Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 29 ---------- Mein Herz setzte einige Schläge lang aus, als ich sah, wie sich aus der leuchtenden Kugel ein längliches Gebilde mit einer Spitze herausbildete. Mit einem Geräusch als hätte jemand eine Münze in einem riesigen, doch absolut stillen Saal fallengelassen, wurde aus dem weißen Licht ein Eisblock, dessen spitzes Ende gefährlich blitzte. Eis. Wie passend. Ein eisiger Wurfspeer, der direkt über ihrer Hand schwebte. „Nein!“ schrie Nick und lief auf sie zu. Sie lachte nur hysterisch, den Arm in einer Ausholbewegung zurücknehmend, der das Eis willig folgte. Ich sah es bereits in Yasemins Brust stecken, als Lavande plötzlich die Richtung änderte und es auf Nick schleuderte. „Uaaaah!“ machte dieser und fiel vor Schreck auf die Nase, was ihm wahrscheinlich das Leben rettete. Das Eis flog weiter, sauste an Ronga und mir vorbei und zersplitterte irgendwo, weit entfernt auf Höhe von Rongas Lichtkreis. Lavande nickte anerkennend, während die für Nachschub sorgte, indem sie die Prozedur von eben wiederholte. „Deine Bannkreise sind nach wie vor unübertroffen, ob du nun unkonzentriert bist oder nicht.“ „Irgendetwas muss ich ja besser können als du“, entgegnete er freundlich, hob seine Arme auf Brusthöhe und begann seinerseits, Magie zu wirken. Kleine, goldbraune Lichter umschwirrten seine Hände wie Glühwürmchen. Lavande verzog das Gesicht zu einer hämischen Grimmasse. „Also wirklich, Liebster, sei doch nicht so dumm. Was glaubst du, wen ich als Schutzschild verwenden werde, wenn du mich angreifst? Ich frage mich, was ihn wütender machen würde. Ihr Tod durch meine Hand... oder durch deine. Vielleicht bin ich dir nachher sogar zu Dank verpflichtet.“ Er ließ die Arme wieder sinken und starrte sie an. Die Lichter blieben. „Und wo wir schon dabei sind...“ Sie schaute auf Nick herab, direkt in seine Augen. „Nimm deine geistigen Finger von dem Eisblock. Du wirst ihn nicht einen Millimeter weit bewegen können. Du könntest ihn nicht einmal Ronga entreißen und meine Kräfte sind um ein Vielfaches größer als seine.“ Ich sah seinem verzerrten Gesicht an, dass er nicht sofort gehorchte, doch schließlich gab er nach. Mühsam erhob er sich auf seine vom Schrecken noch ganz wackeligen Beine. Sein Gesicht war bis auf eine kleine Schürfwunde am Kinn unversehrt geblieben. Unwillkürlich ballte ich meine Fäuste. Lavande entging die Regung nicht. Sie musterte mich mit dem Blick einer Siegerin. Ich war tatsächlich wütend, so wie sie gehofft hatte, doch mit der Wut erfasste mich eine seltsame Ruhe. Weder Ronga noch Nick noch ich selbst hatten eine Chance, diese Frau aufzuhalten. Die Situation war aussichtslos und dieser Gedanke legte sich über meine Angst wie ein Schleier aus dickem, schweren Stoff. Es gibt nichts mehr zu verlieren, dachte ich zynisch zumindest nicht für uns. Aber was dich angeht... Wie beiläufig schritt ich auf den Rand des Daches zu. Ich sprach, doch es schien eher von außen zu kommen denn aus meiner eigenen Kehle. „Zu schade“, hörte ich die Worte aus meinem Mund. Das Blut, das durch meine Adern raste untermalte sie mit einem lauten Rauschen, so als kämen sie aus einem Radio mit schlechtem Empfang. „Da lebst du so lang, nur für diesen einen Moment und dann verspielst du deine vielleicht letzte Chance auf den Tod. Ich hab den Stein zum Glühen gekriegt. Vielleicht hätte ich ja versucht, ihn ganz zu aktivieren, wenn du etwas netter zu mir gewesen wärst... Es hätte vielleicht sogar gereicht. Er erfüllt schließlich Wünsche.“ Obwohl ich sie nicht ansah, spürte ich, wie sie den Blick auf mich heftete. „Nun, wenn die Kleine hier nicht der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt, wird es jemand anders sein. Ich bekomme also, was ich will. Egal wie sehr du dich sträubst“, erklärte sie, nach wie vor siegessicher. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich der Arm mit dem neuen Eisblock hob. „Es wäre allerdings angenehmer für die, die du liebst, durch deinen Wutausbruch zu sterben als durch meine Folter... Du könntest ihnen einen schnellen Tod ohne langes Leiden bescheren.“ Ich hatte die betonierte Brüstung des Daches erreicht, schaute in die Tiefe und setzte mich dann auf den Rand, das Gesicht wieder dem Geschehen hier oben zugewandt. Mit stoischer Gelassenheit sah ich sie an und lächelte, ließ sogar die Beine ein wenig baumeln. „Du brauchst dir nicht die Mühe zu machen, Jazz umzubringen, denn du hast bei deiner Planung etwas ganz Entscheidendes übersehen.“ „So?“ fragte sie ironisch und legte den Kopf schief, die Hand mit dem neuen Eisblock über sich erhoben. „Da bin ich aber neugierig, mein Kleiner.