste entlang. Dann erreichten wir schließlich einen leeren Sandstrand weitab jeglicher Zivilisation. Mein Beifahrer sprang aus dem Sitz und streckte sich genüsslich. Die ganze Fahrt über hatte ich nichts außer den Richtungsangaben in mein inneres Ohr gesagt bekommen. Nun hörte ich Ronga wieder ganze Sätze sprechen, auch wenn ich keinen davon verstand. Er richtete sich auf die Hinterbeine auf und seine Konturen begannen vor meinen Augen zu verschwimmen. Ein Gebilde aus grellweißem Licht wich nach und nach den Umrissen eines Menschen. „Verdammt“, fluchte dieser als er merkte, dass er noch seinen Schlafanzug trug. „Nicht gerade sehr autoritär“, gackerte ich. „Warum auch?“, scherzte er. „Ich weiß mich auch so zu behaupten.“ „Sagtest du nicht, du gehst am Tage immer auf vier Beinen?“ „Hin und wieder nehme ich mir die kraftraubende Freiheit, mich meiner Natur zu widersetzen. Sehr vorteilhaft für Mietvertragsverhandlungen und dergleichen.“ „Wo du recht hast... Also, was soll der ganze Aufwand?“ „Ich werde dir helfen zu verhindern, was vorgestern passiert ist.“ Er lächelte als er das sagte, aber mir wurde sehr ernst zumute. „Du weißt also, was das alles zu bedeuten hat? Du weißt wirklich über den ganzen Kram bescheid?“ fragte ich zögerlich. „Über vieles. Ich hatte viel Zeit zum Lernen. Du bist ein Halbdrache. Das Gen dafür haben viele Menschen, aber es bedarf gewisser Einflüsse, damit es aktiviert wird. Außerdem hast du im Gegensatz zu mir übrigens eine große Begabung für Schwarzmagie.“ Deswegen also seine Bemerkung wegen der Lüge. Er hatte mich Schwarzmagier genannt, weil er gedachte, mich dazu zu machen. Noch mehr Fähigkeiten, die mir außer Kontrolle geraten konnten. „Woher willst du wissen, dass ich aus dem Talent auch was machen will?“ „Oh, ich weiß, dass du das nicht willst, aber wenn du es nicht tust, wirst du garantiert noch öfter umziehen müssen.“ Ich erwartete ein frostiges Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen, aber seine Miene blieb völlig Ausdruckslos, was irgendwie noch viel schlimmer war. „Fangen wir an?“ wollte er wissen. Widerwillig nickte ich. Im Radius von circa Hundert Metern begann die Erde um uns herum plötzlich zu leuchten. „Innerhalb dieses Kreises sieht niemand was wir tun.“ Eine lange Pause folgte. „Nun denn“, sagte Ronga leise und sog Luft ein als müsse er sich überwinden. „In deiner eigentlichen Gestalt wird es dir leichter fallen.“ Er kam auf mich zu und stellte sich hinter mich. Instinktiv bereitete ich mich darauf vor, ihm eins überzubraten als ich seine Hände auf meinem Rücken fühlte. Er drückte zwei Punkte knapp neben meinen Schulterblättern, murmelte einen halblauten Fluch und drückte zwei andere Punkte in der Nähe der ersten. „Als nächstes lerne ich Akupunktur“, grummelte er. Als er ein drittes Mal die Fingerspitzen verlagerte schien er zu meiner großen Erleichterung gefunden zu haben, was er suchte. Dann ließ der Werwolf mich los und trat eilig vor mich. „Release“, sagte er tonlos und ich spürte wie sich Energie in meinem Rücken sammelte und sich wenig später in Form der beiden Drachenschwingen entlud. Es war das erste Mal, dass ich diese Veränderung wirklich bewusst wahrnahm. So ungefähr musste sich ein Drogenrausch anfühlen. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich völlig entrückt, hatte das Gefühl zu schweben und eins mit der Welt um mich herum zu sein. Mein neuer Lehrer tat jedoch sein Möglichstes, diesen Zustand wieder zu zerstreuen. Er war verdammt streng. Immer wieder wies er mich an, die Flügel verschwinden und wieder auftauchen zu lassen. Immer wieder schrie ich ihn an, es ginge nicht. Was ich auch täte, ich bekäme es nicht hin. Dann irgendwann tat ich es einfach und von da an war es niemals wieder nötig, dass jemand an mir herumdrückte, um die Schwingen erscheinen zu lassen. Derselbe Vorgang des Widersprechens und Tuns wiederholte sich, als er mir einige Feuermagien beibrachte und mich lehrte, das natürliche Feuer zu speien, das ich in der Kehle produzierte. Ich konnte zetern soviel ich wollte. Was immer er mir auftrug und wie fremd es mir auch schien, es lag mir und klappte nach wenigen Versuchen. Entsetzt und fasziniert zugleich sah ich mich fliegen und mit Feuerbällen nach ihm werfen, die er spielend in alle Winde explodieren ließ. Ich schaute mir zu wie ich Bannkreise und Schutzschilde bildete und damit seine Angriffe parierte. Allerdings wusste ich mit jeder seiner Magien, die ich zurückwarf, dass er nicht mal auf halber Flamme kochte. „Was ist?“ reizte ich ihn angestrengt. „Traust du dich nicht?“ Er lachte. „Ganz der übermütige Anfänger, für den ich dich gehalten habe. Wenn ich mehr tun würde, als dich mit dem kleinen Finger anzugreifen, könnte ich den Rest des Tages damit verbringen, dich zu heilen und von Flüchen zu erlösen. Ich habe zwar kein Talent, aber dafür mehr als zweitausend Jahre Vorsprung.“ „Klar“, entgegnete ich. „Ich hab schon Pferde kotzen sehen.“ „Es gibt durchaus welche, die das können“, konterte Ronga. „Sie haben nur keine Köpfe.“ Ich schluckte. Ein leichtes, aber stetiges Ziehen durchzuckte meine Schläfen. „Erwischt“, flüsterte ich und merkte, wie ich sauer wurde. Er tat es schon wieder. „Hör auf, meine Gedanken zu lesen!“ befahl ich. „Raus!“ Meine Lungen füllten sich bis zum Bersten mit Luft. Ich spuckte ihm eine gigantische Feuerwolke entgegen. Er erledigte sie spielend, indem er sie ins Meer weiterleitete und eine Magie hinterherschickte. „Den Angriff hätte sogar ich noch stoppen können“, rief ich. Das Ziehen war immer noch da, doch es schien sich leicht verlagert zu haben. „Kontrollierte Wut“, sagte Ronga trocken. Plötzlich weitete sich das Ziehen zu einer Welle heftigen Kopfschmerzes aus. „Und unkontrollierte“, hörte ich eine Frauenstimme sagen. Der Hellseher war verschwunden. Stattdessen sah ich eine strahlend schöne, goldgelockte Frau vor mir stehen. Die klassische Vorstellung eines Engels, hatte ich sarkastisch gedacht, schon als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. „Ein kopfloses Pferd, ein entstellter Alter und ein Kind in Flammen. Nah genug an der Hölle?“ fragte sie mich liebevoll. Wieder breitete sich Nebel in meinem Verstand aus. Dieses Mal sah ich alles wie in Zeitlupe. Das Inferno, glühend heiß und dreimal so groß wie ich selbst, die eiskalte Frau, wie sie ihre Hände ausstreckte und die Flammen damit absorbierte, den verbissenen Gesichtsausdruck als sie sah, dass es nicht funktionierte. Ich hörte mich irre lachen und dann entsetzt schreien, als mir einfiel, dass es sich bei der Frau um ein Trugbild von Ronga handelte. Die Konturen der Frau verschwammen und ich sah meinen Lehrmeister wieder. Er riss die Hände hoch und der Hitzesog verstärkte sich. In Windeseile nahmen seine Handflächen das Feuer auf. Die Luft war glühend heiß, aber nirgends mehr war etwas von dem Feuer zu sehen. „Hast du jemals geraucht?“, fragte Ronga. Seine Hände hatten die Farbe von rotglühendem Metall angenommen. „Kurzzeitig“, antwortete ich verwirrt und merkte, wie meine Gedanken langsam wieder einem geordneten Muster folgten. „Dann hoffe ich für dich, dass du Rauchringe machen kannst. Für das hier brauchst du nämlich einen sehr großen. Wenn du ihn machst, denk an den Stein, den du gestohlen hast. Wäre vorteilhaft für uns beide, wenn du dich sehr gut an seine Farbe erinnerst.“ Instinktiv formte ich im Mund den Rauchring. Was sollte die dumme Frage? Der Stein war grün. Smaragd- oder Flaschengrün. Mit diesem Gedanken hauchte ich, als wollte ich Rauch auspusten. Statt Rauch kam Feuer und es leuchtete grün wie die Wasserflasche in meinem Traum. Der zunächst winzig kleine Ring wuchs sich zu einem Feuerreif aus als ich sah, warum Ronga das Feuer mit den Händen aufgesogen hatte. Mein eigenes Feuer kam zurück. Der Feuerball sauste geradewegs auf mich und meinen lächerlich wirkenden Feuerring zu. Ich riss die Arme auseinander und der Ring wuchs weiter, wuchs und wuchs bis er endlich größer war als der Feuerball. Dann trafen beide aufeinander. Genau zur Hälfte glitt der Feuerball in den Ring hinein. Letzterer begann, sich um die roten Flammen zu drehen. Meine ausgestreckten Arme wurden von einem Schlag getroffen, während mein Kopf sich anfühlte, als würde er gleich zerspringen. Schwarze Flecken sammelten sich in meinem Sichtfeld und breiteten sich rasch aus. „... Die Hände zusammen!“ hörte ich Ronga wie durch einen endlos langen Tunnel rufen. Ich versuchte, die Hände auf Bauchnabelhöhe zusammenzubringen und bemerkte einen mächtigen Gegendruck. Zentimeter um Zentimeter brachte ich meine Handflächen näher zueinander. Je weiter ich kam, desto kleiner wurde der Ring und mit ihm der Feuerball. Von dem Teilerfolg angespornt, aber auch unter Aufgebot all meiner verbliebenen Kräfte, schaffte ich es, meine Hände ganz zusammenzubringen. Das Feuer verschwand. Zu Tode erschöpft ließ ich mich in den Sand fallen. Ronga robbte neben mich, ein frohes Lächeln im Gesicht. „Freut mich, dass du dich wenigstens ein bisschen anstrengen musstest“, krächzte ich kraftlos und schaute in den wolkenlosen Himmel hinauf. Daraufhin lachte er. „Geschafft hast du mich. Ich bin völlig hinüber. Du musst die Arme wirklich hassen.“ Mir fiel wieder ein, wie er mich dazu gebracht hatte, diesen Feuerball zu speien. „Wenn dir dein Leben lieb ist, mach das nie wieder“, knirschte ich. „Versprochen bei meinem Augenlicht und meiner rechten Hand“, antwortete er. Der unglaublich mitfühlende Ton in seiner Stimme brachte mich durcheinander. Noch immer war mir Rongas Denkweise völlig fremd. Ich blickte neben mich, wollte in seinem Gesicht lesen, doch er war bereits wieder ein Wolf. „Amüsier dich“, legte er mir nahe. „Bevor du nicht halbwegs wieder bei Kräften bist, setze ich keine Pranke in deinen Beiwagen.“ „Ich versteh dich wirklich nicht“, murmelte ich und ging schwimmen. Kapitel 9 --------- Gerade als es langsam dunkel wurde, kam ich zurück zur Villa. Rick, der heimliche Hüter unseres Haussegens ging irgendeinem Job nach, wie ich vermutete, denn er war nicht zuhause. Ich machte mir Sorgen um ihn, ermahnte mich aber zur Ruhe. Schließlich war ich nicht sein Vater und der Junge war in vielen Dingen erwachsener als ich. Er würde zurechtkommen. Selbiges konnte man nicht von Nick behaupten, denn als ich reinkam, sah ich ihn mit einer kaputten Tasse kämpfen. Genauer gesagt klebte er daran fest. Verärgert schüttelte er das Gefäß und versuchte, sich davon zu befreien. Auf einem kleinen Schrank lag meine Nikon, die ich mir auf der Stelle schnappte. „Bist du nicht noch zu jung für so feste Bindungen?“, fragte ich den Unglücksraben. Verdattert drehte er sich zu mir um. „Bitte lächeeeln!“ bat ich und drückte den Auslöser. „Du ARSCH!“ schimpfte Nick und wollte die Tasse nach mir werfen. Leider hatte er vergessen, dass sie noch an seiner Hand klebte und so fiel er geradewegs nach vorne. Jetzt wünschte ich mir, ich hätte eine Videokamera gehabt und nicht nur einen Fotoapparat. Mit dieser Aufnahme hätte ich den Preis einer jeden Comedy-Show gewonnen. Er landete Bäuchlings auf dem Fußboden, wo die angeschlagene Tasse endgültig zersprang. „Sei nicht so unhöflich“, tadelte ich ihn und imitierte seine Zeigefingergeste. „Immerhin habe ich dich gerade von der Tasse befreit.“ Er warf einen Blick auf seine Hand, die ihm das zu seinem Ärger auch noch bestätigte. „Vielen Dank“, höhnte er. „Für dich doch immer. Wieso mühst du dich eigentlich mit Kleber ab? Du hast doch deine Fähigkeit.“ „Anscheinend hast du bei Ronga nicht viel gelernt.“ Ich unterdrückte den Wunsch, ihm zu zeigen, was ich gelernt hatte, indem ich ihm einfach den Hintern in Brand setzte und sah ihn nur fragend an. „Das geht nur mit magischen Gegenständen.“ „Leider, was?“ Er lächelte versöhnlich. „Ja, leider... Hey sag mal, wie ernst hast du das heute morgen gemeint?“ „Was?“ Ich konnte mich kaum noch an das merkwürdig harmonische Frühstück erinnern. Nur daran, dass es eben so merkwürdig harmonisch gewesen war. „Dass du mir ne Frau suchst. Du schuldest mir was. Immerhin hast du jetzt den Stein und noch dazu wohnst du hier.“ Ich dachte eine Weile darüber nach, wie gut meine Laune heute war und beschloss, dass ich es ernst gemeint hatte. „Okay, ich stell dir jemanden vor, der uns da vielleicht weiterhelfen könnte. Vielleicht kennt sie jemanden, der sogar eine Nervensäge wie dich haben will.“ „Ner-ven-sä-ge?!“ „Willst du nun, oder willst du nicht?“ „Ich hab Angst. Das letzte Mal, als du so gute Laune hattest, bist du hier gegen meinen Willen eingezogen. Welche Grausamkeit planst du dieses Mal?“ „Idiot, dann eben ni- “ „Schon okay! Lass uns gehen!“ Wir fuhren in die Innenstadt. Nick war alles andere als begeistert, als ich ihn die Stufen zu einer heruntergekommenen Kneipe hinabführte. „Hier willst du...?“ fragte er misstrauisch. „... Meine Exfreundin von der Arbeit abholen.“ „Du hattest ne feste Freundin?“ Er schien seinen Ohren nicht zu trauen. „Klar hatte ich. Du sagst doch selbst, dass die Arschlöcher immer Frauen abbekommen.“ „Wie einsichtig du doch bist. Ich wundere mich eher wegen deinem Hang zur ;Treue’...“ Er fügte noch irgendetwas hinzu, womit er mich wohl ärgern wollte, doch ich hörte nicht mehr hin. Jazz stand an einem Tisch ganz in der Nähe und kassierte. Wie es aussah hatten die Herren schon so einiges getrunken, denn sie waren laut und es dauerte, bis sie das Geld hervorgekramt hatten. Nun, in diesem Schuppen war das nicht ungewöhnlich. Die Kundschaft bestand überwiegend aus Leuten, die schon mittags mit dem Trinken anfingen. Der Laden musste brummen, hatte ich schon mehr als einmal gedacht. „Hast du sie hier kennen gelernt?“ wollte Nick wissen. „Nein, im Theater.“ Er lachte lauthals. „Der war gut! DU! Im THEATER!“ Dabei ließ ich es bewenden, obwohl ich tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte. Mir war egal, was er dachte. Nick nahm mein Schweigen zum Anlass, Jazz einer genaueren Musterung zu unterziehen. Was er sah, konnte ich mir denken. Mit seiner Angebeteten aus dem Lethal Nightmarez hatte sie so gar nichts gemein. Ihre Figur war schlank und knabenhaft, im Gesicht hatte sie kein Gramm Schminke, dafür aber einige kleine Pickel am Kinn und ihr Kleidungsstil war extrem nachlässig. Ich bezweifelte, dass er ihr ihren grünen Daumen, ihre Offenheit oder ihre Spontanität ansehen konnte, geschweige denn auf welch wunderbare Weise sie aus dem Rahmen fiel. Was uns allerdings beiden nicht entging als wir uns einen Platz in ihrer Nähe suchten, war der Trunkenbold, der seine Finger nach ihrem Hinterteil ausstreckte. Freundlich, aber nachdrücklich forderte sie ihn auf, seine Hände bei sich zu behalten. „Heeh, Mann, nu stell dich nich so an“, lallte er sie an und startete einen neuen Versuch, sie am Gesäß zu erwischen. „Willst du ihr gar nicht helfen?“ flüsterte Nick. „Hmm“, machte ich gespielt nachdenklich. „Nein, ich glaube nicht.“ Er warf mir einen Blick zu, der mir deutlich sagte, was er davon hielt. Jazz’ Stimme klang melodisch und zärtlich als sie sich erkundigte: „Hast du eigentlich Familienpläne?“ Der Mann betrachtete sie etwas verwundert. „Klar“, antwortete er. Das war ihr Stichwort. Sie hob ein Bein auf die Bank, die er breitbeinig für sich beanspruchte und platzierte ihren Fuß in der Mitte seiner Beine, wo sie ihn ein paar Mal auf dem dünnen Absatz hin und her drehte. Das Brüllen des Säufers war ohrenbetäubend. „Ich denke, für die nächsten paar Jahre kannst du deine Familienpläne vergessen“, erklärte sie ihm liebevoll, nahm ihr Geld und ging. Nick schluckte. „Vielleicht hätte ich fragen sollen, ob du dem Mann helfen willst... Wie ging das bei euch zu, wenn ihr gestritten habt?“ „Wie in jeder anderen Beziehung auch. Jedenfalls musste ich meine Familienpläne noch nie überdenken.“ Er seufzte sichtlich erleichtert. Im selben Moment entdeckte sie uns. „Hey, Kori!“ rief sie mir zu und kam an den Tisch. Wir umarmten uns flüchtig, wobei sie hörbar die Luft durch die Nase einsog. „Wow, du riechst richtig nach Meer und das in der Großstadt. Den Geruch will ich im Glas.“ „Ich bin da eher für einen Tagesausflug.“ Sie strahlte. „Darf ich vorstellen? Das ist Nick.“ „Yasemin“, antwortete sie und verbeugte sich höflich, was in krassem Gegensatz zu ihrer Aktion von vorhin stand und ihn zu meiner Freude gewaltig irritierte. „Die meisten sagen Jazz, weil sie den Namen nicht vernünftig aussprechen können.“ Ihr langer, blassgrüner Pferdeschwanz machte einen Satz über ihren Kopf und meine Augen klebten an jedem Haar. Ich hasste es, wenn ich so sentimental wurde und genoss es gleichzeitig. „Hi Jazz“, sagte Nick einsilbig. „Was trinkt ihr?“ „Nichts“, beeilte ich mich zu sagen. „Wann hast du Feuerabend?“ „Feuerabend?“ Hoppla. Was Siegmund Freud dazu wohl gesagt hätte... „Feierabend“, berichtigte ich mich. „Wir suchen ne bessere Hälfte für ihn. Dachte du drehst heute Abend vielleicht noch ne Runde.“ Ein Blick auf die Uhr und sie ging zur Theke, um sich beim Chef abzumelden. Nick und ich verließen die Bar, um Jazz am Hinterausgang wiederzutreffen. „Du gehst in den Beiwagen“, befahl ich meinem Freund mit dem Monitor, der daraufhin das Gesicht verzog. Er war riesig und der Mangel an Beinfreiheit passte ihm gar nicht. „Du hast n Beiwagen?“, freute sich Jazz. „Wollte schon immer mal in so nem Ding fahren.“ „Glück gehabt.“ Ich tat als würde ich nicht sehen, wie sie Nick heimlich zuzwinkerte. Sie liebte es, hinten auf dem Motorrad mitzufahren, doch sie war furchtbar hilfsbereit. Er wurde verlegen und sah mich entschuldigend an. „Schon gut“, lachte ich. „Sie flirtet mit allem, was sich bewegt.“ „Das tut er auch... Und nicht nur das“, neckte sie mich und zeigte mir den Mittelfinger. „Meine liebevolle Ex“, sagte ich, startete den Motor und hielt dann plötzlich inne. „Hey, Jazz, wie weit ist es?“ Sie zog eine Augenbraue hoch. Das hatte sie von mir. Eine der vielen Gesten, die Partner voneinander übernehmen. „Irgendwas nicht in Ordnung?“ erkundigte sie sich. „Nur so’n Gefühl.“ Eines, das mir den Magen zusammendrückte und mir den Schweiß in den Achselhöhlen ausbrechen ließ. Als wäre das Antwort genug, machte sie sich auf den Weg zur U-Bahnstation. „Könnt ihr zwei bitte mit Worten kommunizieren?“ beschwerte sich Nick. „Ich komme mir langsam vor wie das fünfte Rad am Wagen.“ Sie legte ihm beschwichtigend einen Arm um die Schulter. „Besser?“ Endlich bekam sein kreideweißes Gesicht zwei gesund aussehende rote Wangen. Die U-Bahn brachte uns fast direkt zu einer kleinen, ansprechend aussehenden Bar. Nick erschrak als er das Schild sah. „Ka-karaoke? Das ist nicht euer Ernst, oder? Das wollt ihr euch nicht antun! Niemand würde mir freiwillig beim Singen zuhören! Koriii!“ Hilfesuchend sah er mich über die Schulter hinweg an, während Jazz ihn in den Laden schleifte. Meine Wangen taten weh. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich den ganzen Weg hierher lächelnd zurückgelegt hatte. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag: Seit Monaten war ich nicht mehr so glücklich gewesen. Es fühlte sich beinahe fremd an. Kapitel 10 ---------- Wir tauchten in das schummrige Licht der Karaokebar. Drinnen stand eine junge Frau auf der Bühne und quietschte Time Of My Life aus Dirty Dancing in gebrochenem Englisch. „Schlimmer als die kannst du nicht sein“, befand Jazz. „Ich bin mir da nicht so sicher“, sagten Nick und ich im Chor. Sie kicherte. „Wozu braucht ihr zwei eigentlich ne Frau? Ihr versteht euch offensichtlich blendend.“ „Ganz bestimmt nicht!“ beteuerte Nick. Ich nickte zustimmend. „Gut, ihr zwei Turteltauben. Wie ihr meint.“ Manchmal, dachte ich, könnte ich sie umbringen. Kaum hatten wir uns hingesetzt, schnappte sich Jazz die Songliste. „Ich könnte mir vorstellen, dass du den hier kennst“, mutmaßte sie nach kurzer Lektüre und zeigte Nick den Song, den sie meinte. „Wie kommst du darauf, dass ich so ne Schnulze kenne?“ fragte dieser entrüstet. „War das ne rhetorische Frage?“ „KORI! Guck dir an, was ich singen soll...“, sagte er, während er mir die Liste reichte. „...was ich natürlich nicht tun werde!“ Im letzten Satz überschlug sich seine Stimme. „Hast du etwa Angst?“ versuchte ich ihn aus der Reserve zu locken. „Nein!“ „Lügt er immer so schlecht?“ „Ausnahmslos.“ „Hey, so langsam glaube ich, ihr amüsiert euch hier auf meine Kosten!“ „Finanziell gesehen könnte das passieren, so wie ich Kori kenne“, gab Jazz trocken zurück. „Aber guck mal da rüber“, wisperte sie dann in sein Ohr. Nick drehte sich in die Richtung, die sie ihm zeigte. Hastig knuffte sie ihn in die Seite. „Doch nicht so auffällig. Siehst du die Brünette da drüben?“ „Hmhm“, machte er und knotete seine Hände ineinander. „Gefällt dir, was?“ „Und wie... äh, sorry. Nichts gegen dich... ähm...“ „Schon gut, schon gut. Du bist ja auch nicht mein Typ. Aber ihrer. Siehst du, wie sie dich anstarrt?“ „Ähh... Angewidert?“ „Nein, das gilt mir. Wenn sie dich anschaut, dann lächelt sie“, belehrte ich ihn. „Wenn ich singe, wird sie mich garantiert genauso ansehen wie dich.“ „Quatsch, wird sie nicht“, munterte Jazz ihn auf und gab ihm wieder einen Seitenhieb, der allerdings sehr viel sanfter ausfiel als der vorige. „Wird sie doch.“ „Wird sie nicht. Guck dir an wie schüchtern sie dasitzt. Wenn du dich da oben blamierst, wird sie sich ein Herz fassen und dich ansprechen.“ „Du willst mich verarschen.“ „Nein“, versicherte ich. „Ich hab das Aufreißen bei ihr gelernt.“ „Waas? Jetzt verarscht ihr mich beide.“ Völlig synchron schüttelten wir die Köpfe. Dann neigte Jazz den Ihren in Richtung Bühne, wickelte Nick mit einem Lächeln um den kleinen Finger und winkte den jungen Mann heran, der die nächsten Kandidaten aufnahm. Wenig später stand Nick auf der Bühne und sang Unbreak My Heart von Whitney Huston. Ich hatte den Song noch nie gemocht, aber just in diesem Moment wünschte ich mir keine Ohrenstöpsel mehr, sondern einen Revolver, um entweder Nick oder mich damit zu erschießen. Selbst Jazz, die einige schiefe Töne verschmerzen konnte, wenn es Freunden zuliebe war, hielt sich ein Ohr zu. Um mich nicht auf das Gequietsche konzentrieren zu müssen, schaute ich mich im Laden um. Die Brünette war äußerst angetan von der Leidenschaft, die Nick in seinen Katzenjammer legte. Ich hatte keinen Zweifel daran, dass er Chancen bei ihr hatte. Ein paar Tische weiter fiel mein Blick auf ein Pärchen. Eng umschlungen saßen die beiden da und ertrugen Nicks Folter gemeinsam. Kurz bereute ich, Yasemin damals durch mein dummes Verhalten vertrieben zu haben. Wir waren enge Freunde gebelieben, denn sie war nicht nachtragend. Jedoch war sie lernfähig genug, sich nicht noch mal mit mir einzulassen. Ich wünschte mir, ich wäre nur ansatzweise so clever gewesen und hätte meine Frauengeschichten eingestellt. Hoher Preis für so ein Bisschen Freiheit. Mein Blick wanderte weiter. Eine Clique kichernder Mädchen hier, einige Buh-Rufer da und mittendrin – nein, das konnte nicht sein. Ich schaute zweimal hin. Doch, er war es. Dort drüben saß Ronga, einen höchst amüsierten Ausdruck im Gesicht und eine Frau im Arm. Seine Begleitung kannte ich ebenfalls. Mir gefror sämtliches Blut in den Adern, als ich sah, mit wem er hier war. „Verräter“, flüsterte ich und als hätte er mich gehört, drehte Ronga den Kopf in meine Richtung. Die Freude wich aus seinem Blick und er musterte mich ernst. Fühlst dich also schuldig, dachte ich. Solltest du auch. Niemanden hasste und fürchtete ich mehr als die junge, blondgelockte Frau in seinem Arm. Ich kannte niemanden, der äußerlich so schön und gleichzeitig innerlich so abgrundtief hässlich sein konnte. Ausgerechnet Ronga, der ach-so-weise Hellseher machte mit ihr gemeinsame Sache. Er wusste, wie ich zu ihr stand. Noch am Nachmittag hatte er es ausgenutzt. War es ihm leichtgefallen, ihr Bild heraufzubeschwören? Vielleicht trafen sie sich ja sogar jeden Abend hier und lachten sich ins Fäustchen. Ha, heute haben wir Kori aber wieder mächtig in die Pfanne gehauen. Keine Angst, mein Engelchen, bald bekommst du ihn wieder. Am liebsten hätte ich laut geschrieen. Ich hörte nicht, wie Jazz sich kurz entschuldigte und bemerkte auch nur am Rande, dass sie den Tisch verließ. Meine Aufmerksamkeit galt ganz dem Paar auf der anderen Seite des Raumes. Wie auf Watte gehend stand ich auf und ging gemessenen Schrittes auf die beiden zu, während ich die Zähne so heftig aufeinander biss, dass ich Kopfschmerzen davon bekam. Mein Puls raste, meine Hände waren Eisklumpen, aber es trieb mich immer näher zu dem Tisch, an dem die beiden saßen, die Augen hatte ich fest auf Ronga geheftet. Er schaute zurück und was ich als schuldige Miene missdeutet hatte, wurde ein Ausdruck tiefer Überzeugung. Der Bastard sah sich auch noch im Recht mit dem, was er tat! „Undo this hurt you caused...!” heulte Nick von der Bühne herunter und es war ohrenbetäubend. Die schwache Beleuchtung brannte plötzlich grell in meinen Augen, der Rauchgeruch war erstickend und die Luft schien so dick, dass ich glaubte, sie auf jedem Quadratzentimeter meiner Haut spüren zu können. „Wie klein die Welt doch ist“, höhnte ich, als ich endlich den Tisch erreichte. Meine Stimme klang selbstsicher, aber meine Knie fühlten sich an wie Pudding. Auch dieses Mal ließ Ronga sich von meinem Beleidigungsversuch nicht im Geringsten beeindrucken. Er wartete einfach und harrte der Dinge, die da kommen sollten. „Hast du das hier auch vorhergesehen?“, fragte ich zynisch. „Nein“, antwortete er knapp und tonlos. Lavande, die Frau an seiner Seite, kuschelte sich enger an ihn und lächelte ein honigsüßes Lächeln. „Ich hätte euch beiden kein so baldiges Wiedersehen gewünscht.“ „Glaub ich dir. Schließlich hättest du mich dann noch länger „unterrichten“ können“, versetzte ich. In seine Miene mischte sich Bedauern, doch keine Spur von Reue. Statt auf meine Äußerung einzugehen, nahm er einen Schluck von dem Rotwein, der auf seinem Tisch stand, wobei er kurz das Gesicht verzog, als Nick einen der höheren Töne erreichte. „Unser Abkommen ist damit wohl hinfällig...“ sagte er in einem Tonfall, der perfekt zu seinem Gesichtsausdruck passte. „Scheint als hättest du verloren“, säuselte Lavande Ronga zu. „Mit deiner Einmischung machst du es uns beiden nur noch schwerer.“ Ich fröstelte, als ich ihre Stimme zum ersten Mal seit meinem einen Jahr hier in Tokio wieder hörte. „Würdest du mir bitte den Gegenstand in deiner Tasche geben?“ bat sie. Dort befand sich noch immer das Auge des Orion. „Wie Ronga schon sagte... Die Abmachung ist hinfällig. Ich werde Nick bitten, seine Magie rückgängig zu machen.“ Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. „Den Jungen, der gerade von der Bühne abgeht? Wenn das so ist...“ Sie machte Anstalten aufzustehen. Ich stieß sie heftig auf die Sitzbank zurück und hielt ihre Schultern krampfhaft umklammert. Ohne eine Regung beobachtete Ronga die Szene. „Hast du Angst, dass noch jemand durch deine Hand stirbt?“ flüsterte sie zärtlich. Ohne es zu wollen, drückte ich fester zu. Die Knochen unter meinen Händen bewegten sich knirschend in ihren Gelenken. „Nicht meine Hand war das, sondern deine“, entgegnete ich. „Ganz allein deine. Das einzige menschliche Wesen, das durch meine Hand sterben wird bist du, wenn du dich nicht aus meinem Leben raushältst. Das schwöre ich dir.“ Irrte ich mich, oder war da gerade ein Lächeln über das Gesicht ihres Begleiters gehuscht? Ich hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn Lavande, explodierte förmlich vor Lachen. Was zum Donnerwetter war an meiner Bemerkung so komisch gewesen? War sie einfach nur arrogant, oder merkte sie wirklich nicht, dass ich es todernst meinte – im Wahrsten Sinne des Wortes? „Wäre das schön!“ rief sie irre. „Ach wie wundervoll wäre die Welt, wenn du das auch nur ansatzweise könntest!“ Das war genug. Ich packte ihren Hals und drückte mit aller Kraft zu. „Willst du Beweise?“ presste ich hervor. Rongas Stimme unterbrach unser Gespräch. Immer noch klangen seine Worte trocken wie die Wüste zur Mittagszeit. „Hör auf“, sagte er ruhig. „Du verschwendest deine Kräfte.“ „Halt’s Maul!“ brüllte ich. „Kori!“ Ich hatte Nick fast vergessen. „Alles in... Ordnung...?“ Die Leute sahen her. „Was bringt dir ein Leben ohne sie, wenn du es mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe vergeudest?“ Der große Ronga, der immer recht hatte. Verdammt, sogar dieses Mal hatte er völlig recht. Wie ich ihn verachtete. Ihn und seine vermaledeite Klugheit. Ich löste meine Hände und registrierte höchst zufrieden, dass sie wenigstens heftig nach Luft rang und sich purpurrote Flecken dort ausbreiteten, wo ich ihren Hals zusammengequetscht hatte. „Wer ist das?“ fragte Nick leise. „Luv“ antwortete ich in derselben Lautstärke. „Nach dem englischen Wort für Liebe. Der beste Witz, den ich je gehört habe.“ Dann zu ihr: „Halt dich raus aus meinem Leben oder du bist tot. Und glaub mir, ich finde einen Weg.“ Sie fasste sich. „Nun, das hoffe ich sehr, auch wenn ich es stark bezweifle. Hallo Nick, es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen. Noch mehr freue ich mich auf den Tag, an dem ihr beiden euch zum gegenseitigen Verhängnis werdet.“ „Es reicht“, unterbrach Ronga ihren Redefluss. „Reißt euch zusammen - und zwar alle. Es ist besser, wir gehen jetzt.“ Als er weitersprach, war sein Gesicht ein Spiegel reinster Aufrichtigkeit. „Ich hätte ihr das Auge des Orion nicht gegeben, sondern seinem rechtmäßigen Besitzer. Das hätte ich von Anfang an tun sollen. Ich gebe dir eine Frist bis morgen Abend. Wenn du es mir dann nicht gebracht hast, tue ich, was ich angekündigt habe. Zu deinem Wohl, zu seinem“ Er deutete auf Nick „und zu ihrem.“ Ich sah rot. Meine Faust bahnte sich ihren Weg in seine aufrichtige Grimasse, nur um gleich zum nächsten Schlag auszuholen. Ich hörte ein Glas zerspringen. Den ersten Schlag steckte Ronga weg; den zweiten verhinderte er, indem er so abrupt aufsprang, dass der Tisch umfiel. Er packte meine Handgelenke, drehte sie mir auf den Rücken und hielt mich fest, doch auch das konnte nicht mehr verhindern, dass das Chaos losbrach. Leute stürmten auf uns ein, andere schrieen, überall klirrte und krachte es. Irgendwo in dem ganzen Gewirr sah ich Yasemin, die versuchte, sich zu mir durchzukämpfen. Mit aller Kraft versuchte ich, mich Rongas Griff zu entwinden, doch es war, als wolle man eine geschickt gebundene Schlinge vom Hals lösen. Je mehr ich zappelte, desto fester wurde sein Griff. Nick holte seinerseits aus. Der Schlag ging ins Leere. Wo war Luv in all dem Gewühl? Sie würde doch nicht hier vor all den Leuten... „Nick! Raus hier!