Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Intermezzo: Liebend ------------------- Eine blonde Frau und Koris dreht durch. Der Gedanke hatte sich in Yasemins Kopf eingenistet wie ein Parasit. Noch lang hatte sie am Vortag dem Taxi nachgesehen, das mit den beiden (Dieser Nick, woher hat er den plötzlich? Er ist doch sonst so ein Einzelgänger.) davongefahren war. Sie machte sich Sorgen und diese hielten sie wach, so wie sie sie auch schon gestern wachgehalten hatten. Sie bewirkten, dass sie sich unruhig im Bett hin und her wälzte, statt zu schlafen, bis sie schließlich aufstand und in ihrem Zimmer herumlief. Yasemin sah sich darin um, als betrete sie es zum ersten Mal. Überall Pflanzen, größtenteils in jahrelanger Fürsorge aufgezogen. Normalerweise beruhigte das Grün sie, doch nicht heute nacht. Eine blonde Frau und Kori dreht durch. ICH drehe gleich durch, wenn mir das nicht aus dem Kopf geht! Den ganzen Tag über hatte sie immer wieder versucht, Kori zu erreichen, doch weder am Festnetz noch auf dem Handy hatte sich jemand gemeldet. Sie hatte bewusst ihre Nummer nicht unterdrückt. Normalerweise ging er doch immer ran, wenn er sah, dass sie es war. Zumindest, wenn sie nicht gerade stritten. Schwankend ging sie ans Fenster, schaute hinunter auf die Stadt. Es war ein schöner Karaokeabend gewesen, bis sie auf der Toilette verschwunden war. Bei ihrer Rückkehr hatte Kori seine Hände an der Kehle einer blonden Frau gehabt. Wenig später die Prügelei. Dann dieser riesige Mann mit dem langen, seltsam ausgefransten Zopf und der ungewöhnlichen Sprechweise. Wann hatte sie den Kontakt zu Koris sozialem Umfeld verloren? Eine blonde (blonde!) Frau und Kori dreht durch. Hatte sie ihn jemals so ängstlich gesehen wie gestern nacht im Wagen? Oh ja, sie hatte. Ein einziges Mal. Als sie ihn nach dem blonden Haar gefragt hatte. Dem Haar in seiner Tasche, von dem sie geglaubt hatte, es gehöre einer Affäre von ihm. Da hatte er so ausgesehen. Sein Blick war der eines lebenden Toten gewesen und als sie später, nach der Versöhnung, wieder zusammen im Bett gelegen hatten, hatte er sich in einer Weise verhalten, die für ihn sehr untypisch war. Sonst war er es, der sie vor allen Möglichen Schwierigkeiten bewahrt hatte und noch bewahrte. Von der drohenden Sechs in Mathe bis hin zu gewaltigen materiellen und vor allem emotionalen Krisen. Er war immer wie ein schützender Schatten bei ihr gewesen. Doch nachdem er ihr das Dokument dieser Psychologin übergeben hatte... Bis zum Morgen war er es gewesen, der plötzlich Schutz bei ihr suchte, wenn auch widerwillig. „Vielleicht war an deinen Träumen doch so viel dran wie du gedacht hast. Kannst du dich inzwischen erinnern?“ fragte sie den Dschungel um sich herum. Wie in Trance nahm sie einen Ordner vom Regal über ihrem Schreibtisch. Er enthielt Briefe. Die wenigsten davon stammten von Kori. Er schrieb nur, wenn er es musste. Doch der Brief der Psychologin war ebenfalls darunter. Sie holte ihn aus der Klarsichtfolie und stellte den Ordner wieder weg. Was will ich damit? wollte ihr Verstand wissen. Die Adresse auf dem Briefkopf aufsuchen und sehen, ob ich immer noch Schlösser knacken kann, antwortete ihre Intuition und kaum hatte sie diesen Satz zuende gedacht, breitete sich ein unangenehmes Ziehen in ihrem Bauch aus. Es fühlte sich an, als läge ein Stein darin. Der Kerl hat Probleme und wenn ich kann, helfe ich ihm da raus. Entschlossen faltete sie das Dokument in ihren Händen