Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Finale: Sterbend ---------------- Von dem Moment an, als Yasemins Lähmung sich löste und sie so schrill und hoch zu kreischen begann, dass ich glaubte, die Fenster des Wolkenkratzers müssten zerbersten, überschlugen sich die Ereignisse. Dennoch hatte ich das Gefühl, die Zeit wäre plötzlich zähflüssig geworden wie Honig. Mit quälender Langsamkeit zog Stockwerk um Stockwerk an mir vorüber. Ich überschlug mich einige Male, während Jazz’ Schrei weiter anschwoll. Kurz glaubte ich, ein grünes Leuchten zu erkennen als ich für den Bruchteil einer Sekunde zum Dach hinaufsehen konnte. Vom Schwindelgefühl der Drehungen ganz benommen schloss ich die Augen, ließ mich einfach fallen. Es war fast wie fliegen, doch ich kannte den feinen Unterschied. Vage erinnerte ich mich an den Sturz, der mir meine Flügel zurückgegeben hatte, wissend dass ich dieses Mal keinen Drachen steigen hören würde. Nicks Stimme mischte sich in die Schreie der beiden Frauen, sodass ein schief anmutender Dreiklang entstand, der einer Ansammlung schlecht gestimmter Geigen alle Ehre gemacht hätte. Ich blickte auf und glaubte einen Augenblick lang, Lavande wäre über das Dach gesprungen, um mich eigenhändig zu retten. Doch es war nicht Luv, die da auf mich zu raste. Es war Nick, das glühende Auge des Orion in der Hand. Hinter seinen Schultern lugten schelmisch zwei weiße Flügel hervor, kaum größer als die einer Taube. Seine Hand schloss sich um mein linkes Handgelenk und ich stellte entrüstet fest, dass ausgerechnet dieser Tollpatsch, dem die Schwerkraft sonst so zumutete, in diesem Moment bestimmt mehr als ein Gesetz der Physik gebrochen hatte, indem er schneller gefallen war als ich. Die dürren Finger krallten sich in meinen Arm, während die Flügel auf seinem Rücken zu einer beachtlichen Größe heranwuchsen. Blanke Wut erfasste mich. Du verdammter Vollidiot! Du spielst ihr damit doch genau in die Hände! Ich hob den Kopf und wenn Blicke hätten töten können, wäre er in diesem Moment nicht einmal lebend davon gekommen, wenn er die sieben Leben einer Katze gehabt hätte. „Lass gefälligst los!“ donnerte ich. Ich zerrte wie ein Besessener, versuchte mein Handgelenk aus der Umklammerung frei zu bekommen, doch er krallte seine Finger nur noch stärker zusammen. „Vergiss es! Du schuldest mir noch ne Frau“, zeterte er zurück. Seine Stimme klang gefährlich brüchig. „Lass los, hab ich gesagt! Willst du dass sie dich und die anderen umbringt?! Wo hast du überhaupt die Flügel her?! Bist du etwa auch so’n verdammter Engel?!“ Er schüttelte den Kopf. „Nicht dass ich wüsste, schätze das hängt irgendwie mit dem Stein zusammen... Hey, lenk nicht immer vom Thema ab! Und zappel nicht so rum! Du bist auch so schon schwer genug! Fettklops!“ „Nenn mich noch mal Fettklops, du Knochengestell! Und jetzt lass mich gefälligst fallen!“ Ich zappelte erst recht mit der Folge, dass Nick bedrohlich schwankte. Verwirrt registrierte ich, dass er keine Anstalten machte, das Schaukeln seines Körpers mit den Flügeln auszugleichen. Überhaupt schien er damit nicht umgehen zu können. Er hielt sie einfach krampfhaft gestreckt, während der Wind daran zerrte. „Klar doch!“ höhnte er. „Ich lass dich bestimmt los und guck zu wie du da unten als Matschhaufen endest! Hättest du wohl gern!