“ Irgendwie bekam ich eine Hand frei und drehte mich blitzschnell zu Ronga um. Nick stand unschlüssig da. Keine Spur von Luv. Dann sah ich gar nichts mehr. Mit einem dumpfen Knall streckte mein Gegenüber mich nieder. Von weiter Ferne erreichte mich seine Stimme. „Ich sagte, es reicht.“ Dass er tatsächlich einmal verärgert klang, war für mich wie ein weiterer Schlag. „Morgen Abend“, wiederholte er und dann hörte ich, wie seine Schritte sich von mir entfernten. Mühsam rappelte ich mich auf und nahm mit einer Mischung aus Dankbarkeit und verletztem Stolz wahr, wie Nick und Jazz mich auf dem Weg nach draußen stützten und schließlich in ein Taxi einluden. Kapitel 11 ---------- So, es geht nach längerer Pause weiter mit Blind Dragon. Hoffe, die Zeit ist euch nicht zu lang geworden. Nachher habt ihr die Geschichte schon vergessen... ? *schäm* Ich habe meine Zeit damit verbracht, mich an mein Studium zu gewöhnen und ein Ende für Koris kleines Abendteuer auszutüfteln. Ich war erfolgreich! *immer noch nicht glauben kann* Außerdem ging es handschriftlich weiter und jetzt, wo das Gerüst für das Ende auf sicherem Grund steht, fange ich an, die nächsten Kapitel abzutippen und online zu stellen. Im Voraus sorry... Es wird ziemlich fies, aber ich habe mir große Mühe gegeben, von allzu detaillierten Leidensschilderungen Abstand zu nehmen. (Immer hat’s nicht geklappt *hmpf*) Davon findet man im Netz schon mehr als genug... Sadistic Teenies... *hüstel* Die lustigen Stellen sollen das Ganze etwas auflockern, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich damit nicht eher das Gegenteil erreicht hab... hehe. Kontrastwirkung und so... Inhaltliche Fehler, insbesondere in den Bereichen der Biologie und der Arbeitsweise der Polizei, bitte ich zu vernachlässigen. ^__^ Meine Stories waren schon immer etwas abseits jeglicher Logik. Davon können euch meine bisherigen Kritiker ein Lied singen *g* Bin jedenfalls gespannt, wie euch die nächsten Kapitel und das Ende gefallen. Besonders auf Letzteres freu ich mich schon *hibbel*. Weiterhin viel Spaß beim Lesen : ) PS: Das mit dem Präsenz ist Absicht-- -- In meinem Sichtfeld ist es knallbunt. Von außen die Reklamen, von innen, hinter meinen Augenlidern, die tanzenden Punkte, die mir Rongas kräftige Rechte beschert hat. Mitten in diesem Fiebertraum aus Licht und Farbe längst verschüttete Erinnerungen. Der Geruch verdreckten Meerwassers, die entsetzlich grelle Sonne, eiskalte Hände, noch kältere blaue Augen, dieses gottverdammte goldene Haar in meiner Jackentasche. Nur ein einziges. Ich schnappe nach Luft. Jazz tupft mit einem Tuch in meinem Gesicht herum. Blut. Der Geschmack von Salz und Metall. „Hey, Kori! Wer war das eben? Erde an Kori!“ So fühlt sich die Hölle an. Ich weiß es. Ich lebe darin schon eine... kleine Ewigkeit Ich jage den Gedanken fort. Das ist schon lang vorbei. „Ich kann nichts sehn“, höre ich mich flüstern. „Idiot, du hast ja auch die Augen zu.“ erklärt mir Nick. Noch mehr freue ich mich auf den Tag, an dem ihr beiden euch zum gegenseitigen Verhängnis werdet. Weiß sie das von Ronga oder ist das nur ihre unmenschliche Art von Humor? „Hey, Nick, kanntest du die Frau?“ will Jazz wissen. Er sagt nichts, aber vielleicht schüttelt er den Kopf. „Ist der Kerl da besoffen? Wehe, der kotzt mir hier das Auto voll.“ Offensichtlich der Taxifahrer. Wir fahren Jazz nachhause. Sie hätte auch Jazz auswählen können. Vielleicht tut sie’s noch? Habe ich ihr Anlass dazu gegeben? Und ob! Ich habe versucht, sie, Luv; zu töten! Ach wie wundervoll wäre die Welt, wenn du das auch nur ansatzweise könntest! Was ist mit dem Mann, der das Auge des Orion wollte? Ist Rick unbeschadet nachhause gekommen? Yasemin steigt aus. Ein herzlicher Kuss auf die Wange für mich, ein kumpelhaftes Schulterklopfen für Nick. Und ihre Telefonnummer. Sie mag ihn und sie hat Freundinnen. Er findet jemanden, wenn er nicht vorher stirbt. Wir fahren zu zweit weiter. Die Fahrt zur Villa wird uns ein Vermögen kosten. Weiß Luv schon, wo er wohnt? Sie wird es rausfinden, weil ich bei ihm wohne. Er ist praktisch tot. Na ja, ich bin ja zu ihm gezogen, weil er mir (nicht) egal ist. Trotzdem ein Fehler. Ich hätte allein bleiben sollen. Woher die dumme Idee, mit Jazz zusammen zu sein? Wir könnten uns den Platz einfach teilen. Was meinst du? Woher der Einfall mit (dem Jungen, den ich verbrannt habe) Rick? Ich brauchte doch eigentlich niemanden. Schon gar keinen Mitbewohner. Kalt. Mir ist so schrecklich kalt. Wir erreichen die Villa. Nick ist verwirrt, macht wie ein Fisch immer wieder den Mund auf und zu, gibt ein paar Worthülsen von sich. „Äh... Kori... Kannst du... äh... ähm... eben halt...“ Er öffnet plappernd die Tür. Eilig renne ich hinauf und hole meine ohnehin gepackten Sachen aus dem oberen Stockwerk. Dann stürme ich zur Haustür. „Ich muss weg“, sage ich zu Nick und reiße erneut die Haustür auf, die er gerade erst schließen will. Er packt mich am Arm. „Mooooment mal! Du gehst nirgendwohin! Du bist ja vollkommen durchgeknallt!“ „Und ob ich das tue!“ „Zwing mich nicht, dich zum Bleiben zu zwingen.“ „Schönes Wortspiel für einen geistigen Dreijährigen. Viel Glück dabei!“ Ich knalle die Tür zu und will gerade wieder zum Taxi laufen. Der Fahrer wartet noch auf seine Bezahlung, aber erst einmal wird er mich hier wegbringen. Nick kommt mir nachgelaufen und erreicht mich tatsächlich kurz bevor ich einsteige. Er zerrt mein Ohr vor sein Gesicht und flüstert: „Cunno.“ Meine Beine geben nach und alles wird schwarz. Kapitel 12 ---------- Ich erwachte auf dem Bett meines vorübergehenden Zimmers. Es war ausgerechnet Nicks wütende Stimme, die mich aus dem Tiefschlaf riss. „Sie können ihn doch nicht einfach mitnehmen! Haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl?!“ Polizisten liefen durch das Erdgeschoss. Die konnten nur meinetwegen hier sein. Blitzschnell war ich auf den Beinen und öffnete das Fenster. Was für ein Glück, dass ich in voller Montur auf das Bett gelegt worden war. Wäre es anders gewesen, hättest du auch ein paar schöne bunte, faustgroße Flecken im Gesicht gehabt, Nick. „Mischu-san“, hörte ich einen freundlichen Beamten von unten sagen. „Dies hier ist keine Hausdurchsuchung, sondern eine Festnahme. Dafür brauchen wir in diesem Fall keinen Durchsuchungsbefehl, sondern einen Haftbefehl und den sehen sie hier. Ist Virgin-san nun im Hause oder nicht?“ Nein, dachte ich. Ist er nicht. Wenn er sich von dem Gespräch lösen und aus dem Fenster klettern kann. Genau das konnte ich jedoch nicht. Der Fluchtweg lag offen vor mir, ich würde nicht einmal fliegen müssen und selbst das wäre möglich gewesen. Aber ich musste ja unbedingt dem Gespräch dort unten lauschen, ohne mich einen Zentimeter zu bewegen. Warum war es mir so ein großes Bedürfnis, zu erfahren, was Nick dem Beamten sagen würde? Nun, er sagte: „Nein, er ist nicht da. Wüsste auch nicht, warum er hier sein sollte.“ woraufhin der Polizist wahrscheinlich lächelte. „Mischu-san“, begann er. Du kannst nicht lügen, dachte ich den Satz für mich zu Ende und kletterte endlich hinaus. Ich sprang ab und rollte mich unten geschickt über die Schulter ab... direkt zu Füßen einer Gruppe weiterer Polizisten, die in diesem Moment von allen Seiten auf mich zugestürmt kamen. „Kori Virgin, Sie sind festgenommen wegen dringenden Tatverdachts des Diebstahls in 52 und des Mordes in 4 Fällen. Mord? MORD?! Wie lang hatte ich geschlafen und was war in der Zwischenzeit geschehen? Hatte Ronga mich an die Polizei verraten? Mir bei dieser Gelegenheit gleich ein paar Morde angehängt, die er und/ oder Luv begangen hatten? Verdammt, ich hatte keine Zeit, jetzt festgenommen zu werden! Unsanft zog man mich vom Boden hoch. Ein jüngerer Polizist hielt sich für komisch, als er mir auf die gute alte amerikanische Weise meine Rechte nannte. „Sie haben das Recht…“ „Loslassen, oder hier brennt’s“, unterbrach ich ihn mit einem guten Maß Gelassenheit in der Stimme. „Dann addieren wir Brandstiftung gleich zu ihren Vorstrafen. Ich denke, das kann sowohl Ihnen als auch mir egal sein, denn das Strafmaß für Mord kennen Sie sicherlich.“ „Noch habe ich niemanden umgebracht“, antwortete ich. „Ich würde höchst ungern jetzt damit anfangen.“ „Machen Sie sich nicht selbst das Leben schwer“, gab der Polizist zurück. Unsanft schob man mich auf einen Streifenwagen zu. „Oh, mein Leben wird dadurch nicht leichter oder schwerer, dass ich ein paar wildfremde Menschen in Schutt und Asche lege“, erklärte ich zynisch. „Das Strafmaß für Mord kennen Sie ja sicherlich und den hab ich ja angeblich schon begangen.“ „Ärgern Sie ihn besser nicht. Zu Ihrem eigenen Schutz“, bestätigte mich Nick. „Vielleicht sollten wir die beiden auch auf Drogen testen lassen?“ schlug der lustige Beamte mit den amerikanischen Rechten vor. Langsam aber sicher hatte ich die Schnauze voll. Ich atmete tief ein und spürte augenblicklich, wie die Hitze meine Kehle hinaufkroch. Doch mit ihr kam noch etwas anderes an die Oberfläche: Das Bild von Rick, wie er halbtot auf dem Boden meiner rußgeschwärzten Wohnung lag. Was gab mir das Recht, Menschen, die nur ihre Arbeit machten, in lebende Fackeln zu verwandeln? Kontrollierte Wut – Und unkontrollierte, sagte Ronga irgendwo in meinem Hinterkopf. Ich kämpfte das Feuer nieder in dem plötzlichen Wissen, dass ich dazu nur fähig war, weil ein gewissenloser Verräter es mir beigebracht hatte. Statt eines Feuerballs stieß ich einen heftigen Seufzer aus und ließ mich ohne Gegenwehr abführen. „Ich verklage Sie!“ drohte Nick. „Wegen Hausfriedensbuch! Ruhestörung! Diebstahl! Sie können nicht einfach meinen einzigen Freu- äh Hausidioten mitnehmen!“ „Apropos Idiot“, murmelte ich. „Wir sind keine Freunde, Idiot.“ Hätte Jazz neben mir gestanden, hätte sie mir nun wohl gesagt, dass auch ich manchmal ein miserabler Lügner war. Mein Talent zum Lügen reichte allemal, um mich durch das Verhör zu schlagen und meinen armen Vernehmer zur Weißglut zu treiben. „Vielleicht“ begann er entnervt „hören Sie ja endlich auf, den Unwissenden zu spielen, wenn wir Ihnen was Schönes zeigen. Sakamoto-san, bringen Sie mir doch bitte den Gegenstand, den wir in Mischu-sans Haus gefunden haben. Mein Gesicht blieb regungslos, obwohl ich wusste, wovon er sprach, sobald ich das fehlende Gewicht in meiner Hosentasche bemerkte. Nick musste mir das Auge des Orion abgenommen haben, möglicherweise, um mich zum Bleiben zu zwingen und somit war es den Polizisten in die Hände geraten, während ich selig geschlafen hatte. Cunno... Was war das schon wieder? War es womöglich Nick, der mich verraten hatte? Mir fiel ein, wie wütend er gewesen war, als sie mich wegbrachten. Nein, Nick konnte nicht lügen und somit konnte er es auch nicht gewesen sein. Mein Verstand bot mir eine Vielzahl von Gründen, die das Gegenteil bewiesen, aber ich ignorierte sie. Ich glaubte einfach nicht, dass er es gewesen war. Vertrauen, nun fängst du doch wieder damit an. Unbehaglich rutschte ich auf meinem Stuhl herum. Wie erwartet brachte der Assistent meines Vernehmers das Auge des Orion und legte es vor mir auf den Tisch. „Zusätzlich zu dem hier haben wir Rick Muligan-san von der Arbeit abgeholt. Er hat versucht, sie zu decken, aber letztendlich bestätigte er, den Stein bei Ihnen gesehen zu haben.“ Andächtig senkte ich den Kopf, nahm mir eine Denkpause und hob ihn dann wieder. „Und wen habe ich umgebracht?“ Mein Gegenüber wurde noch eine Spur angespannter. Jetzt war er nicht mehr genervt, er war beinahe am Ende. Eine Weile rang er mit sich, dann antwortete er: „Halten Sie mich nicht zum Narren. Sie kennen die betreffenden Personen.“ „Sind sie kürzlich gestorben?“ Die Besorgnis in meinem Gesicht schien ihn zu irritieren. Nun war er es, der sich eine Pause gönnte, indem er einmal den Raum durchschritt und dann wieder zu mir zurückkam. „Ich denke, das reicht für heute. Wir haben genug, um Sie hier wochenlang festzuhalten. Die Zeit ist gegen Sie, Virgin.“ „Amen“, sagte ich. Wenig später saß ich in einer Zelle und starrte Löcher in die Luft. Durch das Fenster schien etwas Tageslicht hinein. Zeige einem Einzelhäftling nie die Sonne. Gedanken aus dem Nichts. Ich dachte an Luv und versuchte mich zu erinnern, was geschehen war. Zum ersten Mal seit Langem. Ich wusste, dass es einen Grund gehabt haben musste, dass ich mein Gedächtnis hatte manipulieren lassen. Ebenso war mir klar, dass Nick und Rick in Lebensgefahr schwebten und Jazz womöglich bereits tot war. „Die schlimmste Strafe ist nicht der Tod, sondern das Zurückbleiben.“ Mit fortschreitender Zeit befiel mich eine eigenartige Lethargie. Es kam mir vor als wäre ich woanders. So bekam ich kaum mit, dass die Tür meiner Zelle sich in den Abendstunden öffnete. Mechanisch folgte ich dem Uniformierten, der mich hinausführte. Man brachte mich in einen Raum, der bis auf einen Tisch und einige Stühle vollkommen leer war. Ronga stand an der Wand auf der anderen Seite. Sie hatte einen Spiegel, dessen Rückseite sicherlich durchsichtig war. Wie zwei Gladiatoren in der Arena standen wir uns gegenüber. „Schön dich zu sehen“, höhnte ich. Er schwieg, doch ich hatte den Eindruck, die Beleidigung ginge dieses Mal nicht so spurlos an ihm vorüber wie zuvor. Das zu sehen tat gut, machte mich aber auch nervös. Ich spürte einen leichten Stich in Höhe meiner Schläfen. Wütend versuchte ich, Ronga aus meinem Geist zu verbannen, doch er durchbrach meinen Schutzwall als wäre er aus Pergamentpapier und sandte mir ein Bild. Rick saß irgendwo in diesem Gebäude. Er wirkte abgekämpft, sah aus, als würde er gleich einschlafen. Wir setzten uns warteten bis mein Begleiter sich außer Hörweite zurückgezogen hatte. Dann sagte Ronga leise und mit großer Anerkennung in der Stimme: „Sie haben ihn lange verhört, aber es hat viel Zeit in Anspruch genommen, ihn zum Nachgeben zu bewegen. Ich halte ihn für sehr tapfer.“ Er ließ die Lautstärke auf pianissimo abfallen. „Wir gehen später. Und zwar zu dritt.“ „Luv, er und du“, stellte ich tonlos fest. „Nein“, erwiderte Ronga. „Rick, du und ich.“ „Macht dir das Spaß? Erst bringst du mich in diese Lage und dann spielst du den Samariter. Für so armselig hätte ich nicht mal dich gehalten.“ „Ich habe dich nicht in diese Bedrängnis gebracht.“ „Klar… Und Luv sitzt irgendwo und strickt Socken.“ Er schob mir ein Stück Papier über den Tisch, das ich auseinander faltete. 24 Stunden, las ich. Darunter Datum, Uhrzeit und Lavandes Unterschrift. Hatte ich ihre Handschrift jemals gesehen? Diese Linien passten jedenfalls zu ihr. Sie waren weit ausholend und der Stift kratzte. „Es war nicht leicht, die Herren beim Einlass davon zu überzeugen, dass dieses hier ein absolut ungefährliches Schriftstück ist.“ „Was soll das sein?“ „Ein Abkommen. 24 Stunden lang geschieht nichts. Sie schrieb es gestern Abend. Was deine Anschuldigungen angeht, habe ich eher deinen Auftraggeber im Verdacht. Den Mann, der dir regelmäßig dieses... Gebräu gab.“ Er schüttelte sich leicht. Vielleicht eine Geste, die von seinem Wolfsdasein herrührte. „Vermutest du das, oder weißt du es, weil du mit ihm unter einer Decke steckst?“ fragte ich misstrauisch. „Ich fühle mich nicht zu Männern hingezogen“, sagte Ronga und lächelte beinahe entschuldigend. Dann wechselte er das Thema. „Der Stein ist vor wenigen Stunden entwendet worden und wie du meiner Gestalt entnehmen kannst, ist es dunkel. Ich bin hier, um dich hinauszubringen… und weil das Ultimatum abgelaufen ist, das ich dir gestellt habe.“ „Ein bisschen unfair, findest du nicht? Ich hatte gar nicht die Möglichkeit, dir den Stein zu bringen.“ „Es tut mir leid, dass es so gekommen ist, aber du hättest ihn mir auch so nicht gebracht. Sei ehrlich.“ Wohl nicht, gestand ich mir ein, sagte aber kein Wort. „Ich tue das wirklich nicht gern“, verkündete er, stand auf und ließ sich von dem Wachmann eine Münze geben. „Wirklich“, fuhr ich ihn an. „Und was soll ich deiner Meinung nach jetzt tun? Dir den Nobelpreis für Doppelzüngigkeit verleihen?“ „Die Quelle deiner Beschimpfungen versiegt wirklich nie“, antwortete er und lächelte wehmütig. Er ließ die Münze über seine Fingerknöchel tanzen. Ganz beiläufig, so schien es. Unwillkürlich senkte ich den Blick, um dem rollenden Metall zu folgen. Ich realisierte viel zu spät, dass Ronga sich nicht einfach zu beschäftigen versuchte. Tat er überhaupt jemals etwas, das nicht Sinn und Zweck hatte? Die Lethargie des Tages umfing mich erneut, begleitet von den Gedanken, die mir gekommen waren, als ich allein gewesen war. Jenen Worten, denen ich bewusst den Ursprung abgesprochen hatte und die mich dafür mit Alpträumen straften. So fühlt sich die Hölle an. Der Raum verschwamm mir vor den Augen, als Ronga in gleichmäßigem Tonfall zu sprechen begann. „Schließ die Augen, denn es ist spät und du bist müde.“ Er hypnotisierte mich. Wo war der Wachmann, wenn man ihn brauchte? Wieder dieses leichte Ziehen in der Schläfengegend. Man konnte niemanden hypnotisieren, der sich nicht dazu bereit erklärte, aber wenn man gewisse Fähigkeiten hatte und ein bisschen nachhalf… Mir fielen die Augen zu. „Du gehst hinab. Die lange Wendeltreppe in deinem Geist hinunter. Unten angekommen wirst du die Kammer öffnen, deren Schlüssel du glaubtest, der Frau gegeben zu haben, die du für dessen Aufbewahrung bezahltest. Sie hat dich gewarnt. Erinnerst du dich?“ „Schick mich nicht da runter“, flüsterte ich matt, unfähig, nicht zu gehen. Ronga stieß mich unsanft in eine gut verschlossene Kammer voll mit verdrängten Erinnerungen. Kapitel 13 ---------- „Gute Nacht… oder sollte ich guten Morgen sagen?“ Ihre Stimme klang glockenhell und weckte mich. Ich fuhr hoch und blieb dann wie vom Donner gerührt aufrecht sitzen. Das Fenster stand offen. Leicht durch die Höhe gedämpft drangen die Geräusche der Via Etruria herein. Die Straße war nachts kaum befahren, doch man hörte deutlich die Stimmen der kleinen Grüppchen, die noch durch die Stadt schlenderten und davon gab es viele. Auf der Fensterbank saß eine junge Frau, weiß gekleidet und von Mond und Lichtsmog gleichermaßen in Szene gesetzt. „Was…?“ setzte ich an. „Shhhht! Weck ihn nicht.“ Marco schlief auf der anderen Seite unseres Zimmers, von Zeit zu Zeit leise schnarchend. Ein Sabberfaden reflektierte das durch’s Fenster einfallende Licht. „Wenn Lucia ihren großen starken Marco so sehen könnte“, grinste ich. Die junge Frau auf der Fensterbank lächelte. Ich musterte sie eingehend, versuchte in ihren Augen zu lesen, doch sie zwinkerte kokett, als ihr aufging, dass ich sie beobachtete. „Wer bist du?“ flüsterte ich und kam mir reichlich dumm dabei vor. „Ein Engel“, flüsterte sie zurück. Mich fröstelte. Irgendwie faszinierte sie mich. Ich wusste weder woher sie kam, noch wie sie hier hergekommen war und mit welchem Motiv. Dass sie nun auch noch wirr redete, machte sie nur noch interessanter. „Seltsamer Humor“, befand ich. „Darüber mache ich keine Witze“, entgegnete sie freundlich. „Ach nein?“ „Nein. Zieh dich um und komm mit raus. Wir fliegen. Dann hast du den Beweis.“ Das klang vielversprechend. Und gefährlich. Was, wenn sie nun vom Dach sprang, weil sie wirklich glaubte, sie könne fliegen? Besser, jemand war bei ihr, um sie von derartigem Unsinn abzuhalten. Vielleicht war sie betrunken. Ich tauschte T-Shirt und Shorts gegen tagesslichttaugliche Kleidung, wozu ich mich unter der Bettdecke verkriechen musste, da sie keine Anstalten machte, wegzusehen. „Schüchtern?“ fragte sie überflüssigerweise. „Ich kenn dich ja kaum 5 Minuten“, verteidigte ich mich. „Du wirst mich sicher kennen lernen“, versprach sie in samtweichem Ton. Verwirrt versuchte ich, aus dieser Bemerkung schlau zu werden. „Sprichst du immer in Rätseln?“ wollte ich wissen. „Im Gegenteil. Ich tue es nie.“ „Schon wieder.“ Sie hielt mir ihre Hand entgegen. „Kommst du?“ Ich warf einen zweifelnden Blick auf Marco. Sollte ich ihn mitnehmen, oder handelte er sich dann womöglich Ärger mit Lucia ein? Wollte ich ihn überhaupt bei diesem Abendteuer dabei haben? „Er ist hübsch“, bekundete sie listig. „Besonders, wenn er schläft.“ „Und er ist vergeben“, sagte ich eifersüchtig. Sie hauchte ein Lachen in den Raum. „Willst du dich von ihm verabschieden?“ „Ach was“, sagte ich leichthin. „Wir machen schon keine Weltreise. Wahrscheinlich fällst du vom Himmel wie ein Stein, Möchtegern-Engel.“ „Wie du meinst“, erwiderte sie knapp und zog mich zum Fenster hinaus. Wir kletterten auf’s Dach, was vom vierten von vier Stockwerken ausgehend kein ernstzunehmendes Problem darstellte. Unter uns erstreckte sich Tuscalano, ein kleines, verwinkeltes Stadtviertel Roms. Meine Heimat. Ich hatte aus der Republik Kongo fliehen müssen, in deren spärlichen Regenwäldern ich meine Kindheit verbracht hatte. Marcos Familie hatte mir über alle Hürden des „zivilisierten“ Lebens hinweggeholfen und mich dadurch wohl vor der Zukunft gerettet, die viele meiner Stammesgenossen ereilt hatte: Ein einsames Leben in der Großstadt mit der Flasche als bestem Freund. Wurde es mir der familiären Wärme zuviel, verzog ich mich seit je her an den Computer, wo ich kleine Programme schrieb und mich stetig weiterbildete. Selbst Marco zog es dann vor, mich nicht zu stören, obwohl ich ihn gelassen hätte. Wir waren wie Brüder großgeworden. Niemand verstand sich besser darauf, mich einzuschätzen als er. „Und jetzt?“ fragte ich herausfordernd, nachdem ich mich satt gesehen hatte. „Jetzt fliegen wir“, gab sie zurück und schubste mich vom Dach. Es kam völlig unerwartet. Ich fiel hinunter, doch statt in panischen Stillstand zu verfallen, machte sich mein Verstand an seinen Lagebericht. Ich werde nicht sterben, aber ich breche mir sicherlich was. Ich war 16 und liebte jede Art der Bewegung vom allseits gefürchteten Dauerlauf bei Signora Peretti bis zur Prügelei auf dem Schulhof. Langfristige Verletzungen, ein Beinbruch etwa, kamen für mich einem Todesurteil gleich. Die Stockwerke zogen gnadenlos an mir vorüber. (Vier) Ich muss Halt finden! (Drei) Ich riss die Arme auseinander, tastete wild umher, ohne jedoch irgendeinen Vorsprung des Altbaus zu Erreichen. Ich vermisste die rettende Fahnenstange aus den Comics. (Zwei) Ich muss fliegen! Absurder Gedanke. Einfach die Flügel ausbreiten und… (Eins) …fliegen? Der Wind fegte durch die Gassen und schleuderte mich zurück in die Höhe. Ich hörte Stoff zerreißen, doch das Geräusch schien mir verspätet wie der Donner, der dem Blitz folgte. Es war mein Lieblingshemd, dessen Rücken jetzt vollkommen zerrissen war. Dort wo es meinen Rücken bedeckt hatte, prangten zwei Flügel, in Form und Gebrauch ähnlich denen einer Fledermaus, nur rotorange und natürlich sehr viel größer. „Drachenflügel“, staunte ich. „Verdreh dir nicht den Nacken!“ rief sie mir zu und schwebte heran, von weißen Engelsflügeln getragen. Ich hörte auf, mir über die Schulter zu schauen und starrte stattdessen sie an. „Du bist tatsächlich…“ „Dort drüben“, unterbrach sie mich. Ich folgte ihrem ausgestreckten Arm mit den Augen und erblickte eine große ovale Scheibe aus weißem Licht. Wie ein aufgehangener Spiegel stand sie senkrecht in der Luft. „Da rein?“ Sie nickte. Mir kam ein furchtbarer Gedanke. „Ich sterbe doch nicht gerade, oder?“ fragte ich verunsichert. Marco hatte mir Geschichten erzählt über Menschen, die, geleitet von Engeln, in den Himmel kamen, wenn sie starben. Ich fand das sehr befremdlich. „Noch lange nicht“ beruhigte sie mich. Also flogen wir wohl nicht in den Himmel. Mit kindlicher Neugier betrachtete ich das Tor. Wenn es nicht der Himmel war, was mochte dann dahinter liegen? Wie ich sehr bald feststellen sollte, hatte sie mich zwar nicht angelogen, als sie sagte ich würde nicht sterben, doch die ungetrübte Wahrheit war es auch nicht gewesen. Zwar hörte ich nicht auf zu atmen und mein Herz schlug weiterhin, doch in den nächsten Monaten starb etwas in mir an Freiheitsberaubung, Verrat und Mangelerscheinungen: Der Teil meines Wesens, der an das Gute im Menschen glaubte. -- Fremde zogen ihn aus dem verdreckten Wasser wie ein riesiges Stück Treibholz. Um seine Beine schlackerte ein Laken, das einmal weiß gewesen war. Nun war es grau und durchgeweicht, stand aber dennoch in krassem Gegensatz zu seiner fast ebenholzfarbenen Haut. Selbige war rissig und aufgesprungen vom salzigen Wasser. Einige Schürfwunden verunzierten seine Hände, Ellenbogen und Knie. Er war dünn und offensichtlich blind, sehr zum Ärger seiner Retter aber immer noch in der Lage, wild um sich zu schlagen und zu treten, sobald er Land unter seinen Füßen spürte. Verzweifelt versuchten die drei Männer und die junge Frau, ihn zu beruhigen, doch ihre Bemühungen brachten ihnen das genaue Gegenteil von dem, was sie wollten. Statt sich zu beruhigen, begann er in einer Sprache herumzuschreien, die für die Gruppe klang als spräche er rückwärts. „No, not scream“, probierte es der einzige unter ihnen, der wenigstens ein bisschen Englisch konnte. Hinter ihnen lag eine Stadt aus schäbigen Baracken. Ein Ort, an dem Bildung nicht weit verbreitet war. Der Junge erstarrte und lauschte gebannt. „Fu—friends it is“, sagte der Japaner etwas leiser als zuvor. „Not scream.“ Er schien zu verstehen. „Where…?“ brachte er unter großer Anstrengung hervor. „Nihon…“ Keine Reaktion. „Japan?“ Ein schwaches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Fremden. „Japan…“ wiederholte er, begleitet von einem erleichterten Seufzer. Dann sackte er einfach in sich zusammen. -- Das Lichttor hatte mich ohne Umwege in ein Gefängnis befördert. Die junge Frau war fort, genauso meine Flügel. An ihrer Stelle klafften zwei senkrechte, strichförmige Wunden auf meinem Rücken. Wie lang saß ich schon hier? Es war stockdunkel. War ich blind geworden? Vorsichtig tastete ich nach meinen Augen. Ich fand sie unversehrt an Ort und Stelle vor, senkte die Lider und rieb daran herum. Sogleich tanzten bunte Punkte in der Dunkelheit. Ich beschloss, dass es in diesem Raum schlichtweg kein Licht gab. Kälte kroch mir die Glieder und mein Magen knurrte. Ich versuchte aufzustehen, fiel jedoch vornüber. Erst jetzt fiel mir auf, dass meine Fußgelenke mit einer Kette verbunden waren. Vorsichtig betastete ich sie und fand einen Ring, der im Boden verankert war. Hier lief die Kette hindurch. Mein Blut sauste durch meinen Kopf als müsse es überall gleichzeitig sein, die Nackenhaare standen mir zu Berge. Kurzum: Ich hatte Angst. „Hey!“ brüllte ich. „Wo bist du verdammt noch mal!“ Wie auf ein Stichwort blitzte eine tragbare Leuchtstoffröhre auf und offenbarte mir, dass ich wirklich noch sehend war. Ihr Licht zeigte mir hohe Steinwände, teils mit eingeritzten Schriftzeichen. Die Grundform des Raumes war kreisrund wie bei einem Burgturm. Ich saß schutzlos in dessen Mitte; sie in der Deckung der Wand, an die sie sich lässig lehnte. Dabei beleuchtete sie ihr Gesicht von unten wie es Kinder so gern mit Taschenlampen tun. Zum ersten Male konnte ich sie mir in aller Ruhe ansehen. Ihr Haar war golden und fiel ihr in sanften Wellen auf die Schultern, die Haut des fein gemeißelten Gesichts war fast weiß, die Augen von einem so kalten, intensiven Blau, dass es mir den Atem verschlug. Die Werbebranche hätte sie wohl als unheimlich schön bezeichnet. Ich hingegen fand sie einfach unheimlich. „Willkommen“, begrüßte sie mich. „Sehr witzig!“ schrie ich sie an. „Was soll das?! Bring mich sofort wieder hier weg!“ „Sag mir deinen Namen, Kori.“ „Was?! Den kennst du doch schon, so wie’s aussieht. Lass! Mich! Hier! Raus!“ Wütend zerrte ich an meinen rasselnden Ketten. „Sag ihn mir“, wiederholte sie. „Egal, wie sinnlos meine Forderungen dir erscheinen mögen… Besser du erfüllst sie. Andernfalls darfst du mit grausamer Strafe rechnen.“ „Wenn das hier irgendein schlechter Scherz ist, dann wäre jetzt der Augenblick gekommen, mir das mitzuteilen“, fand ich. „Kein Scherz“, sagte sie, zauberte ein Bund Weintrauben hinter ihrem Rücken hervor und schob sich eine davon in den Mund. „Hunger?“ „Nein“, log ich trotzig. „Warum hast du mich hier hergebracht?“ Sie schwieg. Schaltete nur die Leuchtstoffröhre aus, um sie gleich wieder anzuknipsen. Dasselbe Spiel führte sie eine Weile fort. An. Aus. An. Aus. „Sag mir deinen Namen.“ An. „Ich bitte dich zum letzten Mal auf diese Weise. Danach zwinge ich dich.“ Aus. „Einen feuchten Dreck sag ich dir“, zischte ich zurück. An. „Wie du willst.“ Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick. Dann stand sie auf und sprach dabei sehr langsam weiter. „Was in den nächsten Tagen geschieht, das hast du zu verantworten. Es geschieht, weil du mir eine Banalität wie deinen Namen nicht mitteilen wolltest.“ Aus. Die Tür fand sie, ohne hinsehen zu müssen. Sie schloss sie auf, trat hindurch und warf sie hinter sich zu. Kapitel 14 ---------- „Ohayo gozaimasu“, sagte er und verbeugte sich gerade tief genug, dass es unterwürfig, jedoch nicht kriecherisch wirkte. Der Bewegungsablauf war so fließend als wäre er in Japan geboren. Sein Gegenüber erwiderte den Gruß in autoritärerer Manier, nahm dann wieder hinter seinem kleinen, überladenen Schreibtischchen Platz und musterte den jungen Mann auf der anderen Seite. Er trug eine winzige, randlose Brille mit leicht abgedunkelten Gläsern. Die wachen Augen dahinter verbarg sie kaum. Eine sehr diskrete Sehhilfe, die ihn ganz nebenbei um schätzungsweise zwei Jahre älter machte. So sah er nicht aus wie 17, sondern wie 19. Allerdings schien sie auch schon das Teuerste zu sein, was er besaß. Das Sakko, das ihm um die Schultern hing war ihm zu groß und hätte wohl billig ausgesehen, wäre es nicht so tadellos in Ordnung gehalten worden. Ähnlich verhielt es sich mit dem Rest seiner Erscheinung. Er war unauffällig und offensichtlich arm, wenn nicht sogar mittellos, doch im Gegensatz zu den Reicheren seiner Mitbewerber wirkte er sehr bemüht und aufmerksam. Tanaka-san, seines Zeichens Personalchef und rechte Hand des Geschäftsführers von Kodansha Technologies, mochte ihn irgendwie. In vorzüglichem Englisch begann das Vorstellungsgespräch. „Ihre Bewerbung ist äußerst merkwürdig. Sie haben nicht einmal einen Lebenslauf, oder ein Zeugnis beigelegt.