Blind Dragon von Lethal (Das Auge des Orion) ================================================================================ Kapitel 26 ---------- Wir erreichten das Ende der U-Bahn, doch etwas daran war falsch. Ich drehte mich um und augenblicklich würde mir klar, was es war: Keiner der anderen Menschen war aufgestanden und davongerannt. Sie saßen nur wie gelähmt auf ihren Sitzen, um schließlich von der schwarzen Lawine aus Krallen, Federn und Schnäbeln überrollt zu werden. „Warum... Bewegen diese Idioten sich nicht?“ hauchte ich, einen Moment lang genauso starr wie sie. Nick warf sich geräuschvoll gegen die verschlossene Tür der Rückwand, die uns von der unbesetzten, da rückseitigen, Fahrerkabine trennte. „Wenn die Vögel... unseretwegen hier sind, passiert den Leuten nichts...“ Rums „Zumindest, wenn die Raben ihr Ziel nicht erreichen. Das Ganze ist dann nur eine Illusion...“ Rums „Um uns abzuschrecken.“ Kurzes Innehalten. „Sag mal, hast du in der Ausbildung geschlafen?“ Dafür, dass er eben noch über seine eigene Zunge gestolpert war, sprach er jetzt erstaunlich schnell. „Ich hatte erst eine Unterrichtsstunde!“ protestierte ich. „Auf drei! Eins, zwei, drei!“ Wir warfen uns beide gegen die Tür. Sofort durchzuckte ein stechender Schmerz meine Schulter, strahlte auf den Rücken aus und explodierte förmlich zwischen meinen Schulterblättern, in deren Nähe die Ansätze meiner Flügel lagen. Immer näher kamen die Raben und mit ihnen das schrille Pfeifen und das Blut. Die Tür bewegte sich nicht. Nick warf mir einen furchtsamen Blick zu, doch plötzlich wandelte sich dieser zu einem Ausdruck geringer Hoffnung. Er drehte sich zu den Vögeln um und streckte beide Hände von sich. „Gavan!“ entsann er sich einer alten Vokabel. Der Effekt, den das Wort hatte, machte eine Übersetzung überflüssig. Für einen Moment erstarrte die fliegende Meute mitten in der Luft. Das Pfeifen verstummte. Nick brach der Schweiß aus, während er weiter die Hände von sich streckte, als schiebe er die Raben von uns weg. „Ich kann das nicht lange! Mach die Tür auf!! Beeil dich!!“ flehte er. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich könnte die Viecher möglicherweise verbrennen. Doch im Gegensatz zu den Raben würde mein Feuer für die Menschen hier drin keine Illusion sein. Aber hinter mir! Ich Idiot. Das Feuer sammelte sich wie von selbst in meiner Kehle. Wie weiche Butter schmolz die Rückwand dahin. Der Gestank war bestialisch, doch verglichen mit dem grellen Pfeifen, das bereits wieder leise zu vernehmen war, war der Geruch von geschmolzenem Plastik fast ein angenehmer Sinneseindruck. Wir eilten in die Fahrerkabine, zerschlugen die Front- bzw. Rückscheibe mit einem der Notfallhammer. Ich spürte den schwachen Luftzug im Gesicht, der durch den langen Tunnel wehte. Mit einem Satz stand ich auf den Schienen und wollte schon davon stürmen, als mir auffiel, dass Nick mir nicht folgte. Wie festgewachsen hockte er auf dem Armaturenbrett hinter dem zerschlagenen Fenster und starrte mich an. „Nick, was ist?!“ fragte ich ungeduldig Hinter ihm wurde das Innere der U-Bahn dunkler und dunkler und mit ihr auch der Gang hier draußen, dessen einzige Lichtquelle aus der Beleuchtung des Zuges bestand.. „St-stromschiene“, gab er zurück, ohne sich einen Millimeter zu bewegen. Auch das noch. Er traute sich nicht raus. „Gary, verdammt! Vögel in der U-Bahn, Technikfreak mit Bedarfsfackel hier im Tunnel! Was ist dir lieber?! Jetzt beweg dich endlich!