“ Wieder diese Zerbrechlichkeit in seiner Stimme. Fang bloß nicht noch an zu heulen, du Memme, dachte ich verstört. „Ja, genau das hätte ich - “ Mitten im Satz brach ich ab, als Ronga mir mit solcher Wucht ein Bild vor mein inneres Auge knallte, dass ich davon Kopfschmerzen bekam. Gerade noch sehe ich meine eigenen Füße hinter der Brüstung verschwinden als Lavande aufspringt. Nick hechtet seinerseits mit einem überraschend eleganten Sprung über den Rand, während Lavande ihre Engelsflügel ausfährt und losstürmt. Zunächst schauen nur einige seltsam deplaziert aussehende Federn aus ihrem am Rücken tief ausgeschnittenen Oberteil hervor, doch schnell werden sie mehr. Gleichzeitig glimmt aus der Tiefe das Grün des Steines herauf. Ein Leuchten derselben Farbe erfasst die weißen Federn und plötzlich sind sie fort. Fassungslos bleibt Lavande stehen, starrt Ronga ins Gesicht, weil er nun der Einzige ist, den sie noch anstarren kann. Jazz sitzt in ihrer Ecke, die Hände auf den Ohren, die Augen fest zusammengekniffen und immer noch schreiend. Fasziniert sehe ich, wie sich winzige Falten in ihrem makellosen Gesicht bilden. Silberne Strähnen mischen sich unter das Gold ihres Haars und jegliche Härte weicht aus ihren Zügen. „Teleporter. Er hat meine Flügel“, flüstert sie und lächelt so befreit, als hätte man ihr bleischwere Gewichte vom Körper benommen. Meine schlechten Ohren hätten es wohl nicht gehört, aber da das Bild von Ronga kommt, verstehe ich jedes Wort. Luv hat Freudentränen im Gesicht und einen Moment lang kann ich nicht anders, als mich für sie zu freuen, ob ich nun will oder nicht. „Wir Thore haben den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen.“ Ich verstand nicht gleich, warum das alles geschah, doch Ronga half nach, lenkte meine Gedanken in die richtige Richtung. In meinem Gedächtnis blitze ein Fetzen der Unterhaltung auf, die die beiden auf dem Weg zum Turm des Alchemisten führten. „Was wünscht man sich als Engel? Und jetzt sag bitte nicht: Frieden auf Erden!“ „Ach Engel“, schnaubt sie. „Genau genommen sind wir auch nur Menschen mit weißen Flügeln und – mit etwas Glück – einem besonders großen Herzen.“ Das große Herz hatte sie schon lang nicht mehr. Nick, mit der Fähigkeit ausgestattet, magische Dinge zu bewegen, hatte nun auch die Flügel genommen, wobei das Auge des Orion vermutlich seine Kräfte verstärkt hatte. Darum das grüne Leuchten. Langsam begriff ich. Sie war ihrer Definition nach kein Engel mehr. Ihr Wunsch hatte sich erfüllt und somit konnte sie sterben. „Zieh mich rauf!“ rief ich aufgeregt. „Mach schnell!“ „W-was?“ fragte Nick verdutzt. „Moment mal, eben wolltest du doch noch...“ „Sie stirbt! Du hast ihren Wunsch erfüllt! Sie braucht mich nicht mehr, also flieg schon!“ Zaghaft bewegte er die Flügel, doch er konnte immer noch nicht damit umgehen. Kein Wunder. Im Gegensatz zu mir wusste er nicht instinktiv, wie er sie bewegen konnte. Er hatte sie ja erst seit einigen Minuten, während ich mit der Fähigkeit zu fliegen auf die Welt gekommen war. Wir fielen wie Steine, wobei wir uns angstvoll aneinander klammerten. Dieses Mal machte sich die Zeit nicht die Mühe, langsamer zu laufen. Immer schneller stürzten wir, bis sich, kaum mehr als 20 Meter über dem Boden, eine Windbö unter Nicks Schwingen verirrte und uns wieder ein Stück nach oben trug. Wir wussten jedoch beide, dass dieses Glück nur von kurzer Dauer sein würde, wenn uns nicht gleich etwas einfiel. „Kori! Sag mir wie das geht! Du weißt es doch!