“ „Ich besitze weder das Eine, noch das Andere. Meine Stärken liegen eher in der Praxis“, antwortete der Andere in ebenso hervorragendem Englisch. „Ich habe mein halbes Leben vor dem Computer verbracht und viel dabei gelernt. Wenn ich eins kann, dass ist es programmieren.“ Tanaka-san war äußerst amüsiert über diesen Enthusiasmus. Er fand es direkt schade, dass er den Jungen würde ablehnen müssen, weil er... nun, weil sein Vorhaben, hier Fuß zu fassen geradezu illusorisch war. „Virgin-san, Sie haben nicht einmal einen Abschluss, ihre Adresse, wenn ich das überhaupt so nennen kann, liegt im ärmsten Viertel der Stadt und ihr Japanisch ist dürftig.“ Er kratzte sich am Kinn und sammelte die Informationen aus der handschriftlichen Bewerbung. „... Wie lange leben Sie noch gleich in dieser Stadt?“ „Seit ungefähr zwei Monaten“, war die höfliche, bestimmte Antwort. Tanaka-san merkte dem Jungen eine gewisse Routine im Beantworten derartiger Fragen an. Er seufzte kaum hörbar. „Bei wie vielen Firmen waren Sie schon?“ Kurzes Suchen in einer schwarzen Mappe. Dann wanderte ein Stapel Papiere über den Schreibtisch. Tanaka-san staunte nicht schlecht, als er die Absagen von circa 30 Konkurrenzfirmen überflog. „Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt“, erklärte er. „Was machen Sie, wenn sie gerade keine Vorstellungsgespräche führen und Einstellungstests machen?“ Ehrgeiz hatte er wirklich, aber offensichtlich keinen Realitätssinn, wenn er es nach 30 Absagen immer noch versuchte... „Lernen“, antwortete Kori Virgin immer noch todernst. Vorbildlich, dachte Tanaka-san und musste sich Mühe geben, nicht zu lachen. „Naja, und nachts arbeite ich im Supermarkt.“ „Wo bleibt denn da der Schlaf?“ „In der U-Bahn. Hierzulande ist es da so schön still, dass man gar nicht anders kann, als zu schlafen.“ Nun musste Tanaka-san wirklich lachen. Kori lächelte freundlich, aber distanziert zurück. „Sie sind also fest entschlossen.“ „Das bin ich.“ „Ich kann mich über Sie nur wundern.“ „So geht es mir mit diesem Land, mit Verlaub gesagt“, plauderte Kori. Das Lächeln in seinem Gesicht wurde eine Spur breiter. Es hatte etwas Kaltes, Berechnendes. Wo hatte er in seinen jungen Jahren nur gelernt, so genau auf sich zu achten? Der Personalchef kannte kaum Erwachsene, die sich so unter Kontrolle hatten und Virgin war ein Teenager. „Sie werden sich gleich noch mehr wundern“, sagte er und gab dem Bewerber einige Blätter. „Das ist der Einstellungstest. Sie können ihn im Büro nebenan unter Aufsicht machen. Bringen Sie mich dazu, mich noch mehr zu wundern und bestehen Sie ihn besser als die Anderen.“ Tanaka-san hielt das für einen gelungenen Scherz. Sein Gegenüber hatte nicht mal ein Abitur. Er konnte froh sein, dass der Test englischsprachig war. Zu seinem großen Erstaunen verstand der Junge diesbezüglich keinen Spaß. „Sie sagen also, wenn ich bestehe und besser bin als die anderen Bewerber, bekomme ich den Job? Egal, ob ich einen Abschluss oder Berufserfahrung habe?“ „Ja“, bestätigte Tanaka-san und musste erneut sehr an sich halten, um nicht in Gelächter auszubrechen. Was für ein Spaß! Er beschloss, noch eins draufzusetzen und fügte hinzu: „Den Job, eine riesengroße Wohnung in bester Lage, ein Auto...“ „Lieber ein Motorrad“, unterbrach Kori und schrieb eifrig mit. „Den Führerschein brauch ich dann allerdings auch...“ „Gut, wie Sie wollen!“ Das war einfach göttlich! Dieser Junge war vollkommen verrückt! „Des weiteren finanziere ich Ihnen natürlich Ihre weitere Ausbildung, inklusive Studium, wenn Sie denn eines anstreben. Sie werden die beste Universität des Landes besuchen und zuvor natürlich eine namhafte Schule hier in der Stadt. Dafür werde ich mich persönlich einsetzen. Oh, und wenn Sie ein bisschen Hacking lernen, befördere ich Sie auf der Stelle in die Sicherheitsabteilung, die hier mit Abstand am besten bezahlt wird.“ „Gern. Sehr großzügig. Vielen Dank. Da bräuchte ich aber einen wirklich guten Rechner für zuhause.“ „Das Neuste auf dem Markt!“ versicherte Tanaka-san und schlug lachend mit der Faust auf den Tisch. „Perfekt“, freute sich Kori mit ihm. „Einen Moment bitte.“ Er kritzelte auf seinem Block herum und reichte ihm seine Mitschrift des Gesprächs. „Könnte ich das hier dann von Ihnen unterschrieben, beglaubigt und in zweifacher Ausführung bekommen?“ „Aber sicher, Sie armer Irrer!“ prustete Tanaka-san, setzte sein Zeichen unter das Blatt und gab es an seine Sekretärin weiter, die es sofort kopierte und beglaubigte. Sie warf ihrem Chef einen verwirrten Blick zu, als sie mit den Papieren zurückkam. Gleich darauf erklärte sie Kori jedoch gefasst, wo er den Test machen konnte. „Ich wünsche Ihnen viel Glück. Davon werden Sie sicher eine ganze Menge brauchen“, meinte Tanaka-san. „Entschuldigen Sie, wenn ich da anderer Meinung bin“, sagte Kori höflich. „Aber ich bedanke mich trotzdem und wünsche Ihnen meinerseits, dass Ihre Bilanzen wirklich so gut sind, wie sie es der Öffentlichkeit mitteilen. Sie werden etwas Geld brauchen, um Ihre neue Arbeitskraft zu fördern.“ Tanaka-san lachte wieder. Wenn er das seinen Kollegen auf der nächsten Besprechung erzählte! Was würde das für eine lustige Sitzung werden! „Oh, und noch was... Es ist mir etwas peinlich, deswegen wollte ich es nicht in unserem provisorischen Vertrag festhalten... Ich brauche die Hilfe eines Augenarztes, um mich wieder ans das Tageslicht zu gewöhnen... und einen Psychologen. Einen, der sich auf Hypnose versteht.“ „Bekommen Sie“, garantierte ihm Tanaka-san, denn er war ganz derselben Meinung, insbesondere was den Psychologen betraf. „Danke vielmals“, sagte Kori, verabschiedete sich und folgte der Sekretärin in das benachbarte Büro, um den Test zu machen. Sein zukünftiger Arbeitgeber kugelte sich noch immer vor Lachen, als die Tür des Büros hinter ihm zufiel. Es verging dem Personalchef jedoch blitzschnell, als er den Test eine Stunde später zurückbekam. Nicht nur hatte Kori die Programmieraufgaben spielend leicht und fehlerlos gelöst; nein, er hatte auch in vielen Fällen sehr viel innovativere Lösungen gefunden, als Tanaka-san sie in seiner ganzen Laufbahn von einem seiner Mitarbeiter gesehen hatte. An sein Wort und das kopierte Schriftstück gebunden, sah er sich gezwungen, die anderen Bewerber nach Hause zu schicken. Er nahm davon Abstand, diese Geschichte seinen Kollegen zu erzählen. Nur der Geschäftsführer und Eigentümer, Kodansha-san höchstpersönlich erfuhr davon und riet seinem Untergebenen, zu seinem Wort zu stehen, wenn er etwas auf sich hielt. Das Prinzip der Ehre wurde in seiner Firma immer sehr gepflegt. Einen Monat später hatte sich Kori die erste Arbeit (und einen satten Gehaltscheck) mit in die Dreizimmerwohnung genommen, die er mit Rick teilen würde. -- Zwei Tage ließ sie mich warten. Ein Bediensteter brachte mir Wasser und reichlich zu Essen. Auch meine daraus resultierenden Dringlichkeiten durfte ich verrichten, aber das war auch schon alles. Ich verschmähte die Köstlichkeiten, trank mäßig - und wartete. Am dritten Tag, falls mein Zeitgefühl noch funktionierte, kam sie zu mir in die Dunkelheit zurück. Sie brachte die Leuchtstoffröhre mit und einen anderen Gegenstand, den ich fürchten lernen sollte: Eine Videokamera mit langlebigem Akku und besonders großem Bildschirm, auf dem man sich seine Aufnahmen direkt ansehen konnte. Gerade außerhalb meiner Reichweite stellte sie das Gerät ab. „Bisher sehe ich nichts von deiner Strafe“, spottete ich. „Lass mich lieber gehen, statt leere Drohungen auszuspucken.“ „Du siehst dich also immer noch in der Lage, Forderungen zu stellen?“ Ich antwortete nicht. „Warum tust du das? Und was waren das für Flügel?“ fragte ich so gefasst wie möglich. „Drachenflügel in deinem Fall, wie du richtig bemerkt hast. Wie du sicher weißt, gibt es viele Teile der „menschlichen“ DNS, die zwar lesbar sind, aber deren Funktion nicht geklärt ist. Wenn es einmal soweit ist, wird man feststellen, dass es einige rezessiv vererbte Gene gibt, die für die Flügel verantwortlich sind. Bringt man den Träger dieser Gene in Gefahr, oder macht man ihn wütend genug, setzt sein Körper seine Substanz frei, die den Abschnitt für die Flügel aktiviert... Der Rest ist Magie.“ „Das beantwortet nur eine meiner Fragen und ganz nebenbei klingt es nach absolutem Schwachsinn.“ „Denk ein bisschen nach und es beantwortet dir beide Fragen. Zeit dazu wirst du zur Genüge haben, wenn du dir den Film angesehen hast.“ Ein hartes, eisiges Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Vorausgesetzt, du bist danach nicht... anders beschäftigt.“ Langsam kam sie auf mich zu, brachte ihr Gesicht ganz nah an meines. „Und nun... viel Vergnügen“ flüsterte sie. „Merk dir, was du in den nächsten Stunden fühlst. So fühlt sich die Hölle an. Ich weiß es. Ich lebe darin schon...“ ein amüsierter Unterton schlich sich in ihre Stimme. „... eine kleine Ewigkeit.“ Sie drehte sich um und schaltete die Kamera im Hinausgehen ein. Schnee aus schwarzen und weißen Punkten erschien auf dem Display. „Mach dir keine Sorgen, wenn du mal was verpassen solltest“, sagte sie noch. „Der Film ist kurz und wiederholt sich, bis ich mich dazu entschließe, ihn anzuhalten. Oh, und du hättest dich besser von deinem Ziehbruder verabschiedet. Jetzt wo du ihm das hier angetan hast, wird er dich sicherlich nicht wiedersehen wollen.“ Leuchtstoffröhre aus. Film ab. Die dominierende Farbe des Filmes war blutrot. Das Blut, das floss, gehörte Lucia, Marcos Freundin. Wer auch immer sie in Lavandes Auftrag getötet hatte, war ein guter Regisseur gewesen. Mir verschwamm die Sicht als sich meine Augen mit Tränen füllten. Im zweiten Durchgang sah ich, dass der Mörder, oder die Mörderin, falls sie sich doch selbst die Hände schmutzig gemacht hatte, eine Notiz dagelassen hatte, die in meiner Handschrift geschrieben hatte. Ebenso wie einen Haufen anderer kleinerer Indizien. Es folgte eine wohl heimlich gemachte Aufnahme von Marco in unserem gemeinsamen Zimmer. In blinder Wut hatte er die Sachen in meiner Hälfte durcheinandergeworfen und alles zertrümmert, was nicht niet- und nagelfest gewesen war. Zitternd und weinend hockte er auf seinem gemachten Bett, im Gesicht einen Ausdruck völligen Unverständnisses. „Alles nur für meinen Namen?“ fragte ich hilflos in den leeren Raum. Das Licht der Aufnahme beleuchtete die Wände. Um den Film nicht erneut ansehen zu müssen, las ich die Botschaften, die andere hier hinterlassen hatten. Zwischen Strichlisten und Worten in Sprachen, die ich nicht beherrschte, fand ich nach einer Weile einen Satz, den ich verstand. Ein Aufschrei entfuhr mir. Ich las: „Die schlimmste Strafe ist nicht der Tod, sondern das Zurückbleiben.“ Der Schrei war der erste von vielen. Ich schrie meine Wut, Trauer und Fassungslosigkeit hinaus bis meine Stimme mir den Dienst versagte. Irgendwann ließ ich mich kraftlos auf den Boden fallen. „Es tut mir leid“, presste ich hervor und vergaß dabei, wer Lucia letztendlich getötet hatte. In meinen Augen war ich es gewesen, als ich meinen Namen für mich behalten hatte und mit diesem Gedanken legte ich Luv den Grundstein für alles, was folgte. -- Yasemin hasste Klassenausflüge. Noch mehr hasste sie es, mit der Klasse ins Theater zu gehen. Nichts gegen das Theater, aber musste man es ihr denn wirklich mit langweiligen Analysen und Besprechungen verleiden? Folglich war sie alles andere als begeistert, hier zu sein und nun das: Man hatte ihre Karte zweimal gedruckt. Neben ihr stand ein ca. 16 oder 17 Jahre alter Junge mit demselben Platz, den sie belegte. „Es tut mir leid“, beteuerte die Frau hinter der Kasse. „Die Vorstellung ist komplett ausverkauft. Kann ich einem von Ihnen eine Vorstellung an einem anderen Tag anbieten? Selbstverständlich kostenlos.“ „Hören Sie, ich muss mit meiner Schulklasse da rein“, sagte Yasemin entschlossen. „Glauben Sie nicht, dass ich dazu Lust habe, aber ich muss nun mal.“ Die Verkäuferin zuckte hilflos mit den Achseln. „Junger Mann, sein Sie ein Gentleman und lassen Sie der jungen Dame den Vortritt. Ich bitte sie.“ Er entschuldigte sich auf eine umständliche Weise, die er nur aus einem schlechten Reiseführer haben konnte. In gebrochenem Japanisch merkte er an: „Ich muss... hinein... Ist sehr wichtig. Ich... nach Hause... Afrika. Morgen. Nur heute Theater für mich.“ Augenblicklich tat er Yasemin leid. Im Gegensatz zu ihr wollte er die Vorstellung wirklich sehen, aber man würde sie vermissen und angesichts der Tatsache, dass sie die Matheprüfung garantiert in den Sand setzen würde, brauchte sie diese Note hier, um im nächsten Jahr weitermachen zu dürfen. Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung, die beide zufrieden stellen konnte. Möglicherweise konnte er ihr erzählen, was geschehen war...? Nein, er konnte ja kaum Japanisch. Außerdem flog er morgen zurück in seine Heimat. Und sie nahm ihm seine einmalige Chance. Sie schämte sich. Doch dann plötzlich kam ihr ein Einfall. Sie beäugte ihn genau, worauf er nervös von einem Fuß auf den anderen pendelte. Sein Blick war unergründlich, wie eine Tarnkappe, die all seine Gedanken und Gefühlsregungen verbarg, was sie ein wenig nervös machte. Trotzdem. Sie würde sich nicht wie die arroganten Gänse in ihrer Klasse benehmen und ihn einfach rausdrängeln. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Wir... äh... könnten uns den Platz teilen. Was meinst du? So furchtbar dick sind wir ja nun beide nicht.“ Eher war das Gegenteil der Fall. Yasemin war ein burschikoses Knochengestell, das die meisten asiatischen Männer zudem überragte und musste sich deswegen so einiges von ihren Mitschülerinnen anhören. Selbst der Ausländer war noch einen halben Kopf kleiner als sie, doch schien sein Auftreten ihn größer zu machen. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, angesichts ihres Vorschlags, um gleich darauf wieder hinter seiner Maske aus Gleichgültigkeit zu verschwinden. Die Kassiererin betrachtete ihn Hoffnungsvoll, auch wenn man ihr ansah, dass sie die Lösung sehr ungewöhnlich fand. Schließlich nickte er und damit sollte sich für Yasemin ein langweiliger Theaterabend in Wohlgefallen auflösen. Sie schlenderten den Gang hinunter, ohne dass sich jemand traute, etwas zu sagen. „Wie viel Japanisch verstehst’n du?“ fragte Yasemin endlich. Sie machte nicht einmal den Versuch, ihn zu siezen oder irgendwelche Höflichkeitsformeln zu benutzen. Egal wen sie traf, sobald sie persönliches Interesse an ihrem Gesprächspartner hatte, vergaß sie die Höflichkeit sowieso. „Das Wesentliche“, erwiderte er freundlich. Von Unbeholfenheit und Dialekt keine Spur. „Wow, du sprichst wirklich gut“, bemerkte sie folgerichtig. „Moment mal... du hast doch nicht...?“ „Doch, hab ich“, gestand er verlegen. „Ich hab gelogen.“ „WAS?! Du Arsch!“ rief sie entrüstet, worauf sich augenblicklich alle umstehenden Leute nach ihnen umdrehten. Einige empörte Worte wurden im Flüsterton gewechselt. „Und ich naive, dumme Kuh hatte auch noch Mitleid!“ „Tut mir leid“, sagte er ehrlich bemüht und sehr viel leiser als sie. „Ich muss dort nun mal wirklich rein. Es steht ne Menge für mich auf dem Spiel.“ Es klang, als meine er es ernst. Sie schnaubte verächtlich, hatte ihm jedoch schon vergeben, weil sie selbst angesichts ihrer Größe gern solche Tricks anwendete, um etwas zu bekommen. Außerdem war er anscheinend trotz des verschlossenen Gesichtsausdrucks, den er immer noch hatte, auf seine Weise freundlich, ja vielleicht sogar sympathisch und interessant. „Also gut“, gab Yasemin gespielt pikiert nach. Wieder dieses flüchtige Lächeln. „Darf ich Euer Wohlerzogenheit dann zu ihrem Sitzplatz geleiten?“ fragte er übermäßig höflich und reichte ihr den Arm. „Wenn Sie mich nicht schon wieder bescheißen dürfen Sie, äääh... Fremder-san.“ Feixte sie zurück und hakte sich ein. „Kori“, stellte er sich knapp und ohne Umschweife vor. „Kori? Wie... Wie die Eiswürfel? Na das passt“, befand sie. „Ich bin Jazz.“ Sie hasste ihren vollen Namen und so hatte sie sich einen kurzen, bündigen Spitznamen angeeignet. „Jazz? Wie die chaotische Musikrichtung, die die Ohren beleidigt? Na unsere Eltern wussten scheinbar, was aus uns werden würde.“ Sie lachten beide. In der ersten Hälfte des Stückes quetschten sie sich noch Hinterbacke an Hinterbacke auf den Stuhl. Kori beobachtete das Geschehen auf der Bühne aufmerksam, kundschaftete aus, wer die Brosche tragen würde, die er für seinen seltsamen Auftraggeber stehlen sollte. Eines Tages war der Mann einfach in seinem Büro erschienen und hatte ihm ein Heilmittel gegen die seltsamen Krämpfe und die Hitze in seinem Rücken angeboten, die ihn seit der Begegnung mit Lavande heimsuchten. Im Gegenzug brachte er dem Mann, was dieser von ihm verlangte. In der Pause tauschte er unbehelligt den Stein in der Brosche gegen eine Fälschung aus. Fast immer hing den Gegenständen, die er stehlen sollte eine Legende über Magie und längst vergessene Zeiten an. Kori fand das amüsant. Ansonsten interessierte es ihn nicht. Die zweite Hälfte verbrachte Yasemin bereits auf seinem Schoß und von dem Stück bekamen beide nicht mehr sehr viel mit, weil sie viel lieber scherzten und sich gegenseitig anfuhren. Er war völlig entspannt und damit umgänglicher; sie hatte sich an seine Gegenwart gewöhnt und es sich in den Kopf gesetzt, mit ihm Freundschaft zu schließen. Als der Vorhang fiel, ruhte sein Kinn auf ihrer Schulter und er döste friedlich. Es sah aus, als würden sie sich beide schon sein Jahren kennen. Den gleichgültigen Ausdruck hatte sie mit ihrer ungewöhnlich offenen Art einfach von seinem Gesicht gefegt. Jazz war froh, dass er nicht morgen abflog. Kapitel 15 ---------- Als sie am nächsten Tag (wenn es denn Tag da draußen war) zurückkam, fragte sie mich erneut nach meinem Namen, doch der, den sie fragte, was nicht mehr derselbe. Sein Gesicht war eine Maske, seine Augen leer und seine Gedanken ein Wirrwarr aus Gleichmut, Abscheu und nagenden Schuldgefühlen. „Kori“, sagte er zu ihr und der Kerl hatte meine Stimme. „Ich bin Lavande“, teilte sie mir mit, als wäre dies ein Kaffeekränzchen. „Freut mich“, entgegnete der Fremde und benutzte dabei immer noch meine Stimme. Plötzlich kam mir etwas in den Sinn, was Marco - ein Sprachfanatiker sondergleichen - mir einmal gesagt hatte. Er hatte behauptet, Kori wäre das japanische Wort für „Eis“. Er hatte mir sogar das Schriftzeichen dafür gezeigt und es hatte mir gefallen. Dennoch hatte ich es damals als unpassend empfunden. Jetzt allerdings, beschloss ich, dass es passen würde. Ich würde zu diesem Fremden werden, der mit meiner Stimme sprach, meinen Namen hatte und ihr mit meinen Augen zuschaute, wie sie die Kamera mitnahm. „Ich hab mir die Wände angeschaut. Meine Vorgänger kürzen dich „Luv“ ab. Kommt das von deiner grenzenlosen Nächstenliebe?“ Darauf lachte sie. „Das tun sie, ja. Ich weiß nicht, wie sie darauf gekommen sind. Vielleicht habt ihr in eurer Blutlinie so eine Art Familienhumor. Es ist jedenfalls sehr amüsant, finde ich.“ „Fand ich auch.“ Blutlinie? Meinen Geschwistern war nie etwas geschehen. Wie konnte ich also einen Vorgänger aus meiner Blutlinie hier gehabt haben? Meine Eltern vielleicht? Was war aus ihnen geworden? Sie ging zur Tür, öffnete sie und schaltete gleich darauf die Leuchtstoffröhre aus. Ich lauschte auf die Worte des Fremden, dessen Name „Eis“ bedeutete. „Luv?“ hob er an und ich stimmte ein. „Ja?“ „Verstehe ich dich richtig? Jedes Mal, wenn ich mich widersetze, stirbt jemand?“ „Exakt“ „Und was passiert, wenn du meinen Widerstand nicht überlebst?“ „Nun, dann sollte alles vorbei sein. Das ist die logische Konsequenz, oder?“ „Ja“, stimmten der Fremde und ich ihr zu. „Das ist sie wohl...“ „Und was tust du, bis du es schaffst?“ fragte sie neugierig, so als wäre es selbstverständlich, dass ich in Erwägung zog, sie umzubringen. „Keinen Widerstand leisten. Das ist die logische Konsequenz, oder?“ „Ja“, ging sie auf meinen makabren Scherz ein. „Das ist sie wohl...“ Fortan nahm sie mir nicht nur die räumliche Freiheit, sondern sämtliche Rechte, die ich in jeder funktionierenden Gemeinschaft gehabt hätte. Ich wurde unfrei in dem, was ich sagte und erst recht in dem, was ich tat, doch was immer sie mir auftrug, ich erledigte es augenblicklich. Mein einziger Widerstand bestand daran, dass ich ihr das Vergnügen missgönnte, die Früchte ihrer kleinen und großen Grausamkeiten zu ernten. Ich tat, als wäre mir alles egal, wurde nach und nach zu dem eiskalten Fremden, der ich sein wollte. Zwischen uns entbrannte ein Wettstreit. Sie dachte sich immer listigere Schikanen aus, um mir wenigstens einen verärgerten Seufzer zu entlocken. Ich reagierte im selben Maße wie sie sich anstrengte mit Gleichgültigkeit, was sie von Neuem anstachelte. Schließlich war sie es leid und ließ mich einfach in dem stockdunklen Raum, ohne mich weiter zu beachten. Ich wähnte mich dem Siege nahe. Entweder sie würde mich töten, oder sie würde mich freilassen. Angesichts des Lebens, das ich hier führte, war mir beides mehr als recht. Ich hatte keine Ahnung, dass es sich bei dieser Pause nur um die Ruhe vor dem Sturm handelte. Sie gab mir Zeit, mich etwas von körperlicher und seelischer Folter zu erholen, während sie weit zum Gegenschlag ausholte. Geduldig wartete sie, bis ich mir sicher war, das Leben hier irgendwie hinter mich bringen zu können. Erst dann kam sie wieder zu mir in die Kammer, statt der Leuchtstoffröhre eine Kerze in der Hand. Ist ihr der Strom ausgefallen, oder hat sie heute einen romantischen Tag? Ein gehässiges Grinsen breitete sich in meinem Verstand aus. „Wie geht es dir?“ fragte sie zärtlich. „Wunderbar!“ rief ich aus. „Wie romantisch... Heute mit Kerze?“ „Man vermisst dein loses Mundwerk fast, wenn man es dir verbietet, oder dich lang nicht besucht. Nur weiter.“ Damit verdarb sie mir den Spaß am Spott. „Sei jetzt spontan“, sagte ich, was für jemanden, zu dem man dies sagte ein Ding der Unmöglichkeit war. Ähnlich verhielt es sich mit „Hey Kori, hab jetzt eine große Klappe.“ „Verstehe... Vielleicht sollte ich dir das als Aufgabe stellen, um zu testen, ob es unter extremen Bedingungen entgegen der landläufigen Meinung doch funktioniert.“ Ich verfluchte mein loses Mundwerk. Nun brachte ich sie auch noch auf Ideen. Ich unterdrückte den Impuls, mir auf die Unterlippe zu beißen, versteckte meine Nervosität gründlich in der untersten Schublade meiner Gedanken. Dass ich keine schnippische Antwort hatte, gab ihr jedoch Auskunft genug über meinen Gemütszustand. „Keine Sorge. Vorerst hab ich was Besseres.“ Langsam schritt sie bis auf Armeslänge an mich heran. Sie kniete sich vor mich, sodass unsere Gesichter auf gleicher Höhe waren und brachte die brennende Kerze genau zwischen unsere beiden Gesichter. „Auspusten bitte“, bat sie kokett. Ich blies die Kerze aus. Dunkelheit legte sich über den Raum wie ein Schleier. Der Geruch von auch stieg mir in die Nase. Ihr Gesicht kam näher an meines, ihre Hände legten sich auf meine Schultern. Ich spürte ihren Atem auf meinen Wangen. Es war absurd, aber ich glaubte zu wissen, dass sie lächelte, bevor sie ihre Lippen auf meine legte. Ich gab einen erstickten Laut von mir, stieß sie von mir, zu Tode erschrocken, so heftig, dass sie fast bis an die gegenüberliegende Wand schlitterte. Mit einem metallischen Poltern fiel die Kerze samt Halter zu Boden und rollte ein Stück weit. Sie folgte dem Geräusch, hob die Kerze auf und entzündete die Flamme erneut. „Ich würde sagen“, begann sie, als sie sich zum Gehen wandte „diese Runde geht an mich.“ Nur kurze Zeit später brachte sie mir ein Videoband, auf dem ich meinen „italienischen Eltern“, wie ich sie nannte, beim Sterben zusehen konnte. Ich hätte es wissen müssen, dachte ich, angeekelt von ihr und von mir selbst. Warum sollte sie mir das Privileg eines eigenen Körpers lassen? „Du bist so dumm“, tadelte ich mich. „Herzlichen Glückwunsch. Nun bist du schon ein dreifacher Mörder.“ -- „Kori! Mann! Aua! Wach endlich auf!“ Jazz schüttelte ihn heftig. „Dass du rumrollst und Müll laberst, weiß ich ja, aber dass du im Schlaf auf deine Mitmenschen einschlägst, ist mir neu.“ Kori versuchte, seinen Atem wieder in einen langsameren Rhythmus zu zwingen. „Sorry...“ entschuldigte er sich betroffen. „Schon vergessen“, gab sie zurück und machte eine wegwerfende Bewegung. Sie kuschelte sich an ihn. „Alles okay?“ „Hm“, brummte er, gewohnt einsilbig. „Denk schon.“ „Hm...“ wiederholte sie nachdenklich. Seit einigen Tagen brannte es ihr auf der Seele, was sie gesehen hatte. Warum musste es ihr gerade jetzt wieder in den Sinn kommen? Sie beschloss, dem sinnlosen Weglaufen ein Ende zu machen. Sie musste fragen. „Wo wir bei schlaflosen Nächten sind... Wem gehörte das goldene Haar in deiner Jackentasche?“ „Du hast das also gesehen...“ sagte er abwesend. Sie spürte deutlich wie er zusammenzuckte und das versetzte ihr einen Stich. Dennoch zwang sie sich, abzuwarten, wie er es erklären würde. Sie wollte ihm vertrauen. „Ich hab nichts mit ner Anderen, wenn das dein Verdacht ist“, versicherte er. Zu diesem Zeitpunkt stimmte es sogar noch. Kori wusste nicht, wie das Haar in seine Tasche gekommen war, doch es zu finden war ein Schock gewesen, der die Alpträume verschlimmert hatte. Darum, dachte er, hatte er wohl auch um sich geschlagen. Natürlich war sie keineswegs überzeugt. „Was dann...?“ fragte sie und er hörte deutlich, dass sie mit ihrer Stimme rang, die sich gern überschlagen und wütend herumschreien wollte. Er atmete tief ein. Das Geräusch war kein durchgehender Luftzug, sondern zitterte. Offensichtlich musste er sich zu irgendetwas überwinden. Ein Geständnis? „Also gut“, entschloss er sich schließlich und kletterte aus dem Bett, das sie teilten. Also gut, was? Also gut, es ist Schluss? Raus aus meiner Wohnung? Ängstlich folgte sie ihm ins Wohnzimmer. Er kramte in Schubladen. Suchte er nach Sachen, die sie hier vergessen hatte? Yasemin brach der Schweiß aus. Ihre Hände und Füße gefroren. „Kori...?“ fragte sie zögerlich. Er kam mit einem Schriftstück zurück, nicht mit den wenigen Habseligkeiten, die sie bei ihm ließ. Hauptsächlich waren es sowieso Pflanzen, die nicht mehr in ihr Zimmer passten, wie ihre Eltern behaupteten. Die Tatsache, dass ihre Tochter sich nicht mit dem Stadtleben anfreunden konnte, obwohl sie hier geboren war, und deshalb jedes Zimmer, das sie benutzte mit Pflanzen voll stopfte, missfiel ihnen sehr. Kori hingegen fühlte sich wohl in der grünen Oase, in die sich seine Wohnung seit ihren regelmäßigen Besuchen verwandelt hatte. Er war nur froh, die Pflanzen nicht selbst pflegen zu müssen. „Das klingt billig, aber ich weiß nicht, wie das Haar in meine Tasche gekommen ist. Ich habe nur angesichts der Alpträume einen Verdacht.“ Mit diesen Worten gab er ihr den Zettel. „Was ist das?“ fragte sie, immer noch mit brüchiger Stimme. „Eine Art... psychologisches Gutachten. Die Bestätigung, dass Teile meiner Erinnerung durch Hypnose... vergraben sind, ich aber ansonsten relativ normal ticke.“ Er schaute zu ihr rauf und zum ersten Mal fühlte es sich an, als wäre er wirklich kleiner als sie. „Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen“, sagte sie verunsichert. „Ich hab das damals machen lassen“, erklärte er, weil ich mit den Erinnerungen nicht leben wollte. „Dummerweise kommen sie zurück... Zumindest glaube ich das. In Form der Alpträume. Ich weiß nicht, ob es so abgelaufen ist, wie ich es träume, aber die Hauptperson in diesen Träumen hat goldblondes Haar. Vielleicht ist das Haar von ihr.“ Yasemin betrachtete das Schriftstück, dann wieder ihren Freund. „Dir ist klar, dass diese Erklärung verdammt wackelig ist, ja?“ fragte sie und wurde langsam wirklich sauer. „,Das hat eine Frau aus meinen Alpträumen da reingelegt’ rangiert auf der Liste der überzeugenden Ausreden auf Platz 90.“ „Auf einer Skala von 1 bis 10“, versicherte er ihr. „Ist mir klar, solang dir klar ist, dass ich mich gerade völlig vor dir entblöße und die Wahrheit fast immer am unglaubwürdigsten klingt.“ Dieser Ausdruck in seinem Gesicht... Der war neu. Was war das? „Ich hab wirklich Angst“, erklärte er. Seine Stimme zitterte, klang aber nicht flehend oder schrill, was die Äußerung nur noch schlimmer machte. „Vor ihr und davor, dich... Ach, den Mist sagen sie in den dummen Filmen immer. Du weißt schon was ich meine.“ Minuten vergingen. Keiner der beiden sprach. Yasemin überflog das Gutachten in ihren Händen. Es enthielt unter anderem eine Klausel, die darauf hinwies, wie persönlich dieser Brief war und das damit entsprechend umzugehen war. Die Methoden, mit denen verfahren worden war wurden genau erklärt und auch, dass dies auf Wunsch des Patienten und gegen den Rat der Psychologin geschehen war, die das Dokument unterzeichnet hatte. Jazz kämpfte lang mit sich, doch entschied sie sich letztendlich dafür, ihm zu glauben. Immer noch stand er ihr schweigend gegenüber, den Blick auf den Boden geheftet. „Männer“, sagte sie und seufzte, als wäre sie genervt. „Du hättest ne stinknormale Thera machen sollen, wie jeder andere Mensch auch. An deiner Stelle würd ich das nachholen, aber flott.“ Sie piekste ihn in den kitzeligen Bauch. Kori hob den Kopf und bot ihr ein Bild grenzenloser Erleichterung dar. „Ich werde drüber nachdenken. Versprochen.