“ Ich warf einen bedeutungsvollen Blick hinunter und lehnte mich ein wenig zurück. „Im Gegensatz zu dir bin ich sterblich. Und wenn ich nicht mehr da bin, hast du keinen Grund mehr, meine Freunde zu malträtieren. Natürlich kannst du’s trotzdem tun, wenn du unbedingt willst, aber was denkst du, wie lange es dauern wird, bis du wieder jemanden gefunden hast, der die passenden Gene hat und sich für dein Vorhaben eignet. 100 Jahre? 200? Vielleicht ein ganzes Jahrtausend? Allein dafür lohnt es sich schon, über den Jordan zu gehen.“ Sie grinste. „Lass dich nur fallen. Deine Reflexe werden dich zurückholen. Die Flügel werden sich ausbreiten bevor du auch nur die halbe Strecke zurückgelegt hast.“ „Flügel?“ stellte ich mich dumm. „Aber Luv, welche Flügel denn?“ Rongas Kopf fuhr herum. „Deswegen wurdest du so wütend, als Nick dir auf den Rücken schlug. Rick hat sie dir...“ „Kann ich dich um etwas wirklich Dämliches bitten?“ Er betrachtete mich ein wenig verwirrt, lächelte dann aber. „Kommt drauf an...?“ „Die blonde Frau... Lavande...“ Ich wusste nicht recht, wo ich anfangen sollte. „Sie wird meine Freunde töten, wenn ich nicht einen Weg finde, dasselbe mit ihr zu tun. Dummerweise habe ich keinen Schimmer, wie ich das anstellen soll.“ Er nickte verständnisvoll, auf weitere Ausführungen wartend. „Aber vielleicht gibt es im Notfall einen anderen Weg, sie aufzuhalten. Die ist zwar ziemlich feige und egoistisch, aber...“ Ich brach ab und versuchte es erneut. „Ich muss die Flügel loswerden, wollte ich eigentlich sagen.“ Mit der Hand deutete ich auf die Spitze seines Speers. „Und dann?“ fragte er vorsichtig. „Kann ich dir nicht sagen. Es hängt mit meinen Kräften zusammen.“ Es war nur eine Halbwahrheit, die ich ihm da erzählte, doch sie kam mir vor wie eine dicke Lüge. Inständig hoffte ich, nicht das tun zu müssen, was ich vorhatte. Schlimm genug, dass ich ihn um diesen Gefallen bat, doch es schien mir die sicherste Lösung. Ich war schon einmal mit Aussicht auf den Tod aus großer Höhe gesprungen, als ich vor Lavande geflohen war, also würde ich auch ein zweites Mal den zweifelhaften Mut dafür aufbringen, wenn die Situation ausweglos genug war. Es war feige und unfair den Menschen gegenüber, die zurückblieben, aber in Anbetracht dessen, was mit ihnen geschehen würde, wenn Luv nicht irgendwie aufgehalten wurde, war es mir als letztes Mittel recht. Sie mordete, um mich wütend zu machen. Wenn ich ihr die Grundlage für ihre Taten nahm, würde sie vielleicht aufhören. Ich hoffte es. „Und du bist ganz sicher, dass das sein muss?“ „Vielleicht nicht, aber ich will auf Nummer Sicher gehen. Meinst du, du kriegst es hin?“ Ich neigte meinen Kopf leicht in Richtung seiner Waffe. Er schluckte hart. „Ich... denke schon“, sagte er zögerlich. „Aber bau keinen Mist, wenn sie weg sind. Soweit ich weiß schränkt das auch deine Kräfte ein. Und glaub bloß nicht, dass ich das für eine gute Idee halte.“ Das konnte sicherlich nicht schaden, verhinderte vielleicht den Wutausbruch, auf den Luv hoffte. „Danke“, gab ich zurück. „Du hast was gut bei mir.“ „Ich komm drauf zurück“, meinte er ernst. „Sofern ich dazu eine Gelegenheit bekomme.“ Er schien zu ahnen, was ich vorhatte und tat es dennoch. Seine Art von Vertrauen? Bloße Naivität? Ich hatte keine Ahnung, aber das war bei meiner Menschenkenntnis nichts wirklich Neues. „Und noch was... Kein Wort zu niemandem. Schon gar nicht zu Ronga“ beschwor ich ihn. Hastig nickte er. „Versprochen, aber wir sollten uns beeilen, sonst wird er der Erste sein, dem es komisch vorkommt, dass wir so lang weg sind.“ Er warf einen prüfenden Blick auf den Speer, während ich mich meiner Jacke und meines T-Shirts entledigte, damit sie keine Blutflecken bekamen. Die Flügel auf meinem Rücken erscheinen zu lassen, war dank Rongas Unterrichtsstunde, so leicht geworden wie etwa das Krümmen eines Fingers. In Sekundenschnelle tauchten sie aus dem Nichts aus und verwuchsen mit meinem Rücken, von welchem Rick sie wenig später mit zwei schnellen Hieben trennte. Die Wunden verschloss er notdürftig, während ich mir die Sachen wieder überzog. „Viel Glück“, wünschte er mir, während die Schwärze um uns herum langsam wieder dem Flur wich, auf dem wir gestanden hatten. „W-was? Bist du denn bescheuert?!“ brüllte Nick mich an. „Du kannst doch nicht einfach da runterspringen!“ „So können Sie nicht mit mir reden!“ hörte ich ihn im Geiste sagen und dachte an den Riesenmonitor. Irgendwie war unsere erste Begegnung ja doch ganz amüsant gewesen. Es tat mir leid für ihn, für Rick, für Yasemin und auch für die wenigen anderen Freunde, die ich hinterließ, doch ich wollte die anderen vor dem bewahren, was meiner italienischen Familie wiederfahren war. „Siehst du doch, dass ich kann, Trottel“ spöttelte ich. Nick rannte auf mich zu, während ich mich nach hinten fallen ließ. Zutiefst befriedigt hörte ich, wie Luv schrie. Doch als sich Yasemins Schrei zu dem ihren gesellte, war dieser kleinen Triumph schnell vergessen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)