“ flehte er. Doch wie sollte ich ihm etwas erklären, das sich für mich nicht anders anfühlte als das Bewegen anderer Gliedmaßen? „Sie bewegen sich wie von allein“, sagte ich hilflos. „Ich hab keine Ahnung, wie ich das anstelle. Irgendwann ging es einfach.“ Wieder ein Bild von Ronga. Ich riss die Augen auf und schüttelte vehement den Kopf. Niemals, dachte ich empört. Lieber sterbe ich! Wirklich? War seine prompte Antwort. Sei nicht so kindisch. Ich hätte dir ja beigebracht, wie du deine Kräfte über die Hand überträgst, aber du warst so begriffsstutzig in der Stunde, dass ich dafür leider keine Zeit mehr gefunden habe. Ich brauchte ihn nicht zu hören oder zu sehen, um zu wissen, dass er schadenfroh von einem Ohr zum anderen grinste. „Mund auf“, sagte ich trocken zu Nick, während ich mich vor Unwillen und Ekel schüttelte. „Wie? Was?“ wunderte er sich. „Mund auf. Aber reiß ihn nicht auf wie beim Zahnarzt. Und wenn du gleich irgendwelche falschen Schlüsse ziehst, schlag ich meine Faust so tief in dein Gesicht, dass du dir zum Naseputzen in den Rachen greifen musst.“ Er wurde noch immer kein bisschen schlauer aus dem, was ich sagte, öffnete aber sofort den Mund, als der Auftrieb unter seinen Flügeln nachließ und wir dem Boden wieder in gefährlichem Tempo näher kamen. Dennoch dauerte es ein wenig, bis ich mich dazu überwinden konnte, meine Lippen auf seine zu drücken und ihm eine kleine Flamme in den Mund zu speien. Zu unser beider Überraschung war sie zwar warm, aber nicht so unangenehm heiß, dass Nick womöglich die Mundhöhle verbrannte. Er riss vor Schreck und Verblüffung die Augen auf, nahm aber glücklicherweise an, was ich ihm da auf so ungewöhnlichem Wege zukommen ließ. Eilig löste ich mich wieder von ihm, doch ich fühlte mich, als wäre ich immer noch mit ihm verbunden. Auf eine dem Gefühlsleben ferne, physische Weise. Ich sah wie sich ein leerer Ausdruck in seine Augen schlich. Gleichzeitig waren mir meine Gliedmaßen mit einem Mal viel zu lang, als wären meine Arme dazu gemacht, alles in meiner Nähe umzuschmeißen und als würfen sich meine Beine selbst Knüppel zwischen die Füße. War das die Art, auf die Nick seinen Körper wahrnahm? Fast bemitleidenswert. Ich kam mir vor als hinge ich gleichzeitig bäuchlings und rücklings in der Luft und spürte ein mir vertrautes Gewicht auf dem Rücken. Reflexartig warf ich einen Blick auf seine Flügel. Ihre Farbe hatte sich verändert, war von dem reinen Weiß zu einem undurchdringlichen Schwarz geworden. Ich machte mit den Überresten meiner eigenen Schwingen eine schlagende Bewegung und registrierte mit stummer Faszination wie sich die seinigen bewegten. Ich spürte die Aufwinde wie die Phantomschmerzen eines Menschen, der ein Bein oder einen Arm verloren hatte. Vorsichtig machte ich noch einen Flügelschlag, dann noch einen und noch einen. Wir gewannen an Höhe. Nick sah mich an wie aus weiter Ferne. „Unheimlich“, flüsterte er. Ich nickte. „Hoffentlich kann Ronga das wieder entwirren. Wie hältst du es nur in so einem Körper aus?“ „Gar nicht“, meinte er leicht grinsend. „Wie überlebst du mit so einem kleinen Gehirn?“ Die Verbindung funktionierte wohl in beide Richtungen. Ich beeilte mich, uns nach oben zu bringen, um sie schnell wieder lösen zu können. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)