“ Sie grinste. „Komm her du kleiner Schisser“, stichelte sie und schlang ihm die Arme um den Hals. Er stellte sich auf Zehenspitzen und küsste sie in den Nacken. „Du bist echt... n Volltreffer“, flüsterte er dankbar. Kapitel 16 ---------- Marco tötete sie aus Willkür. Auf dem Videoband sah ich, dass er sich gerade vom Verlust seiner Freundin und meinem Vertrauensbruch erholt hatte. Der Kontrast zwischen seiner wiedergefundenen Fröhlichkeit und seinem sehnsüchtigen Gesichtsausdruck, als er spürte, dass er starb, machten diesen letzten Film für mich am schlimmsten. Zudem war ich durch die Tatsache, dass Lavande die Festung meiner Intimität nach und nach eingenommen hatte, schwach und angreifbar geworden. Nicht einmal mehr meine eisige Gleichgültigkeit gab mir Schutz. Diese Ohnmacht, zusammen mit meiner Wut und einem einzelnen Sonnenstrahl, verhalfen mir schließlich zur Flucht. Lavande brachte, wenn sie mich besuchte, inzwischen keine Kerze mehr mit und auch das künstliche Licht blieb draußen. Ich wurde zu einem sich vorantastenden, blinden Maulwurf. Dafür wurde mein Gehör umso besser. Wenn sie den Raum betrat, konnte ich sie genau ausmachen und sogar die Geräusche von draußen hörte ich inzwischen durch das dicke Mauerwerk. Zumindest in den letzten Tagen, denn es hatte gestürmt. Ich war dünn geworden, denn inzwischen verweigerte ich erst recht die Nahrungsaufnahme, es sei denn, Luv zwang mich, was sie nicht öfter tat als es notwendig war, um mich am Leben zu erhalten. Meine ohnehin spärlichen Besitztümer hatten sich auf ein weißes Laken reduziert, das ich um die Hüften trug. In gewisser Weise war ich froh, mich nicht sehen zu müssen. Am selben Tag, ja es war hundertprozentig Tag gewesen, als sie mir das letzte Band brachte, machten der fortschreitende Verfall des alten Mauerwerks und wahrscheinlich diverse Kleintiere meinem lichtlosen Dasein ein abruptes Ende. In einer der Fugen zwischen den gigantischen Felsquadern bildete sich ein Loch. Ich war allein, als ich die Reste aus der Fuge zu Boden rieseln hörte. Verschwommen, aber gleißend hell bahnte sich ein Lichtstrahl den Weg von Wand zu Wand und bildete einen kleinen Lichtpunkt auf dem Gestein. Erschrocken versuchte ich, meine Augen scharf zu stellen, um den winzigen Fleck zu betrachten. Es war nur unter großer Anstrengung möglich. Wie lang hab ich kein Licht mehr gesehen? Der Anblick dieses Quäntchens Sonnenlicht war der Tropfen, der das Fass in mir zum Überlaufen brachte. Ich stieß einen unartikulierten Schrei aus, um meinem Zorn über das, was Luv meinen Freunden, meiner Familie und mir angetan hatte, Luft zu machen. Mit dem Schrei begann sich Hitze im Raum auszubreiten. Immer heißer wurde es. Auch dann noch als ich bebend, keuchend und mit halb geöffneten Mund dasaß und registrierte, wie die Ketten an meinen Fußgelenken zerschmolzen, ohne mir auch nur eine Brandblase zu bescheren. Druck baute sich auf, wurde stärker und stärker. Plötzlich flog mein Kerker einfach auseinander. Mir passierte nichts. Von irgendwoher vernahm ich alarmierte Rufe und schelle Schritte, während meine Sicht sich mit Licht füllte. Es war furchtbar. Viel zu hell für meine Augen, die sich so an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Ich wurde so heftig geblendet, dass sie mir tränten. Blind taumelte ich zwischen den Gesteinsbrocken hindurch, fiel vornüber, riss mir Hände und Knie auf. Die Rufe, die ich gehört hatte, wurden lauter. Eine derartige Explosion blieb nicht unbemerkt. Hastig sprang ich auf und zwang meine Beine zum Rennen, obwohl mein Verstand mir sagte, das sei unklug, da ich immer noch nicht richtig sehen konnte. Ich rannte einfach. Der Wind trug den Geruch von Salzwasser an meine Nase. Meer. Freiheit. Instinktiv lief ich stolpernd und schwankend darauf zu. Bis ich mit einem Mal keinen Grund mehr unter den Füßen hatte. Ich stürzte hinab ins Meerwasser. Panisch kämpfte ich mich an die Oberfläche und schwamm wie ein Besessener. Nur weg von hier. Weit genug weg, um entweder ein rettendes Ufer zu erreichen oder einfach zu ertrinken. Hauptsache, es hatte ein Ende. Ich fand nicht heraus, wo die Insel gewesen war, von der ich floh. Irgendwann erfasste mich unendliche Ruhe. Ich schwamm einfach und irgendwann hörte ich genauso einfach damit auf und ließ mich treiben. Wie viel Logik, wie viel Glück und wie viel Magie dabei im Spiel waren, weiß ich bis heute nicht, doch irgendwie gelangte ich lebend an die Küste Japans. -- In der Praxis hing ein Bild von einer weißen Taube. Kori betrachtete es eingehend, als er den Raum betrat. Das Tier saß in einer Zelle, eine riesige Bleikugel am Bein und schaute sehnsüchtig zu einem winzigen Fenster hinaus. Hinter den Gitterstäben war ein kleines Rechteck des Himmels zu sehen. „Ich dachte, Psychologen hängen sich nur nichtssagende Bilder in die Praxis“, wunderte er sich. „Wäre das nicht irgendwie langweilig?“ fragte die Psychologin freundlich zurück. „Es heißt „Frieden“. Der Maler hatte wohl einen Sinn für Ironie.“ Kori rutschte in dem Sessel herum, in dem er saß. Er hatte den Platz gewählt, auf dem er ihr gegenübersitzen konnte. „Sieht mir auch danach aus“, murmelte er. „Mein Vater brachte mir ein altes Sprichwort bei. „Zeige einem Einzelhäftling nie die Sonne.“ Das Bild erinnert mich daran. Deswegen hängt es hier.“ „Was passiert, wenn man’s doch tut?“ fragte er, damit sie weiterredete. „Nun... Er zerbricht daran, schätze ich.“ „Oder er kriegt endlich den Hintern hoch und befreit sich“, wandte Kori ein. In ihrem nachdenklichen Gesicht machte sich ein Lächeln breit. „Ein positiver Denker. Das sagte Tanaka-san schon, als er mich anrief. Stimmt es, was man sich über Ihre Bewerbung erzählt?“ „Was erzählt man sich denn?“ „Dass Sie ein überheblicher, größenwahnsinniger Dickkopf sind. Und alles andere als dumm.“ „Also ersteres stimmt garantiert“, meinte er trocken. „Hat das Tanaka-san gesagt?“ „Ja, das hat er“, stellte sie fest Kori lachte verlegen. Seine Haltung lockerte sich ein wenig. Er hörte auf, haarscharf an ihr vorbeizusehen, betrachtete die etwa dreißigjährige Frau. Die ersten Falten in ihrem Gesicht waren Lachfalten um die Mundwinkel und um die wachen grauen Augen. Ihre Bewegungen und ihr Blick wirkten ausgesprochen kultiviert. In krassem Gegensatz dazu standen die filzigen, ungezähmten schwarzen Locken, die ihren Kopf bedeckten und um ihre Schultern wallten. Sein Blick war reserviert freundlich. Ohne Mühe hielt sie ihm stand, sah jedoch weg, als sie spürte, dass ihm der Augenkontakt unbehaglich wurde. Sah sie ihn länger an, schob sich ein Schleier vor seinen Blick und seine Augen wurden so leer, als fühle er nichts. „Ehrlichgesagt...“ fuhr sie fort. „Habe ich, was ihre Intelligenz angeht so meine Zweifel. Nicht an Ihrem Intellekt, doch ich frage mich, ob sie wirklich wissen, was gut für Sie ist.“ Pause, damit er über das Gesagte nachdenken konnte. Sofort roch ihre überdurchschnittlich feine Nase seine wachsende Anspannung. „Tanaka-san sagte, sie wollen sich hypnotisieren lassen. Um Erinnerungen zu entfernen.“ Kori nickte. „Mir sagte er, das könnten sie“, erwiderte er und grenzte sich von ihr ab, indem er ein Bein quer über das andere legte, sodass eine Schranke entstand. „Nun... Ich kann sie manipulieren, ja. Aber ich halte davon nicht viel. Sie rennen vor ihrem Problem davon.“ „Wenn Sie können, tun Sie’s; wenn nicht, lassen Sie’s eben bleiben“, fuhr Kori sie an. Er merkte nicht, dass sich die Luft im Raum deutlich erwärmte, doch ihr entging es nicht und sie wusste es zu deuten. Ein Drache also... Und ein ziemlicher Hitzkopf. „Würde es Ihnen etwas ausmachen, die Temperatur dieses Raumes wieder auf ihren ursprünglichen Stand zu bringen?“ fragte sie freundlich. Verwirrung zeichnete sein Gesicht. Nur kurz. Dann feuerte er zurück: „Würde es Ihnen etwas ausmachen, das zu tun, worum Sie gebeten wurden?“ Der drohende Unterton in seiner Stimme kam so an wie er sollte. Ihre eigenen magischen Fähigkeiten waren begrenzt, das wusste sie. Sollte er sich dafür entscheiden, sie in Schutt und Asche zu verwandeln, würde er dieses Vorhaben ohne Schwierigkeiten in die Tat umsetzen können. Die junge Frau mit den Lachfalten hing an ihrem Leben, also nickte sie widerwillig. Wut machte sich in ihr breit, verschrie seine Dreistigkeit und Dummheit. „Vielleicht sind Sie nicht auf den Kopf gefallen“, seufzte sie. „Aber Sie sind eindeutig blind... und feige... Also gut, Sie haben mein Wort.“ „Werden Sie sich dran halten, wenn ich geistig abwesend bin?“ Anstrengung. Mühsame Beherrschung. Im ganzen Raum roch es danach. Sie lachte. „Sie sind es bereits, wenn Sie jemandem so einen Auftrag erteilen. Ich werde Sie nicht daran hindern, in Ihr Verderben zu rennen, wenn Sie meinen, mir drohen zu müssen.“ „Sehr gut, dann kann’s ja losgehen.“ Seine Augen fielen zu. "Stellen Sie sich eine Treppe vor. Eine Wendeltreppe, die weit, weit nach unten führt“, begann Sie und schob ihn mit einem leichten Zauber über die Grenze zu seinem Unterbewusstsein. Traditionelle Hypnose war bei weitem nicht so effektiv und für sie auch weit aufwändiger, wo der Zauber ihr doch so leicht von der Hand ging. Sie hatte die Fähigkeit von ihren Eltern. Ebenso wie die gute Nase, das wilde Haar und die Eigenschaft, bei Nacht auf vier Beinen zu gehen. Im Gegensatz zum Gründer ihres kleinen Klans war sie Taggeborene. Der Angespannte Körper im gegenüberliegenden Sessel sank in eine lockerere Haltung. Zeitgleich erschien das Bild der Treppe vor ihren Augen, so wie er sie sich im Geiste ausmalte. Gute bildliche Vorstellungskraft, wie sie es von ihm erwartet hatte. „Sie führt zu Ihren Erinnerungen. Je weiter sie hinabgehen, desto weiter gehen Sie in ihrer empfundenen Zeit zurück. Auf jeder Ebene befinden sich Türen. Hinter diesen liegen die Erinnerungen, nach denen wir suchen.“ Sie führte ihn an die Stelle, die kurz vor den Ereignissen lag, die er zu vergessen gedachte. Von dort aus ließ sie sich führen, sah die Erinnerungsfetzen, vor denen er sich fürchtete. Abscheu erfüllte sie. Und Mitleid. Sie hätte ihm gern langfristig geholfen. Als sie zum Ende kamen, gab sie ihm einen Schlüssel in die Hand und ließ ihn die Türen verschließen. Er war fleißig dabei und das machte ihr Angst. Auch die Erinnerung an seine Magie versiegelte er. Schließlich schickte sie ihn wieder hinauf. Nun hätte das Schema vorgesehen, dass er den Schlüssel behielt, doch sie entschied sich dagegen. Eine Weile würde er ein normales Leben führen können, doch was, wenn das Verdrängte sich auf magische Weise Luft machte? Er hatte Drachenblut und gehörte somit, wie sie selbst, zu den ältesten Lebewesen der Erde. Sein Feuer konnte Städte, Länder, ja ganze Kontinente zerstören, wenn es ungebremst aus ihm hervorbrach. Irgendeine Hintertür musste sie seinen Empfindungen lassen. So nahm sie den Schlüssel an sich und blendete sein Bewusstsein völlig aus. Er nahm sie nicht mehr wahr, während sie die Treppe erneut hinablief, eine der Türen wieder aufschloss und einen kleinen Spalt offen ließ. Früher oder später wirst du mit dem Geschehenen zurechtkommen müssen und dies hier wird dich daran erinnern. Vorerst ist es das kleinste Übel. Visionen wirst du sowieso haben, jetzt wo deine Kräfte erwacht sind. Möglicherweise sogar welche aus der Zukunft. Warum nicht auch welche aus deiner Vergangenheit? Immer noch war sie wütend auf ihn. Sie vernahm den trotzigen Unterton in ihren Gedanken sehr wohl und zog sich hastig aus seinem Geist zurück, um nicht in Versuchung geraten, ihm zu schaden. Sachte tastete sie nach seinem bewussten Denken und zog es wieder an die Oberfläche zurück. „Warten Sie draußen“, bat sie ihn, als er wieder bei vollem Bewusstsein war. „Ich gebe Ihnen ein Schriftstück, dass ihnen bestätigt, was hier vorgefallen ist. Nur für den Fall der Fälle...“ „Zu Risiken und Nebenwirkungen...?“ scherzte er sichtlich erleichtert. „Sozusagen“, gab sie zurück und wünschte sich nichts sehnlicher, als zu wissen, ob sie das Richtige getan hatte. Kapitel 17 ---------- „Shhht, es ist vorbei... Ganz ruhig...“ Langsam kehrte mein Geist zurück in die reale Welt und registrierte, dass der Körper, in dem er lebte zitternd in Rongas Armen hing, auf dessen Brust herumhämmernd, begleitet von einem Schwall wüster Beschimpfungen, nur um wenig später die Hände in sein Hemd zu krallen und laut zu schluchzen. Ronga spendete mir schweigend Trost, bis er spürte, dass mein Schamgefühl dies nicht mehr zuließ. Er löste behutsam die Umarmung und überließ mich wieder mir selbst. Hastig wischte die Tränen aus meinem Gesicht. „Willkommen zurück“, sagte er sanft. Hätte er dabei gelächelt, hätte ich nicht für sein Leben garantieren können. Immerhin hatte er das hier zu verantworten. Ich wollte ihn anschreien, doch dazu fehlte mir die Kraft. „Warum musste das sein?“ krächzte ich, vom Heulen heiser geworden. Wie lange hatte ich in diesem Raum gesessen und geweint? Was hatte ich sonst noch getan, während ich „weg“ gewesen war? „Weil die einzige Hoffnung darauf, dass dies alles ein Ende findet in dir und der Tatsache liegt, dass du im Vollbesitz deiner Kräfte bist. Das geht nicht, wenn du mit deiner Seele nicht im Reinen bist“, beantwortete Ronga meine Frage tatsächlich. „Bis vor kurzem war ich mit mir im Reinen“, schnappte ich. „Dann kam Lavandes Komplize dahergelaufen und meinte, mich noch mal durch meine kleine Privathölle schicken zu müssen. Die Firma dankt!“ Ich kämpfte die Tränen nieder, die erneut in mir aufstiegen. Einige entwischten mir dennoch. „Wie sagt ihr jungen Leute doch so treffend? Verarschen kann ich mich allein. Du wirst weder dich noch deine Kräfte im Griff haben, bevor du nicht mit ihr abgeschlossen hat... Und sie mit dir“, entgegnete er, ohne dass sich sein Tonfall auch nur eine Nuance dabei gehoben hätte. „Gehen wir.“ Er stand auf und trat auf den Wächter zu. Irgendwie sah er, Ronga, sehr müde aus. Wenigstens schien diese Reise in meine Vergangenheit für ihn anstrengend gewesen zu sein. Geschah ihm recht, dass er so geschafft war. „Ihre Münze“, sagte er freundlich zu dem Mann und drückte ihm das teuflische Geldstück in die Hand, das er sich von ihm geliehen hatte. „Vielen Dank“, antwortete der andere und klang dabei, als wäre er sehr weit weg. „Ich habe zu danken. Wir möchten dann jetzt gehen. Würden Sie bitte die Tür öffnen?“ Rongas Stirn legte sich für einen Sekundenbruchteil in Falten. Zeitgleich wurde der Blick des Wächters noch leerer, als er es schon in dem Moment gewesen war, da er die Münze angenommen hatte. Ronga brachte mich also tatsächlich fort von hier. Wie viel Zeit war vergangen? Ob es Jazz und den anderen wohl gut ging? Nervös spielte ich mit den Fingern an meinem Ärmel herum, während der Wachmann die Tür aufschloss und uns hinausgeleitete. Ungehindert schritten wir den Flur entlang. Ronga voran, ich brav hinterher. „Dan-ke“, maulte ich ihn an. „Das sagtest du bereits. Stör mich jetzt nicht“, gab er zurück. „Er ist schwer zu lenken. Ein furchtbarer Pragmatiker... Noch dazu mit einem Haufen psychischer Störungen. Außerdem ist dein Widerstand während unserer Unterredung derart gewachsen, dass ich zeitweise dachte, mir würde davon der Kopf zerspringen. Ich rechne mit zwei Wochen Migräne.“ „Migräne? Och, Hase, das tut mir so leid. Gerade jetzt, wo wir uns näher kommen...“ Gereizt drehte er sich zu mir um. „Muss ich dich erst wieder schlagen?“ Ich erinnerte mich an seine harte Rechte. Na sollte er doch. „Wenn’s dir Spaß macht“, antwortete ich sehr leise, was die Kälte in meinen Worten hervorragend zum Ausdruck brachte. Ronga schnaubte wütend, wandte sich jedoch nicht an mich, sondern an den Wachmann, denn wir erreichten einen neuen Abschnitt des Gebäudes. Vor uns tauchte ein weiterer Wächter auf, der seinen Kollegen und vor allem uns sehr misstrauisch beäugte. Auf Rongas Geheiß hin erklärte „unser“ Wachmann, dass ich freigesprochen wäre. Inzwischen wären Beweisstücke aufgetaucht, die auf den wahren Täter hinwiesen, erklärte Ronga dann selbst. Drei Videobänder, die er bereits an der entsprechenden Stelle abgegeben hatte. „An Grausamkeit und Eindeutigkeit kaum zu übertreffen. Ich würde niemals freiwillig bei der Polizei arbeiten“, fügte er an. Ich gab mir Mühe, meinen Unterkiefer nicht fallen zu lassen. Ein Karte wechselte den Besitzer als sich herausstellte, dass Ronga mein verteidigender Anwalt war und mich nun hinausbringen würde. Man betrachte das Objekt zunächst skeptisch, dann mit zunehmender Bewunderung. „Staatsexamen mit 23? Sie sind doch kaum älter. Und dann so gut im Geschäft...“ Er ließ sich lang und breit über einen Fall aus, den Ronga offenbar gewonnen hatte. Beeilt euch gefälligst! Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit! dachte ich ungeduldig. „Ich bin beeindruckt, Darey-san“, fuhr der Schleimbeutel fort. Seltsamer Nachname Mein ach-so-großer Befreier wirkte beinahe beschämt über das Lob. Er verbeugte sich tief. „Nicht doch, nicht doch“, entgegnete er in höchstem Maße bescheiden. „Ich war nur gut im Schummeln... Und schon immer furchtbar wissbegierig. In meinem nächsten Leben trage ich wahrscheinlich schon bei meiner Geburt eine dicke Nickelbrille.“ Allgemeines Gelächter. Ich schloss mich nicht an, obwohl ich zugeben musste, dass ich den Scherz sehr gelungen fand. Ohne weitere Widerworte ließ man uns gehen. Mein Lehrer dankte dem Wachmann für seine Unterstützung, befahl ihm zu vergessen, was er gesehen hatte als wir zu dritt in einem Raum gewesen waren und gab dann endlich dessen Gedanken wieder frei. Der Kerl konnte einem fast leid tun. „Rick befindet sich im untersten Stockwerk“, erklärte er. „Und: Nein, ich habe keinen Spaß daran, dich oder irgendwen sonst zu schlagen.“ „Zumindest nicht physisch“, wandte ich ein. „Psychisch noch weniger“, konterte er. „Ich hasse es... und wie ich schon sagte, tut es mir leid, gewaltsam in deinen Geist eingegriffen zu haben. Es wird nicht mehr vorkommen.“ Ein Teil von mir - der, der wusste, dass ich nicht vor meiner Vergangenheit davonrennen konnte - wollte ihm bereits verzeihen, doch ich war zu stolz, um Ronga das mitzuteilen. Stattdessen strafte ich ihn mit trotzigem Schweigen. Er wollte all dies beenden, hatte er gesagt. Doch er stand mit Lavande im Bunde, soviel hatte ich gesehen. Welche Rolle spielte er hier? Forschend blickte ich in sein müdes Gesicht. Ein flaues Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus. Warum laufe ich ihm eigentlich hinterher wie ein treudoofer Hund? Ich sollte abhauen, solange er mich lässt... Wenn er mich denn lässt... „Was passiert, wenn wir Rick abgeholt haben?“ war die Frage, die ich letztendlich laut stellte. „Wir sehen uns an, ob deine Feuertaufe gewirkt hat und er nun das tun kann, worum ich ihn gebeten habe“, antwortete er. Mit einem Schlag waren alle Gedanken an Lavande und Ronga Geschichte. „Feuertaufe“, flüsterte ich, mehr zu mir selbst. Mir tat das Ganze immer noch furchtbar leid. Dennoch beruhigte es mich, dass er Rick zur Sprache brachte. Was auch immer er über mich denken mochte, Rick hatte er wirklich gern. Da war ich mir sehr sicher. Er hatte ihn unter großer Anstrengung geheilt. Ich erinnerte mich an seinen sorgenvollen Blick, als ich den Jungen zu ihm gebracht hatte. Der lange Wolf und ich konnten uns nicht leiden. Dennoch hatten wir einen gemeinsamen Freund, dessen Wohlergehen uns wichtig war. Für’s erste schob dieser Gedanke Wut, Furcht und Unverständnis ein wenig beiseite. Mit einem Mal fiel mir auf, dass er mich beobachtete und meinen Gesichtsaudruck genau zu deuten wusste. „Du brauchst dich nicht dafür zu tadeln, dass dein Feuer ihn getroffen hat. Erstens erfreut er sich nun bester Gesundheit und zweitens hätte er früher oder später sowieso einen Drachen um die Feuertaufe bitten müssen. Ich hätte mir nur gewünscht, dass er dann schon stärker gewesen wäre. Etwas knapp war es wirklich. Ebenso wenig ist es deine Schuld, was Lavande getan hat. Du bist kein Mörder. Quäl dich nicht mit unnötigen Schuldgefühlen.“ Mitgefühl lag in seiner Stimme, die sonst so schwer erkennen ließ, was er dachte. Er versuchte tatsächlich, mich zu beruhigen. Schlimmer noch: Er war ziemlich gut darin. Wir stiegen in einen Fahrstuhl, der uns nach unten bringen würde. Wer zum Teufel bist du? Ein Mitfühlender Freund oder ein hinterhältiger Feind? Ich beschloss, das Thema von meiner Vergangenheit wegzulenken. „Wozu braucht er was für eine Feuertaufe?“ platzte ich heraus, sobald sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten und niemand mehr zuhören konnte. „Um an das Erbe aller Zentauren heranzukommen. Eine Fähigkeit, die sie von den Drachen – jenen, die nichts Menschliches an sich hatten - erhielten, als diese spürten, dass ihre Zeit auf diesem Planeten zuende ging. Seine Weißmagie ist nur ein winziger Teil seiner Macht. Vordergründig ist der Junge ein Wächter... Früher hätte er wohl auch einen exzellenten Waffenschmied abgegeben.“ Zentauren? Dieses Wort brachte irgendeinen Gedanken ins Rollen, den ich nicht recht greifen konnte. Also fragte ich weiter, um dem vielleicht auf die Spur zu kommen. „Wächter von was?“ „Alten Legenden... Erinnerungen ganzer Völker. Zentauren besitzen die Fähigkeit, mit Hilfe einer fast vergessenen Sprache auf die Erinnerungen ihrer Vorfahren und aller Wesen, die ihnen ihre Geschichten erzählten zurückzugreifen. Ein einziges Bild genügt dazu. Bevor sie jedoch nicht das Feuer eines Drachen überlebt haben, können sie dieses Erbe nicht antreten, weil es versiegelt ist.“ Zentauren, Zentauren, Zentauren, Zentauren. Immer noch kreiste das Wort in meinem Kopf herum und zog meine Aufmerksamkeit auf sich wie eine gutgemachte Neonreklame. Mir fiel der Streit mit Rick wieder ein. Seine Eltern hatten ihn eingesperrt, weil sie Angst vor seinen Fähigkeiten hatten. „Und weil sie Menschen sind. Vollständige!“ hatte er gesagt. Ich versuchte mir Rick auf vier Pferdebeinen vorzustellen, doch es wollte mir nicht gelingen. Bis mein Traum mir wieder einfiel. Pferdebeine. Ich hab den Jungen mit dem Pferd verbrannt. Den Jungen mit dem kopflosen Pferd. Natürlich war es kopflos. Die beiden gehörten schließlich zusammen. „Wer ist dieser Junge?“ fragte ich. Mir ging auf, wie wenig ich über meinen Mitbewohner wusste. „Ein Waise. Seine Eltern leben nicht mehr und vor ihren Nachfolgern musste er fliehen“, sagte er mit der Milde eines geduldigen alten Mannes. „Er lebte eine Weile bei mir, aber wer will schon mit seinem Lehrer zusammenleben?“ Ein verschmitztes Lächeln stahl sich in sein Gesicht. „Was es mit seinen Kräften auf sich hat, kannst dir später selbst ansehen. Sie funktionierten ähnlich wie deine Fähigkeit, die Wahrheit zu sehen. Die Wahrheit hinter der augenscheinlichen Wirklichkeit.“ Warum verstehe ich immer weniger, je mehr Antworten ich bekomme? fragte ich mich. Zu meiner Überraschung fuhr Ronga von sich aus fort: „Deine Träume, so obskur sie gewesen sein mögen, zeigen dir die Wahrheit über die Lebewesen, denen du begegnest und die äußeren Einflüsse, die dich verändern. Leider sind diese Visionen bei Drachen furchtbar verschlüsselt. Nur diejenigen unter ihnen, die sich wirklich selbst kannten, wussten auch ihre Visionen zu deuten. Kannst du mir langsam wieder folgen?“ Ich nickte. Für mehr Fragen wäre sowieso keine Zeit gewesen, denn die Fahrstuhltür öffnete sich. Das erste, was ich dahinter sah, war Nicks Visage. Auch das noch. Kapitel 18 ---------- „Kori!“ freute Nick sich. „Mann, bin ich froh! Ich hatte ja solche Angst, dass die im Gefängnis irgendwas mit dir angestellt haben. Ähh, haben sie doch nicht, oder? Man hört ja so Geschichten über das raue Leben im Knast...“ „Niiiick!“ Ich rannte freudestrahlend auf ihn zu und breitete meine Arme aus. Statt ihn jedoch zu umarmen, packte ich seine Kehle und drückte diese mit jedem meiner folgenden Worte ein wenig fester zu. „Schön. Dich. Zu. Sehen...“ „Arr“ keuchte er. „Ko...“ „Ja, Nicole-chan? Möchtest du mir etwas sagen?” Er nickte heftig und versuchte verzweifelt, sich aus der Umklammerung zu lösen. „Doch nicht etwa, warum du SO EIN GOTTVERDAMMT SCHLECHTER LÜGNER SEIN MUSST, WESHALB ICH DIESEM SCHEISSKÖTER HINTER MIR IN DIE ARME GELAUFEN BIN!“ Langsam färbte sich Nicks blasses Gesicht in einem warmen Karminrot. Stand ihm gut, fand ich. „Vielleicht möchtest du mir ja auch erzählen, warum du mich gezwungen hast, in deinem Drecksloch von Haus zu bleiben bis mich die Bullen dort abholen...“ Karminrot traf es doch nicht ganz, wenn ich es recht bedachte. Eher Purpur... „Ah – ccchhh“ machte Nick. „Oder möchtest du mir möglicherweise Mitteilen, was Cunno heißt? Das würde mich brennend interessieren.“ Ich stellte klar, was ich mit „brennend“ meinte, indem ich ein kleines Flämmchen spuckte und Nick im selben Moment zu Boden warf, sodass es ihn haarscharf verfehlte. Sekundenlang blieb Nick auf seinem Hintern sitzen, schnappte dabei nach Luft und hielt sich den Hals. „Aua“, jammerte er beleidigt, während ich bereits zu neuen Tiraden ansetzte. „Ich verfluche den Tag, an dem du mein Büro betreten hast, um mir deinen dämlichen Monitor in die Eier zu rammen, bloß weil du zu blöd warst, den – hey, du Idiot, lass mich runter!“ Ronga hielt mich am Kragen meines Sweatshirts wie ein kleines Kätzchen. „Cunno ist das älteste bekannte Wort für Tiefschlaf oder die Aufforderung einzuschlafen. Mäßige deinen Ton und sei nicht so undankbar. Er hätte schließlich auch das alte Wort für Tod sagen können... falls er es kennt.“ „Ja, genau“, stimmte Nick in seine Predigt ein und machte schon Anstalten, seinen Zeigefinger in die richtige Position für „die Geste“ zu bringen. Ich ballte die Fäuste. „Und du mach diesen Hitzkopf nicht mit altklugen Bemerkungen noch wütender. Ich habe kein Interesse daran, wochenlang die Erinnerungen des Personals zu filtern und meine Medienbeziehungen auszureizen, weil hier ein Großbrand ausgebrochen ist“, bat Ronga ruhig. Ich musste über den unterwürfigen Ausdruck in Nicks Gesicht beinahe lachen, als dieser, nun endlich wieder zu genügend Luft gekommen, aufstand und seine Hände in die Ärmel seiner Schlabberklamotten schob. Darin inbegriffen war sein besserwisserischer Zeigefinger, was ich sehr begrüßte. „Sorry“, murmelte er. „Hm“ antwortete Ronga. Ich hing immer noch in der Luft und begann zu zappeln, um ihm zu zeigen, was ich davon hielt. „Bist du mit Rick zusammen hier?“ fuhr der Halbwolf fort. „Jepp, wir sind uns hier über den Weg gelaufen“, sagte Nick, schon wieder fröhlich. „Hier lang.“ Und schon stiefelte er los. Ronga lief ihm hinterher, ohne mich abzusetzen. „Lass mich endlich runter!“ schnauzte ich ihn an und trat nach ihm, was bei unserem Größenunterschied von 15 bis 20 Zentimetern und seinen entsprechend langen Armen nicht sehr erfolgversprechend war. „Moooment mal, wer sind Sie eigentlich?“ erkundigte sich Nick bei meiner wandelnden Gehhilfe. „Darey Ronga, der Wolf, der ihn letztens abgeholt hat.“ „Oh, ein Werwolf“, sagte Nick ehrfürchtig. „Oh, ein Werwolf“, äffte ich ihn weit weniger ehrerbietend nach. Ronga kommentierte meine Bemerkung, indem er mich kräftig schüttelte. „Erstens heißt es Nachtwolf und zweitens: Muss ich mir noch eine Beleidigung aus deinem losen Mundwerk anhören, egal gegen wen, gebe ich dir ein Messer in die Hand und sorge dafür, dass du dir selbst damit deine vorlaute Zunge abschneidest“, drohte er. Da ich seine letzte Manipulation noch hervorragend im Gedächtnis hatte, hielt ich lieber die Klappe. Man konnte nie wissen, wie ehrlich er gewesen war, als er mir versprach, meinen Geist in Ruhe zu lassen. „Auch in deinem Interesse... Halte deine Wut ein wenig im Zaum“, sprach er weiter. „Das Ultimatum läuft bald ab.“ „Ultimatum?“ fragte Nick? Ultimaatuum? dachte ich genervt, blieb aber still. Wie zur Belohnung wurde mir endlich wieder erlaubt, meine eigenen Füße wieder zu benutzen. „Später“, beschwichtigte Ronga. „Ist es noch weit?“ „Nein, wir sind gleich da.“ Eine Ecke weiter sammelten wir Rick ein. Er war auf einem der an der Wand stehenden Stühle eingeschlafen, ein auseinandergefaltetes Blatt in der Hand, das er offensichtlich schon eine Weile mit sich herumtrug, wenn man nach dem Fortschritt des Verknittervorganges ging. Kaum hatte ich ihn wachgerüttelt, sprang er mich auch schon an. „Ein Glück, ich dachte schon, die sperren dich ein“, empörte er sich. „Als ob du jemanden umbringen würdest. Und das bisschen Kunst, das du geklaut hast...“ „Jaja, den Text hat Nick eben schon aufgesagt“, bremste ich ihn so freundlich wie möglich und schob ihn mit sanfter Gewalt wieder auf angemessenen Abstand. „Hab gehört, du hast echt lange dicht gehalten. Danke.“ Seine Miene verfinsterte sich. „Ich wünschte, ich hätte von Anfang an gar nichts gesagt“, knirschte er. „Dann hätten sie’s nicht aus mir herausgekriegt.“ Daraufhin gab ich mir größte Mühe, aufmunternd dreinzuschauen. Allein, dass er sich so bemüht hatte, erfüllte mich mit einem gewissen Stolz. „Wie kommst du voran?“ fragte Ronga, auf das Blatt in Ricks Hand deutend. „Ich denke, ich kann’s. Glücklicherweise sind es ja nur drei Zeilen“, gab sein Schützling Auskunft. Seltsamerweise stellte Nick dieses Mal keine dummen Fragen. „Und konntest du dich ein bisschen ausruhen?“ „Ich denke, ich bin fit genug, ja“, beantwortete Rick die ungestellte Frage. Wieder wurde ich nervös. Wenn ich mir Nick so ansah, war ich offenbar nicht der einzige. „Ich glaube aber nicht, dass ich gleich alle...“ „Nur Kori“, sagte Ronga schnell. „Ich kenne die Geschichte und der junge Mann hier braucht diesen Teil hier nicht zu kennen.“ „Hey, Kori“, flüsterte Nick aufgeregt. „Er hat „junger Mann“ gesagt. Das heißt, er hat gemerkt, dass ich ein - “ „Versager bin, der aussieht wie eine Frau. Natürlich hat er das gemerkt. Ist ja auch nicht zu übersehen.“ „Nur Kori?“ Nicht noch eine böse Überraschung an diesem Tag, flehte ich im Stillen. Zwei Blicke trafen mich: Rongas drohender und Ricks fragender. „Es dauert nicht sehr lange... hoffe ich“, sagte Rick leise. „Nicht länger als fünf Minuten. Die Zeit der Erinnerungen läuft um ein Vielfaches schneller als diese“, bestätigte Ronga. Skeptisch betrachtete ich ihn. „Keine Sorge. Es ist ungefährlich. Bestenfalls wird es dich verwirren“, versuchte er mich wieder vertrauensseliger zu stimmen. „Und das, was du sehen wirst ist sehr persönlich. Vielleicht kann es einen winzigen Teil von meinem Bruch mit deiner Privatsphäre wiedergutmachen.“ Allzu sehr dämpfte das mein Misstrauen nicht, doch meine Neugier stieg ins Unermessliche. Hätte man mir gesagt, dass er mit seinen Worten genau dies beabsichtigt hatte, ich hätte es sofort geglaubt. Ich schwieg, was sofort als Zustimmung gewertet wurde. Ronga schaute seinem Schüler tief in die Augen. Es sah aus, als würden sie schweigend kommunizieren. Er sendet ihm ein Bild, kam es mir in den Sinn. Oder er stochert in seinen Gedanken herum war der wütende Gedanke, der der ersten Idee auf den Fuß folgte. Zunächst schlug Rick einen Kreis, wie jenen, den Ronga bei meiner ersten - und garantiert letzten, so beschloss ich - Magiestunde benutzt hatte. Plötzlich waren Nick und der Halbwolf aus unserem Blickfeld verschwunden. („Lass mich dir das mit dem Ultimatum erklären“, hörten wir Ronga noch sagen. „Aber keine Rückfragen, denn wir haben nur fünf Minuten.