zusammen und tauschte das lange T-Shirt, das sie zum Schlafen trug wieder gegen Tageskleidung. Sie nahm die U-Bahn und musste dabei einen Umweg fahren, da die Linie, mit der es am schnellsten gegangen wäre irgendeine Störung hatte. Eine Weiche wäre nicht in Ordnung, tuschelte man am Gleis. Seltsam, fand Jazz. Dazu brauchen die doch sonst nicht länger als 10 Minuten... Doch letztendlich erreichte sie ihr Ziel, ein kleines Mehrfamilienhaus am südlichsten Ende der Stadt. Das Schlösserknacken funktionierte noch prima. Kori war darin Meister gewesen und hatte kein Geheimnis aus seinem Wissen gemacht. Ihre Eltern wären davon nicht sehr begeistert. Auch nicht von der Tatsache, dass sie bis zu einer gewissen Geschwindigkeit recht gut Motorrad fuhr, ohne einen Führerschein zu besitzen. Ihr Exfreund war nicht nur die gute Partie von einem jungen Mann gewesen, für den ihre Eltern ihn gehalten hatten. Nicht nur der strebsame junge Mann, der bei Kodansha arbeitete und die Abendschule besuchte. Mit einer Mischung aus schelmischer Nostalgie und zunehmender Beklemmung schlich sie das Treppenhaus hinauf, immer mit der Angst im Nacken, dass es die Praxis vielleicht nicht mehr gab, bis sie die Tür mit dem Schild gefunden hatte. Darey Vanya, Dipl. Psychologin. Psychoanalyse und Therapie. Hier war sie richtig. Das Türschloss war ein uraltes Modell. Binnen weniger Minuten war sie im Wartezimmer der kleinen Praxis. An diesem Punkt hätte sie auf ihr Gewissen gehört und diesen Ort gleich wieder verlassen, wäre da nicht immer noch dieses Ziehen in der Magengegend gewesen. Und das Drängen ihrer Intuition. So schlich sie also weiter in das Behandlungszimmer und rang sich nach einigen Minuten dazu durch, das Licht einzuschalten. Das Zimmer gefiel ihr. Alles war in warmen, wohnlichen Farben gehalten. Auf der Fensterbank und den vielen hüfthohen Bücherschränken stand allerlei pflegeleichtes Grünzeug. In einer Ecke hing ein Haufen Fotos. Familienbilder wie die Ähnlichkeit der abgebildeten Personen schnell verriet. Yasemin ließ den Blick von einem zum anderen schweifen und fragte sich, wer auf diesen Bildern die Psychologin sein mochte. Mit einem Mal hielt sie jedoch inne. Auf einem der Bilder war der Mann aus der Karaokebar zu sehen, ein sanftes, ansprechendes Lächeln auf den Lippen und sogar in den freundlichen Augen. Erneut verglich sie die Fotos und stellte fest, dass fast alle darauf mit diesen ungewöhnlichen Haaren ausgestattet waren, die struppig, ungebändigt und doch irgendwie sehr adrett aussahen. Sie schüttelte sich unwillkürlich ob dieser neuen Erkenntnis. Um das herauszufinden war sie nicht hergekommen. Dennoch fiel es ihr schwer, den Blick abzuwenden und zum Schreibtisch zu gehen, um dessen Schubladen zu durchsuchen. Wieder meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie war hier in ein fremdes Haus eingedrungen und nun schickte sie sich auch noch an, in Koris privatestem Privatleben herumzuschnüffeln. Aber da war immer noch dieses furchtbare Ziehen, welches nichts mit ihrem Gewissen zu tun haben wollte. Es dauerte nicht lang bis sie Koris Akte gefunden hatte. So viele Virgins gab es schließlich nicht und selbst wenn, wäre das nur ein kleines Problem gewesen, denn der Kundenkreis dieser Frau war handverlesen, um nicht zu sagen winzig. Entweder war sie besonders schlecht oder so gut, dass sie sich nur wenige leisten konnten, mutmaßte Jazz, während sie die dünne Mappe aus der großen Schublade nahm und sie