“ „Du weißt wo sie ist?“ fragte er misstrauisch. Der Vogelschwarm hatte ihn fast erreicht. „Natürlich!“ versetzte ich. Ehrlichgesagt hatte ich nur eine vage Ahnung wo die Schiene lag. Genauso wenig wusste ich, ob ich eine meiner eigenen Flammen einfach so mit mir herumtragen konnte, doch im Gegensatz zu Nick konnte ich wirklich lügen. Die Tatsache, dass er augenblicklich aus der U-Bahn sprang, bestätigte das. Wir rannten wie zwei Wahnsinnige. Wenn man es recht bedachte, waren wir genau das wohl auch. Das Experiment mit der tragbaren Flamme glückte, sodass wir wenigstens ungefähr sehen konnten, wohin wir traten. Wie eine zähe Flüssigkeit floss der Schwarm aus dem U-Bahnzug und verfolgte uns erbittert. Obwohl wir wirklich nicht langsam waren, vergrößerte sich der Abstand zwischen uns und den Vögeln kaum. Lange jedoch würde keiner von uns beiden dieses Lauftempo halten können. Selbst wenn wir es irgendwie bis zum nächsten Bahnhof schaffen, was dann? dachte ich verzweifelt. „Was jetzt?! Ich kann bald nicht mehr!“ Als hätte Nick meine Gedanken gelesen. Nun, die Menschen sind nicht mehr da. Jetzt oder nie. Ich wirbelte herum und betrachtete die sich nähernden Tiere. „Hoffen wir, dass es funktioniert“, sagte ich, hörbar Luft einsaugend. Hitze breitete sich im Tunnel aus. Ebenso in meiner Kehle, wo sie sich bereits völlig vertraut anfühlte. Augenblicklich war Nick direkt neben mir. Das Pfeifen wurde sofort um einige Dezibel lauter. Als die Flamme vor mir davon schoss, war es so laut, dass ich glaubte, mir würden die Trommelfelle platzen. Und mit jedem Bisschen, das das Pfeifen sich verstärkte, schrumpfte der Feuerball; wuchs unsere Todesangst. Meine Kehle war wie zugeschnürt. Eine neue Flamme würde ich nicht so schnell hinbekommen. Am Rande meines Sichtfeldes bewegte sich etwas. Ich starrte in Nicks Gesicht und sah wie er die Lippen bewegte, ohne dass ich noch etwas von ihm hören konnte. Entschlossen deutete er auf den Feuerball, der daraufhin verschwand. Schlagartig war es stockdunkel im Tunnel. Wollte er uns denn beide umbringen? Wie versteinert stand ich da, spürte die Raben mehr auf uns zukommen als dass ich sie sah. In Gedanken versuchte ich mich darauf vorzubereiten, gleich zerstückelt zu werden. Ein Flügel strich über meine Wange, dann noch einer. Und dann plötzlich standen wir vor einer gigantischen Feuerwand. Ein Vogel nach dem anderen stürzte sich in die Flammen wie ein Kamikazeflieger. Nur ein einziges Tier war zu uns durchgekommen, welches ich kurzerhand packte. Es wand sich in meiner Hand, pickte nach mir, löste sich dann mit einem Mal aus seiner ursprünglichen Form und ging kurz in einen pulverartigen Zustand über, um sich dann zu einem langen Papierstreifen zu manifestieren. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Ekel angesichts des Grillfleischgeruchs, der sich um uns herum ausbreitete ließen wir uns auf den Boden fallen. Ich gab es nur ungern zu, doch unser Teamwork hatte uns soeben das Leben gerettet. Bei diesem Gedanken musste ich lachen. Ich konnte einfach nicht anders. Nick sah mich an, zunächst verwirrt, dann selbst beinahe Tränen lachend. Es dauerte volle fünf Minuten bis wir uns wieder einkriegten. Schließlich beruhigte ich mich wieder. Ich nahm mir Zeit, einen Blick auf den Zettel zu werfen, zu dem der Rabe geworden war. „Du wärst ohne mich echt aufgeschmissen“, behauptete Nick und grinste zu mir hinüber. Dito, dachte ich schadenfroh, sagte allerdings nichts, sondern grinste nur zurück. „Hat man dir in deiner Ausbildung auch was hierüber erzählt?“ Ich gab ihm den Zettel und erhob mich vorsichtig wieder. „Ich seh nix“, meinte Nick. „Verzeihung“, versetzte ich, spie mir ein kleines Feuer in die Hand und hielt es neben ihn. Es war angenehm zu spüren, dass solche Dinge mit jedem Mal leichter wurden. In diesem Moment, in dem ich mich wie selbstverständlich als Fackelträger ohne Fackel betätigte, kam es mir fast abwegig vor, dass meine Kräfte jemals außer Kontrolle geraten könnten. Auf dem Blatt war eine verschnörkelte Kalligraphie zu sehen, die ich als Nicht-Japaner nicht mehr erkannte. Nick betrachtete sie voll Staunen. „Wow“, meinte er. „Für so clever hätte ich dich gar nicht gehalten. Jetzt brauchst du deinen Computer gar nicht mehr.“ Ich bemühte mich, so auszusehen als wisse ich wovon er sprach. Er musste ja nicht unbedingt erfahren, dass das nur ein Zufall gewesen war. Wohl darauf achtend, dabei nicht dumm zu wirken riskierte ich ein „Also?“. „... Gehen wir direkt zum Absender. Oder hast du außer dem Typen mit dem Stein noch mehr Feinde, die dir sowas schicken würden?“ Natürlich hab ich. Luv, dachte ich, schüttelte aber dennoch sofort den Kopf. Dazu waren diese Shiki, wie Nick sie nannte, zu... direkt? Unelegant? Unspektakulär? Nicht grausam genug? Sie passten jedenfalls nicht zu der Vorgehensweise, die ich von ihr kannte. Wären die Vögel von ihr gewesen, hätte sie eher Nick von mir getrennt und vor meinen Augen umgebracht. Und warum sollte sie auch mich daran hindern, das Auge des Orion zu bekommen? So hatte sie gleich alles, was sie brauchte beisammen. Der Gedanke gefiel mir überhaupt nicht, doch wenn sie sich damit hinhalten ließ, sollte es mir vorerst recht sein. Ich wartete auf weitere Erklärungen von Nick. Sie blieben aus. Statt lang herumzureden, handelte er einfach. An die Tatsache, dass er alles kaputtmachte, was man ihm in die Hand gab, würde ich mich nie gewöhnen. Er zerriss das Blatt. Eine der beiden Hälften gab er mir. Dann nahm er mich am Arm und plötzlich standen wir nicht mehr im Tunnel, sondern vor einem stinknormalen Reihenhaus. Ich hatte Mühe, mir meine Überraschung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Nick stöhnte auf. „Dafür schuldest du mir zwei Fahrten auf der Kawasaki. Drei, wenn ich daran denke, dass ich nicht mit reingehe. Noch so ein Ausflug und meine magischen Kräfte sind für die nächsten Tage im Eimer. Da riskier ich’s bestimmt nicht, diesem Typen zu begegnen.“ Äußerst skeptisch betrachtete ich das 08/15-Haus. „Sicher, dass er da drin ist?“ „So sicher wie du mit der Stromschiene. Der, der diese Geister geschickt hat, ist in diesem Haus“, antwortete Nick und warf sich in die Brust. Es fehlte nicht viel und ich hätte im Kreis gegrinst. Armer Irrer, wenn du wüsstest. Ich ging los, um genau das zu tun, was mir ausgerechnet die Handlanger dieses Alchemisten beigebracht hatten: Stehlen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)