“) Auch der Flur, in dem wir gestanden hatten, verschwand in schwarzem Nichts. Als sogar der Boden unter unseren Füßen sich aufzulösen begann, wurde ich unruhiger denn je. Rick warf einen letzten Blick auf seinen Spickzettel und schob ihn sich dann in die Hosentasche. Seine Beine wurden unnatürlich lang, Schuhe und Hose wichen zwei schwarzen Pferdebeinen, während sich hinter dem Jungen der Rest des Tierkörpers abzuzeichnen begann. Der menschliche Oberkörper steckte in einer Rüstung aus Fellen und Lederriemen. Ricks zweite Gestalt. Obgleich er so schmächtig war, was auch die Rüstung nicht verbarg, und ich ihn als schüchternen Zeitgenossen kannte, kam mir diese Aufmachung passender, natürlicher, vor als sein menschliches Aussehen. Lediglich die Tatsache, dass ich ihm plötzlich nur noch bis zur Brust reichte, war ungewohnt und fühlte sich fremd an. Vorsichtig berührte ich den Rücken des Pferdekörpers. „Wenn dir dein Leben lieb ist, kletter’ nicht drauf. Ich trag dich höchstens im Notfall“, grinste Rick. Ich nickte zustimmend, klopfte ihm auf den Rücken und zog ebenfalls die Mundwinkel nach oben. „Bereit?“ fragte er. Abermals nickte ich. Er hielt die Hand auf und ein langer, dünner Holzstock erschien darin. Rick stellte ein Ende auf den Boden und tat, als wolle er aus dem anderen Ende etwas herausziehen. Pinselborsten wuchsen aus dem Stab empor. Meine Augen wuchsen mit. Ein überdimensionierter Pinsel? Ich hätte viel eher mit einem Speer oder dergleichen gerechnet. „Bitte nicht lachen. Meine Zeichenkünste sind erbärmlich. Und: Pssst.“ Eine Weile stand er einfach nur da und ging in sich. Dann begann er mit ungeheurer Geschwindigkeit, Dinge in die uns umgebende Schwärze zu malen. Er war wirklich bestenfalls mittelprächtig, aber immer noch weit besser als ich es in der Schule gewesen war. Dabei murmelte er unablässig Worte, die ich nicht verstand. Wohl aber ahnte ich, dass sie zur selben Sprache wie Cunno gehörten und er sie bis vor kurzem noch auswendig gelernt hatte. Das zunächst weiße, verschwommene Bild gewann an Farbe und Kontur. Schnell revidierte ich mein Urteil über Ricks Zeichenkünste. Das hier war täuschend echt. Nein, es wurde langsam Wirklichkeit. Ich sah einen Wolf über irgendwas, das vielleicht die Reste eines Tieres sein konnten. Geräusche mischten sich unter die visuellen Eindrücke und mit ihnen begann ich, die Worte zu verstehen, die Rick immer wieder vor sich hin sprach. Gao aramu imata yo - Sehen mit den Augen des Kindes Gao Ithra aera jin - Hören mit den Ohren des Windes Ucceco arata ewano indra, me’en-zio nunca - Sprechen mit Worten, die niemals lügen. Rongas Geschichte begann. Es war gut, dass Rick sie mir erzählte, denn er war der Einzige, dem ich sie hundertprozentig glaubte. Kapitel 19 ---------- Ronga tauchte die Schnauze in das warme Blut seiner Beute. Es gab nichts tröstenderes als eine erfolgreiche Jagd, die nicht nur den Hunger bekämpfte, sondern auch alles Denken völlig verdrängte. Nur die Instinkte herrschten. Niemals konnte er sich eine bessere Art der Meditation vorstellen. Tief atmete er den Geruch ein, der zu gleichen Teilen gesättigt war von Lebendigkeit und dem sich ankündigen Tod. Er fraß gierig. Doch für immer ließ sich der Verstand, der in ihm wohnte nicht fernhalten. Ebenso wenig wie die Wirklichkeit in der Ronga lebte. Noch immer kauend wurde ihm klar, was er da gerade getan hatte. Um das Kalb, dessen Eingeweide er fraß, tat es ihm nicht leid. Schließlich würde ja auch ihn einmal ein anderes Tier fressen, wenn er starb. Ein Aasfresser vielleicht, oder, wenn er vollkommen vergangen war, vielleicht sogar ein Kalb. Worum es ihm leid tat, war das, was ihn nun erwartete. Wie auf ein Stichwort drehte der Wind und trug ihm die Witterung seines Herren zu. Also hatte ihn jemand bei der Jagd beobachtet und die Kunde verbreitet. Blitzschnell machte er Kehrt und rannte davon. Möge dies mein Abschiedsgeschenk an dich sein, grausamer Mann. Ich weigere mich, dieses Leben weiterhin zu führen. Seine flinken Pfoten trugen ihn weit fort von dem Mann, der ihn in den Wäldern gefangen hatte. Wie viele seiner Artgenossen mochte dieses Schicksal inzwischen ereilt haben? Mag sein, dass ich des Nachts einer von euch bin, doch ich werde euch Menschen nie verstehen, dachte er traurig. Du sprachst wahr: Ich bin ein Narr und werde es bleiben. Mir wird nie klar werden, warum ihr alles zu unterjochen sucht. Pflanze, Tier und sogar euresgleichen. -- Das Bild verschwamm vor meinen Augen. „D-das ist deine Art Geschichten zu erzählen?“ flüsterte ich fasziniert, während Rick erneut den Pinsel schwang, um die Szene zu wechseln. „Sieht so aus“, sagte er verlegen. „Ronga hat mir zwar gesagt, dass die Geschichten sehr... echt sind... Aber davon, dass es so sein würde, hat er nichts erzählt.“ Vor uns erschien ein neues Bild. „Woher weißt du, was du malen musst?“ fragte ich. Rick lachte. „Ich weiß nie was es wird. Ich mal’s einfach.“ Plötzlich wackelte alles um uns herum. Mir fielen verschiedene Filme mit diesem Effekt ein, doch keine Kameraführung konnte ein so wirkliches Bild vermitteln wie dieses. Wir verschmolzen förmlich mit Rongas Perspektive. -- Unter ihm raste er Boden vorbei, drehte sich mal wild im Kreis, verschwand ein anderes Mal völlig, um dann viel zu grell und scharf wieder aus dem Nichts zu erscheinen. Er schloss die Augen und verließ sich lieber auf seine anderen Sinne, die sowieso weit besser funktionierten als seine Augen. Er spürte die eiligen, kraftvollen Schritte seines Trägers, hörte seinen flachen, doch ausdauernden Atem und das Klatschen nackter Füße auf dem Grund. Schwindel erfasste ihn und er krallte sich hilfesuchend an dem Mann fest, auf dessen Schulter sein Körper lag. „Ruhig, Junge“, keuchte dieser. „Halt still, sonst kann ich dich gleich nicht balancieren.“ Plötzlich veränderte sich der Takt der Schritte, wurde ausgreifender, gedehnter. Tapfer widerstand Ronga dem Drang, sich noch stärker festzukrallen, als er mit einem Mal gar keine Schritte mehr hörte. Zeitgleich erfasste ihn eine unglaubliche Hitze. Die Luft schien aufgeladen mit einer ihm fremden Energie. Ein unbekannter und doch altvertrauter Geruch drang ihm in die Nase. Feuer, zusammen mit uralter Erde und einem Hauch Mensch. Zwei Hände schoben den Wolf nach hinten, während der Körper unter ihm sich in die Wagerechte legte. Er fand sich auf dem Rücken seines Trägers wieder. „Rühr dich nicht, sonst fällst du herunter. Wir sind gleich da. Sicherlich findet sie ein Heilmittel für dich.“ Vorsichtig schlug Ronga die Augen auf, um sie gleich darauf wieder angstvoll zu schließen. Ein langgezogenes Winseln erklang, als ihm klar wurde, dass sie flogen. Er kauerte auf dem Rücken eines Drachen. Oder waren das Halluzinationen von dem Gift? Verschwommen erinnerte er sich daran, beim Laufen in eine Art Trance gefallen zu sein. Er hatte nicht mehr genau darauf geachtet, wohin er rannte. Normalerweise war das auch nicht nötig, doch dieses Mal hatte ihn etwas gebissen. Seine Beine waren augenblicklich taub gewesen. Nach und nach hatte sich diese Taubheit dann ausgebreitet. Er war in den fiebrigen Zustand verfallen, in dem er sich jetzt befand. Es war bereits Nacht als er endlich wieder klar denken und sehen konnte. Von dem furchtbaren Fieber war nichts mehr zu spüren. Man hatte ihm etwas eingeflößt und ihn dann schlafen lassen. Das hatte wahre Wunder gewirkt. Er sog den Duft des Strohs ein, auf dem er lag, bewegte vorsichtig die Gliedmaßen seines nun menschlichen Leibes. Sofort schreckten die Hände zurück, die ihn bis dahin gepflegt hatten. „Ihr seid wach“, sagte die junge Frau neben ihm in ängstlichem und zugleich fröhlichen Ton. „Was bin ich froh. Ich hatte große Zweifel, ob meine bescheidenen Künste genügen würden.“ Ihre Stimme... Noch nie war er so dankbar für seine guten Ohren gewesen. Wie mochte die Witterung sein, die zu diesem wunderschönen Klang gehörte? Er setzte sich auf und beugte sich vor, bis seine Nase sich in ihrem goldenen Haar vergrub und fast ihren Hals berührte. Ein seltsames Aroma erreichte ihn. Er roch Lavendel und den süßen Geruch, den weibliche Menschen besaßen, sofern sich ihm da Vergleichsmöglichkeiten boten. Das Gegengewicht bildete der Geruch von Erde und Feuer, der ihm schon auf dem Flug hierher zugeweht worden war. „Einhalt!“ rief sie erschrocken. Hastig sprang sie auf und entfernte sich von ihm. „Ich bin bereits vergeben!“ Ronga lächelte verlegen. „Verzeiht“, stammelte er. „I-ich bin den Umgang mit Menschen noch immer nicht gewohnt. Ja, Ihr seid vergeben. Ich kann den Drachen an euch riechen, der mich herbrachte. Den Teufel werde ich tun ’s ihm zu danken, indem ich ihm das Weib nehme.“ Erleichtert lachte sie. „Vergeben und vergessen. Der Name des Drachen ist übrigens Kariyuu. Mein Name ist Lavande.“ „Vielen Dank für Eure Hilfe. Ich bin Ronga“, entgegnete er. „Ihr könnt euch ruhig wieder setzen. Entgegen der landläufigen Meinung bin ich kein nach Blut dürstendes Monster. Es besteht also kein Grund zur Furcht.“ Lavande? Das sollte Luv sein? Ich betrachtete sie genau und schüttelte fassungslos den Kopf. Dieses durch und durch gutmütige Wesen und der grausame Engel, den ich kannte waren niemals ein und dieselbe Person. Ich erkannte ihr Gesicht und auch die Stimme gehörte eindeutig zu ihr, doch war beides bei dieser Frau völlig verändert. Die kühlen, unnahbaren Gesichtszüge, deren Zentrum die emotionslosen Augen bildeten, schienen hier warm und freundlich, strahlten geradezu Geborgenheit aus. In der Stimme fehlte der harte, verletzende Unterton, der einen voller Furcht auf die nächsten Worte warten ließ. Ihr Klang war melodisch und weich. Zwischen den beiden Lachen der Frauen lag eine Entfernung so groß wie zwischen Himmel und Hölle. Falls das jemals Lavande gewesen war, musste diese Zeit Jahrhunderte zurückliegen. Wenn nicht gar Jahrtausende, denn die beiden sprachen in der alten Sprache, die auch auf Ricks Zettel gestanden hatte. Immer noch bewirkte Ricks Beschwörung, dass ich jedes Wort verstand. Wann mochte man so gesprochen haben? Und wo? „Man erzählt sich über uns menschliche Drachen und euch Nachtwölfe Ähnliches“, schaltete sich Rongas Retter in das Gespräch ein. Meine Hände begannen zu zittern, als ich sah, dass er mir wie aus dem Gesicht geschnitten war. Rick bemerkte nichts. Die Welt, die er mit dem Pinsel schuf, hatte ihn vollkommen in sich aufgesogen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich jemals einen von Euch zu Gesicht bekommen würde“, meinte Lavande und betrachtete Ronga mit kindlicher Neugierde. „So wie ich nie daran dachte, von einem Menschen gerettet zu werden“, gab Ronga voller Dankbarkeit zurück. „Engel“, berichtigte Kariyuu. „Doch auch unter den verängstigten Menschen gibt es solche und solche.“ Rongas Augen weiteten sich. „Aber ich dachte zwischen Engeln und Drachen wäre ein Streit ausgebrochen, wegen der Drachen Rohheit.“ „Wegen einiger dummer Missverständnisse. Ja, der Krieg zwischen unseren Völkern tobt immer noch. Ein Königreich für einen geschickten Diplomaten, der das alles endlich aufklären könnte.“ Ein Schleier legte sich über Lavandes Gesicht, als ihr Lebensgefährte dies sagte. Hastig wechselte sie das Thema. „Waren es auch Missverständnisse, die Euch so zurichteten?“ Ronga sah an seinem nackten Oberkörper herunter und wünschte sich sein schwarzes Fell vom Tage herbei. Seine Haut war bedeckt mit roten Striemen. Die jüngsten von ihnen hatte Lavande gesäubert als er aufgewacht war. „Das war meine Torheit“, gestand er leise. „Ich lebe seit sieben Jahren im Dienst meines jetzigen Herrn und nie war ich fähig, seine Arbeiten annähernd zufriedenstellend zu verrichten. Seine Anweisungen sind...“ Ungenau, wollte er sagen, brach jedoch ab und sah zu Boden. „Ich bin wohl bloß zu dumm, um den Mann zu verstehen. Schließlich beging ich auch noch die Dummheit eines seiner Tiere zu reißen. Ich werde den Vorurteilen der „reinen“ Menschen bestens gerecht.“ Kariyuus Miene verfinsterte sich. Er schnaubte verächtlich, wobei ihm eine kleine Zornesflamme entwischte. Reflexartig schickte Lavande eine Wassermagie aus und löschte das Feuer, bevor es irgendetwas verbrennen konnte. Der Drache räusperte sich. „Verzeihung“, grinste er. „Ein Wunder, dass unser Holzhaus noch steht bei deinem Temperament“, spöttelte sie. Alle drei lachten. Sogleich wurde Kariyuu jedoch wieder ernst. „Ihr kennt die Strafe, die euch erwartet?“ Ronga nickte. Er wusste, dass man den Tod des Kalbes mit seinem, Rongas, Leben vergelten würde. Das allein empfand er nicht als schlimm. So war der Lauf der Dinge, doch die Folter, die dem vorangehen würde, fürchtete er mehr als alles, was er kannte. „Dann bleibt hier und versteckt euch, bis ich die Nachricht verbreitet habe, ihr wärt verstorben.“ Überrascht stöhnte Ronga auf. „Das ist wirklich großzügig, aber...“ „Widerspruch ist zwecklos, mein Freund“, schnitt der Drache ihm das Wort ab. „Ihr bleibt und Ihr werdet den Unfug vergessen, den dieser Mensch Euch an den Kopf warf. Mir macht ihr nicht den Eindruck, als wärt ihr in irgendeiner Weise begriffsstutzig. Ganz im Gegenteil.“ Kapitel 20 ---------- Rick pinselte wieder. Wie uns die nächste Szene zeigte, war Ronga tatsächlich bei den beiden geblieben. Oder zumindest hatte er den Kontakt gehalten. Ich sah ihn zusammen mit Luv auf einen Turm aus massivem Stein zulaufen. Irgendwo rauschte das Meer. Eine unangenehme Vorahnung beschlich mich. „Rick, das klingt jetzt bescheuert, aber kannst du mir einen bestimmten Raum da drin zeigen?“ Für einen kurzen Moment kehrte er aus seinem Dämmerzustand zurück. „Kennst du den Ort?“ „Ich denke schon“, sagte ich verbittert. Er konzentrierte sich. Ich sah Schweißperlen auf seiner Stirn. Hoffentlich mutete ich ihm nicht zuviel zu. „Sie gehen sowieso rein. Vielleicht ist das ja der Raum, den du suchst...?“ Ich nickte schnell und wandte mich wieder dem Geschehen vor unseren Augen zu. „Na los doch, los! Erst drängst du mich zur Eile und nun muss ich womöglich noch auf dich warten, du träger Engel?!“ Lavande rannte ihm nach. „Es ist Tag, du eingebildeter Köter“, schimpfte sie mit einem Lachen in der Stimme. „Sei ein Kavalier und warte auf eine alte Dame!“ Er blieb stehen, damit sie ihn wieder einholen konnte. „Alt, was?“ lachte Ronga, sofern man bei seiner wölfischen Kommunikation von Lachen sprechen konnte. „Wie viele Sommer bist du jünger als ich? 5? 10?“ „Pah, ich sah derer schon 21“, plusterte sie sich auf. „Wie kommt es dann, dass du dieses Kindergesicht hast und ich mit meinen 25 schon aussehe, wie ein Tattergreis?“ „Wünsch dir doch von dem Alchemisten einen Jungbrunnen, wenn es dich so deprimiert.“ Sie streckte ihm die Zunge heraus. „Welch Frevel von einer verheirateten Frau!“ regte er sich künstlich auf und sprang sie an. Augenblicklich fiel sie hinten über. „DUUUU!“ schimpfte sie und wuschelte ihm nicht unbedingt sanft durch’s Fell. Sie konnte sich vor Lachen kaum halten. „Hinfort mit dir! Lass dir das bloß nicht des Nachts einfallen, du tollwütiger Halbmensch!“ Wie zur Bestätigung schnappte er nach ihr, hüpfte dann jedoch beiseite, damit sie aufstehen konnte. „25 Sommer und immer noch kein bisschen erwachsen...“ empörte sie sich und klopfte sich mit übertriebenen Gesten die Kleidung sauber. „Lass uns gehen. Die Sonne geht bald unter und es genügt mir, den Rückweg im Dunklen zurückzulegen.“ Gemächlicheren Schrittes gingen sie weiter. Der immer länger werdende Schatten des Turmes legte sich langsam über sie, wie ein unheilvolles Omen. Welch Ironie, wo sie doch zu so einem freudigen Anlass hier waren. „Was wirst du dir wünschen?“ fragte Ronga plötzlich. Sie lachte voller Vorfreude. „Dass du nicht mehr so furchtbar neugierig bist. Immer willst du alles wissen. Wo ich hingehe, was ich mag... Man könnte meinen, du stellst mir nach.“ „Pah! Dir nachstellen?!“ entrüstete er sich. „Eingebildetes Weib! Bloß weil dir die halbe Stadt zu Füßen liegt, musst du mich nicht der Geschmacklosigkeit bezichtigen, dir nachzustellen!“ „Geschmacklosigkeit! Das ist ja wohl der Gipfel der Frechheit. Mögest du nie eine Frau finden, die deinen Geschmack trifft, auf dass dir schließlich deine Manneskraft vom Leibe fault, du unerhörter Grobian!“ „Welch loses Mundwerk! Stündest du mir nicht so nahe, würde ich dich für eine solche Bemerkung verklagen!“ scherzte er verwegen. „So tu’s doch!“ entgegnete sie gespielt trotzig und lachte wieder. Warum, dachte Ronga, ist sie plötzlich so rot im Gesicht? „Was wünscht du dir nun?“ beharrte er. „Was wünscht man sich als Engel? Und jetzt sag bitte nicht: Frieden auf Erden!“ „Ach Engel“, schnaubte sie. „Genau genommen sind wir auch nur Menschen mit weißen Flügeln und – mit etwas Glück – einem besonders großen Herzen. Wer weiß, ob es in Erfüllung geht, wenn ich es dir sage... Vielleicht ist es wie mit den Sternschnuppen. Ich werde fragen und wenn ich darf, dann bist du der Erste, der es erfährt.“ Ronga wurde wieder ernst. „Glaubst du wirklich, dieser Scharlatan kann Wünsche erfüllen?“ „Ich träume gern, also glaube ich es erst einmal“, antwortete Lavande im selben Moment als sie durch das Tor des Turmes traten. Hier hatte sich ein Alchemist aus fernen Landen eingenistet, der damit warb, Wünsche erfüllen zu können, indem er seine Künste mit der Magie eines grünen Steines vereinte. Man erzählte sich, er habe diesen von einem Drachen erhalten, doch das hielt Ronga für eine Stadtlegende. Pinselstriche, Szenenwechsel. Gerade noch sah ich die beiden das Innere des Turmes betraten. Sie verschwammen, als sähe ich sie durch eine zu starke Brille. Doch eines verschaffte mir Gewissheit, dass ich in genau diesem Turm gewesen war: Bereits jetzt war ein erster Satz in die Wand geritzt worden. „Sei vorsichtig mit deinen Wünschen. Sie könnten in Erfüllung gehen.“ Wieder so eine Binsenweißheit, deren Sinn man erst versteht, wenn man was Entsprechendes erlebt hat, dachte ich verbittert. Die böse Vorahnung, die mich beschlichen hatte, weitete sich zu einem körperlichen Gefühl der Übelkeit aus. Kapitel 21 ---------- Lavande kam besorgt aus Kariyuus kleinem Zimmer. Seit Tagen verfluchte Ronga seine guten Ohren, denn der rasselnde Atem des Drachen war zu einem Hintergrundgeräusch geworden, dessen Beständigkeit besorgniserregend war. Etwa vor einer Woche, nur kurz nachdem sie beide bei dem Alchemisten gewesen waren, war Lavandes Angetrauter erkrankt. Erst war es nur ein harmloser Schnupfen gewesen, dann eine handfeste Erkältung. So dachten sie zumindest. Als der Unglückselige dann auch noch begann, Blut zu spucken und drastisch an Gewicht zu verlieren, hatte Lavande ihre Diagnose schnell verworfen. Für gewöhnlich war sie eine ausgezeichnete Heilerin. Obwohl die Leute im Dorf Kariyuus Zorn fürchteten und erst recht von Angst geplagt wurden, seitdem Ronga nun auch noch in das Haus gezogen war, waren sie immer hergekommen, um sich von ihr helfen lassen. Meist war ihr das auch bestens gelungen. Doch Kariyuus mysteriöse Krankheit überstieg ihre Kenntnisse. Auch der Heiler aus der fernen Stadt, den Ronga in Windeseile hergebracht hatte, war überfordert gewesen. Als Resultat dessen lag ihr gemeinsamer Freund nun im Sterben, das konnte Ronga deutlich dem Gesicht der jungen Frau entnehmen. „Er...“ Ihre Stimme brach wie morsches Holz. Sie räusperte sich, versuchte es erneut. Ihre Kehle brachte kaum mehr als ein heiseres Flüstern hervor. „Er will dich sehen. Allein. Beeil dich, er hat sich gerade von mir...“ Die Tränen sprangen ihr in die Augen. „... verabschiedet.“ Ronga zog sie an sich, schlang tröstend die Arme um sie. Eine Weile ließ sie den Kopf gegen seine Brust sinken und weinte sehr leise. Dann plötzlich löste sie sich mit einem Ruck aus der Umarmung. „Du musst zu ihm... Er sagte, es wäre sehr wichtig. Geh, bevor er...“ Der Nachtwolf ersparte es ihr, den Satz zuende zu sprechen. Eilig verschwand er im Zimmer. Der Anblick, der sich ihm bot, schnürte ihm gleichermaßen die Kehle zu wie zuvor Lavande. Kariyuu sah aus, als wäre er am gerade vergangenen Tag 20 Jahre gealtert. Sein Gesicht war eingefallen, die Haut rau und rissig, die zuvor pechschwarzen Haare aschgrau. Von weitem sah es aus, als wäre Rongas inzwischen langjähriger Freund von einer dünnen Staubschicht bedeckt. Am schlimmsten jedoch waren die leeren, tiefschwarzen Murmelaugen, die den Eindruck vermittelten, der Drache wäre bereits tot. Schweren Herzens kniete sich Ronga neben ihn. „Ich bin hier“, sagte er, als Kariyuu keine Reaktion zeigte. Der Halbdrache streckte die Hand aus bis sie die von Ronga berührte. „Du bist warm...“ murmelte er abwesend. „Ich... nun...“ setzte Ronga an. „Ja, du lebst. Noch sehr lange“, meinte Kariyuu vielsagend. Er kannte den anderen gut genug, um zu wissen, dass er das hatte sagen wollen. „Ich verstehe nicht... Ist das so etwas wie eine Weissagung?“ „Erinnerst du dich, wie ich dir von den Träumen erzählte, die wir Drachen haben?“ Ronga nickte, erinnerte sich daran, das der andere ihn anscheinend nicht mehr sah und fügte ein leises „Ja“ hinzu. „Ich habe geträumt-“ Ein Hustenanfall unterbrach ihn, gefolgt von einem Schwall von Flüchen. „Vermaledeite Lunge, lass mich ausreden, wenn ich schon einmal was Intelligentes zu sagen habe!“ schnauzte er. Seine Lunge dankte es ihm neuerlichem Husten. „VERFLUCHT seihst du, dummes Organ! Ich hab’s ja verstanden!“ beschwerte sich der Drache erneut. „Ich fasse mich ja kurz.“ Trotz der traurigen Situation musste Ronga lächeln. Dies hier war sein Freund, wie er ihn im Gedächtnis behalten wollte: Laut, lebhaft, großmäulig und sogar auf dem Sterbebett noch einen zynischen Witz auf den Lippen. „Ich sah, was ihr euch von dem Alchemisten gewünscht habt... Und wie eure Wünsche in Erfüllung gehen.“ Seltsamerweise lächelte er nicht, obwohl Ronga sich sicher war, dass er ihnen die Erfüllung ihrer Wünsche gegönnt hätte. „Bis jetzt ist nichts geschehen“, erklärte er irritiert. Kariyuu nickte nur. „Wünsche erfüllen sich nicht von heute auf morgen. Willst du wissen, was Lavandes Wunsch war?“ „Ich weiß nicht... Wäre das in Ordnung?“ „Sicherlich. Sie liebt dich schließlich.“ Kein bisschen Bitterkeit lag in seiner Stimme, als er dies sagte. „Wie lang werft ihr beiden euch schon diese Blicke zu und nehmt Rücksicht auf mich?“ Ronga schüttelte den Kopf. „Ich würde nie...“ „Wenngleich vielleicht nicht als ihr Geliebter, du wirst mit ihr zusammensein. Schon allein, weil ich darum bitte, in ihrer Nähe zu bleiben und auf sie aufzupassen. Sonst war ihr Wunsch umsonst.“ Begleitet von einem heiseren Pfeifen, kämpfte Kariyuu um den nächsten Atemzug, um fortzufahren: „Der Konflikt zwischen unseren Völkern hat sie schon immer sehr belastet. Also hat sie sich gewünscht, kein Engel mehr zu sein, um ungehindert und so lang wie möglich mit dem zusammenleben zu können, den sie liebt. Leider kennt sie ihr Herz manchmal ziemlich schlecht.“ Wieder hallte ein lautes Husten durch den Raum. Ronga sah betreten zu Boden, dann besorgt zu dem Drachen. Hätte sich in diesem Moment ein bodenloses, schwarzes Loch vor ihm aufgetan, er wäre mit Freuden darin versunken. „Ungehindert heißt auch, ohne dass derjenige, der ihrem Herzen beinahe genauso nahe steht, ihre Gefühle durcheinanderbringt.“ „Du willst doch nicht sagen, dass du deshalb...!“ „Dass ich deshalb erkrankt bin, ja.“ Immer noch keine Bitterkeit. Nur ein mitfühlendes Lächeln. „Ich habe eure Zukunft gesehen. Du musst... Verdammter Husten!“ Er schloss Lippen und Augen und tastete nach Rongas Geist. Der Nachtwolf, dem das Gedankenlesen im Blut lag, nahm die Einladung in das Denken des anderen an. Sie sprachen auf dieser Ebene weiter. „Du hast dir unendliche Weisheit gewünscht, doch Weisheit verleiht einem nur das Leben selbst. Folglich wirst du ewig leben, damit sich dein Wunsch erfüllt. Wenn ich meinen Traum richtig gedeutet habe, wird Lavande ebenfalls so lang leben, bis sie kein Engel mehr ist, so wie es wollte... Sie wird bei dem sein, den sie liebt...“ Ronga war klug genug, zu wissen, dass ein ewig währendes Leben schlimmer war als der Tod. Sie und er würden alle sterben sehen, die sie gern hatten, nur um sich an neue Menschen (oder menschenähnliche Wesen) zu binden und wieder auf deren Beerdigungen zu gehen. Noch dazu hatten sie beide durch ihre unüberlegten Wünsche ihren engsten Vertrauten umgebracht. Unwillkürlich ballte er die Hand, die Kariyuu nicht hielt zu einer Faust. Die Fingernägel gruben sich so tief in seine Handfläche, dass es blutete. „Es... tut mir leid“, flüsterte er. „Mir auch“, antwortete ihm der Verstand des Drachen. „Ich bin nicht wütend auf euch. Ihr wusstet es nicht besser und ich bezweifle, dass ich es ohne die Vision besser gewusst hätte. Es ist traurig, mit dem Wissen zu gehen, dass euch so viel Furchtbares wiederfahren wird...“ „Du hast unser Leben gesehen...“ sendete Ronga zurück. Wollte er das, was Kariyuu ihm zu sagen gedachte überhaupt hören? „Ich kann nicht sagen, was du aus deinem Leben machen wirst. Wenn du es wirklich darauf verwendest, die Weisheit zu suchen, findest du vielleicht einen Weg, mit dem Leben und Sterben um dich herum in Einheit zu leben. Luv jedoch wird schon sehr bald zerbrechen und dem Wahnsinn verfallen, weil sie die vielen Verluste, allen voran wohl leider den meinigen, nicht erträgt. Ich habe einen Haufen Verwandte, deren Nachfahren sie heimsuchen wird. Ebenso wie deren Kinder und Kindeskinder. Deswegen wollte ich unbedingt mit dir sprechen.“ Ronga biss die Zähne aufeinander. Er hörte ihr mahlendes Knirschen und fand es seltsam beruhigend. Stillschweigend „hörte“ er sich den Rest der Weissagung an. „Es ist ein wenig ungerecht, dich auf diese Weise zu zwingen, aber ich werde dir dies dennoch als meinen letzten Wunsch mitgeben, um sicherzugehen, dass du ihn auch in die Tat umsetzt... Es gibt einen Weg, Lavande zu töten. Ich bekam in meinem Traum einige Hinweise. Suche in der Reihe meiner Nachfahren nach einem blinden Drachen. Zusammen mit dem Auge des Orion sollten sie der Schlüssel zu ihrem Tod sein.“ „Blinder Drache? Auge des Orion ?“ hakte Ronga nach. „Blind, weil er vor seiner Vergangenheit davonlaufen wird, wenn Lavande mit ihm fertig ist. Und weil seine Augen so tot aussehen werden wie die meinigen jetzt.“ Schwarze Murmeln im Kopf eines lebendigen Drachen. Furchtbare Vorstellung, dachte Ronga schaudernd. „Was das Auge des Orion angeht...“ Kariyuu ließ einen runden, grünen Stein unter der Bettdecke hervorrollen. „Ich habe es von dem Alchemisten stehlen lassen. Er stahl es selbst, also ist durchaus gerechtfertigt. Es gehört nicht ihm und wird seine Kraft nur in Verbindung mit einem Drachen entfalten. Gib es weder Lavande noch ihm. Sie wird versuchen, damit den Planeten zu zerstören; er wird versuchen, sein Lebenswerk, also euch, zu erhalten.“ Ronga nickte. Seine Sicht verschwamm ihm, weil seine Augen nässten, doch er wartete tapfer bis alles vorbei war. „Geh in die Welt, jenseits des Bannkreises, der diese Insel umschließt“, bat Kariyuu. „Finde den Jungen und töte Lavande, damit sie Frieden findet. Wenn du dein Leben zusammen mit ihr beenden willst, leiste ihr den Treueschwur, der bei eurem Volk üblich ist, wenn euch jemand das Leben rettete. Vielleicht zieht sie dich dann mit ‚hinüber’. Doch überlege es dir gut... Und, wenn du mir eine Freude machen willst, mach etwas aus deinem Leben bis es soweit ist. Etwas, das dir gefällt. Irgend...“ Hastig zog sich Ronga aus dem Geist des Sterbenden zurück. Wenn er in dessen Gedanken verblieb, nachdem er verstorben war, würden seine eigenen möglicherweise zwischen den Welten hängen bleiben. Man hatte ihm beigebracht, dass das sehr gefährlich werden konnte. Es genügte, wenn Lavande wahnsinnig wurde. Plötzlich glühte die kaffeebraune Hand auf, die auf Rongas zitternden Fingern ruhte. Er spürte, wie der letzte Atem aus dem Drachen wich, zusammen mit der Magie, die er besessen hatte. Sogleich kroch eine angenehme Wärme seinen Arm hinauf, breitete sich in seinem ganzen Körper aus. Er riss die Augen auf. „Du gehst und vermachst mir deine Kräfte?“ krächzte er fassungslos. „Deine Großzügigkeit hätte ganze Völker ernähren können und du stirbst einfach...