studierte. Nur eine einzige Sitzung hatte es gegeben, doch über diese hatte sich Darey-san lange ausgelassen, so schien es. Sie hatte sich gerade durch zwei Absätze des Fachchinesisch gekämpft als sie begann, sich beobachtet zu fühlen. Vielleicht sollte sie die Mappe besser mitnehmen und zu Hause lesen? Oder noch besser: Sie einfach kopieren und alles wieder in seinen Ursprungszustand bringen. Ja, das war gut. Hastig klappte sie die Mappe wieder zu und wollte sich nach einem Kopiergerät umsehen. Der silbergraue Wolf, der mitten im Zimmer stand und sie anstarrte, machte ihr jedoch einen Strich durch diese Rechnung. Schönes Tier, dachte sie fasziniert, riss sich dann aber sofort am Riemen. Wenn der auch nur einen Mucks macht... Ich muss ihn irgendwie ruhig halten und hier schleunigst verschwinden. Langsam trat sie auf das Tier zu und hielt ihm die Hand hin, damit es diese beschnuppern konnte. „Danke, aber ich kann dich auch so recht gut riechen. Was willst du mit meiner Akte?“ hörte sie eine Frauenstimme, ohne jedoch irgendjemanden zu sehen außer dem Vierbeiner. „H-hast du gerade...?“ „Ja, ich habe gesprochen. Oder sagen wir, ich habe dir meine Gedanken gesendet. Was verschafft mir die Ehre deines heimlichen Besuches?“ Yasemin machte sich nicht die Mühe zu lügen. Sie war auf frischer Tat ertappt worden. Warum dies leugnen? „Ich habe mir... Sorgen um einen Freund gemacht...“ „Das sagt meine Nase mir auch. Das ganze Zimmer riecht nach Angst. Gibt es Ärger mit...?“ Sie legte den Kopf schräg um den Namen auf der Akte lesen zu können. „Entschuldige die Dumme Frage“ fuhr sie dann resigniert fort. „Es musste irgendwann Schwierigkeiten mit ihm geben.“ „Lesen kannst du – können Sie auch?“ Langsam fragte sich Yasemin, ob sie vielleicht doch noch hatte einschlafen können und das hier nur träumte. Sprechende Tiere wären so typisch für ihre Träume... Sie sah wie die Wölfin sich plötzlich anspannte. „Es kommt noch jemand... Wir sollten - “ Sie verstummte und drehte sich zur Tür ihrer Praxis. Da hatte jemand offenbar das Anschleichen geübt. Am anderen Ende des Wohnungsflures, direkt in der von Jazz aufgebrochenen Tür, stand eine Frau, die Vanya, eine von Rongas Ur-ur-ur... nun, eine seiner Enkelinnen, sofort aus den Erinnerungen des Jungen erkannte, dessen Akte aus dem Schreibtisch entwendet worden war. Der Psychologin stand die Vorgehensweise lieblosen Engels noch gut im Gedächtnis. Höchstwahrscheinlich war sie dem Mädchen gefolgt, um dort weiterzumachen, wo sie damals aufgehört hatte. Doch nicht, wenn sie das verhindern konnte. Die Wölfin nahm entschlossen Anlauf, fegte förmlich durch den Flur. Mit einem geschmeidigen, fast katzenhaften Sprung warf sie die Fremde nieder. „Verschwinde von hier!“ sandte sie an Yasemin. Das war im Grunde überflüssig, denn diese rannte bereits um ihr Leben. Allerdings nur, um im Treppenhaus gegen eine Wand aus weißem Licht zu prallen. „Nach oben!“ „rief“ sie dem Mädchen zu, selbst schon auf halbem Weg die Treppen hinauf und begann dabei, einen lauten, heulenden Ton auszustoßen, der noch anschwoll und sich gewaltig in die Länge zog. Ich werde diese Frau nicht lang aufhalten können, doch vielleicht lang genug, schoss es ihr durch den Kopf, während sie sich von Yasemin einholen ließ, die ihnen beiden die Tür auf’s Dach öffnete. Wenigstens genug Platz für einen Bannkreis. Für den Anfang musste das reichen. Hosted by Animexx e.V. 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