“ Du redest mit einem Toten, ermahnte Ronga sich. Spar dir deine Worte lieber für die Lebenden. Die brauchen sie dringender. Allen voran Lavande. Er sah zu wie der Körper seines Freundes sich langsam in Dutzende, winzig kleiner Feuer auflöste. Irrlichter. Lebendige Flammen, die sich ausgerechnet von Feuchtigkeit ernährten. Sie flohen durch das offene Fenster ins Freie. Der Anblick war atemberaubend schön. Mit wackligen Beinen erhob Ronga sich, um Lavande mitzuteilen, dass ihr Angetrauter nicht mehr unter den Lebenden weilte. Dies war der letzte Augenblick, den Ronga uns in aller Ausführlichkeit zeigte. Was nun folgte, war eine Reihe von Momentaufnahmen, die Rick mächtig ins Schwitzen brachten. Intermezzo: Wissend ------------------- Zweiundvierzig. Ronga befolgt Kariyuus Ratschläge gewissenhaft. Er verlässt die Insel mit dem großen Turm, die, von einem natürlichen Bannkreis geschützt, auf keiner Karte verzeichnet ist und auch niemals sein wird. Lediglich ihre Bewohner finden dorthin zurück. Jedoch geht er nicht, ohne in jahrelangen Friedensverhandlungen die verschiedenen Lebensformen der Insel zu einer friedlichen Allianz zu einigen. Zweihundertachtundzwanzig. Ein Vulkanausbruch tilgt jegliches Leben auf der Insel. Die Natur erholt sich langsam, doch menschliches Leben entwickelt sich dort nicht mehr. Allein der Turm des Alchemisten bleibt als Zeuge der Tatsache, dass es dort überhaupt dergleichen gab. Zu ihm wird Lavande etwa alle 30 Jahre zurückkehren. Diese Zeit benötigt eine Generation im Durchschnitt, um die nächste hervorzubringen. Die Prophezeiung des Drachen tritt ein. Ronga spendet Lavande nach Kräften Trost, doch nach und nach weicht jegliches Mitgefühl aus ihr. Sie beginnt, pro Generation je einen Drachen aus Karyiuus Blutlinie in den Turm zu verschleppen und dort zu brechen. Rongas Frage nach dem Warum beantwortet sie mit einer Redensart, die auf der Insel verbreitet gewesen ist. Sie besagt, dass ein Drache, der nur zornig genug ist, den ganzen Planeten - man war dort nie davon ausgegangen, auf einer Scheibe zu leben - in zwei Hälften spalten könne. Es braucht keinen Gelehrten, um sich auszumalen, dass sie gedenkt, auf diese Weise selbst getötet zu werden. Fünfhundertdreiunddreißig. Lange Zeit weicht Ronga nicht von Lavandes Seite, billigt sogar ihr Vorhaben, wenn auch nicht die Methoden. Er scheint der Einzige zu sein, der wenigstens noch ein Stück weit zu dem warmen Wesen vordringen kann, das sie einmal besessen hat. Jahrhunderte lang hält er ihr die Treue, doch schließlich wendet er sich im Alter von 533 Jahren von dem schönen Gesicht ab, dessen Züge nach und nach erkaltet sind. Statt ihren Grausamkeiten weiterhin beizuwohnen, macht er sich daran, die gigantischen Landen fern der Insel zu bereisen. Ebenso wie diverse Ober- und Unterwelten. Er lernt die Sprache jedes Reiches, das er besucht, stiftet Frieden, wo immer er kann, sammelt Unmengen an Wissen auf jedem Gebiet, ohne sich jedoch damit zu brüsten, oder jemals sein Ziel aus den Augen zu verlieren, den Drachen zu finden, von dem Kariyuu ihm erzählt hat. Seine Fähigkeit, Gedanken zu lesen weitet sich, zusammen mit dem magischen Vermächtnis seines Freundes, zu deutlichen Zukunftsvisionen aus, die keiner Interpretation mehr bedürfen, jedoch sehr eigenwillig sind in Häufigkeit und Umfang. Das Auge des Orion versteckt Ronga dort, wo der Erfüller seines Wunsches es am wenigsten vermutet: Direkt vor dessen Nase, mitten in der Öffentlichkeit. Er stiftet es mal diesem, mal jenem Museum. Tatsächlich bleibt es unentdeckt. Zahllose Jahre später. Ronga hat aufgehört, sein Alter auszurechnen. Der Fortschritt macht ihm zu schaffen. Er hat Mühe, seine Sinne in der gewohnten Schärfe zu erhalten, weil die Technik ihnen überall die Arbeit abnehmen will. Das ewige Leben und Sterben um ihn herum und der Hass, den Lavande ihm seit langem offen entgegenschleudert, machen es ihm nicht gerade leichter, sich gegen den Stumpfsinn zu wehren, der in ihm aufkommt und ihm ein alternatives Grab anbietet. Er ist versucht, sein Vorhaben aufzugeben, den zu finden, der Lavande töten kann. Es ist leicht, dem Stammbaum des toten Drachen zu folgen, doch bisher hat keiner in dieser Familie diesen toten Blick besessen, ohne dabei nicht auch völlig leer und nicht mehr ansprechbar zu sein. Wen auch immer Lavande sich geholt hat, er starb zumeist noch im Turm, sofern er einen Weg fand, sich selbst das Leben zu nehmen. Die, denen die Flucht gelangt, wurden zu leblosen Hüllen, denen jeglicher Antrieb fehlte, wieder am Leben teilzunehmen, oder gar einen Ausweg aus dem Fluch zu suchen. Lavande findet dank der Tatsache, dass es sich bei ihren unfreiwilligen Gästen nie um Einzelkinder handelt in jeder Generation eine neue Zielscheibe. Sie ist es leid, in den wenigen lichten Momenten, die sie hat. Solche Stunden verbringt sie mit Ronga, der Bestand hat in der Vergänglichkeit um sie herum. Beide warten. Keiner von ihnen untätig. Kapitel 22 ---------- Rick seufzte. Erschöpft zog er den letzten Strich, nahm dann den riesigen Pinsel und sah dessen Spitze lang an. Die Borsten verformten sich langsam, teilten sich und bildeten zwei unterschiedlich lange Metallspitzen am Ende des hölzernen Stabes. Nun kam dieser einem Speer bedeutend näher, hätte aufgrund der längeren, gebogenen Spitze aber auch eine prima Sense abgegeben, wie ich fand. Er holte aus und schleuderte den Speer mit aller Kraft gegen das Bild. Es zerbarst in tausend Scherben, die in der Schwärze verschwanden, die uns nun wieder umgab. Der Stab kehrte in seine Hand zurück wie ein Hund zu seinem Herren. Erneut murmelte er die Sätze von dem Blatt Papier, dem sein mitgenommenes, blasses Gesicht inzwischen sehr ähnelte. Obwohl ich mich noch vage daran erinnern konnte, was sie bedeuteten, verstand ich die Worte nicht mehr. „Bist du okay?“ fragte ich, während ich versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen, das Ronga in meinem Kopf verursacht hatte. Rick nickte leicht und lächelte mir zu. „Geht schon“, meinte er. „Hast du eine Ahnung, warum er dir das gezeigt hat?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ja und nein.“ Tote, leere Augen und eine Verbindung zum Auge des Orion. Den Blick selbst hatte ich noch nie gesehen, doch ich konnte es fühlen, wenn ich so schaute. Ich erfüllte also die Bedingungen aus Kariyuus Weissagung. Doch wie bitte sollte ich jemanden töten, der unsterblich war? Zornig sollte ich sein? Warum zeigte mir Ronga dann Dinge, die Lavande eine menschliche Seite verliehen? Ich konnte nicht von mir sagen, dass dies meinen Hass auf sie geschmälert hätte. Trotzdem konnte ich sie ansatzweise verstehen. Am liebsten hätte ich mich dafür selbst geohrfeigt. Oder vielleicht lieber Ronga. Es war so bequem gewesen, mich hinter meinem Schwarzweißdenken zu verstecken und nun warf dieser Idiot alles durcheinander. Obwohl Lavande, er und ich auf völlig unterschiedlichen Seiten standen, hatten wir doch alle dasselbe Ziel: Wir wollten, dass sie starb. Das zu verdauen fiel mir alles andere als leicht. Den Planeten zerstören, dachte ich. Einfach etwas wegfegen, wofür die Natur unzählige Jahre gebraucht hatte, Milliarden Leben vernichten, nur um das Schicksal eines einzelnen Engels zu besiegeln? Der Gedanke allein, dass ich dazu eventuell wirklich in der Lage war, erfüllte mich mit großer Angst. Wieder schoss mir das Bild von Rick durch den Kopf, wie er halb verbrannt in den Überresten meines Wohnzimmers lag. Kontrollierte Wut – und unkontrollierte. Langsam ging mir auf, warum mir Ronga diese Lektion gleich in der ersten Unterrichtsstunde erteilt hatte. Dachte er womöglich ähnlich wie ich? Suchte er nach einer Alternative? Möglicherweise. Doch ich würde den Teufel tun, mich darauf zu verlassen. Auf keinen Fall würde ich derjenige sein, dessen Zorn so vieles zerstörte. Mein Blick fiel auf den Stab, auf den Rick sich stützte, während sein Pferdekörper sich wieder in zwei menschliche Beine verwandelte. Ich betrachtete die scharfe Außenseite der längeren Spitze. Ein kleines Hintertürchen würde ich mir schaffen, beschloss ich. Bevor die Dunkelheit um uns herum wieder zum Flur des Gebäudes wurde bat ich Rick, wenn auch nur ungern angesichts seiner Müdigkeit, um einen Gefallen. Kapitel 23 ---------- Die Zeit in Rongas Erinnerung schien tatsächlich sehr viel schneller gelaufen zu sein als jene hier draußen im Flur. Als ich Nicks Handgelenk vor mein Gesicht hob, um nach der Uhrzeit zu sehen, zeigte eine Billiguhr mit knallbuntem Plastikarmband (und Katzenmotiv auf dem Bild unter den Zeigern) mir, dass kaum mehr als fünf Minuten vergangen waren. Sah man sich jedoch Rick an, war das nur schwer zu glauben. Kaum war die Schwärze um uns herum gänzlich gewichen, sank er nach vorn. Er war kreidebleich, völlig erschöpft. Ronga fing ihn auf und lud ihn auf dem Stuhl ab, auf dem er vor unserer kleinen „Reise“ gesessen hatte, ohne auch nur eine Sekunde lang die Augen von mir zu nehmen. Sein sonst offen wirkendes Gesicht spiegelte Misstrauen wieder. „Ihr habt länger gebraucht als ich dachte“, bekundete er. Bei dieser Andeutung ließ er es bewenden, wenn es denn eine war und ich nicht nur aufgrund meines aufkeimendem schlechten Gewissens eine daraus machte. Nicks gute Laune war einem nachdenklichen Schweigen gewichen, doch zu meinem großen Bedauern währte es keine zwei Minuten. So lange brauchte Ronga, um zu dem Schluss zu kommen, dass Rick so schnell nicht mehr von selbst aufstehen würde. Im selben Moment als er sich den Jungen über die Schulter legte, hatte auch Nick seine Sprache wiedergefunden. „Hey, was hast du denn mit dem gemacht? Ist der etwa bewusstlos?“ wollte er wissen. „Halt’s Maul“, zischte ich. „Hallo, wir befreien dich hier gerade und du hast nichts Besseres zu tun, als uns allesamt anzuzicken und Rick umzuhauen! Jetzt sei doch mal ein bisschen lockerer!“ Er schlug mir kameradschaftlich auf den Rücken. „Nicolas Gary Mishu! HÄNGST du an deinem Leben?!“ Ich konnte gar nicht so schnell gucken wie Ronga die Flamme gebändigt hatte, die mir bei diesem Satz entwich. „Falls wir das hier alle überleben, werde ich dir ein Siegel aufdrücken, das so stark sein wird, dass du nicht mal mehr ein Rauchwölkchen spucken kannst. Reißt euch endlich zusammen! Und nun raus hier, ehe ich die Geduld mit euch aufgeblasenen Gockeln endgültig verliere!“ versetzte er barsch. In einem für aufgeblasene Gockel eher unpassendem Gänsemarsch trotteten wir ihm hinterher Richtung Ausgang. „Warum hast du mir das gezeigt?“ fragte ich bemüht neutral. „Sind wir uns einig darüber, dass wir beide nicht wollen, dass du die Beherrschung verlierst?“ war Rongas prompte Gegenfrage. „Tut er das nicht ständig?“ warf Nick ein. Ronga lachte schallend. Irgendwie war das Geräusch mir unheimlich. Seine Stimme war seltsam sanft, als er fortfuhr. „Da magst du recht haben, aber wenn er wütend genug ist, versenkt er wahrscheinlich alles im Umkreis von 1000 Kilometern im Meer und schwimmt selbst fröhlich oben auf. Provozier ihn also nicht immer.“ Nick warf mir einen sehr ehrfürchtigen Blick zu. „Buh!“ machte ich und er schrak wirklich ein wenig zusammen. Ich schloss zu Ronga auf, um sein Gesicht sehen zu können. Nick tat es mir nach. „Was hast du also vor? Warum das alles?“ „Weil ich will, dass du mit dem hier fertig wirst, ohne dass sich Katastrophen ereignen. Wir werden das Auge des Orion zurückholen und die Sache beenden. Jedoch nicht so wie Lavande es vorgesehen hat.“ „Warum ist das Ding eigentlich so wichtig?“ erkundigte sich Nick. „Ein alter Freund prophezeite mir, dass es der Schlüssel wäre, um den Fluch zu brechen, unter dem Lavande und ich stehen. Es wirkt wie ein magischer Verstärker, doch weder Lavande, noch ich, noch der alte Mann, der es jetzt hat, wissen wie man es aktiviert. Vorerst sieht mein Plan vor, dass ihr es zurückholt, um Lavande ruhig zu stellen. Wir haben nur noch wenige Stunden bis das Ultimatum abläuft, also brauchen wir etwas, um sie dazu zu bringen, zu verhandeln.“ Plötzlich konnte ich mir Ronga lebhaft als alten Botschafter zwischen einer Ansammlung verschiedener Völker vorstellen. „Mooooment mal“, hakte Nick nach. „Eben hieß es noch, wir würden alle gehen und den Stein zurückholen. Nun plötzlich heißt es ‚ihr’. Du meinst doch nicht ernsthaft Kori und mich damit.“ Wir traten ins Freie, während Ronga amüsiert zu Nick hinunterschaute. „Gewahrst du hier sonst noch jemanden, den ich damit gemeint haben könnte?“ grinste er. „Ich werde jetzt Rick von hier fortbringen. Er hat sich wohl überanstrengt.“ Wieder ließ Ronga mich nicht aus den Augen, doch ich tat ihm nicht den Gefallen, Regungen in meinem Gesicht zu zeigen. Wir verstanden uns eben beide bestens darauf, uns hinter Masken zu verstecken. „Kori, du wirst deine kriminellen Energien nutzen, indem du dich an den nächsten Computer setzt und folgenden Mann findest. Im Gegensatz zu Nick ist er in keinem Telefonbuch verzeichnet, doch ich würde meine rechte Hand dafür in eine deiner Flammen legen, dass er sich in Tokio befindet.“ Er zog ein fein säuberlich gefaltetes Papier aus seiner Hosentasche und gab es mir. „Ihr werdet seine Adresse ausfindig machen und das Auge des Orion stehlen. Verliert den Zettel nicht. Unter keinen Umständen.“ „Mooooment mal“, imitierte ich Nick. „Du gibst MIR das Auge des Orion? Warum gibst du nicht gleich einem Pyromanen ein Feuerzeug und einen Benzinkanister?! Was wenn mir irgendwas außer Kontrolle gerät? Ganz davon abgesehen werde ich mich bestimmt in kein Haus schleichen und diesen Tollpatsch mitnehmen. Da kann ich auch gleich ne Parade bei ihm im Hof veranstalten und bin wahrscheinlich immer noch unauffälliger.“ „Schöner Vergleich, Feuerteufel.“ Er machte keine Anstalten, sich zu rechtfertigen, lächelte stattdessen nur freundlich. „Dann viel Glück. Wenn ihr fertig seid, kommt zu meinem Haus. Ich werde dafür sorgen, dass Lavande auch dort ist.“ Ich wusste, dass es zwecklos sein würde, ihm zu widersprechen. Er hatte schon allein dadurch die besseren Karten, dass er wusste was er tat. Ganz im Gegensatz zu mir. Nick öffnete den Mund, um seinerseits zu erklären, was er davon hielt, doch ich zog ihn am Arm zum Parkplatz, bevor er noch etwas sagen konnte. Er war mit dem Pizzawagen hier, wie ich es gehofft hatte. „Wir fahren zu Kodansha Tech.“ entschied ich. „Im Büro ist’n Rechner, mit dem ich den Typen in ner Stunde finden können sollte.“ „Kori! Nun warte doch mal! Warum lässt du dich von dem so rumkommandieren?“ „Hat er dir erzählt, was nach Ablauf des Ultimatums geschieht?“ „Ja, schon, aber gerade deshalb solltest du...“ „Dann lass mich dir vielleicht mitteilen, dass sie in der Karaokebar vorhatte, dich umzubringen und dass sie bereits einen Haufen Menschen auf dem Gewissen hat. Das nur damit du ne ungefähre Vorstellung davon hast, was ich davon halte, dass du hier meine Zeit und das Leben meiner Freunde vertrödelst.“ Nicks Augen wurden groß wie Tennisbälle. „D-du bist auf sie losgegangen, weil du mich besch - ?“ „Beweg deinen Knochenarsch ins Auto, wenn du dir nicht die nächsten drei Wochen am Esstisch n Kissen drunter legen willst!!“ Sofort schloss Nick die Fahrertür auf. Nicht ohne jedoch vorher den Schlüssel zweimal fast fallen zu lassen. Er brachte uns binnen weniger Minuten auf die nächste Stadtautobahn und trat das Gaspedal durch. Bei seinem Geschick war mir diese Geschwindigkeit alles andere als geheuer. „Lass mich fahren“, befahl ich. „Klar, Macho. Immer doch. Das letzte Mal warst du ein besserer Beifahrer.“ Nicks Mundwinkel erreichten fast seine Ohren. „Du wolltest mich also wirklich retten... Sonst wärst du eben nicht so sauer geworden.“ „Fahr wenigstens langsamer. Ich möchte gern lebend ankommen. Und was das Retten angeht, gibt’s bei dir nicht viel zu retten, wenn du mich fragst.“ „Oooch, der große, starke Kori hat doch nicht etwa Angst? Nagut, ich bin ja nicht so – scheiße!“ „Natürlich bist du scheiße. Was ist los?“ „Da tut sich nichts, wenn ich bremse!“ Das ungute Gefühl mit der Kawasaki. Anscheinend war es nicht unbegründet gewesen. Warum zur Hölle hatte ich hier nicht genauso gut aufgepasst? Ich zog die Handbremse, doch auch die brachte keine Reaktion. Wir fuhren auf der Überholspur und noch war diese leer. Noch. Nick sah in der Ferne eine Kurve und hätte das Lenkrad mit einem Ruck herumgerissen, hätte ich selbiges nicht gepackt. „Halt das Teil gefälligst ruhig“, wies ich ihn an. „Ruhig?!“ schrie er. „Ich hab keinen Airbag, rase mit 200 Sachen über ne Autobahn und du sagst mir, ich soll ruhig bleiben?!“ „Ganz genau. N großer Verlust wärst du für die Welt sowieso nicht. Ein paar kaputte Computer weniger. Also reg dich wieder ab.“ Hätten meine Hände nicht gezittert, hätte ich mir beinahe selbst die Ruhe abgekauft, die ich vortäuschte. Ich ließ das Lenkrad wieder los. „Das ist wirklich kein guter Zeitpunkt für Scherze. Vielleicht sollte ich dich und dein großes Maul einfach erstarren lassen. Dann kann ich wenigstens in Ruhe sterben.“ „Was hast du da gerade gesagt?“ „Das der Zeitpunkt für Scherze gerade absolut nicht...“ „Nein, das andere!“ „Dass ich dich erstarren lassen sollte?“ „Kannst du das auch mit vier Rädern?“ „Ähhh...“ Die Reifen quietschten. Der Wagen machte einen gefährlichen Schlenker nach rechts. Nick kreischte, während sich mir der Magen umdrehte. Ich sah uns bereits gegen die nächste Leitplanke krachen. „Sagt dir der Begriff Stotterbremsung was?!“ brüllte ich über sein schrilles Gekreische hinweg. Irgendwie erinnerte es mich an seine Version von Unbreak my Heart in Katzenjammer-Moll. Der Begriff sagte ihm tatsächlich etwas. Wie durch ein Wunder – ach was eines, mindestens zehn gleichzeitig geschehende Wunder – erreichten wir unbeschadet die nächste Ausfahrt. Kapitel 24 ---------- Als wir es endlich zum nächsten U-Bahnhof geschafft hatten, waren wir beide um ein kostbares Gut ärmer geworden. Nick war pleite, weil ich wenig Lust gehabt hatte, ihm nach dieser Odyssey die Fahrkarte auszugeben; ich hatte wer wusste wie viel Zeit verloren. Die Angst hatte mich wieder – oder vielleicht noch immer? - in festem Griff. Nervös wartete ich auf die Einfahrt der U-Bahn. „Das war echt knapp“, stellte Nick zum wiederholten Male fest. „Deine Schuld“, meinte ich, weil mich sein Gequatsche nervte. „Meine Schuld? Wenn du nicht gewesen wärst, wäre ich in dieses Auto bestimmt nicht eingestiegen!“ Langsam drehte ich meinen Kopf zu ihm herum und lächelte so freundlich, dass es ihn vollkommen irritierte. „Dieses Lächeln bedeutet nichts Gutes. Letztes Mal bist du hinterher bei mir eingezogen.“ „Ach was... Du hast mich nur gerade so furchtbar neugierig gemacht. Was hättest du getan, wenn ich dich nicht zum Auto geschoben hätte?“ „Ich hätte natürlich gleich die U-Bahn genommen.“ Er machte sich ein wenig größer. Leider nahm er dabei nicht wahr, dass er begonnen hatte, an seiner Hosentasche herumzuzupfen. „Nick, eh du das Lügen lernst, wachsen Jazz große Brüste.“ „So schlecht sah sie mit den kleinen doch gar nicht aus...“ „Wo guckst du meiner Freundin hin?!“ „Kann ich was dafür, dass sie so riesig ist, dass die Brüste bei mir fast auf Augenhöhe liegen? Ich bin nun mal nicht so groß wie du! Außerdem hast du gesagt, sie wäre deine Ex-Freundin.“ „Stell sofort dieses überlegene Grinsen ein, wenn du nicht willst, dass ich dir die Fresse poliere!“ Zu Nicks Glück fuhr die U-Bahn ein bevor ich dazu kam. Ich ließ mich neben ihn auf die Sitzbank fallen und versuchte, mich wieder auf die Dinge zu konzentrieren, die wichtiger waren als meine kleinen Eifersüchteleien. Wie viel Zeit mochte uns noch bleiben? Wenn ich den Kerl nun nicht fand... Und selbst wenn doch, dann hatte ich immer noch das Problem, mit dem Trottel vom Dorf in das Haus eines uralten Mannes einbrechen zu müssen. Dachte man im Zusammenhang mit uralten Männern an Ronga, konnte einem das Alter plötzlich eine Menge Respekt einflößen. „Kannst du denn lügen?“ wollte Nick plötzlich wissen. „Klar kann ich.“ „Mach mal.“ „Jetzt?“ „Klar. Hab ich doch eben gesagt. Wir haben doch eh nichts besseres zu tun.“ „Okay, ich hab dich gern.“ „Das war zu offensichtlich. Da fall ich schon seit der vierten Klasse nicht mehr drauf rein, wenn jemand das zu mir sagt.“ Ich prustete vor Lachen. „Erzähl mir nicht, du hast’s vorher geglaubt!“ Ein Anflug von Kränkung huschte über sein Gesicht. Da war ich wohl eine Spur zu weit gegangen. Ich war nicht wenig überrascht, dass mir dies überhaupt auffiel. Sonst besaß ich nicht mehr Einfühlungsvermögen als eine Schrottpresse. Jazz konnte da ein Lied von singen. Ich beschloss, mich ein wenig zurückzunehmen. „Ähh, wie auch immer. Lügen kannst du jedenfalls nicht. Hast du sonst irgendwelche Qualitäten?“ überlegte Nick laut. Für seine Verhältnisse war dieser Themenwechsel sogar recht gelungen. „Also, du kannst nörgeln, meckern, Leute beleidigen... Mal sehen... Im Erwürgen scheinst du auch ganz gut zu sein. - Mein Hals tut immer noch weh. - Aber das mit dem Stehlen solltest du noch üben. Ne Flucht in nem Pizzawagen ist nicht besonders proseff... pro...“ „Professionell.“ Die Leute sahen her. Mit Nick fiel man irgendwie immer auf. Ich addierte das zu seinen negativen Eigenschaften und fragte mich, ob ich mir für die Fortführung dieser Liste nicht eine Hilfskraft einstellen sollte. Da hätte ich einen soliden Langzeitarbeitsplatz geschaffen. „Ja, danke. Kennst du das, wenn man das Wort eigentlich weiß, aber es einfach nicht rausbekommt?“ „Wenn du ihn nicht benutzen kannst, mach den Mund einfach zu. Damit tust du allen einen Gefallen.“ So viel zum Thema „mich zurücknehmen“. Warum machte dieser Kerl mich nur immer so ungeheuer aggressiv? Er tat niemandem den Gefallen den Mund zu halten. „Wir müssen die Nächste raus“, verkündete er stattdessen trotzig. Ich nickte nur und wünschte mir ein Paar Kopfhörer und eine MP3-Sammlung von Hammerfall, Metallica oder etwas ähnlich lautem. Plötzlich stand die U-Bahn still. Nirgends war eine Ausstiegsmöglichkeit zu sehen. Wir standen mitten im Tunnel. „Sehr verehrte Fahrgäste. Aufgrund einer Weichenstörung wird sich die Weiterfahrt um etwa 10 Minuten verzögern. Wir bitten um ihr Verständnis.“ Nick und ich seufzten im Chor. „Und was, wenn ich kein Verständnis dafür habe?“, brummte ich. „Wir schaffen’s schon noch“, versuchte Nick, mich zu beruhigen, doch das hörte sich fast so unecht an wie eine seiner Lügen. Er hatte die Hosen genauso gestrichen voll wie ich. „Wir? Das ich nicht lache. Sobald ich - !“ „Ruhe da“, fuhr uns jemand weiter hinten an. „Man kann sich auch leise unterhalten.“ Wir schwiegen eine Weile, doch auch dieses Mal nicht sehr lange. „Hörst du das?“ flüsterte Nick. „Was?“ „Na, dieses Geräusch... Klingt wie... Dings... Ich weiß nicht...“ Ich lauschte. Er hatte recht. Irgendetwas klang da mit den geflüsterten Unterhaltungen mit, die die Fahrgäste führten. Irgendetwas, das in eine U-Bahn nicht passte. Ein Geräusch als würde jemand eine Decke ausschütteln. Oder als... „Klingt wie Flügelschlagen“, spekulierte ich und kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, breitete sich im vorderen Teil des langen U-Bahnzuges lautes Geschrei aus, begleitet von einem schrillen Pfeifen, von dem mir die Ohren wehtaten. Ich reckte den Kopf, um zu sehen, was vor sich ging. „Was...?“ flüsterte Nick, der bereits aufgesprungen war. „Kori! Sieh dir das an!“ Nackte Panik stand ihm ins Gesicht geschrieben. Mit einem Satz war auch ich auf den Beinen. Wir befanden uns in einer dieser neueren U-Bahnen, die keine einzelnen Wagons mehr hatten, sondern in eins durchgingen. Meinen müden Augen bot sich ein Bild des Grauens: Der vordere Abschnitt der U-Bahn war schwarz von Duzenden von Raben. Ich hörte die Menschen kreischen, die zwischen den Vögeln völlig verschwanden, sah Hände, die aus der schwarzen Masse emporragten und dann darin untergingen. Vor allem aber sah ich die Blutlache, die sich unter dem Schwarm ausbreitete. „Shiki!“ rief Nick entsetzt. „Und gleich so viele! Die sind bestimmt unseretwegen hier!“ „Was du nicht sagst! LAUF!“ Ich machte auf dem Absatz kehrt, packte Nick und zerrte ihn ein weiteres Mal hinter mir her. Kapitel 25 ---------- Ein paar Straßen weit trug Ronga den nun wieder menschlichen Zentauren auf seiner Schulter. Doch kaum hatte er ein ruhiges Fleckchen gefunden, setzte er Rick ab. Besorgt betrachtete er dessen blasses Gesicht. Der Junge hatte die Augen geschlossen als würde er schlafen, war aber wieder bei Bewusstsein. Ronga konnte seinen wachen Geist deutlich spüren. „Du hast dich völlig überanstrengt. Ich werde dich zu mir nach Hause bringen und da wirst du schlafen“, sagte er mahnend. „Und gearbeitet wird morgen auch nicht. Du ruhst dich aus. Keine unbedachten Teenagergebaren mehr in den nächsten Tagen.“ Rick hob die Lider ein wenig und lächelte. „Ja, Otôu-san*“, scherzte er. (* japanische Anrede: Vater) „Gut, mein Junge“, gab Ronga in altväterlichem Ton zurück und tätschelte ihm den Kopf. Beide lächelten belustigt. „Gewöhn dir nicht zuviel von Koris losem Mundwerk an“, grinste der Halbwolf. Absolut humorlos fuhr er dann fort: „Was habt ihr da getrieben? Du hättest die Aufgabe dreimal erledigen können. Ich kenne deine Fähigkeiten. Dennoch kommst du in diesem Zustand zurück.“ „Ich hab versprochen, nichts sagen“, gestand Rick leise. „Du bist noch längst nicht auf dem Niveau, auf dem du einfach machen kannst, was du willst, wenn du dort „drüben“ bist“, predigte er. „Wenn du dort nun umgekommen wärst...“ Ricks verhaltenes Lächeln wurde noch eine Spur breiter. „Machst du dir um Kori auch solche Sorgen?“ „Wenn ich mich um den Narren sorgen müsste, hätte ich wahrscheinlich ein riesiges Magengeschwür.“ Ein amüsierter Unterton klang in Rongas Stimme mit, der dem Jungen ihm gegenüber vollkommen als Bestätigung seiner leisen Hoffnung genügte. Der Halbwolf kniete sich mit dem Rücken zu ihm hin und wies ihn mit einer knappen Geste an, hinaufzuklettern. Huckepack war es für beide sehr viel bequemer. Müde ließ Rick den Kopf auf Rongas Schulter sinken, Rongas langen Zopf einfach beiseite schiebend. Eines der filzigen Haare blieb an seinem Finger hängen. Der Junge stutzte. „Ronga, sieh mal.“ „Hm?“ Er nahm das Haar vorsichtig entgegen. „Grau...“ murmelte er nachdenklich. „Das passiert hin und wieder. Als wollte das Schicksal mich ärgern, indem es mich daran erinnert, dass ich in gewisser Weise doch altere.“ „Oh... achso...?“ machte Rick unsicher, nickte allerdings ein als sein Verstand weitere Fragen zu formulieren suchte. Die Müdigkeit war einfach zu groß. Im Haus des junggebliebenen Alten ließ er sich widerstandslos ins Bett verfrachten wie ein kleines Kind. Er war so erschöpft, dass Ronga ihm sogar die Schuhe von den Füßen ziehen musste. „Noch eine unbedachte Handlung in der Größenordnung und deine Ausbildung ist beendet“, knurrte dieser. Rick nickte folgsam. „Ständig muss man auf euch Halbwüchsige aufpassen.“ Obwohl ihm die fast väterliche Mischung aus Sorge und Wut noch anzuhören war, klang Ronga nun doch schon sehr viel freundlicher. „Du passt nicht nur auf mich auf, oder?“ fragte Rick. „Da gibt’s noch ne Menge andere...“ „Falls das schon wieder eine Anspielung auf diesen Hitzkopf ist, lasse ich dich wissen, dass es mir leichter fiele, wenn du mir sagtest, was ihr ausgeheckt habt.“ Das Kissen raschelte als Rick mit bedauernder Miene den Kopf schüttelte. „Ich möchte mein Versprechen halten. Tut mir leid.“ Wieder ein Knurren des Halbwolfes. „Ich hätte dir zu aller erst das Neinsagen beibringen sollen“, fluchte er halblaut. „Oder dass man sich nicht zu sehr an Drachen hängen sollte, die nur Unsinn im Kopf haben.“ Rick wollte etwas dagegen sagen, doch Ronga schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab und lauschte angestrengt. „Er scheint wirklich nicht der einzige zu sein, auf den ich achten muss“, sagte er, von einer Sekunde auf die andere äußerst hektisch. „Ich muss gehen. Schlaf dich aus, oder ich werde ernstlich wütend.“ Er kritzelte hastig mit dem nächstbesten Kugelschreiber etwas auf seine Schreibtischunterlage und bedachte den Schriftzug mit einer kleinen, goldbraun schimmernden Magie. Dann sprang er so schnell auf, dass er fast über Ricks Schuhe gefallen wäre. Als er zur Tür stürzte, hörte er bereits den gleichmäßigen Atem, der davon zeugte, dass jener eingeschlafen war. Draußen ließ er sich sofort auf alle Viere sinken, obwohl der Tag noch nicht gekommen war. Er brauchte seine schnellen Pfoten jetzt dringend. Ebenso die scharfen Ohren, in denen aus der Ferne ein alarmierendes Heulen nachklang. Und ausgerechnet jetzt dann noch diese nervenaufreibende Vision, die über ihn hinwegfegte wie ein Sandsturm. Wenigstens würde er Lavande nicht suchen müssen. Amüsiert stellte er fest, dass er seinen Haustürschlüssel vergessen hatte. Nun ja, nicht so schlimm. Den würde er so schnell nicht wieder brauchen, wenn er Glück hatte. Kapitel 26 ---------- Wir erreichten das Ende der U-Bahn, doch etwas daran war falsch. Ich drehte mich um und augenblicklich würde mir klar, was es war: Keiner der anderen Menschen war aufgestanden und davongerannt. Sie saßen nur wie gelähmt auf ihren Sitzen, um schließlich von der schwarzen Lawine aus Krallen, Federn und Schnäbeln überrollt zu werden. „Warum... Bewegen diese Idioten sich nicht?“ hauchte ich, einen Moment lang genauso starr wie sie. Nick warf sich geräuschvoll gegen die verschlossene Tür der Rückwand, die uns von der unbesetzten, da rückseitigen, Fahrerkabine trennte. „Wenn die Vögel... unseretwegen hier sind, passiert den Leuten nichts...“ Rums „Zumindest, wenn die Raben ihr Ziel nicht erreichen. Das Ganze ist dann nur eine Illusion...“ Rums „Um uns abzuschrecken.“ Kurzes Innehalten. „Sag mal, hast du in der Ausbildung geschlafen?“ Dafür, dass er eben noch über seine eigene Zunge gestolpert war, sprach er jetzt erstaunlich schnell. „Ich hatte erst eine Unterrichtsstunde!“ protestierte ich. „Auf drei! Eins, zwei, drei!“ Wir warfen uns beide gegen die Tür. Sofort durchzuckte ein stechender Schmerz meine Schulter, strahlte auf den Rücken aus und explodierte förmlich zwischen meinen Schulterblättern, in deren Nähe die Ansätze meiner Flügel lagen. Immer näher kamen die Raben und mit ihnen das schrille Pfeifen und das Blut. Die Tür bewegte sich nicht. Nick warf mir einen furchtsamen Blick zu, doch plötzlich wandelte sich dieser zu einem Ausdruck geringer Hoffnung. Er drehte sich zu den Vögeln um und streckte beide Hände von sich. „Gavan!“ entsann er sich einer alten Vokabel. Der Effekt, den das Wort hatte, machte eine Übersetzung überflüssig. Für einen Moment erstarrte die fliegende Meute mitten in der Luft. Das Pfeifen verstummte. Nick brach der Schweiß aus, während er weiter die Hände von sich streckte, als schiebe er die Raben von uns weg. „Ich kann das nicht lange! Mach die Tür auf!! Beeil dich!!“ flehte er. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich könnte die Viecher möglicherweise verbrennen. Doch im Gegensatz zu den Raben würde mein Feuer für die Menschen hier drin keine Illusion sein. Aber hinter mir! Ich Idiot. Das Feuer sammelte sich wie von selbst in meiner Kehle. Wie weiche Butter schmolz die Rückwand dahin. Der Gestank war bestialisch, doch verglichen mit dem grellen Pfeifen, das bereits wieder leise zu vernehmen war, war der Geruch von geschmolzenem Plastik fast ein angenehmer Sinneseindruck. Wir eilten in die Fahrerkabine, zerschlugen die Front- bzw. Rückscheibe mit einem der Notfallhammer. Ich spürte den schwachen Luftzug im Gesicht, der durch den langen Tunnel wehte. Mit einem Satz stand ich auf den Schienen und wollte schon davon stürmen, als mir auffiel, dass Nick mir nicht folgte. Wie festgewachsen hockte er auf dem Armaturenbrett hinter dem zerschlagenen Fenster und starrte mich an. „Nick, was ist?!“ fragte ich ungeduldig Hinter ihm wurde das Innere der U-Bahn dunkler und dunkler und mit ihr auch der Gang hier draußen, dessen einzige Lichtquelle aus der Beleuchtung des Zuges bestand.. „St-stromschiene“, gab er zurück, ohne sich einen Millimeter zu bewegen. Auch das noch. Er traute sich nicht raus. „Gary, verdammt! Vögel in der U-Bahn, Technikfreak mit Bedarfsfackel hier im Tunnel! Was ist dir lieber?! Jetzt beweg dich endlich!“ „Du weißt wo sie ist?“ fragte er misstrauisch. Der Vogelschwarm hatte ihn fast erreicht. „Natürlich!“ versetzte ich. Ehrlichgesagt hatte ich nur eine vage Ahnung wo die Schiene lag. Genauso wenig wusste ich, ob ich eine meiner eigenen Flammen einfach so mit mir herumtragen konnte, doch im Gegensatz zu Nick konnte ich wirklich lügen. Die Tatsache, dass er augenblicklich aus der U-Bahn sprang, bestätigte das. Wir rannten wie zwei Wahnsinnige. Wenn man es recht bedachte, waren wir genau das wohl auch. Das Experiment mit der tragbaren Flamme glückte, sodass wir wenigstens ungefähr sehen konnten, wohin wir traten. Wie eine zähe Flüssigkeit floss der Schwarm aus dem U-Bahnzug und verfolgte uns erbittert. Obwohl wir wirklich nicht langsam waren, vergrößerte sich der Abstand zwischen uns und den Vögeln kaum. Lange jedoch würde keiner von uns beiden dieses Lauftempo halten können. Selbst wenn wir es irgendwie bis zum nächsten Bahnhof schaffen, was dann? dachte ich verzweifelt. „Was jetzt?! Ich kann bald nicht mehr!“ Als hätte Nick meine Gedanken gelesen. Nun, die Menschen sind nicht mehr da. Jetzt oder nie. Ich wirbelte herum und betrachtete die sich nähernden Tiere. „Hoffen wir, dass es funktioniert“, sagte ich, hörbar Luft einsaugend. Hitze breitete sich im Tunnel aus. Ebenso in meiner Kehle, wo sie sich bereits völlig vertraut anfühlte. Augenblicklich war Nick direkt neben mir. Das Pfeifen wurde sofort um einige Dezibel lauter. Als die Flamme vor mir davon schoss, war es so laut, dass ich glaubte, mir würden die Trommelfelle platzen. Und mit jedem Bisschen, das das Pfeifen sich verstärkte, schrumpfte der Feuerball; wuchs unsere Todesangst. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Eine neue Flamme würde ich nicht so schnell hinbekommen. Am Rande meines Sichtfeldes bewegte sich etwas. Ich starrte in Nicks Gesicht und sah wie er die Lippen bewegte, ohne dass ich noch etwas von ihm hören konnte. Entschlossen deutete er auf den Feuerball, der daraufhin verschwand. Schlagartig war es stockdunkel im Tunnel. Wollte er uns denn beide umbringen? Wie versteinert stand ich da, spürte die Raben mehr auf uns zukommen als dass ich sie sah. In Gedanken versuchte ich mich darauf vorzubereiten, gleich zerstückelt zu werden. Ein Flügel strich über meine Wange, dann noch einer. Und dann plötzlich standen wir vor einer gigantischen Feuerwand. Ein Vogel nach dem anderen stürzte sich in die Flammen wie ein Kamikazeflieger. Nur ein einziges Tier war zu uns durchgekommen, welches ich kurzerhand packte. Es wand sich in meiner Hand, pickte nach mir, löste sich dann mit einem Mal aus seiner ursprünglichen Form und ging kurz in einen pulverartigen Zustand über, um sich dann zu einem langen Papierstreifen zu manifestieren. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Ekel angesichts des Grillfleischgeruchs, der sich um uns herum ausbreitete ließen wir uns auf den Boden fallen. Ich gab es nur ungern zu, doch unser Teamwork hatte uns soeben das Leben gerettet. Bei diesem Gedanken musste ich lachen. Ich konnte einfach nicht anders. Nick sah mich an, zunächst verwirrt, dann selbst beinahe Tränen lachend. Es dauerte volle fünf Minuten bis wir uns wieder einkriegten. Schließlich beruhigte ich mich wieder. Ich nahm mir Zeit, einen Blick auf den Zettel zu werfen, zu dem der Rabe geworden war. „Du wärst ohne mich echt aufgeschmissen“, behauptete Nick und grinste zu mir hinüber. Dito, dachte ich schadenfroh, sagte allerdings nichts, sondern grinste nur zurück. „Hat man dir in deiner Ausbildung auch was hierüber erzählt?“ Ich gab ihm den Zettel und erhob mich vorsichtig wieder. „Ich seh nix“, meinte Nick. „Verzeihung“, versetzte ich, spie mir ein kleines Feuer in die Hand und hielt es neben ihn. Es war angenehm zu spüren, dass solche Dinge mit jedem Mal leichter wurden. In diesem Moment, in dem ich mich wie selbstverständlich als Fackelträger ohne Fackel betätigte, kam es mir fast abwegig vor, dass meine Kräfte jemals außer Kontrolle geraten könnten. Auf dem Blatt war eine verschnörkelte Kalligraphie zu sehen, die ich als Nicht-Japaner nicht mehr erkannte. Nick betrachtete sie voll Staunen. „Wow“, meinte er. „Für so clever hätte ich dich gar nicht gehalten. Jetzt brauchst du deinen Computer gar nicht mehr.“ Ich bemühte mich, so auszusehen als wisse ich wovon er sprach. Er musste ja nicht unbedingt erfahren, dass das nur ein Zufall gewesen war. Wohl darauf achtend, dabei nicht dumm zu wirken riskierte ich ein „Also?“. „... Gehen wir direkt zum Absender. Oder hast du außer dem Typen mit dem Stein noch mehr Feinde, die dir sowas schicken würden?“ Natürlich hab ich. Luv, dachte ich, schüttelte aber dennoch sofort den Kopf. Dazu waren diese Shiki, wie Nick sie nannte, zu... direkt? Unelegant? Unspektakulär? Nicht grausam genug? Sie passten jedenfalls nicht zu der Vorgehensweise, die ich von ihr kannte. Wären die Vögel von ihr gewesen, hätte sie eher Nick von mir getrennt und vor meinen Augen umgebracht. Und warum sollte sie auch mich daran hindern, das Auge des Orion zu bekommen? So hatte sie gleich alles, was sie brauchte beisammen. Der Gedanke gefiel mir überhaupt nicht, doch wenn sie sich damit hinhalten ließ, sollte es mir vorerst recht sein. Ich wartete auf weitere Erklärungen von Nick. Sie blieben aus. Statt lang herumzureden, handelte er einfach. An die Tatsache, dass er alles kaputtmachte, was man ihm in die Hand gab, würde ich mich nie gewöhnen. Er zerriss das Blatt. Eine der beiden Hälften gab er mir. Dann nahm er mich am Arm und plötzlich standen wir nicht mehr im Tunnel, sondern vor einem stinknormalen Reihenhaus. Ich hatte Mühe, mir meine Überraschung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Nick stöhnte auf. „Dafür schuldest du mir zwei Fahrten auf der Kawasaki. Drei, wenn ich daran denke, dass ich nicht mit reingehe. Noch so ein Ausflug und meine magischen Kräfte sind für die nächsten Tage im Eimer. Da riskier ich’s bestimmt nicht, diesem Typen zu begegnen.“ Äußerst skeptisch betrachtete ich das 08/15-Haus. „Sicher, dass er da drin ist?“ „So sicher wie du mit der Stromschiene. Der, der diese Geister geschickt hat, ist in diesem Haus“, antwortete Nick und warf sich in die Brust. Es fehlte nicht viel und ich hätte im Kreis gegrinst. Armer Irrer, wenn du wüsstest. Ich ging los, um genau das zu tun, was mir ausgerechnet die Handlanger dieses Alchemisten beigebracht hatten: Stehlen. Intermezzo: Liebend ------------------- Eine blonde Frau und Koris dreht durch. Der Gedanke hatte sich in Yasemins Kopf eingenistet wie ein Parasit. Noch lang hatte sie am Vortag dem Taxi nachgesehen, das mit den beiden (Dieser Nick, woher hat er den plötzlich? Er ist doch sonst so ein Einzelgänger.) davongefahren war. Sie machte sich Sorgen und diese hielten sie wach, so wie sie sie auch schon gestern wachgehalten hatten. Sie bewirkten, dass sie sich unruhig im Bett hin und her wälzte, statt zu schlafen, bis sie schließlich aufstand und in ihrem Zimmer herumlief. Yasemin sah sich darin um, als betrete sie es zum ersten Mal. Überall Pflanzen, größtenteils in jahrelanger Fürsorge aufgezogen. Normalerweise beruhigte das Grün sie, doch nicht heute nacht. Eine blonde Frau und Kori dreht durch. ICH drehe gleich durch, wenn mir das nicht aus dem Kopf geht! Den ganzen Tag über hatte sie immer wieder versucht, Kori zu erreichen, doch weder am Festnetz noch auf dem Handy hatte sich jemand gemeldet. Sie hatte bewusst ihre Nummer nicht unterdrückt. Normalerweise ging er doch immer ran, wenn er sah, dass sie es war. Zumindest, wenn sie nicht gerade stritten. Schwankend ging sie ans Fenster, schaute hinunter auf die Stadt. Es war ein schöner Karaokeabend gewesen, bis sie auf der Toilette verschwunden war. Bei ihrer Rückkehr hatte Kori seine Hände an der Kehle einer blonden Frau gehabt. Wenig später die Prügelei. Dann dieser riesige Mann mit dem langen, seltsam ausgefransten Zopf und der ungewöhnlichen Sprechweise. Wann hatte sie den Kontakt zu Koris sozialem Umfeld verloren? Eine blonde (blonde!) Frau und Kori dreht durch. Hatte sie ihn jemals so ängstlich gesehen wie gestern nacht im Wagen? Oh ja, sie hatte. Ein einziges Mal. Als sie ihn nach dem blonden Haar gefragt hatte. Dem Haar in seiner Tasche, von dem sie geglaubt hatte, es gehöre einer Affäre von ihm. Da hatte er so ausgesehen. Sein Blick war der eines lebenden Toten gewesen und als sie später, nach der Versöhnung, wieder zusammen im Bett gelegen hatten, hatte er sich in einer Weise verhalten, die für ihn sehr untypisch war. Sonst war er es, der sie vor allen Möglichen Schwierigkeiten bewahrt hatte und noch bewahrte. Von der drohenden Sechs in Mathe bis hin zu gewaltigen materiellen und vor allem emotionalen Krisen. Er war immer wie ein schützender Schatten bei ihr gewesen. Doch nachdem er ihr das Dokument dieser Psychologin übergeben hatte... Bis zum Morgen war er es gewesen, der plötzlich Schutz bei ihr suchte, wenn auch widerwillig. „Vielleicht war an deinen Träumen doch so viel dran wie du gedacht hast. Kannst du dich inzwischen erinnern?“ fragte sie den Dschungel um sich herum. Wie in Trance nahm sie einen Ordner vom Regal über ihrem Schreibtisch. Er enthielt Briefe. Die wenigsten davon stammten von Kori. Er schrieb nur, wenn er es musste. Doch der Brief der Psychologin war ebenfalls darunter. Sie holte ihn aus der Klarsichtfolie und stellte den Ordner wieder weg. Was will ich damit? wollte ihr Verstand wissen. Die Adresse auf dem Briefkopf aufsuchen und sehen, ob ich immer noch Schlösser knacken kann, antwortete ihre Intuition und kaum hatte sie diesen Satz zuende gedacht, breitete sich ein unangenehmes Ziehen in ihrem Bauch aus. Es fühlte sich an, als läge ein Stein darin. Der Kerl hat Probleme und wenn ich kann, helfe ich ihm da raus. Entschlossen faltete sie das Dokument in ihren Händen zusammen und tauschte das lange T-Shirt, das sie zum Schlafen trug wieder gegen Tageskleidung. Sie nahm die U-Bahn und musste dabei einen Umweg fahren, da die Linie, mit der es am schnellsten gegangen wäre irgendeine Störung hatte. Eine Weiche wäre nicht in Ordnung, tuschelte man am Gleis. Seltsam, fand Jazz. Dazu brauchen die doch sonst nicht länger als 10 Minuten... Doch letztendlich erreichte sie ihr Ziel, ein kleines Mehrfamilienhaus am südlichsten Ende der Stadt. Das Schlösserknacken funktionierte noch prima. Kori war darin Meister gewesen und hatte kein Geheimnis aus seinem Wissen gemacht. Ihre Eltern wären davon nicht sehr begeistert. Auch nicht von der Tatsache, dass sie bis zu einer gewissen Geschwindigkeit recht gut Motorrad fuhr, ohne einen Führerschein zu besitzen. Ihr Exfreund war nicht nur die gute Partie von einem jungen Mann gewesen, für den ihre Eltern ihn gehalten hatten. Nicht nur der strebsame junge Mann, der bei Kodansha arbeitete und die Abendschule besuchte. Mit einer Mischung aus schelmischer Nostalgie und zunehmender Beklemmung schlich sie das Treppenhaus hinauf, immer mit der Angst im Nacken, dass es die Praxis vielleicht nicht mehr gab, bis sie die Tür mit dem Schild gefunden hatte. Darey Vanya, Dipl. Psychologin. Psychoanalyse und Therapie. Hier war sie richtig. Das Türschloss war ein uraltes Modell. Binnen weniger Minuten war sie im Wartezimmer der kleinen Praxis. An diesem Punkt hätte sie auf ihr Gewissen gehört und diesen Ort gleich wieder verlassen, wäre da nicht immer noch dieses Ziehen in der Magengegend gewesen. Und das Drängen ihrer Intuition. So schlich sie also weiter in das Behandlungszimmer und rang sich nach einigen Minuten dazu durch, das Licht einzuschalten. Das Zimmer gefiel ihr. Alles war in warmen, wohnlichen Farben gehalten. Auf der Fensterbank und den vielen hüfthohen Bücherschränken stand allerlei pflegeleichtes Grünzeug. In einer Ecke hing ein Haufen Fotos. Familienbilder wie die Ähnlichkeit der abgebildeten Personen schnell verriet. Yasemin ließ den Blick von einem zum anderen schweifen und fragte sich, wer auf diesen Bildern die Psychologin sein mochte. Mit einem Mal hielt sie jedoch inne. Auf einem der Bilder war der Mann aus der Karaokebar zu sehen, ein sanftes, ansprechendes Lächeln auf den Lippen und sogar in den freundlichen Augen. Erneut verglich sie die Fotos und stellte fest, dass fast alle darauf mit diesen ungewöhnlichen Haaren ausgestattet waren, die struppig, ungebändigt und doch irgendwie sehr adrett aussahen. Sie schüttelte sich unwillkürlich ob dieser neuen Erkenntnis. Um das herauszufinden war sie nicht hergekommen. Dennoch fiel es ihr schwer, den Blick abzuwenden und zum Schreibtisch zu gehen, um dessen Schubladen zu durchsuchen. Wieder meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie war hier in ein fremdes Haus eingedrungen und nun schickte sie sich auch noch an, in Koris privatestem Privatleben herumzuschnüffeln. Aber da war immer noch dieses furchtbare Ziehen, welches nichts mit ihrem Gewissen zu tun haben wollte. Es dauerte nicht lang bis sie Koris Akte gefunden hatte. So viele Virgins gab es schließlich nicht und selbst wenn, wäre das nur ein kleines Problem gewesen, denn der Kundenkreis dieser Frau war handverlesen, um nicht zu sagen winzig. Entweder war sie besonders schlecht oder so gut, dass sie sich nur wenige leisten konnten, mutmaßte Jazz, während sie die dünne Mappe aus der großen Schublade nahm und sie studierte. Nur eine einzige Sitzung hatte es gegeben, doch über diese hatte sich Darey-san lange ausgelassen, so schien es. Sie hatte sich gerade durch zwei Absätze des Fachchinesisch gekämpft als sie begann, sich beobachtet zu fühlen. Vielleicht sollte sie die Mappe besser mitnehmen und zu Hause lesen? Oder noch besser: Sie einfach kopieren und alles wieder in seinen Ursprungszustand bringen. Ja, das war gut. Hastig klappte sie die Mappe wieder zu und wollte sich nach einem Kopiergerät umsehen. Der silbergraue Wolf, der mitten im Zimmer stand und sie anstarrte, machte ihr jedoch einen Strich durch diese Rechnung. Schönes Tier, dachte sie fasziniert, riss sich dann aber sofort am Riemen. Wenn der auch nur einen Mucks macht... Ich muss ihn irgendwie ruhig halten und hier schleunigst verschwinden. Langsam trat sie auf das Tier zu und hielt ihm die Hand hin, damit es diese beschnuppern konnte. „Danke, aber ich kann dich auch so recht gut riechen. Was willst du mit meiner Akte?“ hörte sie eine Frauenstimme, ohne jedoch irgendjemanden zu sehen außer dem Vierbeiner. „H-hast du gerade...?“ „Ja, ich habe gesprochen. Oder sagen wir, ich habe dir meine Gedanken gesendet. Was verschafft mir die Ehre deines heimlichen Besuches?“ Yasemin machte sich nicht die Mühe zu lügen. Sie war auf frischer Tat ertappt worden. Warum dies leugnen? „Ich habe mir... Sorgen um einen Freund gemacht...“ „Das sagt meine Nase mir auch. Das ganze Zimmer riecht nach Angst. Gibt es Ärger mit...?“ Sie legte den Kopf schräg um den Namen auf der Akte lesen zu können. „Entschuldige die Dumme Frage“ fuhr sie dann resigniert fort. „Es musste irgendwann Schwierigkeiten mit ihm geben.“ „Lesen kannst du – können Sie auch?“ Langsam fragte sich Yasemin, ob sie vielleicht doch noch hatte einschlafen können und das hier nur träumte. Sprechende Tiere wären so typisch für ihre Träume... Sie sah wie die Wölfin sich plötzlich anspannte. „Es kommt noch jemand... Wir sollten - “ Sie verstummte und drehte sich zur Tür ihrer Praxis. Da hatte jemand offenbar das Anschleichen geübt. Am anderen Ende des Wohnungsflures, direkt in der von Jazz aufgebrochenen Tür, stand eine Frau, die Vanya, eine von Rongas Ur-ur-ur... nun, eine seiner Enkelinnen, sofort aus den Erinnerungen des Jungen erkannte, dessen Akte aus dem Schreibtisch entwendet worden war. Der Psychologin stand die Vorgehensweise lieblosen Engels noch gut im Gedächtnis. Höchstwahrscheinlich war sie dem Mädchen gefolgt, um dort weiterzumachen, wo sie damals aufgehört hatte. Doch nicht, wenn sie das verhindern konnte. Die Wölfin nahm entschlossen Anlauf, fegte förmlich durch den Flur. Mit einem geschmeidigen, fast katzenhaften Sprung warf sie die Fremde nieder. „Verschwinde von hier!“ sandte sie an Yasemin. Das war im Grunde überflüssig, denn diese rannte bereits um ihr Leben. Allerdings nur, um im Treppenhaus gegen eine Wand aus weißem Licht zu prallen. „Nach oben!“ „rief“ sie dem Mädchen zu, selbst schon auf halbem Weg die Treppen hinauf und begann dabei, einen lauten, heulenden Ton auszustoßen, der noch anschwoll und sich gewaltig in die Länge zog. Ich werde diese Frau nicht lang aufhalten können, doch vielleicht lang genug, schoss es ihr durch den Kopf, während sie sich von Yasemin einholen ließ, die ihnen beiden die Tür auf’s Dach öffnete. Wenigstens genug Platz für einen Bannkreis. Für den Anfang musste das reichen. Kapitel 27 ---------- Ich fand eine Aufstiegsmöglichkeit am Nachbargebäude und beschloss, wieder einmal den Weg über’s Dach zu nehmen. Insgeheim hoffte ich, es wäre niemand zu Hause, war ich doch nie in Anwesenheit des Bewohners in ein fremdes Haus eingedrungen. Museen und dergleichen waren da was anderes. Große Räume, angestellte Wächter, geplante Patroulliengänge. Doch wie berechnete man das Verhalten eines einzelnen Menschen? Meine ohnehin schon geringe Hoffnung schwand, als ich das erleuchtete Fenster auf der Rückseite des Hauses erblickte. Dennoch musste ich hinein. Ich wählte ein anderes Fenster für den Einstieg. Es war nur müßig verschlossen und bereitete mir keine Schwierigkeiten. Vorsichtig spähte ich in einen Raum, der wohl als Arbeitszimmer genutzt wurde. Bis jetzt lief alles gut. Ein bisschen zu gut, abgesehen von der Anwesenheit des Hausherren. Ich ermahnte mich, die Augen offen zu halten. Es war wahrscheinlich, dass man mich erwartete. Doch warum war Ronga dieser Gedanke nicht gekommen? Oder hatte er es bedacht und lieferte mich dem anderen Alten ans Messer? Halb drinnen, halb draußen horchte ich, ob sich in dem erleuchteten Zimmer etwas bewegte. Nichts schien sich zu rühren. Vielleicht hat er mich schon gehört... Hatte ich denn überhaupt die Option, nicht hineinzugehen? Keine gute Idee, hier rumzusitzen und darüber nachzugrübeln. Du hast alles, nur keine Zeit. Lautlos schlüpfte ich ins Zimmer und begann, es systematisch zu durchsuchen. Glücklicherweise standen nicht viele Möbel hier herum. Doch wenn der Stein so kostbar war, wäre es dann wirklich naheliegend, ihn in einer der Schubladen und Fächer hier zu finden? Ich schauderte. Wenn ich das Teil so dringend bräuchte, würd ich’s gar nicht erst weglegen. Wenn er ähnlich denkt, trägt er den Stein mit sich rum. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Irgendwie würde ich diesen Fremden überlisten müssen. Selbst wenn er das Auge des Orion nicht griffbereit hatte, würde es viel zu lange dauern, das ganze Haus danach abzusuchen. Meine Beine - ein wenig schneller als mein Verstand – trugen mich auf das Zimmer zu, in dem ich das Licht hatte brennen sehen. Wohl darauf achtend, auch ja keine Geräusche zu verursachen, schlich ich den Flur entlang. Durch die offene Tür konnte ich den warmen Lichtschein erkennen. Erst jetzt bemerkte ich den seltsamen Geruch, der aus dem Raum kam und an Intensität zunahm als ich mich weiter näherte. Süß und faulig zugleich, wie verdorbenes Obst. Alte Menschen riechen manchmal so, schoss es mir durch den Kopf. Ich stellte mich mit dem Rücken an die Wand und sah vorsichtig um die Ecke des Türrahmens, wobei ich mir vorkam wie in einem dieser dämlichen Krimis, die sie Donnerstags abends immer zeigten. Millimeterweise schob ich meinen Kopf weiter ins Zimmer, bis ich freie Sicht hatte. Das ganze Affentheater war jedoch völlig umsonst. Der Mann konnte mich gar nicht bemerken. Ich betrat eine Art Privatlabor, in dessen Mitte ein größerer Experimentiertisch stand. Über dem darauf stehenden Gasbrenner blubberte etwas vor sich hin, das offensichtlich Quelle des üblen Geruchs war. Links und rechts von mir befanden sich Bücherregale, gefüllt mit allerlei Chemiebüchern und unzähligen alten Wälzern, deren Einbände in einer mir unbekannten Schrift beschrieben waren. Mit ziemlicher Sicherheit handelte es sich hierbei um Rongas „Alte Sprache“. Der Linoleumboden war bedeckt mit duzenden schwarzen Federn. Dazwischen diese länglichen Zettel, genau wie jener, den ich dem Raben im U-Bahntunnel abgenommen hatte, alle beschriftet mit ein und derselben Kalligraphie. Tote Raben waren nicht zu sehen. Dafür ruhte hier der Mann, von dem ich vermutete, dass er der war, den ich suchte. Oder vielmehr lag hier das, was diese Tiere von ihm übrig gelassen hatten in einer großen, roten Pfütze. Das Gesicht des Mannes war erstaunlich alt. Ich hatte gedacht, er wäre wie Ronga auch körperlich nicht gealtert, doch er hatte tiefe Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel. Vielleicht hatte er auch welche um die Augen herum gehabt, an deren Stelle zwei große Löcher klafften. Zusammen mit der blassen Haut und den schneeweißen Haaren, deren Spitzen sich von dem Blut rot gefärbt hatten, wirkte der Kopf bereits jetzt wie ein knöcherner Schädel, der sechs Fuß unter der Erde lag. Angewidert drehte ich mich weg, betrachtete stattdessen den Experimentiertisch. Das Feuer des Gasbrenners kam mir seltsam fehl am Platze vor. Irgendwie unecht. Ich trat an den Tisch, plötzlich von dem Gedanken ganz gefangen, das Feuer auszumachen. Es gehörte hier nicht her. Ich entsann mich der Teelichte in meinem Wohnzimmer. Dieses Feuer hatte sich angenehm vertraut angefühlt. Die züngelnde Flamme auf dem Brenner hingegen machte mich beinahe wütend. Er passt nicht zum Feuer und das Feuer nicht zu ihm, fuhr es mir durch den Kopf. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, diesen Gedanken zu verstehen. Er kam aus einem zusammenhanglosen Nichts und verschwand auch sofort wieder darin. In seiner Sinnlosigkeit ähnelte er dem plötzlichen Drang, mit den Streichhölzern zu kokeln, den ich damals verspürt hatte. Er war sinnlos und doch, zusammen mit meinem wiederentdeckten Dasein als Halbdrache absolut naheliegend. Bei jedem Schritt knackten die schwarzen Federn unter meinen Schuhen. Das Geräusch war unangenehm. Trotzdem wurde ich nicht einmal langsamer, als ich das Zimmer durchschritt. In diesem Moment war das unechte Feuer für mich unangenehmer. Ich drehte den Gashahn zu. Dann erst hatte ich die nötige Ruhe, die restlichen Utensilien zu begutachten. Neben dem Brenner lag einer der dicken Wälzer aus den Regalen. Die Schrift konnte ich nicht lesen, doch die Kalligrafie auf der rechten Buchseite und der Rabe auf der gegenüberliegenden sagten mir auch so, mit was hier experimentiert worden war. Das Alter hatte dem Mann anscheinend nichts anhaben können. Seine eigene Magie im Gegensatz dazu schon. Er hatte sich selbst umgebracht, als er die Raben nach uns ausschickte. Unwillkürlich musste ich lächeln, zwang meine Mundwinkel jedoch sofort wieder in die Wagerechte, als ich bemerkte, wie hämisch, wie berechnend diese Regung war. Die Flüssigkeit in dem bauchigen, über dem Brenner angebrachten Glas begann sich angesichts der nicht mehr vorhandenen Hitze zu verändern. Nach und nach verlor sie ihre zuvor grüne Farbe, wurde transparent. Neugierig betrachtete ich den Prozess und meine Neugierde wuchs, als sich in der zunehmend klareren Flüssigkeit ein runder, grüner Gegenstand abzeichnete. Das Auge des Orion. Zufrieden suchte ich mir eine Holzzange aus einer der unter dem Tisch angebrachten Schubladen und nahm den Stein behende aus dem Glas. Ein altes Bild schob sich vor mein geistiges Auge bei diesem Anblick. Rom. Chemieunterricht. Unser Lehrer, die Schutzbrille auf der Nase, zeigte vorne irgendeinen, seiner Aussage nach gefährlichen Versuch. Ich hatte wie immer keine Ahnung, worum es ging, bewahrte jedoch einen konzentrierten Gesichtsausdruck in der Hoffnung, meine mündliche Note zu retten. Zumindest solange bis ich auf Marcos Blatt schielte. Über die von der Tafel in seiner sauberen Handschrift abgeschriebenen Formeln, zeichnete er in aller Seelenruhe eine Karikatur des Mannes, der dort mit feierlichem Ernst vor uns herumhantierte. Für den Lachanfall, den ich daraufhin bekommen hatte, waren wir beide aus dem Raum geflogen. Ein Jahr später hing das Blatt im Büro des Lehrers. Er hatte Marco sogar Geld dafür gegeben, so gut war die Zeichnung gewesen. Die Erinnerung schmerzte. Luv hatte dieses Talent auf dem Gewissen. Wut kochte in mir hoch wie zuvor das Gebräu über dem Brenner. Wie zur Antwort begann der Stein, den ich in der Zange hielt in seinem Inneren leicht aufzuglühen. Ein eigenartiges Kribbeln breitete sich in meiner dominierenden Linken aus. Ich legte die Zange beiseite und nahm das Auge des Orion in meine bloßen Hände. Sofort wurde das Kribbeln um ein Vielfaches stärker. Ebenso das Leuchten im Inneren des Steins. „...aber wenn er wütend genug ist, versenkt er wahrscheinlich alles im Umkreis von 1000 Kilometern im Meer und schwimmt selbst fröhlich oben auf.“ Was zum Teufel tat ich hier? Ich warf den leuchtenden Stein auf den Tisch, als hätte ich mich daran verbrannt. Augenblicklich erlosch das Licht darin wieder. Ein leichtes Zittern kam wie ein Schauer über mich, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Ich schaute an mir hinunter und stellte fest, dass nicht nur der Stein begonnen hatte, zu leuchten. Durch den Stoff meiner schwarzen Jeans konnte ich ein stark gedämpftes, goldbraunes Schimmern erkennen. In dieser Tasche befand ich Rongas Zettel. Ich zog ihn heraus, faltete ihn auseinander. Es stand kein Name darauf. Nur ein altvertrauter Halbsatz. Kontrollierte Wut – und unkontrollierte. „Klugscheißer“, murmelte ich, während die mich erfüllende Erleichterung fast greifbar war. „Okay, du hattest deine Gründe, mir Nick mitzugeben. Seh ich ein. Aber musst du denn wirklich bei jeder Gelegenheit schulmeistern?“ Kaum hatte ich mich zuende geärgert, veränderte sich die Schrift auf dem Zettel. Darey Vanya. Tôkyô-to, Chiyoda-ku, Hitotsubashi 2-13-231 Darey. Rongas Nachname. Und eine typisch japanische Adresse hier in der Region. Darunter ein äußerst westliches „Auf dem Dach... Auf schnellstem Wege. Sie hat ihr Versprechen nicht gehalten.“ Die eben noch empfundene Erleichterung von panischer Angst so restlos beiseite gefegt als wäre sie nie da gewesen. So schnell ich konnte trug ich das Auge des Orion in der Zange nach draußen, wo ich es einem äußerst irritierten Nick zusammen mit dem Zettel in die Hand drückte. „Wir müssen da hin und zwar sofort. Und wag es ja nicht, mir den verdammten Stein wiederzugeben!“ Angesichts der Furcht in meiner Stimme verkniff sich Nick dieses Mal eine dumme Bemerkung. „War er in dem Haus?“ Erneut riss er das Papier in zwei Hälften und gab mir eine davon. „Der Kerl ist tot. Der Stein hat ihn umgebracht, denk ich.“ Der Stein, den er unbedingt behalten wollte, um seine beiden Unsterblichen zu erhalten. Der Gedanke hatte fast schon etwas Komisches. Nick sah mich prüfend an. „Was ist?“, fragte ich gereizt. „Beeil dich!“ „Ich will nur, dass du weißt, dass meine Kraft nicht reichen wird, um das ein drittes Mal zu tun. Wenn da wo wir gleich rauskommen als die Hölle los ist, kann ich uns nicht mehr dort wegbringen.“ Ich nickte schweigend. Kapitel 28 ---------- Nick und ich kamen gerade rechtzeitig, um die silbergraue Wölfin vom Dach fallen zu sehen. „Darey Vanya. Sie kam, sah und stürzte“, witzelte Lavande. Sie hatte Yasemin in eine Ecke der Dachumgrenzung getrieben, wo diese mit weit aufgerissenen Augen saß, unfähig sich zu rühren. Ihr gegenüber kniete Lavande, hielt ihr den Zeigefinger an die Kehle. Es sah nicht bedrohlich aus, doch wie diverse Schnittwunden an ihrem Körper bestätigten, wusste Jazz es bereits besser. Mit der verbleibenden Hand strich Lavande ihr einige der grünen Haarsträhnen aus dem verschwitzten Gesicht, die sich aus dem Zopf gelöst hatten. Die Vertraulichkeit in dieser Handlung ließ in mir den Wunsch aufkommen, ihre Hand zu pulverisieren. Yasemin schien das ähnlich zu sehen. Sie zitterte, zuckte, wollte sich bewegen und freikämpfen, war jedoch wie gelähmt. Einzig und allein die vielen Krater auf dem Betonboden hier oben kündeten davon, dass es wenigstens anfangs Widerstand gegeben hatte... dass hier ein Kampf stattgefunden hatte, bis die Wölfin vom Dach geschleudert worden war. „Wie überaus dämlich von mir, zu denken du würdest dich vielleicht an ein Ultimatum halten, weil es dir jemand gestellt hat, den du mal mochtest“, höhnte ich, blieb aber an Ort und Stelle stehen. Ich hatte Angst vor dem, was sie Jazz antun würde, wenn ich mich näherte, ebenso wie ich das fürchtete, was sie sich ausdenken mochte, wenn ich einfach hier stehen blieb. Ich wusste nicht weiter. Langsam, als wäre sie zu vertieft, um sich schneller zu bewegen, drehte Lavande den Kopf zu mir herum, das gewohnt kalte Lächeln im Gesicht, das ich so an ihr hasste und doch so perfekt imitieren konnte, dass meine Mitmenschen es fürchteten. „Dumm, davon auszugehen, ich würde diese Promenadenmischung noch immer mögen, bloß weil er mich vielleicht gern hat, in der Tat. Aber ich dachte mir, wenn ich dich ein bisschen zappeln und hoffen lasse, wird es sicherlich am Ende interessanter werden, also habe ich eingewilligt. Allerdings hatte ich nicht erwartet, dass du deinen kleinen Minnesänger auch mitbringen würdest und dieser noch dazu anscheinend ein Teleporter ist. Wie niedlich. Dein Frauengeschmack“ – sie warf Jazz einen abschätzigen Blick zu – „ist reichlich sonderbar, doch in der Wahl deiner männlichen Freunde scheinst du geschickt zu sein.“ Nick ballte die Fäuste, warf mir einen fragenden Blick zu, kannte die Antwort jedoch schon. Ich würde ihm kaum erlauben, einfach auf sie loszugehen. Davon abgesehen wussten wir beide, dass das keinen Sinn haben würde. So klammerte ich mich vorerst an Rongas Plan, mit ihr zu verhandeln. „Nicht so geschickt wie im Beschaffen magischer Gegenstände mit Namen von Sternbildern“, gab ich zurück, den Kopf in Nicks Richtung neigend, in dessen Hand sich nach wie vor das Auge des Orion befand. Wie erwartet wurde ihr Lächeln noch eine Spur breiter. „Ja, du hast dir in der Tat einen Namen gemacht, wie ich den Medien entnehmen konnte. Amüsant, dass sie dich sogar bei deinem richtigen Namen nennen. Ronga spricht den Dialekt deines Urstammes. Er sagte mir, deine Eltern hätten dich „Schatten“ getauft.“ Ich sah, dass Yasemin die Lippen bewegen wollte, doch es war ihr schlicht unmöglich. Wütend biss ich die Zähne aufeinander. Hätte ich mit Sicherheit gewusst, dass ich es ohne weiteres konnte, ich hätte Lavande auf der Stelle umgebracht. Bei jedem anderen Menschen hätte ich Hemmungen gehabt – schließlich hatte ich so etwas wie ein Gewissen - doch nicht bei ihr. „Wer nennt sein Kind „Schatten“? Nicht gerade sehr liebevoll“, erkundigte sie sich im Plauderton. „Dort wo ich aufgewachsen bin“, entgegnete ich, ihren ruhigen Tonfall nachahmend, obwohl ich alles andere als ruhig war „gibt man den Kindern im Laufe ihres ersten Lebensjahres ihren Namen. Man wird nach dem Verhalten benannt. Meine Eltern haben mich „Schatten“ genannt, weil ich ständig weglief. Sie wollten damit erreichen, dass ich nicht mehr von ihrer Seite weiche. Wie ein Schatten eben.“ Ich nahm mir die Zeit für eine Kunstpause, ließ die Worte wirken, während Nick mich mit einer Mischung aus Unbehagen und Verständnislosigkeit beobachtete. Unbewusst machte er einen kleinen Schritt von mir weg. „Lass sie gehen, oder du lebst noch ein paar Jahrtausende. Auge des Orion hin oder her“, forderte ich und fand die Drohung beinahe lustig, drohte man anderen doch sonst mit dem Tod und nicht mit dem Leben. Da ihr Lächeln schon die größtmögliche Breite erreicht hatte, die ein Lächeln haben konnte, ohne dümmlich auszusehen, lachte Lavande auf. „Du siehst dich also immer noch in der Lage, Forderungen zu stellen“, säuselte sie mit einem Anflug von Nostalgie in der Stimme. „Ist das nun stur, oder dumm, oder beides? Oder hängst du vielleicht nicht an ihr?“ Langsam strich sie mit dem Fingernagel Yasemins Kehle entlang. Sie reagierte mit einem erstickten Laut, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Im gleichen Moment hörte ich das Klicken von Krallen auf dem Betonboden des Daches. Ronga. Als ich mich zu ihm umdrehte, war er bereits wieder menschlich und ziemlich außer Atem. „Du kommst spät, Darey-kun“, flötete Luv. „Früh genug wie es scheint, Darey-san“, keuchte Ronga. Sie hatten beide denselben Nachnamen, waren also tatsächlich vorübergehend ein Paar gewesen... waren es vielleicht immer noch. Wieder einmal fragte ich mich, auf welcher Seite dieser Kerl stand. Der Gedanke, dass Nick und ich den Beiden geradewegs in eine Falle gelaufen waren, indem wir das Auge des Orion geholt hatten, ließ mich leicht zittern. Wut. Angst. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, welche der beiden Empfindungen mich fester in ihrem Würgegriff hatte. Doch weiterhin machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Das hier musste klappen. Egal wie, ich musste verhindern, dass alles wieder von vorn losging. Das Blut, die Schreie, die Schuldgefühle. Ich wollte nicht wieder durch diese Hölle gehen, die Luv mir gezeigt hatte. „Dein Schützling sagt, er möchte mich noch ein bisschen am Leben lassen, wenn ich seine Freundin umbringe. Ist das nicht verrückt? Ich frage mich, woher er die Idee hat, er könne mit mir verhandeln...“ fuhr sie fort und taxierte ihn mit vielsagendem Blick. „Mein schlechter Einfluss“, entschuldigte sich Ronga. „Es tut mir leid. Ich kann mich so schlecht in den wahnsinnigen Teil deines Wesens hineinversetzen. Da dachte ich allen Ernstes, ich könne dich ein wenig besänftigen. Stattdessen stößt du meine Jüngste in die Tiefe. Ganz wie es sich für jemanden geziemt, der den Bezug zum normalen Denken verloren hat.“ Der Verdacht, hier in eine Falle gelaufen zu sein, schmälerte sich gewaltig. Er hatte recht. Sie hatte eine seiner Verwandten auf dem Gewissen. Meine Menschenkenntnis ist wirklich sehr bescheiden, dachte ich sarkastisch. Rick traut ihm und der ist nicht gerade gesellig. Das hätte mich wenigstens aufmerken lassen müssen. In seinem Gesicht arbeitete es. Von dem beherrschten und doch aufgeschlossenen Lächeln, das er sonst wie selbstverständlich um die Mundwinkel trug, war nichts mehr zu sehen. „Eine Frau mit Edelsteinen erobern. Ihr Männer ändert euch nie“, neckte Lavande ihren Angetrauten beinahe liebevoll. „Wohl wahr“, feixte der zurück und seufzte gespielt und lächelte gequält. „Deine Wortwahl lässt darauf schließen, dass du sie das Fliegen gelehrt hast und sie noch spüren kannst, denn darüber dass sie tot ist, hast du nichts gesagt, obwohl es sonst deine Art wäre.“ Ihre kalten Augen blitzten herausfordernd. „Möglicherweise ist auch das wahr. Ich kann mich derzeit leider nicht darauf konzentrieren, nach ihrem Geist zu tasten, so gern ich es würde. Derzeit bin ich etwas... verwirrt, schätze ich.“ Mit gewissenhafter Langsamkeit malte er mit dem Finger einen kleinen Kreis in die Luft, woraufhin der Bannkreis entstand, den er auch bei meiner Unterrichtsstunde benutzt hatte. Schuldbewusst erinnerte ich mich daran, dass in dieser Stadt ja auch völlig gewöhnliche Menschen lebten, die von der Existenz magischer Kräfte nicht unbedingt etwas wissen wollten und durften. Lavande schien von seiner Äußerung ein wenig irritiert. Sie wollte etwas darauf sagen, doch Nick riss an dieser Stelle der Geduldsfaden. „Was soll das hier?!“ rief er aus. „Geht das die ganze Nacht so weiter?! Bin ich hier den der einzig Normale?!“ „Nein, keine Sorge“, beruhigte Luv ihn. „Wir sind alle verrückt. Dich eingeschlossen.“ In diesem Moment hätte ich meine Faust liebend gern in Nicks Gesicht versenkt, denn nun hob sie die Hand, die nicht an Yasemins Kehle ruhte und formte sie zu einer Kelle. Grelles, weißes Licht glühte darin auf, wandelte sich sogleich zu einer kleinen Kugel. „Wir haben alles beisammen. Die holde Jungfrau, den feuerspeienden Drachen und den Schatz in deiner dürren Hand. Wenn du darauf bestehst, mache ich der ganzen Geschichte jetzt gern ein Ende.“ Kapitel 29 ---------- Mein Herz setzte einige Schläge lang aus, als ich sah, wie sich aus der leuchtenden Kugel ein längliches Gebilde mit einer Spitze herausbildete. Mit einem Geräusch als hätte jemand eine Münze in einem riesigen, doch absolut stillen Saal fallengelassen, wurde aus dem weißen Licht ein Eisblock, dessen spitzes Ende gefährlich blitzte. Eis. Wie passend. Ein eisiger Wurfspeer, der direkt über ihrer Hand schwebte. „Nein!“ schrie Nick und lief auf sie zu. Sie lachte nur hysterisch, den Arm in einer Ausholbewegung zurücknehmend, der das Eis willig folgte. Ich sah es bereits in Yasemins Brust stecken, als Lavande plötzlich die Richtung änderte und es auf Nick schleuderte. „Uaaaah!“ machte dieser und fiel vor Schreck auf die Nase, was ihm wahrscheinlich das Leben rettete. Das Eis flog weiter, sauste an Ronga und mir vorbei und zersplitterte irgendwo, weit entfernt auf Höhe von Rongas Lichtkreis. Lavande nickte anerkennend, während die für Nachschub sorgte, indem sie die Prozedur von eben wiederholte. „Deine Bannkreise sind nach wie vor unübertroffen, ob du nun unkonzentriert bist oder nicht.“ „Irgendetwas muss ich ja besser können als du“, entgegnete er freundlich, hob seine Arme auf Brusthöhe und begann seinerseits, Magie zu wirken. Kleine, goldbraune Lichter umschwirrten seine Hände wie Glühwürmchen. Lavande verzog das Gesicht zu einer hämischen Grimmasse. „Also wirklich, Liebster, sei doch nicht so dumm. Was glaubst du, wen ich als Schutzschild verwenden werde, wenn du mich angreifst? Ich frage mich, was ihn wütender machen würde. Ihr Tod durch meine Hand... oder durch deine. Vielleicht bin ich dir nachher sogar zu Dank verpflichtet.“ Er ließ die Arme wieder sinken und starrte sie an. Die Lichter blieben. „Und wo wir schon dabei sind...“ Sie schaute auf Nick herab, direkt in seine Augen. „Nimm deine geistigen Finger von dem Eisblock. Du wirst ihn nicht einen Millimeter weit bewegen können. Du könntest ihn nicht einmal Ronga entreißen und meine Kräfte sind um ein Vielfaches größer als seine.“ Ich sah seinem verzerrten Gesicht an, dass er nicht sofort gehorchte, doch schließlich gab er nach. Mühsam erhob er sich auf seine vom Schrecken noch ganz wackeligen Beine. Sein Gesicht war bis auf eine kleine Schürfwunde am Kinn unversehrt geblieben. Unwillkürlich ballte ich meine Fäuste. Lavande entging die Regung nicht. Sie musterte mich mit dem Blick einer Siegerin. Ich war tatsächlich wütend, so wie sie gehofft hatte, doch mit der Wut erfasste mich eine seltsame Ruhe. Weder Ronga noch Nick noch ich selbst hatten eine Chance, diese Frau aufzuhalten. Die Situation war aussichtslos und dieser Gedanke legte sich über meine Angst wie ein Schleier aus dickem, schweren Stoff. Es gibt nichts mehr zu verlieren, dachte ich zynisch zumindest nicht für uns. Aber was dich angeht... Wie beiläufig schritt ich auf den Rand des Daches zu. Ich sprach, doch es schien eher von außen zu kommen denn aus meiner eigenen Kehle. „Zu schade“, hörte ich die Worte aus meinem Mund. Das Blut, das durch meine Adern raste untermalte sie mit einem lauten Rauschen, so als kämen sie aus einem Radio mit schlechtem Empfang. „Da lebst du so lang, nur für diesen einen Moment und dann verspielst du deine vielleicht letzte Chance auf den Tod. Ich hab den Stein zum Glühen gekriegt. Vielleicht hätte ich ja versucht, ihn ganz zu aktivieren, wenn du etwas netter zu mir gewesen wärst... Es hätte vielleicht sogar gereicht. Er erfüllt schließlich Wünsche.“ Obwohl ich sie nicht ansah, spürte ich, wie sie den Blick auf mich heftete. „Nun, wenn die Kleine hier nicht der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt, wird es jemand anders sein. Ich bekomme also, was ich will. Egal wie sehr du dich sträubst“, erklärte sie, nach wie vor siegessicher. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich der Arm mit dem neuen Eisblock hob. „Es wäre allerdings angenehmer für die, die du liebst, durch deinen Wutausbruch zu sterben als durch meine Folter... Du könntest ihnen einen schnellen Tod ohne langes Leiden bescheren.“ Ich hatte die betonierte Brüstung des Daches erreicht, schaute in die Tiefe und setzte mich dann auf den Rand, das Gesicht wieder dem Geschehen hier oben zugewandt. Mit stoischer Gelassenheit sah ich sie an und lächelte, ließ sogar die Beine ein wenig baumeln. „Du brauchst dir nicht die Mühe zu machen, Jazz umzubringen, denn du hast bei deiner Planung etwas ganz Entscheidendes übersehen.“ „So?“ fragte sie ironisch und legte den Kopf schief, die Hand mit dem neuen Eisblock über sich erhoben. „Da bin ich aber neugierig, mein Kleiner.“ Ich warf einen bedeutungsvollen Blick hinunter und lehnte mich ein wenig zurück. „Im Gegensatz zu dir bin ich sterblich. Und wenn ich nicht mehr da bin, hast du keinen Grund mehr, meine Freunde zu malträtieren. Natürlich kannst du’s trotzdem tun, wenn du unbedingt willst, aber was denkst du, wie lange es dauern wird, bis du wieder jemanden gefunden hast, der die passenden Gene hat und sich für dein Vorhaben eignet. 100 Jahre? 200? Vielleicht ein ganzes Jahrtausend? Allein dafür lohnt es sich schon, über den Jordan zu gehen.“ Sie grinste. „Lass dich nur fallen. Deine Reflexe werden dich zurückholen. Die Flügel werden sich ausbreiten bevor du auch nur die halbe Strecke zurückgelegt hast.“ „Flügel?“ stellte ich mich dumm. „Aber Luv, welche Flügel denn?“ Rongas Kopf fuhr herum. „Deswegen wurdest du so wütend, als Nick dir auf den Rücken schlug. Rick hat sie dir...“ „Kann ich dich um etwas wirklich Dämliches bitten?“ Er betrachtete mich ein wenig verwirrt, lächelte dann aber. „Kommt drauf an...?“ „Die blonde Frau... Lavande...“ Ich wusste nicht recht, wo ich anfangen sollte. „Sie wird meine Freunde töten, wenn ich nicht einen Weg finde, dasselbe mit ihr zu tun. Dummerweise habe ich keinen Schimmer, wie ich das anstellen soll.“ Er nickte verständnisvoll, auf weitere Ausführungen wartend. „Aber vielleicht gibt es im Notfall einen anderen Weg, sie aufzuhalten. Die ist zwar ziemlich feige und egoistisch, aber...“ Ich brach ab und versuchte es erneut. „Ich muss die Flügel loswerden, wollte ich eigentlich sagen.“ Mit der Hand deutete ich auf die Spitze seines Speers. „Und dann?“ fragte er vorsichtig. „Kann ich dir nicht sagen. Es hängt mit meinen Kräften zusammen.“ Es war nur eine Halbwahrheit, die ich ihm da erzählte, doch sie kam mir vor wie eine dicke Lüge. Inständig hoffte ich, nicht das tun zu müssen, was ich vorhatte. Schlimm genug, dass ich ihn um diesen Gefallen bat, doch es schien mir die sicherste Lösung. Ich war schon einmal mit Aussicht auf den Tod aus großer Höhe gesprungen, als ich vor Lavande geflohen war, also würde ich auch ein zweites Mal den zweifelhaften Mut dafür aufbringen, wenn die Situation ausweglos genug war. Es war feige und unfair den Menschen gegenüber, die zurückblieben, aber in Anbetracht dessen, was mit ihnen geschehen würde, wenn Luv nicht irgendwie aufgehalten wurde, war es mir als letztes Mittel recht. Sie mordete, um mich wütend zu machen. Wenn ich ihr die Grundlage für ihre Taten nahm, würde sie vielleicht aufhören. Ich hoffte es. „Und du bist ganz sicher, dass das sein muss?“ „Vielleicht nicht, aber ich will auf Nummer Sicher gehen. Meinst du, du kriegst es hin?“ Ich neigte meinen Kopf leicht in Richtung seiner Waffe. Er schluckte hart. „Ich... denke schon“, sagte er zögerlich. „Aber bau keinen Mist, wenn sie weg sind. Soweit ich weiß schränkt das auch deine Kräfte ein. Und glaub bloß nicht, dass ich das für eine gute Idee halte.“ Das konnte sicherlich nicht schaden, verhinderte vielleicht den Wutausbruch, auf den Luv hoffte. „Danke“, gab ich zurück. „Du hast was gut bei mir.“ „Ich komm drauf zurück“, meinte er ernst. „Sofern ich dazu eine Gelegenheit bekomme.“ Er schien zu ahnen, was ich vorhatte und tat es dennoch. Seine Art von Vertrauen? Bloße Naivität? Ich hatte keine Ahnung, aber das war bei meiner Menschenkenntnis nichts wirklich Neues. „Und noch was... Kein Wort zu niemandem. Schon gar nicht zu Ronga“ beschwor ich ihn. Hastig nickte er. „Versprochen, aber wir sollten uns beeilen, sonst wird er der Erste sein, dem es komisch vorkommt, dass wir so lang weg sind.“ Er warf einen prüfenden Blick auf den Speer, während ich mich meiner Jacke und meines T-Shirts entledigte, damit sie keine Blutflecken bekamen. Die Flügel auf meinem Rücken erscheinen zu lassen, war dank Rongas Unterrichtsstunde, so leicht geworden wie etwa das Krümmen eines Fingers. In Sekundenschnelle tauchten sie aus dem Nichts aus und verwuchsen mit meinem Rücken, von welchem Rick sie wenig später mit zwei schnellen Hieben trennte. Die Wunden verschloss er notdürftig, während ich mir die Sachen wieder überzog. „Viel Glück“, wünschte er mir, während die Schwärze um uns herum langsam wieder dem Flur wich, auf dem wir gestanden hatten. „W-was? Bist du denn bescheuert?!“ brüllte Nick mich an. „Du kannst doch nicht einfach da runterspringen!“ „So können Sie nicht mit mir reden!“ hörte ich ihn im Geiste sagen und dachte an den Riesenmonitor. Irgendwie war unsere erste Begegnung ja doch ganz amüsant gewesen. Es tat mir leid für ihn, für Rick, für Yasemin und auch für die wenigen anderen Freunde, die ich hinterließ, doch ich wollte die anderen vor dem bewahren, was meiner italienischen Familie wiederfahren war. „Siehst du doch, dass ich kann, Trottel“ spöttelte ich. Nick rannte auf mich zu, während ich mich nach hinten fallen ließ. Zutiefst befriedigt hörte ich, wie Luv schrie. Doch als sich Yasemins Schrei zu dem ihren gesellte, war dieser kleinen Triumph schnell vergessen. Finale: Sterbend ---------------- Von dem Moment an, als Yasemins Lähmung sich löste und sie so schrill und hoch zu kreischen begann, dass ich glaubte, die Fenster des Wolkenkratzers müssten zerbersten, überschlugen sich die Ereignisse. Dennoch hatte ich das Gefühl, die Zeit wäre plötzlich zähflüssig geworden wie Honig. Mit quälender Langsamkeit zog Stockwerk um Stockwerk an mir vorüber. Ich überschlug mich einige Male, während Jazz’ Schrei weiter anschwoll. Kurz glaubte ich, ein grünes Leuchten zu erkennen als ich für den Bruchteil einer Sekunde zum Dach hinaufsehen konnte. Vom Schwindelgefühl der Drehungen ganz benommen schloss ich die Augen, ließ mich einfach fallen. Es war fast wie fliegen, doch ich kannte den feinen Unterschied. Vage erinnerte ich mich an den Sturz, der mir meine Flügel zurückgegeben hatte, wissend dass ich dieses Mal keinen Drachen steigen hören würde. Nicks Stimme mischte sich in die Schreie der beiden Frauen, sodass ein schief anmutender Dreiklang entstand, der einer Ansammlung schlecht gestimmter Geigen alle Ehre gemacht hätte. Ich blickte auf und glaubte einen Augenblick lang, Lavande wäre über das Dach gesprungen, um mich eigenhändig zu retten. Doch es war nicht Luv, die da auf mich zu raste. Es war Nick, das glühende Auge des Orion in der Hand. Hinter seinen Schultern lugten schelmisch zwei weiße Flügel hervor, kaum größer als die einer Taube. Seine Hand schloss sich um mein linkes Handgelenk und ich stellte entrüstet fest, dass ausgerechnet dieser Tollpatsch, dem die Schwerkraft sonst so zumutete, in diesem Moment bestimmt mehr als ein Gesetz der Physik gebrochen hatte, indem er schneller gefallen war als ich. Die dürren Finger krallten sich in meinen Arm, während die Flügel auf seinem Rücken zu einer beachtlichen Größe heranwuchsen. Blanke Wut erfasste mich. Du verdammter Vollidiot! Du spielst ihr damit doch genau in die Hände! Ich hob den Kopf und wenn Blicke hätten töten können, wäre er in diesem Moment nicht einmal lebend davon gekommen, wenn er die sieben Leben einer Katze gehabt hätte. „Lass gefälligst los!“ donnerte ich. Ich zerrte wie ein Besessener, versuchte mein Handgelenk aus der Umklammerung frei zu bekommen, doch er krallte seine Finger nur noch stärker zusammen. „Vergiss es! Du schuldest mir noch ne Frau“, zeterte er zurück. Seine Stimme klang gefährlich brüchig. „Lass los, hab ich gesagt! Willst du dass sie dich und die anderen umbringt?! Wo hast du überhaupt die Flügel her?! Bist du etwa auch so’n verdammter Engel?!“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste, schätze das hängt irgendwie mit dem Stein zusammen... Hey, lenk nicht immer vom Thema ab! Und zappel nicht so rum! Du bist auch so schon schwer genug! Fettklops!“ „Nenn mich noch mal Fettklops, du Knochengestell! Und jetzt lass mich gefälligst fallen!“ Ich zappelte erst recht mit der Folge, dass Nick bedrohlich schwankte. Verwirrt registrierte ich, dass er keine Anstalten machte, das Schaukeln seines Körpers mit den Flügeln auszugleichen. Überhaupt schien er damit nicht umgehen zu können. Er hielt sie einfach krampfhaft gestreckt, während der Wind daran zerrte. „Klar doch!“ höhnte er. „Ich lass dich bestimmt los und guck zu wie du da unten als Matschhaufen endest! Hättest du wohl gern!“ Wieder diese Zerbrechlichkeit in seiner Stimme. Fang bloß nicht noch an zu heulen, du Memme, dachte ich verstört. „Ja, genau das hätte ich - “ Mitten im Satz brach ich ab, als Ronga mir mit solcher Wucht ein Bild vor mein inneres Auge knallte, dass ich davon Kopfschmerzen bekam. Gerade noch sehe ich meine eigenen Füße hinter der Brüstung verschwinden als Lavande aufspringt. Nick hechtet seinerseits mit einem überraschend eleganten Sprung über den Rand, während Lavande ihre Engelsflügel ausfährt und losstürmt. Zunächst schauen nur einige seltsam deplaziert aussehende Federn aus ihrem am Rücken tief ausgeschnittenen Oberteil hervor, doch schnell werden sie mehr. Gleichzeitig glimmt aus der Tiefe das Grün des Steines herauf. Ein Leuchten derselben Farbe erfasst die weißen Federn und plötzlich sind sie fort. Fassungslos bleibt Lavande stehen, starrt Ronga ins Gesicht, weil er nun der Einzige ist, den sie noch anstarren kann. Jazz sitzt in ihrer Ecke, die Hände auf den Ohren, die Augen fest zusammengekniffen und immer noch schreiend. Fasziniert sehe ich, wie sich winzige Falten in ihrem makellosen Gesicht bilden. Silberne Strähnen mischen sich unter das Gold ihres Haars und jegliche Härte weicht aus ihren Zügen. „Teleporter. Er hat meine Flügel“, flüstert sie und lächelt so befreit, als hätte man ihr bleischwere Gewichte vom Körper benommen. Meine schlechten Ohren hätten es wohl nicht gehört, aber da das Bild von Ronga kommt, verstehe ich jedes Wort. Luv hat Freudentränen im Gesicht und einen Moment lang kann ich nicht anders, als mich für sie zu freuen, ob ich nun will oder nicht. „Wir Thore haben den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.“ Ich verstand nicht gleich, warum das alles geschah, doch Ronga half nach, lenkte meine Gedanken in die richtige Richtung. In meinem Gedächtnis blitze ein Fetzen der Unterhaltung auf, die die beiden auf dem Weg zum Turm des Alchemisten führten. „Was wünscht man sich als Engel? Und jetzt sag bitte nicht: Frieden auf Erden!“ „Ach Engel“, schnaubt sie. „Genau genommen sind wir auch nur Menschen mit weißen Flügeln und – mit etwas Glück – einem besonders großen Herzen.“ Das große Herz hatte sie schon lang nicht mehr. Nick, mit der Fähigkeit ausgestattet, magische Dinge zu bewegen, hatte nun auch die Flügel genommen, wobei das Auge des Orion vermutlich seine Kräfte verstärkt hatte. Darum das grüne Leuchten. Langsam begriff ich. Sie war ihrer Definition nach kein Engel mehr. Ihr Wunsch hatte sich erfüllt und somit konnte sie sterben. „Zieh mich rauf!“ rief ich aufgeregt. „Mach schnell!“ „W-was?“ fragte Nick verdutzt. „Moment mal, eben wolltest du doch noch...“ „Sie stirbt! Du hast ihren Wunsch erfüllt! Sie braucht mich nicht mehr, also flieg schon!“ Zaghaft bewegte er die Flügel, doch er konnte immer noch nicht damit umgehen. Kein Wunder. Im Gegensatz zu mir wusste er nicht instinktiv, wie er sie bewegen konnte. Er hatte sie ja erst seit einigen Minuten, während ich mit der Fähigkeit zu fliegen auf die Welt gekommen war. Wir fielen wie Steine, wobei wir uns angstvoll aneinander klammerten. Dieses Mal machte sich die Zeit nicht die Mühe, langsamer zu laufen. Immer schneller stürzten wir, bis sich, kaum mehr als 20 Meter über dem Boden, eine Windbö unter Nicks Schwingen verirrte und uns wieder ein Stück nach oben trug. Wir wussten jedoch beide, dass dieses Glück nur von kurzer Dauer sein würde, wenn uns nicht gleich etwas einfiel. „Kori! Sag mir wie das geht! Du weißt es doch!“ flehte er. Doch wie sollte ich ihm etwas erklären, das sich für mich nicht anders anfühlte als das Bewegen anderer Gliedmaßen? „Sie bewegen sich wie von allein“, sagte ich hilflos. „Ich hab keine Ahnung, wie ich das anstelle. Irgendwann ging es einfach.“ Wieder ein Bild von Ronga. Ich riss die Augen auf und schüttelte vehement den Kopf. Niemals, dachte ich empört. Lieber sterbe ich! Wirklich? War seine prompte Antwort. Sei nicht so kindisch. Ich hätte dir ja beigebracht, wie du deine Kräfte über die Hand überträgst, aber du warst so begriffsstutzig in der Stunde, dass ich dafür leider keine Zeit mehr gefunden habe. Ich brauchte ihn nicht zu hören oder zu sehen, um zu wissen, dass er schadenfroh von einem Ohr zum anderen grinste. „Mund auf“, sagte ich trocken zu Nick, während ich mich vor Unwillen und Ekel schüttelte. „Wie? Was?“ wunderte er sich. „Mund auf. Aber reiß ihn nicht auf wie beim Zahnarzt. Und wenn du gleich irgendwelche falschen Schlüsse ziehst, schlag ich meine Faust so tief in dein Gesicht, dass du dir zum Naseputzen in den Rachen greifen musst.“ Er wurde noch immer kein bisschen schlauer aus dem, was ich sagte, öffnete aber sofort den Mund, als der Auftrieb unter seinen Flügeln nachließ und wir dem Boden wieder in gefährlichem Tempo näher kamen. Dennoch dauerte es ein wenig, bis ich mich dazu überwinden konnte, meine Lippen auf seine zu drücken und ihm eine kleine Flamme in den Mund zu speien. Zu unser beider Überraschung war sie zwar warm, aber nicht so unangenehm heiß, dass Nick womöglich die Mundhöhle verbrannte. Er riss vor Schreck und Verblüffung die Augen auf, nahm aber glücklicherweise an, was ich ihm da auf so ungewöhnlichem Wege zukommen ließ. Eilig löste ich mich wieder von ihm, doch ich fühlte mich, als wäre ich immer noch mit ihm verbunden. Auf eine dem Gefühlsleben ferne, physische Weise. Ich sah wie sich ein leerer Ausdruck in seine Augen schlich. Gleichzeitig waren mir meine Gliedmaßen mit einem Mal viel zu lang, als wären meine Arme dazu gemacht, alles in meiner Nähe umzuschmeißen und als würfen sich meine Beine selbst Knüppel zwischen die Füße. War das die Art, auf die Nick seinen Körper wahrnahm? Fast bemitleidenswert. Ich kam mir vor als hinge ich gleichzeitig bäuchlings und rücklings in der Luft und spürte ein mir vertrautes Gewicht auf dem Rücken. Reflexartig warf ich einen Blick auf seine Flügel. Ihre Farbe hatte sich verändert, war von dem reinen Weiß zu einem undurchdringlichen Schwarz geworden. Ich machte mit den Überresten meiner eigenen Schwingen eine schlagende Bewegung und registrierte mit stummer Faszination wie sich die seinigen bewegten. Ich spürte die Aufwinde wie die Phantomschmerzen eines Menschen, der ein Bein oder einen Arm verloren hatte. Vorsichtig machte ich noch einen Flügelschlag, dann noch einen und noch einen. Wir gewannen an Höhe. Nick sah mich an wie aus weiter Ferne. „Unheimlich“, flüsterte er. Ich nickte. „Hoffentlich kann Ronga das wieder entwirren. Wie hältst du es nur in so einem Körper aus?“ „Gar nicht“, meinte er leicht grinsend. „Wie überlebst du mit so einem kleinen Gehirn?“ Die Verbindung funktionierte wohl in beide Richtungen. Ich beeilte mich, uns nach oben zu bringen, um sie schnell wieder lösen zu können. Epilog: Epilog -------------- Jazz half uns, über Brüstung zurück auf’s Dach zu klettern. Sie zitterte leicht und ein riesiges Fragezeichen stand ihr auf die gerunzelte Stirn geschrieben, was zusammen mit dem freudigen Ausdruck in ihren Augen ziemlich komisch wirkte. „Alles okay?“ fragte sie vorsichtig. „So einigermaßen“, antwortete ich ein wenig unsicher und sah mich nach Ronga um. Er hockte nur wenige Meter von mir entfernt neben Lavande, die friedlich auf dem Boden lag. Ihre Haut hatte nun tiefe Furchen. Besonders die große Sorgenfalte zwischen ihren Augenbrauen fiel mir auf. Millimeterweise drehte sie den Kopf zu uns herum. Yasemin erwiderte ihren Blick mit unverklärtem Hass. „Schon gut“, beschwichtigte ich sie, obwohl ich selbst ähnlich empfand. „Ich denke, sie ist jetzt ungefährlich.“ Luv nickte wie zur Bestätigung. „Ich glaube, die beiden jungen Männer dort möchten gern wieder voneinander getrennt werden“, sagte sie zu Ronga. Er wandte sich seinerseits um. Als ich sein Gesicht sah, bildete sich ein dicker Kloß in meinem Hals. Zwar hatte er nur einige Lachfalten um Mund und Augen, die ihn eher wie 40 als hunderte Jahre alt aussehen ließen, doch das war für mich schon schlimm genug. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich begonnen hatte, diesen Kerl zu mögen. Nun ging er einfach mit ihr? Mit dem beschwingten Gang eines jungen Mannes trat er auf uns zu, stellte sich hinter Nick, genau zwischen seine Flügel, und machte dort einige komplizierte Handzeichen. Mit jeder seiner Bewegungen schien ein Stück meiner normalen Selbstwahrnehmung zu mir zurückzukehren. Nick seufzte erleichtert. „Und? War’s schlimm?“ fragte er mich schelmisch. „Ja!“ riefen Nick und ich einstimmig. „Warum muss denn das ausgerechnet so funktionieren?“ beschwerte er sich dann allein weiter. „Weil du nun einmal das Pech hattest, an einen Drachen zu geraten und nicht an einen Feuermagier. Und Drachen erzeugen das Feuer nun mal im...“ Er warf einen Blick auf Yasemin, die ihn interessiert ansah. „... Anfangsstadium auf diese Weise.“ „Kori?“ flötete sie. „Hast du ne Ahnung, was er damit meint?“ „Nein“, erwiderte ich etwas harscher als ich eigentlich wollte. Ronga lachte. „Der Stolz der halbwüchsigen Männer war schon immer ein Kapitel für sich.“ „Kannst du laut sagen“, pflichtete Jazz ihm bei. „Wenn ihr mich dann jetzt entschuldigen würdet...“ Er machte Anstalten, wieder zu Luv hinüber zu gehen. „Warte!“ warf ich ein. „Warum hast du... Ich meine... Warum kriegst du auch diese Falten?“ Wieder lachte er. „Na hör mal! Dafür, dass ich so alt bin, halte ich mich doch noch ganz gut.“ Dann plötzlich schlich sich ein trauriger Ausdruck in seine Züge. „Vanya ist unten. Ich habe sie aufspüren können. Würdest du ihr sagen, dass ich mich freue, sie lebend zu wissen?“ „Klar“, antwortete ich sehr leise. „Würdest du auch Rick etwas von mir ausrichten?“ Ich nickte nur, unfähig zu sprechen. „Dann sag ihm bitte, dass ich es bereue, ihn angelogen zu haben. Ich hatte...“ Er räusperte sich, weil seine Stimme ihm nicht recht gehorchen wollte. „... noch nie zuvor ein graues Haar. Und ebenso bereue ich, ihr damals die Treue bis in den Tod geschworen zu haben, so wie es bei uns Nachtwölfen üblich ist, wenn jemand einem von uns das Leben rettet. Mein Versprechen ereilt mich zu dem Zeitpunkt, da ich mein Leben am meisten genossen habe.“ „Werd’s ihm sagen“, krächzte ich heiser und wünschte mir nichts mehr, als ein paar tröstende Worte zu finden. „Danke“ war das einzige, das ich fand. Er lächelte, offenbar mit dieser Antwort zufrieden. „Ebenfalls“, gab er zurück. „Auf Wiedersehen... Irgendwann.“ „Ja, das klingt gut“, meinte ich. Ich wischte mir über die Augen, bevor ich es bemerken und verhindern konnte. „Auf Wiedersehen.“ Er kehrte zu Lavande zurück, neben die er sich setzte. „Es tut mir leid“, wisperte sie so rau und heiser, dass ich es kaum hörte. Ich lächelte befangen. „Vielleicht... verzeih ich’s dir irgendwann.“ „Lass dir Zeit“, meinte sie und lächelte zurück. Dann zerfielen beide mit einem Mal zu Asche. Der Wind, der hier oben wehte, trug sie davon, während Rongas Bannkreis verglühte und menschliches Leben in seinem Radius auftauchte. Ganz normale Menschen auf dem Weg zur Arbeit oder wohin auch immer. Yasemin, Nick und ich bleiben noch eine ganze Weile reglos stehen, ohne ein Wort zu sagen. Jeder von uns hing seinen ganz eigenen Gedanken nach. Meine waren bei Ronga, Lavande und meiner neu gewonnen Freiheit. Ich war traurig und hatte Angst davor, Rick Rongas Nachricht überbringen zu müssen, doch gleichzeitig erfüllte mich unbändige Freude. Irgendwo weit hinten am Horizont erhob sich schläfrig die Sonne, unbekümmert von all den großen Dingen, die in ihrer Abwesenheit geschehen waren. Es war mein Magen, der die Stille brach, indem er lautstark knurrte. „Du sagst es!“ jubilierte Jazz. „Ich hab n Bärenhunger! Gehen wir frühstücken und ne Schnitte für Nick aufreißen!“ Sie packte mein Ohr und zog es zu sich in die Höhe. „Und du, mein werter Exfreund hast mir noch so einiges zu erklären über Engel, uralte Männer und feuerspeiende Drachen!“ Fassungslos schaute Nick zwischen uns hin und her. „Wie könnt ihr in so einer Situation nur ans Essen denken?“ wollte er wissen. „Sowas kann echt nur ein Magersüchtiger wie du fragen“, prustete ich. „Jazz, du blöde Schlampe! Lass mein Ohr los, verdammt!“ Erstaunlicherweise tat sie wie geheißen. „Erstaunlich, du Wurm. Du hast mal recht. Er ist echt dünn. Also stopfen wir ihn erst voll und suchen ihm dann ne Frau. Wer zuletzt unten ist, muss zahlen!“ Und schon rannte sie los. Nick wollte ihr nachlaufen, doch ich hielt ihn an der Schulter fest. „Danke für’s retten du sentimentales Arschloch.“ „Keine Sorge, kommt bestimmt nicht wieder vor. Und du zahlst das Essen“, versicherte er mir. Wir folgten Jazz ins Treppenhaus. Hosted by Animexx e.V. 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